Das Böse vergisst nicht - Roberto Costantini - E-Book
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Das Böse vergisst nicht E-Book

Roberto Costantini

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Beschreibung

Der fulminante Abschluss der preisgekrönten Thriller-Trilogie

Sommer 2011: Während in Libyen Bürgerkrieg herrscht, treffen sich in Rom auf einem Luxusschiff internationale Wirtschaftsbosse zu Geheimverhandlungen über den Mittleren Osten. Am nächsten Tag werden eine junge Hostess, die auf dem Schiff arbeitete, und ihre kleine Tochter ermordet aufgefunden. Commissario Balistreri, desillusionierter Chef der Mordkommission, trifft bei den Ermittlungen bald auf alte Bekannte aus seiner libyschen Kindheit, die er in den letzten Winkel seines Bewusstseins verdammt hatte. Durch die Ermittlungen wird er gezwungen, in das von Bomben zerstörte Libyen zurückzukehren und seinem früheren Ich und einer unerträglichen Wahrheiten ins Auge zu sehen ...

Das Böse vergisst nicht ist das fulminante Finale von Costantinis "Trilogie des Bösen", ein atemloser Abgesang, der alle Facetten von Gut und Böse in einem Reigen von Wahrheit und Lüge durcheinanderwirbelt, bis die Grenzen verschwimmen.

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Sommer 2011: Während in Libyen Bürgerkrieg herrscht, treffen sich in Rom auf einem Luxusschiff internationale Wirtschaftsbosse zu Geheimverhandlungen über den Mittleren Osten. Am nächsten Tag werden eine junge Hostess, die auf dem Schiff arbeitete, und ihre kleine Tochter ermordet aufgefunden. Commissario Balistreri, desillusionierter Chef der Mordkommission, trifft bei den Ermittlungen bald auf alte Bekannte aus seiner libyschen Kindheit, die er in den letzten Winkel seines Bewusstseins verdammt hatte. Durch die Ermittlungen wird er gezwungen, in das von Bomben zerstörte Libyen zurückzukehren und seinem früheren Ich und unerträglichen Wahrheiten ins Auge zu sehen …

Das Böse vergisst nicht ist das fulminante Finale von Costantinis »Trilogie des Bösen«, ein atemloser Abgesang, der alle Facetten von Gut und Böse in einem Reigen von Wahrheit und Lüge durcheinanderwirbelt, bis die Grenzen verschwimmen.

Roberto Costantini, geboren 1952, hatte bereits eine erfolgreiche Laufbahn als Unternehmensberater hinter sich, bevor seine Thriller-Trilogie ihn als Autor schlagartig bekannt machte. Seine psychologisch ausgefeilten Romane mit dem desillusionierten Polizisten Michele Balistreri wurden alle zu Bestsellern und liefern ein vielschichtiges Bild Italiens. Nach Du bist das Böse und Die Saat des Bösen ist Das Böse vergisst nicht der eindrucksvolle Abschluss der preisgekrönten Trilogie.

Roberto Costantini

Das Böse vergisst nicht

Thriller

Aus dem Italienischen von Anja Nattefort

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe Il male non dimentica erschien 2014 bei Marsilio, Venedig.
Copyright © 2014 by Marsilio Editori s.p.a., VeneziaCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlag: Eisele Grafik-Design, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-16423-2V002
www.cbertelsmann.de

Für Milena, Carolina und FabrizioFür das freie Volk Libyens

Tripolis, 31. August 1969

Der Mörder

Da war Italia. Sie stand mit dem Rücken zu mir auf der Klippe und betrachtete das Meer, nur einen halben Meter vom Rand des Abgrunds entfernt. Ein halber Meter, der alles verändern würde, in ihrem und in meinem Leben.

Nur ein kleiner Schritt nach vorn oder zurück.

Ich konnte das Raunen ihrer Gedanken hören, aber ihren Lauf nicht ändern. Mit ganzer Kraft hoffte ich, dass sie diesen Schritt tun würde. Als würde moralische Verantwortung weniger wiegen als physische. Aber Italia war nicht der Typ dafür, das wusste ich nur zu gut. Sie hätte ihn nie von sich aus getan.

Wer weiß, ob sie meine Schritte oder mein Herzklopfen hörte, als ich näher kam. Wer weiß, ob sie ahnte, wessen Hände sie hinunterstießen, jedenfalls drehte sie sich nicht um. Wer weiß, ob sie an ihren Lieblingssohn Mike dachte, als sie auf die Felsen zustürzte.

Nicht einmal ein Schrei begleitete ihren Sturz. Und diese Stille änderte für immer mein Leben.

Tripolis, 15. August 2011

Michele Balistreri

Wer weiß, ob meine Mutter an mich dachte, als sie auf die Felsen zustürzte. Ich hoffe, dass die Toten nicht von irgendeinem Ort auf uns herabsehen und alles über uns wissen. Dann muss sie nicht erfahren, dass ich in dem Moment, als jemand sie in den Abgrund stieß, weit weg war, im Bett mit Marlene Hunt, ihrer schlimmsten Feindin.

Wer weiß, ob Laura, als ich das letzte Mal in sie eindrang, Hass oder Mitleid für mich empfand. Das ist der Unterschied zwischen der Jugend und dem Alter. Damals hätte ich Hass vorgezogen. Heute würde ich mir Mitleid wünschen.

Wer weiß, ob Salim, als ihm die Kugel aus meinem Gewehr Wange und Zunge durchbohrte, begriff, dass es der größte Fehler seines Lebens war, seinem Stiefbruder Karim einen Teil des Ohrs abzuschneiden und sich damit an einem Mitglied der Mank zu vergreifen.

Wer weiß, ob Farid, als er mit abgetrenntem Penis den Haien lebendig zum Fraß vorgeworfen wurde, sich an das Versprechen erinnerte, das wir von der Mank ihm viele Jahre zuvor gegeben hatten.

Wer weiß, ob Ahmed, als wir am letzten Tag meines ersten Lebens aneinandergerieten, sich fragte, wer von uns beiden denn nun der Held und wer der Bösewicht sei, wer John Wayne und wer der Häuptling der Comanchen.

Vierzig Jahre sind seither vergangen, und wenn ich von dem ziellos dahintreibenden Floß meines Lebens zurückblicke, verschwimmt mir alles vor Augen. Aber im Nebel meiner Erinnerungen zeichnet sich ­immer noch die Insel La Moneta ab. Mein Körper konnte sich an irgend­ein Ufer retten und hat den Schiffbruch überlebt. Doch meine Seele haftet immer noch an den Klippen dieser Insel, vor den Lichtern der Küste von Tripolis, die immer kleiner wurden, als ich vor dem flüchtete, der ich war.

GEHORSAM UND TERROR

Donnerstag, 28. Juli 2011

Sawija, Libyen

In den vergangenen Tagen waren Regierungstruppen aus Tripolis angerückt, um die Ordnung des Rais wiederherzustellen. Sie hatten Gargaresh durchquert und dann Janzur, die Palmenoase am Meer mit dem großen, von den NATO-Bomben zerstörten Kraftwerk, ein chaotisches Gewirr von Werkstätten, Läden mit aufgetürmten Kesseln davor und staubigen Plätzen, auf denen Jungen mit Lumpenknäueln Fußball spielten, barfuß zwischen den Autowracks.

Auf der von Bombenkratern durchlöcherten Küstenstraße, über die früher Kolonnen von Tanklastern Benzin aus der großen Raffinerie von Sawija nach Tripolis gekarrt hatten, waren nur noch mit Maschinengewehren ausgestattete Jeeps unterwegs. Vor den Toren der Stadt standen zwei inzwischen nutzlose Panzer, denn die Rebellen waren längst geflohen, eingesperrt oder tot. So dienten sie nur noch dem Zweck, die wehrlosen Überlebenden – Alte, Frauen und Kinder – daran zu erinnern, dass man den Bewohnern Sawijas nichts mehr durchgehen lassen würde, dass nichts mehr so war wie früher. Sie besaßen keinerlei Rechte mehr, weder auf eine Gegenwart noch auf die Zukunft. Ihre Häuser konnten jederzeit auf Befehl irgendeines Offiziers der regime­treuen Truppen weggefegt werden.

Die zwei Reihen von je zwölf Pappeln vor der Schule waren ein Relikt der italienischen Landgüter von einst. Granaten hatten die Fassade des Gebäudes durchsiebt und kein Fenster verschont. In der Mitte des Schulhofs gähnte ein rauchender Krater, und die Pappeln waren ausgetrocknet und verkohlt. Der Geruch von Benzin und verbranntem Fleisch hing in der Luft.

An jeder Pappel stand ein Berber, oder Amazigh, wie sie sich selbst gern nannten, mit einer Schlinge um den Hals. Als am 17. Februar die Aufstände gegen Oberst Gaddafi begonnen hatten, gehörten sie zu den Rebellen der ersten Stunde. Aus fünf Jeeps heraus hielten regierungstreue Milizsoldaten mit ihren Kalaschnikows Dutzende Alte, Kinder und verzweifelte Frauen in Schach: die Eltern, Kinder und Ehefrauen der Männer an den Pappeln.

Der Einzige, der den Rang eines Offiziers innehatte, war Europäer, vielleicht ein Bulgare oder ein Deutscher. Einer von vielen Söldnern, die der Oberst angeheuert hatte.

Die übel zugerichteten Männer an den Pappeln standen auf Stühlen, die man aus der Schule geholt hatte. Die Frauen keiften die Folterknechte an, doch keine wagte es, sich ihrem Sohn oder Mann zu nähern, um ihn zu trösten. Ringsum hatte sich eine verängstigte, schweigende Menge von Zuschauern versammelt, die insgeheim froh waren, dass sie sich einige Tage zuvor nicht den rebellischen Berbern angeschlossen hatten, obwohl sie Gaddafi mindestens genauso hassten wie sie.

Der Sand, den der Gibli aus der Wüste herbeiwehte, klebte zusammen mit den Fliegen am Blut der Gefangenen und vermischte sich mit den Tränen ihrer Lieben. Die Szenerie wirkte wie ein Gemälde auf einer vergilbten Leinwand, reglose Figuren, die darauf warteten, dass jemand eine Entscheidung traf.

Der schwarze SUV, ein gepanzerter Mercedes ML mit getönten Scheiben, hielt mitten auf der Straße und blockierte sie. Während der Fahrer den Motor abstellte, eilte der bulgarische oder deutsche Offizier los, um die hintere Wagentür zu öffnen.

Der Araber, der aus dem Auto stieg, war um die sechzig und sah trotz der tiefen Falten, die unter den hohen Wangenknochen sein Gesicht durchfurchten, noch gut aus für sein Alter. Er war in Zivil und trug einen dunklen Anzug über einem weißen Hemd ohne Krawatte. Sein graues, noch dichtes Haar war leicht kraus, und seine Augen verbarg er hinter dunklen Brillengläsern. Ein Stück seines einen Ohrs fehlte, als wäre es mit einem glatten Schnitt abgetrennt worden.

»Who is the boss?«, fragte er den Offizier und deutete auf die Aufständischen an den Pappeln.

Der europäische Söldner hatte schon viele kaltblütige Mörder gesehen, in Uganda, Darfur und im Kosovo. Sadisten, denen das Töten Vergnügen bereitete. Aber der Mann mit dem abgeschnittenen Ohr war anders. Er jagte ihm wirklich Angst ein, da er ohne jede Gefühlsregung tötete. Für ihn war das ein Job wie jeder andere, und er wusste, wie man Angst und Schrecken verbreitete, um seine Ziele zu erreichen.

Der Söldner zeigte auf die nächstgelegene Pappel. Der Mann davor, eine blutverschmierte Maske, stand nur auf einem Bein, während das andere in einem Winkel von dreißig Grad unnatürlich verdreht war. Mit einem Hammer hatte man ihm alle zehn Finger zertrümmert.

Absolute Stille herrschte, als der Mann mit dem abgeschnittenen Ohr auf ihn zuging.

»Hast du Schmerzen?«, fragte er auf Arabisch.

Der Berber wollte ihm ins Gesicht spucken, doch es kam nur ein dünnes Rinnsal aus Speichel und dem Blut ausgeschlagener Zähne heraus und floss ihm langsam das Kinn hinunter. Der Mann mit dem abgeschnittenen Ohr wandte sich den Frauen zu.

»Wer von euch ist die Frau von diesem armen Teufel? Sie soll sofort herkommen und ihm den Mund abwischen.«

»Nein!«, röchelte der Berber.

Doch der Mann mit dem abgeschnittenen Ohr hatte längst regis­triert, welche Frau sich unwillkürlich bewegt hatte. Sie war von Kopf bis Fuß in einen Berkan gehüllt, der nur ein Auge unbedeckt ließ.

»Deine Frau bringe ich nachher meinen Soldaten mit«, sagte er zu dem Berber.

Er sagte es laut und deutlich, damit alle es hören konnten. Denn blinden Gehorsam erreichte man nur durch Terror.

Plötzlich sprang ein etwa dreizehnjähriger Junge hinter der Frau hervor und wollte sich mit einem Messer auf ihn stürzen. Er hatte die gleichen Augen wie der Gefangene an der Pappel.

Sofort zog der Mann mit dem abgeschnittenen Ohr die Pistole und schoss den Jungen mitten in den Bauch, ohne auf lebenswichtige Organe zu zielen. Sie sollten noch hoffen, während sie ihn verbluten ­sahen, sollten zuschauen, wie er langsam verreckte.

»Bring him here«, befahl er dem Offizier und zeigte auf den im Staub liegenden Körper des Jungen.

Der Europäer drehte sich mit angewiderter Miene ab. Auch er hatte schon Kinder getötet, allerdings nur im Kampf, und er fühlte sich nicht wohl in Momenten wie diesem. Andererseits bekam er gutes Geld, und dieser Moment war ein Teil des Preises, den er zu zahlen hatte.

Zwei Soldaten waren nötig, um den Körper des Jungen unter den Galgen seines entsetzten Vaters zu schleifen, und vier weitere, um seine Mutter festzuhalten, die wie eine Besessene zappelte und schrie.

Für den Mann mit dem abgeschnittenen Ohr hatte der Junge keine Bedeutung, er würde in wenigen Minuten abkratzen, wie viele Tausende, die jeden Tag in Afrika an Hunger oder an Seuchen starben. Er empfand überhaupt nichts für ihn, weder Mitleid noch Hass. Der Junge war lediglich das wirkungsvollste Instrument, um seinem Publikum ­etwas Wichtiges zu vermitteln.

Hinter seinen dunklen Brillengläsern ließ er den Blick über die schweigende Menge gleiten, über die Bewohner von Sawija. Sie ­waren das Publikum, das er überzeugen musste. Idioten, denen infame Oppor­tunisten, Extremisten und Terroristen eingeredet hatten, sie würden für die Freiheit kämpfen. Er wollte keine langen Reden halten, um ihnen zu erklären, dass sie sich irrten und in schlimmere Hände fielen, wenn sie Gaddafi stürzten. Worte brauchte man nur in einer Demokratie, die es, dem Oberst sei Dank, in Libyen nicht gab. Er musste diesen Schwachsinnigen lediglich beibringen, so etwas nie wieder zu tun, ja nicht einmal daran zu denken, unabhängig davon, wer recht hatte. Und er kannte die Menschen gut genug, um zu wissen, dass es nur einen einzigen Weg gab, das zu erreichen.

Seid ihr bereit, diesen Preis zu zahlen, um euch von uns zu befreien? Schaut genau hin, was dann passiert.

Er zeigte auf die Rebellen vor den verkohlten Pappeln und wandte sich an die Umstehenden.

»Das da sind Freunde von Bin Laden! Terroristen, vor denen Oberst Gaddafi euch beschützt!«

Die verängstigte Menge senkte stumm den Kopf, viele nickten. Der Mann mit dem abgeschnittenen Ohr zückte ein zehn Zentimeter langes Messer mit gezackter Klinge.

»Sieh her, du Schwein!«, schrie er. Der verzweifelte Vater, aus dessen Augen vergebliche Tränen traten, stieß einen bluterstickten Schrei aus, als der Mann mit dem abgeschnittenen Ohr dem Jungen mit ­einer ­raschen Bewegung die Kehle durchschnitt und dann dem Stuhl, auf dem der Fuß seines rebellischen Vaters stand, einen Tritt versetzte.

Terroristen zu lynchen, bringt nicht viel. Ihre Verwandten umzubringen, ist schon ein bisschen wirksamer. Um aber wahrhaft Angst und Schrecken zu verbreiten, muss man Unschuldige töten.

Er wandte sich dem europäischen Offizier zu, immer noch mit lauter Stimme, und zeigte auf die Rebellen an den Pappeln.

»Erhängt sie. Danach tötet ihre Kinder, vergewaltigt ihre Mütter und tötet auch sie. Den Vätern dieser Terroristen hackt ihr die Hände ab, aber lasst sie am Leben. Damit alle sehen, was mit Verrätern passiert und mit jedem, der Verräter nicht anzeigt.«

Dann stieg er in den Mercedes und befahl dem Fahrer loszufahren. Auf dem Weg nach Tripolis verschwendete er keinen Gedanken an die Rebellen. Sie waren nur Kanonenfutter in einem Krieg, der in dem Moment entschieden worden war, in dem neue Verräter – Opportunisten wie die Amerikaner, Engländer und Franzosen und Feiglinge wie die Italiener – sich gegen Gaddafi verbündet hatten, gegen dasselbe Regime also, das jahrelang ihre konsumsüchtigen Völker und dann und wann sogar ihre peinlichen Regierungschefs selbst versorgt hatte.

Er sank in die Rückenlehne, schloss die Augen hinter der dunklen Brille und dachte an jenen Tag, an dem sich vier Jungen im Staub des Gibli das Handgelenk aufgeschnitten und ihr Blut miteinander vermischt hatten. Er, sein Bruder, Nico Gerace und natürlich Mike Balistreri. Seitdem waren beinah fünfzig Jahre vergangen. Nicht genug, um zu vergessen.

Vielleicht ist mit diesem Krieg der Augenblick gekommen, endgültig mit alten Freunden und alten Feinden abzurechnen. Und Schluss zu machen mit all den Träumen.

Tripolis, 1962

Mike Balistreri

Heute Abend wird unser großer Garten nur von den Lämpchen an der Mauer beleuchtet. Der Gibli ist aufgekommen, der Südwind, der den Sand der Sahara in die Stadt bläst.

Nico, Ahmed, Karim und ich ziehen uns in die dunkelste Ecke hinter den Villen zurück. Die Überdachung, die William Hunt für den Ferrari und den Land Rover bauen ließ, bietet nur dürftigen Schutz vor den sandigen Böen.

Ich sehe meine drei Freunde an. Der Gibli pfeift unter dem Dach hindurch, der Sand beißt uns in den Augen. »Wir schließen einen Pakt«, schlage ich vor und lasse mir von Ahmed das Messer geben.

Wir hocken uns zwischen den Ferrari und den Land Rover, aber nicht einmal hier sind wir vor dem Sand sicher.

Wortlos schneide ich mir mit dem Messer in die Oberseite des linken Handgelenks. Blutstropfen treten aus der Wunde.

Nach mir ist Nico an der Reihe. Er lächelt selig, als er sich ins Handgelenk schneidet, und betrachtet zufrieden das Blut. Für ihn ist es eine Frage der Ehre zu tun, was ich tue.

Karim ist weniger begeistert. Die Vorstellung, sein Blut mit dem von zwei Christen zu vermischen, behagt ihm gar nicht. Er begnügt sich mit einem winzigen Schnitt und mustert verblüfft das Tröpfchen, das austritt.

Dann reicht er das Messer an Ahmed weiter, der uns wie immer ernst in die Augen sieht. Angst hat er keine, ihm gefällt die Idee. Schweigend nimmt er das Taschenmesser in die linke Hand und fügt sich einen viel längeren und tieferen Schnitt zu als wir. Aus seinem rechten Handgelenk quillt Blut.

Die einzige, vom gelben Sand gedämpfte Glühlampe, die unter der Überdachung der Hunts baumelt, spendet trübes, flackerndes Licht. Es riecht nach Öl und Benzin. Ringsum pfeift der Gibli, die Palmblätter schlagen aneinander und die Eukalyptusbäume biegen sich.

Vier Handgelenke legen sich aufeinander. Unser Blut vermischt sich, und mit ihm der Sand.

Sand und Blut. Für immer.

DER SCHLÄCHTER VON SAWIJA

Freitag, 29. Juli 2011

Rom

»Mit Rom ist es wie mit wirklich betörenden Frauen. Kurz nach dem Erwachen ist es am schönsten.«

Jeden Morgen kurz vor halb sieben nahm Michele Balistreri denselben Weg durch die Altstadt von seiner Wohnung zum Büro. Er ging den stillen Park des Colle Oppio zum Kolosseum hinunter und dann an den Kaiserforen entlang, den schönsten dreihundert Metern der Welt mit den Überresten des größten Imperiums, das die Menschheit je gesehen hatte. In weniger als einer halben Stunde würden wieder die Horden über diese außergewöhnliche Schönheit herfallen und sie mit ­Füßen treten.

Bis vor ein paar Jahren war es allen ganz gut gegangen, aber nun, wo die Krise voll zugeschlagen hatte, konnte sich nur noch ein Teil der Bewohner den Sommer leisten. Das verarmte Volk verbrachte den Urlaub zu Hause und überschwemmte am Wochenende die öffent­lichen Strände von Ostia. Während die Reichen längst auf ihrem Boot in ­Capri, Elba oder Portofino weilten.

Balistreris von vielen düsteren Gedanken begleiteter Spaziergang durch die Kaiserforen diente auch dem Zweck, sein Knie beweglich zu halten, das immer mehr schmerzte, seit es ihm die Komplizen des Unsichtbaren vor fünf Jahren zerschossen hatten.

Diese magische Stunde zwischen Sonnenaufgang und dem Hereinbrechen der Blechlawine war die Einzige, in der Balistreri freiwillig nach draußen ging. Sein Leben spielte sich fast nur noch in geschlossenen Räumen ab. Die äußerlichen Wunden, die ihm bei der Jagd nach dem Unsichtbaren zugefügt worden waren, waren zum Teil vernarbt, doch die Wunden seiner Seele waren unheilbar. Inzwischen verkroch er sich, von dem morgendlichen Spaziergang mal abgesehen, am liebsten in seinen eigenen vier Wänden oder in seinem Büro. Nach und nach war jede Inspiration aus seinem Leben verschwunden, jeder Anlass für Gespräch, Begegnung, Neugierde.

Nichts konnte ihn mehr reizen, selbst die raren Pokerrunden mit Freunden und die gelegentlichen Flirts waren ihm inzwischen eher eine lästige Pflicht als ein Vergnügen. Im Büro umgab er sich ausschließlich mit seinen engsten Kollegen, und das auch nur, wenn es die Arbeit erforderte, die mittlerweile auf Telekommunikationsüberwachung, DNA-Analysen und ähnlichem uninteressanten Zeug basierte.

Seine Unlust ging Hand in Hand mit einer gewissen Unbekümmertheit. Dass er nach und nach allem abgeschworen hatte, war weder Ergebnis einer Zen-Übung noch eines Zwangs, sondern die natürliche Folge der verbrannten Erde, die er im Laufe der Jahre hinterlassen hatte.

Um Viertel vor sieben betrat er die kleine Bar in der Nähe seines Büros, getrieben von seiner alten Schwäche für gut zubereiteten Espresso. Um diese Uhrzeit fanden sich die üblichen Stammgäste ein: der Barista, der Straßenfeger, der Obsthändler und der Gymnasiallehrer. Einfache Leute, mit denen er noch vor einigen Jahren gern geplaudert hätte und die er heute höchstens flüchtig grüßte. Er war hier bekannt, alle wussten, dass er der Chef der Mordkommission war.

Balistreri hörte still zu, ohne sich am Gespräch zu beteiligen. Das war das normale Volk. Menschen, die gar nicht in der Lage wären zu stehlen, nicht einmal die Bonbons an der Kasse einer überfüllten Bar. Sie gehörten zur großen Masse der Verlierer, für die sich die Mächtigen nur kurz vor den Wahlen interessierten.

Jetzt herrschte die Krise, die Rezession, die Stagnation, die Depression. Und Tag für Tag erklärten gebildete Minister, Finanzbürokraten und Staatsbuchhalter – hochdotierte Leute, die so viele Ämter bekleideten, dass Interessenkonflikte vorprogrammiert waren – diesen armen Schluckern, sie müssten den Gürtel enger schnallen und Opfer bringen, zum Wohle ihres Landes und ihrer Kinder. Wobei nicht ganz klar war, ob sie die Kinder der Bürger meinten oder ihre eigenen.

Immerhin durften die einfachen Leute aus dem Volk lamentieren, ohne für ihr Gerede ins Gefängnis zu wandern, und dafür musste man der Demokratie doch dankbar sein.

Solche Gedanken erfüllten Balistreri nicht mit Wut oder Resignation. Diese Leute waren ihm sympathisch, aber er brachte keine solidarischen Gefühle mehr für sie auf. Er war es leid, mit anhören zu müssen, wie die Italiener über Politiker jammerten, die sie selbst gewählt hatten.

Die Radionachrichten begannen mit einem Bericht über Libyen und diesen anscheinend ins Stocken geratenen, endlosen Krieg, über die ­immensen Kosten von fast zehn Milliarden Euro, die Gaddafi ausgegeben hatte, um sich zu verteidigen, und die NATO-Staaten, um ihn anzugreifen. Und über die Kosten in Form von Menschenleben, auch ­unter den unschuldigen Zivilisten. Balistreri starrte auf den Boden seiner Espressotasse und lauschte der Meldung über das Blutbad von Sawija, wo zahlreiche Alte, Frauen und Kinder massakriert worden waren.

Er zahlte etwas hastiger als sonst, winkte zum Abschied und verließ die Bar. Wenn es eine Sache gab, von der er absolut nichts hören wollte, dann war es dieser Krieg, den sich Gaddafi, die Aufständischen und die NATO lieferten.

Der Oberst ist das Böse, aber diejenigen, die ihn jetzt bombardieren, um sich noch ein paar Erdölverträge mehr zu sichern, sind kein Stück besser als er.

Um sieben erreichte Balistreri den Hintereingang auf dem kleinen Platz. Den unterwürfigen Gruß des Wachpostens der Squadra mobile, der aus seinen bösen Blicken gelernt hatte, ihn mit Commissario anzusprechen statt mit Commissario capo oder, schlimmer noch, Vicequestore aggiunto, quittierte er mit einem Lächeln.

Die drei Stockwerke der Marmortreppe zu den fast leeren Büros der dritten Sektion stieg er zu Fuß hinauf, leicht keuchend, weil er sein Knie spürte, zu viel rauchte und sich nicht genug bewegte. Im Großraumbüro saßen nur die Telefonisten. Alle anderen traten ihren Dienst erst zwischen sieben und acht an.

Bei seinem Wechsel von der Sezione speciale zur Mordkommission hätte ihm eigentlich ein geräumigeres, moderneres Büro mit angrenzendem Konferenzraum zugestanden, doch er hing an seinen ­alten vier Wänden, von denen schon die Farbe abblätterte. Nicht wegen der tollen Aussicht auf Kolosseum und Forum Romanum – die Rollläden hatte er fast immer geschlossen –, sondern weil es genau seiner Stimmung und seiner etwas in die Jahre gekommenen Erscheinung mit den weißen Schläfen und dem angegrauten Haar entsprach: Schreibtisch und Tür aus Holzfurnier, durchgesessene Sessel mit gesprungenen ­Federn, ein schwarzes Sofa aus abgewetztem, zerknittertem Leder und der kleine Balkon mit dem staubbedeckten Fries.

Mit dem Büro verhielt es sich fast wie mit Hunden, die irgendwann aussehen wie ihre Herrchen. Ein ultramodernes, sauberes Büro hätte einfach nicht zu ihm gepasst. Für ihn war es irgendetwas zwischen Höhle und Grab geworden. Die Jagd nach dem Unsichtbaren war sein letzter Fall im aktiven Einsatz gewesen, der letzte Pistolenschuss und die letzte Gefühlsaufwallung.

Seit damals pendelte er fast nur noch zwischen seiner Wohnung und diesem Büro, das sich mit seiner Doppelverglasung und den Rollläden gegen die Welt verbarrikadierte, vollgeräuchert und vom Whiskygeruch geschwängert. Jeden Tag, wenn er all den sinnlosen Papierkram unterschrieben hatte, streckte er sich auf der alten Ledercouch aus, lauschte der Musik von Cohen und konnte die überwältigende Schönheit und die unentrinnbare Abscheulichkeit dieser Stadt und dieses Landes für eine Weile aussperren.

Auf diesem Sofa ließ er die Zeit dahinplätschern wie auf einem Boot in der Sonne, das von der Strömung zur Mündung eines ruhigen Flusses getrieben wird.

Ich wollte die Welt verändern, doch die Welt hat mich verändert. Träume waren das, nichts als Träume.

Tripolis, 1958

Mike Balistreri

Hier in Tripolis ist es auch im Winter warm. Draußen im Garten, der die beiden Villen umgibt, zerreißt das Quaken der Frösche die Stille der afrikanischen Nacht. Die beiden herrschaftlichen Villen mit Klima­anlage stehen etwas außerhalb von Tripolis. Villen für Reiche. Doch gleich dahinter beginnt die Olivenplantage, die mein Großvater ­Giuseppe Bruseghin über ein halbes Jahrhundert hinweg angelegt hat, auf einer Sandfläche, die ihm die faschistische Kolonialverwaltung zur Verfügung gestellt hatte, als er aus dem verwüsteten Venetien nach ­Libyen umgesiedelt war. Jahre hat es ihn gekostet, die Felder einzuebnen, Schutzwälle gegen den Gibli und die Sandschwaden aus der Wüste zu errichten, bis zum Grundwasser zu graben und Bewässerungskanäle zu bauen. Zum Schluss pflanzte er die Olivenbäumchen ein und wartete. Diesen entbehrungsreichen Jahren verdankt Großvater heute die größte Olivenplantage in ganz Libyen.

Doch mein Vater kann ihren Geruch nicht ausstehen. Er erinnert ihn an seine Kindheit in Palermo, an den Geruch der Armut. Er verabscheut auch den Geruch der Jauche, mit der die Olivenbäume gedüngt werden, den Geruch, der aus der Grube steigt, neben der seine Angestellten und die Hirten in ihren Hütten hausen.

Wir haben uns für den letzten Abend des Festivals von Sanremo versammelt, alle drei Familien: wir Italiener, die Balistreris – Großvater, mein Papa Salvatore, meine Mutter Italia, mein großer Bruder Alberto und ich, Michelino. Dann die Amerikaner, unsere Nachbarn, William, Marlene und Laura Hunt. Und schließlich die Libyer, die al-Bakris, Mohammed, das Oberhaupt der Familie, und seine vier Söhne, die gemeinsam mit ihren Müttern und ihrer Schwester Nadia in der Blechhütte neben der Jauchegrube leben, Tag und Nacht von ihrem Gestank umhüllt.

Ich sitze auf dem Sofa, zwischen den beiden Frauen meines Lebens. Der, die mich geboren hat, Italia, und der, mit der ich zusammenleben werde, Laura. Auf dem Schwarz-Weiß-Bildschirm singt Domenico ­Modugno den Siegertitel des Festivals.

Penso che un sogno così non ritorni mai più …

Ein solcher Traum kehrt sicher nie wieder …

Freitag, 29. Juli 2011

Tripolis

Im Hotel Rixos lag Linda Nardi angekleidet auf dem Bett ihres Zimmers. Sie hatte das Licht ausgeschaltet und betrachtete durch die geöffneten Fenster den feuerroten Sonnenuntergang. Draußen war alles friedlich und ruhig, die Palmen standen reglos da, und vom Minarett wehte das süße Klagelied des Muezzins herüber. Ohne den Lärm der NATO-Zerstörer, die erst in der Dunkelheit der Nacht zurückkehren würden, schien der Krieg in weiter Ferne.

Sie hätte jetzt gern mit ihrer Mutter Lena in Kalifornien geredet, aber sie hatten erst am Abend zuvor telefoniert, und Linda wusste, dass sie wegen ihres schlimmen Hustens nicht lange sprechen konnte. Auch mit ihrem Vater hätte sie gern geredet, doch dieses Problem war ohnehin unlösbar, denn sie hatte ihn nie kennengelernt und wusste nicht einmal, wer es war. Wenn sie wenigstens mit irgendeinem anderen netten, sensiblen Mann reden könnte. Leider hatte sie im Moment nur keinen zur Hand.

Im Moment, Linda?

Vor einigen Monaten war sie vierzig geworden, und immer noch gab es keinen Mann in ihrem Leben. Es hatte auch nie einen gegeben, abgesehen von einem kurzen Zwischenspiel vor fünf Jahren, als sie Michele Balistreri aus dem Krankenhaus zu sich geholt hatte, damit er sich von den Verletzungen erholte, die der Unsichtbare ihm zugefügt hatte. Damals hatte sie geglaubt, ihr männliches Gegenstück gefunden zu haben, den einzigen Mann auf der Welt, der zu ihr passte.

Mehrere Monate hatten sie zusammengelebt, miteinander zu Abend gegessen, Wein getrunken und geredet, in einer Art Seelenverwandtschaft, die weniger auf Worten beruhte als auf dem, was nicht gesagt wurde. Mit Balistreri hatte sie ein Recht wiedererlangt, das die Frauen verloren haben.

Das Recht, wir selbst zu sein, und nicht das, was die Männer von uns erwarten.

Doch sie hatten sich nicht einmal geküsst. Diese Tür war verschlossen geblieben. Und irgendwann folgte auf die Ruhe ein Sturm, aus dem sie in vielerlei Hinsicht gestärkt, aber auch geschwächt hervorgegangen war. Die Stärke und die Schwäche waren die beiden Seiten ihres Zynismus, der sie unabhängig machte, aber auch vollkommen unfähig, sich den Regeln des Flirtens zu unterwerfen.

Sie schob den Gedanken an Balistreri beiseite und versuchte sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie war hergekommen, um über den Bürgerkrieg zu berichten, dessen Ende, nachdem scheinbar erst die Rebellen und später Gaddafi gesiegt hatten, seit der Einmischung der NATO wieder völlig offen war. Die Nachrichten aus dem Kampfgebiet ­waren widersprüchlich, aber zuverlässig grausam. Dieser Krieg wurde am Boden geführt, von immer müderen Truppen mit immer dürftigeren Mitteln, und war geprägt von den gewaltsamen Übergriffen auf die Zivil­bevölkerung und den Bomben, die im Namen der Freiheit anderer abgeworfen wurden. Der Freiheit des Erdöls. Linda hatte schon einen Artikel über die mysteriöse Ermordung von General Younis geschrieben, des einstigen Gaddafi-Getreuen, der möglicherweise ein Verräter war, vielleicht aber auch ein gezielt bei den Rebellen eingeschleuster Spion. Jetzt musste sie etwas über diese schreckliche Sache in Sawija schreiben.

Sie konnte es kaum erwarten, Tripolis zu verlassen und sich wieder den Kinderheimen und Krankenhäusern in Zentralafrika zu widmen, was sie seit dem Tod des Unsichtbaren und der Trennung von Michele Balistreri häufig tat.

Nur in den Slums von Mitumba, inmitten der Zukunftslosen, wo schon das nackte Überleben einen Triumph darstellte und die Besitzlosigkeit weder eine religiös motivierte Entscheidung noch die Folge ­eines finanziellen Ruins war, nur dort ließen die Langeweile, die Wut und der alltägliche Zynismus ein wenig Raum für die Balance zwischen der Sinnlosigkeit des Lebens und der Unausweichlichkeit des Todes.

Denn in Mitumba gab es keine Schulen, in denen man das Mors tua vita mea hätte lehren können. Eine überflüssige Vorstellung für jemanden, der zeit seines Lebens an der Seite des Todes marschiert.

Nur ein paar Stunden musste sie noch aushalten. Am nächsten Tag im Morgengrauen ging ihr Flug nach Nairobi, aber an diesem Abend hatte sie es noch mit diesem Krieg zu tun.

Sie stand auf, strich sich das Kleid glatt, warf keinen Blick in den Spiegel und dachte im Traum nicht daran, Lippenstift oder auch nur einen Hauch Make-up aufzutragen. Sich für einen Verehrer nicht schön zu machen, war eine Spätfolge dessen, was der Unsichtbare ihr angetan hatte, das wusste sie. Doch schlimmen Erinnerungen kommt man nicht mit bloßer Willenskraft bei.

Sie fuhr mit dem Lift in die Lobby hinunter und betrat die Hotelbar. Ein obligatorisches abendliches Ritual, um den neuesten Klatsch über den Krieg und ein bisschen Material für ihren Artikel zu sammeln. Irgend­eine Neuigkeit konnte man immer aufschnappen, wenn einem der Kollegen etwas entschlüpfte, weil er zu tief ins Glas geschaut hatte oder sich aufspielen wollte.

»Miss Nardi!«

Den libanesischen Bauunternehmer Bashir Yared kannte sie aus Nairobi. Er war ein einfacher, aber liebenswürdiger und höflicher Mann um die fünfzig, der ihr immer den Hof machte.

»Was tun Sie denn hier in Tripolis, Mister Yared?«

Er verbeugte sich und küsste ihr die Hand. In seinem blauen Blazer und der roten Krawatte wirkte er sehr elegant.

»Ich bin geschäftlich hier. Und um Sie zu einem Aperitif einzuladen, wenn Sie gestatten.«

Am liebsten hätte sich Linda gleich wieder auf ihr Zimmer geflüchtet, wie immer in solchen Momenten. Allein zu sein, empfand sie als Wohltat, nicht als Last. Andererseits wollte sie nicht unhöflich sein zu diesem so freundlichen Mann, und da sie unbedingt auch noch einen Aufhänger für ihren Artikel finden musste, nahm sie die Einladung an.

Sie setzten sich an einen Tisch. Der Raum war von heiterem Lärm erfüllt und wimmelte von Menschen aus dem Westen und Arabern, die mehr über Geschäfte plauderten als über den Krieg. Über Geschäfte, die ihnen dieser Krieg überhaupt erst ermöglichte.

Niemand von den Leuten hier im Rixos wird sterben. In den Kampf ziehen nur die armen Teufel, wie immer.

Bashir bestellte ein alkoholfreies Bier, Linda ein Tonicwater. Nachdem Linda dankend abgelehnt hatte, zündete er sich eine seiner dünnen Mentholzigaretten an.

»Stört es Sie, wenn ich rauche, Miss Nardi?«

»Nein, rauchen Sie ruhig. Es ist nur einfach ein Laster, das ich nicht teile …«

»Ich weiß, dass es ein Laster ist. Deshalb habe ich meiner Frau auch versprochen, damit aufzuhören. Wie sagen Sie noch, ein …?«

»Ein Gelübde?«

»Genau. Und das habe ich abgelegt, weil meine einzige Tochter, die schon fast zwanzig ist, demnächst heiraten wird. Jetzt, wo sie mir geraubt wird, überlege ich schon, ob ich nicht eine zweite Tochter haben sollte …«

Auf diese Weise gab er ihr zweierlei zu verstehen. Sein Befremden darüber, dass eine so schöne Frau wie sie mit vierzig immer noch keinen Mann hatte. Und die Tatsache, dass er über starke Spermatozoen verfügte, die auch in seinem fortgeschrittenen Alter noch zeugungs­fähig waren.

»Sie heiratet in der Kirche«, fügte er hinzu. »Wir sind nämlich Christen. Dreihundert Gäste sind eingeladen.«

Linda fragte sich, ob Bashir Yareds Stolz der Hochzeit an sich galt, der langen Gästeliste oder seiner Glaubensrichtung, der er vermutlich einen höheren Zivilisationsgrad beimaß als dem muslimischen Teil seines Volks.

»Führt Ihre Arbeit Sie hierher, Mister Yared?«

Er musterte sie durch die nach Minze duftenden Rauchwolken hindurch. Hier drinnen rauchten alle.

»Es hagelt Aufträge, Miss Nardi. Kriege sind für mich ein Geschenk des Himmels.«

Er zwinkerte ihr zu.

»Und mit dem neuen Krankenhaus in Nairobi geht es auch voran?«, fragte Linda, um die Zeit totzuschlagen, die sie hier bei ihrem Aperitif saßen.

Er grinste wie jemand, der es faustdick hinter den Ohren hat.

»Sicher, das Projekt geht voran, und ich habe den Auftrag bekommen. Man setzt den Kostenvoranschlag doppelt so hoch an, erhält den Zuschlag und gibt die Hälfte anschließend wieder zurück. Natürlich schwarz. Italienische Regeln und kenianische Buchhaltung, die perfekte Mischung …«

»Das Krankenhaus planen doch nicht Italiener, sondern Schweizer«, wandte Linda ein.

Er zuckte mit den Schultern, als sei das vollkommen belanglos.

»Nichts an der Schweiz ist ganz und gar schweizerisch, Miss Nardi. Von Schokolade, Uhren und Banken einmal abgesehen. Das Konsortium sitzt zwar im Tessin und ist der Fassade nach schweizerisch, aber es wird von Italienern geführt und verfolgt rein italienische Interessen.«

Linda war seit vielen Jahren Journalistin. Sie wusste, wie es in der Welt zuging und dass es dumm und sinnlos war, sich zu empören. Mit solchen Geschichten verdiente sie ihre Brötchen. Dennoch erlag sie gelegentlich noch der Versuchung, sich übermäßig aufzuregen und ihre Reportagen für ein wirksames Mittel der Veränderung zu halten. In Wirklichkeit gab es nichts, was sie tun konnte, und nichts von dem, was Bashir Yared erzählte, war ihr neu.

Die Vorgehensweise war allseits bekannt und verdankte sich der berühmten italienischen Kreativität, auch wenn es hier nicht um Mode oder Kunst, sondern um Buchführung ging. Die Italiener waren die Meister der überhöhten Rechnungen, schwarzen Kassen und gefälschten Bilanzen.

Diese Geschichten interessieren niemanden mehr. Kleinigkeiten, die ungestraft durchgehen und keine Zeitungsmeldung mehr wert sind. Bashir Yared versucht sich interessant zu machen, weil er weiß, dass ich Journalistin bin.

»Das wundert mich nicht, Mister Yared. Leider wird in den Medien schon gar nicht mehr über so etwas berichtet, weil sich die Leute längst daran gewöhnt haben.«

Doch er ließ sich nicht entmutigen.

»Das Projekt des neuen Krankenhauses von Mitumba wird unter anderem mit öffentlichen Geldern aus Italien finanziert. Und ein Teil dieses Kapitals fließt auch wieder zurück.«

»Nach Italien?«, fragte Linda.

Sie stellte diese Frage aus purer Höflichkeit, ohne sich wirklich dafür zu interessieren. Bashir zog eine noch verschlagenere Miene.

»Nicht nach Italien, aber fast. In einen Staat mitten in Rom. Auf eine ganz besondere Bank.«

Linda wurde ein klein wenig aufmerksamer.

»Die Vatikanbank?«

Bashir nickte. »Das Istituto per le Opere di Religione, auch die Bank Gottes genannt, oder?«

»Ja, so wird sie genannt. Und was macht Sie so sicher, dass das Geld ausgerechnet dorthin fließt?«

»Intuition und ein Indiz. Gabriele Cascio, der Geschäftsführer des Schweizer Konsortiums, das die Klinik baut, ist Italiener. Er kommt jeden Morgen auf die Baustelle. Um sieben Uhr abends fährt er zurück in seine Wohnung in Nairobi Central, begibt sich in den Bluebird Club und sucht sich dort weibliche Gesellschaft.«

Linda lächelte.

»Daran ist nichts Ungewöhnliches, wie mir scheint …«

»Mag sein, aber sonntags bricht er zwei Stunden früher auf, um schwarzes Geld in weißes zu verwandeln. Wie Sie wissen, wird hier in Afrika sonntags gearbeitet. Wollen wir uns beim Abendessen weiter ­darüber unterhalten, Miss Nardi?«, schlug Bashir hoffnungsvoll vor.

Die Einladung war mehr ein Akt der Ritterlichkeit als ein ernst zu nehmender Versuch, sich an sie heranzumachen. Manche Männer gaben Unsummen für Restaurants, Schmuck oder Reisen aus. Andere bezahlten lieber eine Prostituierte.

Linda war müde, sie brauchte einen Aufhänger für ihre Kriegsreportage, und diese Geschichte interessierte sie herzlich wenig. Sie beschloss, sich mit einer bewährten Entschuldigung herauszureden, die ihr geeignet schien, niemanden vor den Kopf zu stoßen. Außerdem stimmte sie in diesem Fall sogar.

»Ich muss leider noch packen, morgen fliege ich ganz früh nach Nairobi.«

Bashir lächelte und gab sich Mühe, seine Einladung noch attraktiver zu gestalten.

»Seit seiner Zeit bei der Vatikanbank ist dieser Gabriele Cascio angeblich ein Vertrauter des Monsignore, der gelegentlich nach Kenia kommt, um wohltätige Einrichtungen zu eröffnen. Er trägt den schönen italienischen Namen Pizza.«

Linda war einen Moment lang verblüfft. Monsignor Eugenio Pizza, der die vertraulichere Anrede Don Eugenio vorzog, war der geheimnisumwobenste Mann der katholischen Kirche. Seine Karriere in den Hinterzimmern des Vatikans stellte ein Rätsel dar, über das sich mit der Zeit ein undurchdringlicher Nebel gelegt hatte.

Wohltäter oder Betrüger?

»Und woher wissen Sie das, Mister Bashir?«

Er lächelte weiter.

»Ich bin ein gut informierter Mann. Sie wissen doch, dass ich in Nairobi jeden kenne …«

In diesem Moment eilte eine junge Blondine mit feinen, westlichen Gesichtszügen durch die Hotelhalle und die Bar. Sie hatte eine schmale, schlanke Figur und war elegant, aber nicht aufreizend gekleidet. Begleitet von vier jungen Herren, die aussahen, als gehörten sie zum liby­schen Geheimdienst, folgte sie einem Araber um die sechzig mit olivfarbenem Teint, tiefen Falten, hohlen Wangen, ausgeprägten Wangenknochen und dichtem, leicht krausem grauem Haar. An einem seiner Ohren schien ein Stück zu fehlen. Der Tross betrat eilig einen Fahrstuhl und verschwand.

Bashir Yared war sichtlich erblasst.

»Kennen Sie die Frau?«, fragte Linda. Der Libanese schüttelte den Kopf.

»Nein, die Frau nicht. Das war wahrscheinlich nur eine Escort-Dame von …« Er verstummte.

»Von dem Libyer? Ist er einer Ihrer Konkurrenten?«

»Er ist kein Unternehmer …«

»Ein Freund von Gaddafi?«

Bashir Yared wollte ihr imponieren und stand unter dem Eindruck der unterschiedlichsten Dinge: Lindas Busen, den er unter der weiten, hochgeschlossenen Bluse erahnte, seinem leeren Magen und der Unruhe, die Afrika in diesen Tagen wegen der Aufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen ergriffen hatte.

»Haben Sie gehört, was in Sawija geschehen ist, Miss Nardi?«

Natürlich hatte sie die Gerüchte über das Massaker gehört. Mehr als Gerüchte, als hätte das Regime diesmal gar nichts verschleiern wollen, sondern alles offengelegt. Bashir Yared war wie immer gut informiert, auch in Tripolis.

»Hat dieser Mann etwas damit zu tun?«

»Es heißt, der Mord an General Younis sei ebenfalls sein Werk …«

Linda wollte weiterbohren, doch plötzlich bekam es Bashir mit der Angst zu tun, täuschte eine wichtige Verabredung vor und empfahl sich mit Handkuss und Verbeugung.

Linda ging zurück auf ihr Zimmer und machte sich ein paar Notizen für ihren Artikel. Das Massaker von Sawija, vergewaltigte Frauen, ermordete Kinder und Alte, verstümmelte Männer. Sie war froh, dass sie bald wieder hier wegkonnte. Der Unsichtbare, mit dem sie es aufgenommen hatte, war nur ein einfacher Mörder mitten im Leben gewesen, wo das Leben noch einen hohen Stellenwert hatte.

Hier ist es viel schlimmer. Hier gibt es Leute, denen ein Menschen­leben nichts wert ist.

Rom

Wenn der Arbeitstag sich dem Ende zuneigte, streckte Balistreri das Bein mit dem kaputten Knie unter dem Schreibtisch aus, den Fuß unwürdig auf einen Schemel gelegt, rauchte eine Zigarette nach der anderen und unterschrieb Dokumente, die er nicht einmal mehr las.

So funktionierte die italienische Bürokratie, vom Strafzettel bis hin zu den grundlegendsten Gesetzen: Ein Mitarbeiter formulierte einen unverständlichen Text, den seine Vorgesetzten einer nach dem anderen unterzeichneten, ohne ihn gelesen zu haben. Aber sie hätten ihn ohnehin nicht verstanden.

Im Übrigen war es Balistreri ganz recht, dass er sich nur noch mit Papierkram befasste statt mit Verbrechen. Ihm fehlte noch ein knappes Jahr bis zur Pension, aber eigentlich war er schon vor fünf Jahren in den Ruhestand gegangen, nach der Sache mit dem Unsichtbaren und dem ganzen Rest. Wenn ihm dieser »ganze Rest« namens Linda und Angelo wieder einmal im Kopf herumspukte, drehte er die Musik voll auf und verjagte sie mit Leonard Cohen.

Corvu klopfte an seine Bürotür. Das hatte er sich vor Jahren so angewöhnt, und Balistreri wusste, dass er ihm und sich selbst nur die peinliche Situation ersparen wollte, ihn auf dem Sofa liegend vorzufinden statt hinter dem Schreibtisch. Zwei Schläge, Pause, dann ein dritter Schlag waren das Erkennungszeichen des kleinen Sarden. Typisch für die mathematische Strenge des besten Analytikers der gesamten Polizei.

Balistreri legte den Papierkram beiseite, zündete sich eine Gitane an und streckte sich auf dem schwarzen Ledersofa aus, als hätte er den ganzen Tag mit Nichtstun verbracht. Erst dann rief er: »Herein!«

Corvu trat ein, akkurat gekämmt und rasiert und sogar einigermaßen ansehnlich gekleidet, was nur seiner Verlobten Natalya zu verdanken war. Die rote Krawatte zu dem weißen Hemd und dem grauen Anzug trug eindeutig ihre Handschrift. Corvu gab sich Mühe zu ignorieren, dass sein Chef auf der Couch lag.

»Hübsche Krawatte, Corvu, tolle Farbe.«

»Danke, Dottore. Rot ist Natalyas Lieblingsfarbe. Sie lässt Sie übrigens herzlich grüßen. Und wenn Sie am Sonntag Lust haben, zum Mittagessen zu kommen …«

Obwohl Corvu ein ausgezeichneter Koch war, erschauderte Balis­treri schon bei dem Gedanken.

Allein die Vorstellung, zwei Stunden lang Small Talk machen zu müssen …

»Lust hätte ich schon, aber leider habe ich Antonella versprochen, mit ihr ans Meer zu fahren …«

»Prima, das ist doch schön!«, entschlüpfte es seinem Stellvertreter.

Corvu bereute es augenblicklich. Er verehrte seinen Chef wie einen alten Guru und machte sich Sorgen, wenn er Gewicht verlor, übermäßig rauchte und trank oder zu viel allein war. Und Antonella war eine Seele von Mensch: Liebhaberin, Freundin und wenn nötig auch Krankenschwester.

So etwas durfte Corvu zwar denken, aber nicht aussprechen.

»Kann ich kurz mit Ihnen über Giulia Piccolo reden, Commissario?«

Balistreri verspürte ein Ziehen in der Speiseröhre. Verdammtes Sodbrennen. Allein der Name ließ seinen Magen rebellieren.

Giulia Piccolo war ein komplizierter Fall. Aufgewachsen in einer kleinen Küstenstadt bei Palermo, in einer Familie, die außer der unterwürfigen Mutter ausschließlich aus Männern bestand. Hundertsiebenundachtzig Zentimeter stählerne Muskeln und noch dazu lesbisch. Sie war von dort geflohen, in Rom gestrandet und hatte gemeinsam mit Corvu, mit dem sie eng befreundet war, die Aufnahmeprüfung für den Polizeidienst abgelegt.

Für Balistreri war sie ein Geschenk und zugleich ein Fluch gewesen. In vielen Ermittlungen hatte Giulia Piccolo zum entscheidenden Erfolg beigetragen, doch ihre Körperkraft und ihr ausgeprägter Leichtsinn hatten sie immer wieder zu großen Dummheiten verleitet. Sie hatten einige Hochs und Tiefs miteinander durchgestanden, die schließlich in der Jagd nach dem Unsichtbaren ihren Höhepunkt gefunden hatten.

Als Balistreri seine beiden Stellvertreter vor fünf Jahren gebeten hatte, ihm in die Mordkommission zu folgen, hatte Corvu angenommen, ohne einen Augenblick zu zögern, doch Giulia Piccolo hatte die Versetzung abgelehnt. Er hatte keine Erklärung von ihr verlangt. Von Frauen verlangte er nie eine Erklärung, da er Worte für überflüssig hielt. Seitdem grüßten sie sich nur noch knapp, wenn sie sich über den Weg liefen.

Balistreri stand mit Duldermiene vom Sofa auf.

»Was ist mit Piccolo?«

Corvu hüstelte und räusperte sich.

»Gestern kam es zu einem heftigen Disput zwischen Giulia und zwei Kollegen. Die beiden hatten zwei junge Mädchen angehalten, die sich küssten, angeblich auf den Mund und zu leidenschaftlich, in der Ecke einer U-Bahn-Station. Die Mädchen behaupten, sie seien von den Männern beleidigt worden. Als sich aber die eine mit einem ›Leck mich am Arsch‹ revanchierte, wurden sie sofort in Handschellen gelegt.«

Balistreri schloss die Augen. Den Rest konnte er sich denken.

»Und genau in diesem Moment kam Giulia Piccolo vorbei?«, vermutete er.

Corvu bekam einen Hustenanfall, offenbar peinlich berührt.

»Giulia behauptet, sie habe sich sofort zu erkennen gegeben, während die beiden Polizisten sagen, sie habe ihre Dienstmarke nicht gezeigt. Resultat: ein Kollege mit gebrochener Nase, der andere mit einer angeknacksten Rippe.«

»Und die Zeuginnen?«

»Die Mädchen haben ausgesagt, Giulia sei verbal und tätlich angegriffen worden und habe sich nur gewehrt.«

Balistreri zweifelte nicht daran, dass es sich genau so abgespielt hatte, aber das würde Piccolo nicht vor dem Rauswurf bewahren. Bei der Polizei zeigte man wenig Verständnis für Mitarbeiter, die ihre eigenen Kollegen verprügelten.

Corvu fuhr in einem leidenden Tonfall fort.

»Der Leiter der zweiten Sektion hat Colombo aufgefordert, Giulia Piccolo freizustellen.«

Colombo war der Chef der Squadra mobile und besetzte den Posten, den Balistreri abgelehnt hatte.

»Und jetzt, Corvu?«

Das war pure Gemeinheit. Er wusste genau, was Corvu sich von ihm erhoffte. Aber um das tun zu können, musste er seinen Stellvertreter davon überzeugen, dass er es niemals tun würde.

»Colombo muss jetzt eine Entscheidung treffen, Commissario, und ich hatte gehofft …«

Darauf ließ sich Balistreri gar nicht erst ein.

»Raus, Corvu, und geh mir nicht noch einmal mit dieser Verrückten auf die Nerven.«

Corvu senkte den Kopf.

»Schon gut, vielleicht überlegen Sie es sich ja noch einmal. Ich wollte nur zu bedenken geben, dass die Zeit drängt. Und morgen könnte ich ja herkommen, falls Sie irgendwohin müssten mit …«

Als er Balistreris warnenden Blick sah, brach er ab und verließ eilig den Raum.

Balistreri wählte die Durchwahl von Colombo.

»Balistreri! Irgendeine schöne neue Leiche zu vermelden?«

Der ironische Unterton störte ihn noch mehr als die joviale Art. Colombo war ein passabler Polizist, aber er fühlte sich zu wohl in seiner Rolle, besonders wenn er es mit Journalisten zu tun hatte.

»Ich rufe wegen Giulia Piccolo an«, sagte Balistreri knapp.

»Hör bloß auf! Die macht wieder nur Ärger mit ihrem Hitzkopf.«

»Piccolo ist einer der wenigen echten Ermittler, die wir haben, ­Colombo.«

»Mag sein«, sagte er vorsichtig, »aber unter diesen Umständen kann man sie nicht mehr in Schutz nehmen, das wirst du einsehen.«

Balistreri wollte das Gespräch auf das Wesentliche beschränken.

»Man kann sie genauso in Schutz nehmen wie ich damals deinen Sohn, als ich ihn aus dieser Party zugekokster Minderjähriger rausgeholt habe.«

Am anderen Ende der Leitung hörte er Colombo schwer schlucken.

»Was schlägst du vor, Balistreri?«

»Zwei Monate Suspendierung ohne Lohnfortzahlung.«

»Mindestens drei«, konterte Colombo.

»In Ordnung. Und sag keinem, dass ich mich eingemischt habe, das würde kein gutes Licht auf dich werfen, oder?«

»Aber wenn sie zurückkommt, holst du sie in die Mordkommission, Balistreri. Bei der zweiten Sektion ist sie verbrannt, da will sie keiner mehr.«

»Mal schauen«, murrte Balistreri und legte grußlos auf.

Zwei Stunden später trat ein strahlender Corvu in sein Zimmer.

»Giulia hat nur drei Monate Suspendierung bekommen. Sie haben doch noch mit Colombo gesprochen, oder?«

Balistreri erhob sich vom Sofa und trat einen Schritt auf Corvu zu, der schnell zurückwich.

»Corvu, wenn du es wagst, so einen Unsinn in die Welt zu setzen, schicke ich dich nach Sardinien zu den Ziegen zurück.«

Corvu verkniff sich ein Lächeln. So war Balistreri. Einen Akt der Großzügigkeit empfand er als Schwäche. Corvu entschuldigte sich und suchte das Weite.

Balistreri blieb allein zurück. Um sich ein bisschen die Zeit zu vertreiben, warf er einen flüchtigen Blick auf die Tageszeitungen, die er noch nicht gelesen hatte. Il Domani brachte einen Artikel von Linda Nardi aus Tripolis über den Tod von General Younis. Aus irgendeinem Grund verstörte es ihn zutiefst, den Namen Linda Nardi in Verbindung mit diesem Ort zu lesen. Und es rief ihm sofort die Geschehnisse von vor fünf Jahren in Erinnerung: eine Liebe, die vielleicht nie begonnen, vielleicht nie aufgehört hatte, und die erbitterte Jagd auf den Unsichtbaren, die Linda Nardi und Giulia Piccolo mit allen Mitteln durchgezogen hatten, unter Einsatz ihres Lebens und ohne Rücksicht auf die Vorschriften.

Die beiden sind genauso wie diese Jungs vor so vielen Jahren, wie Mike und Ahmed, die sich über Gefahren und Regeln einfach lustig machten.

Tripolis, 1962

Mike Balistreri

Ich stamme aus der einflussreichsten und vermögendsten Familie von Tripolis, aber meine besten Freunde Ahmed und Karim sind die jüngsten Söhne Mohammed al-Bakris, der rechten Hand meines Vaters. Und Nico Gerace, der Paria meiner Klasse, den ich als Einziger in Schutz nehme, wenn ihn alle aufziehen und »Busch« oder »Benzin« nennen. Dass ich meine Zeit lieber mit diesen Jungs verbringe als in den mondänen Strandclubs am Meer mit den Söhnen italienischer, englischer und amerikanischer Bonzen, sieht mein Vater gar nicht gern.

Heute ist es sehr heiß im Garten hinter den Villen. Der Schweiß läuft mir den Nacken hinunter, und die Spatzen veranstalten einen Mordslärm.

Ahmed ist zurück aus der Moschee und wartet schon auf den Beginn unseres Duells. Er ist als Cowboy verkleidet, mit der kompletten Montur, die ich einmal geschenkt bekommen habe, jetzt aber nicht mehr brauche.

Laura Hunt sitzt im Schatten des Eukalyptusbaums und plaudert mit Karim. Er spielt nicht mit in meinen Filmen, weil er sehr religiös ist und denkt, Filme seien etwas für Ungläubige. Wir diskutieren oft ­darüber, Karim und ich. Anders als Ahmed und Nico, die immer auf mich ­hören, folgt er nur dem Koran. Er gibt sich nur mit uns ab, weil er seinem großen Bruder gehorchen muss und weil er in der Nähe von Laura Hunt sein will, diesem wunderschönen Mädchen mit den hellen ­Augen, die ganz tief in einen hineinschauen. Laura und ich sind uns sympathisch und auch wieder nicht. Ich mag sie, und ich spüre, dass sie mich auch mag, aber wir sagen es uns nicht oft und nur auf seltsame Art und Weise. Anfangs nannte sie mich nur Michelino, um mich zu ärgern. Und ich nannte sie Bimba, »Kleine«. Jetzt nicht mehr. Wir ­machen beide Fortschritte. Und das gilt auch für unsere ­komische Art und Weise, uns zu mögen.

In meinem Remake des Schwarzen Falken erschießt der Häuptling der Comanchen den Cowboy John Wayne. Wer weiß, ob mein abgewandeltes Finale Lauras Vater William gefallen würde.

Heute spielen wir allerdings das Duell des letzten Films nach, den ich mit Großvater im Alhambra-Kino gesehen habe, El Perdido, mit Kirk Douglas und Rock Hudson.

Die Daumen hinter den Patronengürtel geklemmt, gehe ich zu ­Ahmed und erläutere ihm die Neuerung, und er schüttelt verwundert den Kopf.

»Mike, ich verliere lieber, wie immer.«

»Keine Angst, Ahmed, du verlierst ja auch. Aber diesmal bin ich derjenige, der stirbt, und du bleibst aufrecht stehen.«

Karim zählt die Schritte, Ahmed und ich drehen uns um und sehen uns in die Augen.

Dann fallen zwei Schüsse. Kirk Douglas geht in die Knie. Ich breche zusammen, eine Hand auf der Brust und die Augen halb geschlossen. Endlich schauen auch Laura und Karim auf. Sie sind überrascht. Es ist das erste Mal, dass ich in einem Duell unterliege.

Ich erkläre ihnen die Neuerung: Mein Revolver war nicht geladen, dafür hatte ich vor dem Duell gesorgt, um nicht meinen besten Freund Rock Hudson erschießen zu müssen.

Ahmed ist immer noch verdutzt.

»Ich bin lieber der, der stirbt.«

Laura wirft ihm einen Blick zu.

»Du würdest dich doch nie absichtlich erschießen lassen. Nicht einmal von Mike.«

Karim geht dazwischen.

»Für euch beide würde ich mich auch nicht erschießen lassen. Für Laura schon.«

Daran habe ich keinen Zweifel. Ich weiß, dass Karim mich einerseits bewundert, mich andererseits aber auch hasst. Ahmed und er haben das gleiche Gesicht, doch ihrem Wesen nach sind sie das genaue Gegenteil voneinander. Karim lebt für Ideale und den Koran, Ahmed glaubt nur an die Wirklichkeit und an sein Messer.

Und ich glaube nur an meine Träume.

SCHMIERGELD UND SCHWARZE KASSEN

Samstag, 30. Juli 2011

Nairobi

Es war kalt, als Linda landete. Doch es erfüllte sie sofort mit Glücksgefühlen, dort zu sein. Die lächelnden Gesichter im Chaos der Ankunftshalle, die Poster von Raubtieren und unglaublichen Landschaften am Flughafen Jomo Keniatta, die Stände mit Kunsthandwerk der Massai und die bunte Kleidung sorgten dafür, dass sie sich gleich leichter fühlte und voller Energie.

Sie begab sich in den Höllenlärm der Gepäckausgabe, wo sich nur die Ankömmlinge aus dem Westen lautstark über die Verzögerungen beschwerten. Als sie ihren Koffer endlich hatte, ging sie nach draußen und stieg in ein Taxi, das sich sofort in den chaotischen Verkehr einfädelte. Im modernen, sauberen Zentrum wurde der Verkehr dünner und geordneter, und Pkws verdrängten Laster, Pick-ups und Karren.

Als Linda eine Stunde später in ihrem Zimmer im African Beauty ankam, packte sie nicht einmal ihren Koffer aus. Sie war todmüde und hätte sofort auf dem Bett zusammenbrechen können. Doch daran war gar nicht zu denken. Sie hatte weder Geld noch Zeit, um länger als zwei, drei Tage in Kenia zu bleiben, und während des Flugs hatte sie sich entschieden, nicht nur ihre geliebten Waisenkinder zu besuchen, sondern auch Recherchen über das anzustellen, was ihr Bashir Yared in Tripolis erzählt hatte. Vielleicht lohnte es sich ja doch. Sie duschte, zog sich um und ging los.

Sie durchquerte die Grünanlagen des Central Park und kaufte sich ein Motorrad aus dritter Hand, um schneller vom Fleck zu kommen.

Dann fuhr sie durch die City, vorbei an hypermodernen Wolkenkratzern, Einkaufspassagen, eleganten Boutiquen, Überführungen und funkelnden Hotels. Doch kaum hatte sie all das hinter sich gelassen, weilte sie auf einem anderen Planeten.

Niemand hielt sich mehr an die Fahrbahnmarkierungen. Alle hupten wild durcheinander und fuhren über die Kreuzungen, ohne auf Ampeln zu achten. Es ging im Schritttempo voran, und die Massen von Fußgängern, die die Straße überquerten, wann und wo auch immer es ihnen passte, ergossen sich im Slalom zwischen die Autos, Laster und Motorroller. Aus dem Nichts auftauchende Ziegen und kraterähnliche Schlaglöcher waren dem Verkehrsfluss auch nicht gerade förderlich.

Sie fuhr einmal quer durch die große Stadt bis nach Mitumba, im südlichen Sektor, neben dem kleinen Wilson Airport. Es war der ärmste Slum von Nairobi, mit einem Durchschnittseinkommen von einem halben Euro pro Tag und einem beachtlichen Anteil an Aidsinfizierten. Hier stand das Kinderheim, das einen italienischen Namen trug, den Namen des Unsichtbaren.

Wenn sie diesen Ort und diesen Namen sah, packten sie jedes Mal widersprüchliche Gefühle. Die Erinnerung an das Geschehene war unauslöschlich, doch die Bedeutung hatte sich mit den Jahren verändert.

Dies war einmal das Testament des Unsichtbaren gewesen. War der Mann, nach dem dieser wohltätige Ort benannt war, das Böse schlechthin? Sicher, durch ihn war vielen Menschen Schlimmes widerfahren. Vielen anderen aber auch Gutes. Hatte er das Urteil verdient, das sie über ihn verhängt hatte? Hatte sie sich um der Waisenkinder willen die Fortführung des einzigen wohltätigen Werks des Unsichtbaren zur Aufgabe gemacht oder aus Gründen posthumer Wiedergutmachung?

Beides war richtig, aber das Entscheidende war: Beides war echt.

Kaum war sie da, wurde sie von den Schwestern umarmt, und die Kinder strömten auf sie zu. Hätte sie nicht das nötige Geld aufgetrieben, die Behörden überzeugt und die Bauarbeiten überwacht, wären viele dieser Kinder längst auf der Straße gelandet und vielleicht schon tot.

Sie beschäftigte sich stundenlang mit den Kleinen. Wenn sie mit ­ihren italienischen Handpuppen spielte, Harlekin und Pulcinella, bogen sich die Kinder vor Lachen. Das Schauspiel riss sämtliche Sprachbarrieren nieder. Sie aß mit den Schwestern und den Kindern zu Abend, half dabei, sie ins Bett zu bringen, und gab jedem noch einen Gutenachtkuss.

Dann stieg sie wieder auf ihr Motorrad und fuhr zurück in die Stadt. Aus der Hölle von Mitumba ins Paradies von Central Park, hätte manch einer gesagt. Doch für Linda Nardi war es das genaue Gegenteil. In ihrem Zimmer zog sie sich aus, warf sich aufs Bett und sank in einen tiefen, erholsamen Schlaf.

Sonntag, 31. Juli 2011

Nairobi

Linda verbrachte den ganzen Vormittag im Kinderheim, um Verwaltungsfragen zu klären und mit den Schwestern nach Lösungen für die verschiedenen Probleme zu suchen. Dann spielte sie mit den Kindern, aß mit ihnen zu Mittag und fuhr nach dem Essen wieder fort.

Sie folgte den Außengrenzen des Slums bis zu den Büros des Schweizer Konsortiums Elcon. Die Baustelle war mit Stacheldraht umzäunt und von bewaffneten Wachleuten umstellt. Sie erhob sich inmitten von Müllbergen, offenen Abwasserkanälen, Behausungen aus Pappe und Blech, zusammengeknoteten und von wenigen Holzmasten baumelnden Stromkabeln und hageren Ziegen, Hühnern, Hunden und Katzen.

Linda setzte sich in eine stinkende Bar in der Nähe der Baustelle und bestellte stündlich einen Kaffee, ohne auch nur daran zu nippen. Die Tassen sahen aus, als hätten sie seit Jahren kein Spülmittel mehr gesehen, und im Rucksack hatte sie einen Vorrat an Wasserflaschen und Bananen.

Um fünf Uhr erschien Gabriele Cascio, um der Bank seinen sonntäglichen Besuch abzustatten, von dem ihr Bashir Yared in Tripolis erzählt hatte. Mit einem an sein Handgelenk geketteten Aktenkoffer und flankiert von zwei bewaffneten Bodyguards, die ihm Bösewichte und Bettler vom Hals halten sollten. Sie stiegen in einen schwarzen Toyota Pick-up und fuhren los.

Linda setzte den Helm auf und folgte ihnen mit einigem Abstand. Mit dem Motorrad war es einfacher, sich durch das Gewirr aus Fahrzeugen, Menschen und Tieren hindurchzuschlängeln. Sie fuhren Richtung Westen, vorbei an dem von Hütten gesäumten National Park, und passierten eine aus verschlammtem Wellblech zusammengezimmerte Brücke, unter der auf einem trüben Flüsschen Exkremente und Müll dahintrieben. Morastige Rinnsale und stinkende Müllhaufen säumten die schmutzigen Straßen. Hier rannten keine Ziegen mehr über die Straße, sondern dicke Ratten, denen Linda mit dem Motorrad ausweichen musste. Die Behausungen waren auch keine Gebäude mehr, sondern aus Abfall zurechtgeschusterte Bruchbuden aus Wellblech, Pappkartons, Teppichen, Planen. Kein Kind trug Schuhe an den Füßen. Und keines hatte zum Kicken auch nur einen Lumpenball. Aber alle lächelten sie an. Wie ihre Waisenkinder.

Dann verließ der Pick-up Mitumba, und wenige Minuten ­später ­kamen sie zu einem kleinen Betongebäude mit dem beleuchteten Schriftzug ­Cooperative International Bank. Obwohl die Hälfte der Buchstaben ausgefallen war, hielt man für eine Bank Neon wohl für angemessener als ein gemaltes Schild.

Es war fast sechs Uhr nachmittags, kurz vor Schalterschluss. Linda ging das Risiko ein, gesehen zu werden, und betrat zwei Minuten nach dem Mann die Bank. Die heruntergekommene Filiale befand sich im Erdgeschoss. An den Kassen saßen zwei farbige Angestellte, und es waren ein paar weiße Kunden im Schalterraum. Cascio befand sich in dem einzigen abgetrennten Büro, wo man ihn durch die lädierte Jalousie hindurch vor einem Farbigen mit Brille sitzen sah. An der Tür hing ein schiefes Schild mit dem Aufdruck Director.

Sie suchte sich den unerfahrener wirkenden Angestellten aus, einen hübschen jungen Kenianer, erkundigte sich nach den Modalitäten für die Eröffnung eines Kontos und versuchte im Auge zu behalten, was hinter der Jalousie geschah. Sie sah, wie Cascio Hunderteuroscheine hinblätterte und der kenianische Direktor sie nachzählte.

Das ging eine ganze Weile so, und Linda wusste schon nicht mehr, was sie den Angestellten noch fragen sollte. Er mochte um die dreißig sein, sah wirklich gut aus und wirkte ziemlich verlegen, weil er den Umgang mit weißen Frauen offenbar nicht gewöhnt war.

»Would you like to have a beer?«, fragte Linda, ohne groß nachzudenken.

Der Bankangestellte riss die Augen auf.

»Sorry?«

Verwirrt und besorgt drehte er sich zum Büro des Direktors um. Sie lächelte und zeigte auf die Uhr an der Wand. Fünf vor sechs.

»Just a beer, five minutes. My name is Linda.«

Sein Lächeln wirkte ungläubig und leicht nervös, aber auch geschmeichelt.

»Okay. Me John Kiptanu. Fill module, please.«

Sie war erstaunt, wie leicht es ihr gefallen war, so ungeniert zu sein. Aber nicht sie war plötzlich eine andere. Der junge Mann ihr gegenüber war ein anderer.

Kiptanu reichte ihr den Vordruck für eine Kontoeröffnung, und um keinen Verdacht bei dem zweiten Angestellten zu erregen, tat sie so, als füllte sie ihn aus. Dabei sah sie, dass der Direktor Cascio Überweisungsformulare unterschreiben ließ. Anschließend stopfte sich der ­Italiener die Durchschriften in die Hosentasche und brach überstürzt auf. Linda sorgte dafür, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte.

Als sie zusammen mit dem jungen Kassierer vor die Bank trat, ließ die untergehende Sonne den Himmel pfirsichfarben leuchten. Sie hatte keinen Plan und wollte auch keinen haben. Und er hatte wohl noch nie in seinem Leben Pläne gemacht. Schon gar nicht mit einer Frau wie Linda Nardi.

John Kiptanu beäugte das Motorrad mit einer Mischung aus Entzücken und Furcht.

»Yours, lady?«

Linda drückte ihm den Helm in die Hand und half ihm beim Anziehen. Dann ließ sie ihn hinten aufsitzen. Sie waren sicher die einzigen Motorradfahrer mit Helm von ganz Nairobi. Als sie in Richtung Innen­stadt startete, klammerte sich John sofort an sie. Linda spürte, wie er sich zitternd an sie drückte, nicht aus Verlangen, sondern aus Angst. Sie drosselte das Tempo und fuhr so schnell wie die Radfahrer, bis sich der junge Mann etwas entspannte. So würden sie allerdings drei Stunden bis ins Zentrum brauchen. Linda hielt an, schaltete den Motor aus und drehte sich zu ihm um.

»Never been on a motorcycle?«

John sah sie an, pechschwarze Iris in strahlend weißen Augen.

»No. Me only bicycle. But I trust you, lady.«

Er schämte sich entsetzlich, als sei das ein untrügliches Zeichen dafür, dass er nicht würdig war, dort auf diesem Motorrad zu sitzen, hinter dieser kultivierten, attraktiven Weißen.

But I trust you, lady, ich vertraue dir.

Das war der schönste und wahrhaftigste Satz, den ihr ein Mann je gesagt hatte.

Der Satz, den Michele Balistreri mir verweigert hat.

Linda stieg wieder auf das Motorrad und befahl ihm, seine Arme vollständig um ihren Körper zu schlingen, auch wenn John sich verlegen dagegen sträubte. Sie fuhren weiter.

»Sorry, lady