Das Böse vom Gardasee - Alessandro Montano - E-Book

Das Böse vom Gardasee E-Book

Alessandro Montano

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Beschreibung

Nachtschwarzer Gardasee Dokumentarfilmer Luca Spinelli hat sich nach einem Schicksalsschlag in die Einsamkeit der Berge am Gardasee zurückgezogen. Als ihn sein alter Freund Kommissar Vialli um Hilfe bei mehreren grausamen Mordfällen bittet, lehnt er ab. Doch dann verschwindet der Kommissar selbst spurlos, und Spinelli sieht sich in der Pflicht zu helfen. Er taucht in eine dunkle Geschichte aus der Vergangenheit ein und ist sich plötzlich nicht mehr sicher: Wem kann er noch vertrauen – und wie gefährlich nah ist er dem Mörder bereits?

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Alessandro Montano verbrachte viele Jahre am Gardasee und schrieb Kritiken für verschiedene Filmmagazine, bevor er als Filmdramaturg diplomierte. Montano, der seinen ersten Roman 2017 veröffentlichte, lässt sich in seinen Geschichten immer wieder vom größten See Italiens inspirieren.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus M_Knab/photocase.de, Gordon Johnson/Pixabay.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-912-9

Originalausgabe

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I’ve watched you in class, your eyes are cut glass and you stay covered upHead to your toe, so nobody will notice you

I might not be a man yet, but that bastard will never beSo I’m cleaning my WeatherbyI sight in my scopeAnd I hope against hopeI hope against hope

Jason Isbell, »Yvette«

My father’s house shines hard and brightIt stands like a beacon calling me in the nightCalling and calling so cold and aloneShining ’cross this dark highway where our sins lie unatoned

Bruce Springsteen, »My Father’s House«

EINS

Es war dunkel im Raum. Lichtstreifen vom Morgenlicht, das durch die geschlossenen Fensterläden sickerte, schwebten scheinbar magisch in einer unbestimmbaren Entfernung, je länger er hinschaute. Wenn er die Augen wieder schloss, sah er sie immer noch, nur diesmal leuchtend blau. Diese Lichtstreifen waren wie seine Träume. Sie waren immer da. Wenn er schlief und wenn er erwachte. Sie ließen ihn nicht los. Sie veränderten ihre Farbe, aber niemals ihre Form. Zumindest nicht seit dem Unfall im Tunnel damals.

Alles in seinem Körper schmerzte. Jede Faser vermisste sie, jeder Muskel, jeder Quadratzentimeter Haut. Er glaubte, dass es einfacher für ihn wäre, wenn sie anders gestorben wäre. Aber die Nacht im Tunnel hatte sie einfach aus seinem Herzen gerissen und ein klaffendes Loch hinterlassen. Sein Herz tat, was es konnte, um gegen diesen Verlust anzukämpfen und anzupumpen. Aber wie lange es noch durchhielt, vermochte er nicht zu sagen.

Ich sollte jetzt besser aufstehen, dachte er. Die Fensterläden öffnen, das schmerzende Sonnenlicht hereinlassen und dann irgendetwas tun. Doch jeden Morgen stand er ratloser und ratloser vor dem Tag. Was konnte er machen, was ergab Sinn? Was würde irgendetwas besser machen? Was konnte ihn ablenken, zumindest für einen Augenblick? Immer wieder fragte er sich, ob es sich überhaupt lohnte aufzustehen.

»Luca!«, rief eine Stimme draußen vor der Tür. Schritte polterten auf der alten Veranda. Es war Massimo.

»Du bist zu früh!«, rief Luca.

»Gar nicht. Du schläfst zu lange«, kam es durch den schmalen Spalt in der Tür.

»Gar nicht.«

Luca rappelte sich auf und stöhnte. Mit ausgestreckten Händen tapste er durch die Dunkelheit auf die Tür zu. Er kannte sich in diesem Haus noch nicht gut genug aus, um nicht irgendwo anzustoßen. Er war erst vor Kurzem hier eingezogen. Ein kleines Haus, eigentlich mehr eine Holzhütte, auf einem verwilderten Grundstück direkt über dem Abgrund, dem Steilhang, der über Campione aufragte. Er und Martina hatten zusammenziehen wollen und seine alte Wohnung renoviert und vergrößert. Doch darin hatte er nicht mehr leben können. Er hatte sie verkauft und sich auf dieses kleine Stückchen Land zurückgezogen. Der Komfort war minimalistisch, aber mehr benötigte er nicht. Er brauchte die Abgeschiedenheit. Dafür war es perfekt. Er wollte allein sein.

»Luca!«, drängte Massimo ihn.

»Ja, ja, ich komm ja schon.« Er schlurfte schneller und schloss die Tür auf. Der kleine Massimo stand jetzt freudestrahlend vor ihm und hielt ihm ein Glas Honig hin. Auf dem Etikett waren eine Bleistiftzeichnung einer Biene und ein handgeschriebenes Datum zu sehen.

»Hier, für dich.«

»Danke dir.«

»Was machst du heute?«, fragte der Kleine.

Luca warf vorsichtig einen Blick hinaus in den Garten bis hinunter zum Grundstücksende, das von einem alten Drahtzaun und dichten, undurchdringlichen Brombeerbüschen begrenzt wurde.

»Weiß noch nicht. Und du?«

»Wir fahren nach Gargnano, Fisch kaufen.«

»Wann geht denn die Schule wieder los?«

Mürrisch senkte Massimo seinen Blick. »In zwei Wochen.«

»Tja, tut mir leid. Nutz die Zeit.«

»Deine Veranda ist kaputt, guck mal, hier und hier …« Er tippte mit seiner abgewetzten Schuhspitze auf morsche Stellen im Holz.

»Ja, ich weiß.«

»Irgendwann krachst du durch, und ich finde dich dann …« Er verdrehte die Augen nach oben und ließ seine Zunge aus dem Mund hängen, was Lucas Tod darstellen sollte.

»He, jetzt ist aber gut. Danke für den Honig, sag das deinem Vater.«

»Soll ich was einkaufen für dich?«, fragte Massimo.

»Ach so, ja … wenn es dir nichts ausmacht.«

»Wenn du Geld hast, nicht.«

»Gut, dann schreib ich dir schnell was auf.«

Luca suchte eilig einen Stift und ein Stück Papier und erstellte eine Einkaufsliste für den Jungen, die er ihm mit einem Fünfzig-Euro-Schein übergab.

»Alles klar, bis später«, sagte der Junge fröhlich, sprang von der Veranda und lief davon.

Luca trat aus dem Sonnenschutz des kleinen Vordachs ins hohe Gras und beschattete mit beiden Händen seine Augen. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber es würde ein heißer Tag werden. Ungewöhnlich heiß, immerhin war es schon Ende September. Irgendwo rechts von sich hörte er die Bienen seines Nachbarn um das kleine Dorf von Körben summen. Über den Rand der Büsche hinweg blickte er auf den See und das Monte-Baldo-Massiv, das auf der anderen Seeseite über Malcesine aufragte und den Ort so klein und zerbrechlich aussehen ließ. Er wollte Martina noch Guten Morgen sagen, bevor er frühstückte, und ging ins Haus, um das Teleskop zu holen. Luca hatte es sich gekauft, kurz nachdem er hier eingezogen war. Ursprünglich nur, um Malcesine sehen zu können, doch er hatte festgestellt, dass das Gerät zu wesentlich mehr in der Lage war. Er konnte von hier aus tatsächlich bis auf den Friedhof schauen und Martinas Grabstein sehen. Die Lage seines Grundstücks auf der Hochebene und der richtige Winkel ermöglichten es ihm, wann immer er wollte, ganz nah bei ihr zu sein. Das war eine gute und wichtige Feststellung für ihn gewesen. Und so war der Blick durch das Fernrohr zu einer täglichen Routine geworden.

Er platzierte das Stativ an einem bestimmten Ort auf der Veranda, montierte das schwere, fast einen Meter lange Teleskop darauf und stellte es ein. Das ging ihm inzwischen schnell von der Hand. Und da war es auch schon, Martinas Grab. Ein Schatten lag noch schräg über dem Stein wie ein Kleidungsstück, das man dort abgelegt hatte. Er erkannte die Umrisse der Inschrift und das kleine Foto, doch Schrift und Bild blieben letzten Endes immer ein wenig verschwommen. Manchmal waren Besucher auf dem Friedhof und gingen vorbei oder blieben an einem anderen Grab stehen. Aber das war ihm egal, er hatte in diesen Momenten stets das Gefühl, allein mit ihr zu sein, eine Verbindung zu ihr zu haben. Das Innere des Teleskops war wie ein Tunnel zwischen seinem Haus und dem Friedhof, durch den er einfach zu ihr gehen konnte, über den See hinweg, über alle Hindernisse hinweg, um bei ihr zu sein.

»Guten Morgen«, flüsterte er.

***

Es war bereits siebzehn Uhr, als Massimo mit den Einkäufen zurückkam. Luca war am Schreibtisch eingeschlafen, wo er versucht hatte, eine neue Filmidee zu skizzieren. In den letzten Jahren war seine Arbeit als Dokumentarfilmer mehr als nur zu kurz gekommen. Nachdem er als Berater für die Polizei tätig geworden war, war sie quasi zum Erliegen gekommen. Der neue Job hatte ihm zwar ein halbwegs geregeltes Einkommen geschenkt, aber auch viele Wunden aufgerissen. Er hatte Dinge gesehen, die kein Mensch so einfach verkraften konnte, und eine Reise in seine eigene Vergangenheit gemacht, bei der er sich schmerzhaften Erkenntnissen stellen musste. Mit Martina hatte das alles ein Ende gefunden, und nach Jahren der Dunkelheit hatte er geglaubt, es würde nun endlich wieder Licht in sein Leben kommen. Doch tatsächlich war das Gegenteil geschehen, als Martina ihm nicht lange darauf wieder genommen worden war. Die Dunkelheit, die ihn sein Leben lang begleitete, hatte sich in die schwärzeste Nacht verwandelt und wollte ihn einfach nicht mehr loslassen.

Luca war am Ende seiner Kräfte. Eigentlich wollte er nichts weiter als schlafen und schlafen. Die Gedanken, auf die er so sehr hoffte, Gedanken, die ihn ablenken oder in eine andere Richtung führen, die ihn anregen konnten, blieben aus. Stattdessen umarmte ihn die Müdigkeit wie ein träger Riese, aus dessen Fängen er nicht entkam.

Als Massimo ihn aus einem merkwürdig verqueren und grotesken Traum riss, in dem verunstaltete Menschen ihn zu etwas zwingen wollten und er am Ende über Wasser lief, um vor ihnen zu fliehen, fuhr er mit einem dumpfen Schrei hoch und erschrak sich selbst dabei.

»Luca, hast du schon wieder geschlafen?«

Massimo stand in der geöffneten Tür, zwei Einkaufstüten zwischen seinen Beinen.

»Bin wohl kurz eingenickt. Wollte arbeiten.«

»Wo ist eigentlich deine Filmkamera?«, fragte der Junge und sah sich im Zimmer um, während er die Tüten anhob und den Einkauf auf die Arbeitsplatte neben der Spüle stellte.

»Hab ich sie dir noch nicht gezeigt?«, fragte Luca und stand auf.

»Wolltest du nur.«

»Sie liegt gut einpackt in einem Koffer, aber …« Luca überlegte, ob er die Kamera nicht besser verkaufen sollte. Die Technik war inzwischen überholt, und er hatte sich auch schon länger nicht mehr damit befasst. »Ich packe sie irgendwann mal aus, dann machen wir ein paar Aufnahmen zusammen.«

»Wir können unsere Bienen aufnehmen.«

»Klar, und deinen Vater auch.«

Luca nahm die Einkäufe aus den Taschen und stellte sie in den Kühlschrank, während Massimo in seinen Hosentaschen nach dem Restgeld kramte.

»Hat irgendwas mit zweiundvierzig Euro gekostet«, sagte er und klatschte die Münzen auf den Tresen.

»Behalt den Rest. Vielen Dank.«

»Echt? Fast acht Euro?«

»Du hilfst mir beinahe jeden Tag, Massimo, ich steh wirklich tief in der Kreide bei dir.«

»Hä?«

»Na ja, ich stehe in deiner Schuld, verstehst du? Du tust etwas für mich, aber ich nicht für dich. Das hier ist deine verdiente Belohnung.«

»Ach so.« Massimo sah sich um und blieb dann wie versteinert stehen.

»Was ist?«

»Hörst du das auch?«

»Das Summen? Das sind eure Bienen.«

»Ja, aber nicht so nah.« Er ging ein paar Schritte in Richtung der gegenüberliegenden Wand und lauschte. »Kommt von hier, glaub ich.«

Luca stellte sich neben ihn und horchte.

»Hast recht.«

»Wir gucken mal von außen«, schlug Massimo vor und rannte hinaus.

Luca folgte ihm, und tatsächlich entdeckten sie in der Holzfassade ein Astloch, aus dem eine Biene herauskrabbelte.

»Du hast ein Nest«, stellte Massimo fest.

»Und jetzt?«

»Wir sagen meinem Papa Bescheid.«

Luca wartete auf der Veranda hockend nur ein paar Minuten, da kehrte Massimo auch schon mit seinem Vater zurück. Giorgio Voltalano war ein blasser kleiner Mann mit einem dicken Schnauzbart und kurzen Armen.

»Buonasera«, grüßte er.

»Buonasera.« Luca erhob sich und schüttelte ihm die Hand. »Ihr Sohn ist wirklich sehr aufmerksam. Dort oben hat er ein Nest entdeckt.« Er zeigte Giorgio das Loch. Der trat an die Wand heran, stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte sein Ohr gegen das Holz.

»Ich höre sie.«

»Können die da bleiben?«

»Ich würde sie besser herausholen. Die fressen sich durch, bis sie nachher in Ihrem Haus sind.«

»Können Sie das machen?«

Giorgio nickte. »Ich würde sie zu mir holen. Aber wir müssten die Fassade hier aufmachen und vielleicht erneuern.«

»Ihr Sohn meinte, meine Veranda hätte auch etwas Renovierung nötig.«

Giorgio blickte prüfend auf die alten Holzbohlen. »Die sind so gut wie durch. Da hilft kein Anstreichen mehr.« Er kratzte sich am Kopf und schien zu überlegen. »Ich könnte mit meinem Laster Holz besorgen und danach das Volk entfernen.«

»Das wäre unglaublich nett von Ihnen, den Rest kann ich selbst machen. Das kriege ich hin.«

»Okay, dann … Morgen schaffe ich es nicht mehr, aber übermorgen könnte ich das machen.«

»Gern, ich bezahle Sie auch für Ihre Arbeit. Ich bin froh, wenn Sie mir helfen.«

»Das regeln wir schon irgendwie.«

»Er steht in deiner Kreide«, sagte Massimo grinsend zu seinem Vater.

ZWEI

Abends gegen zwanzig Uhr, Luca hatte sich gerade mit einem Glas Weißwein neben das auf der Veranda stehende Teleskop gesetzt, hörte er, wie ein Auto seine Auffahrt hochgefahren kam. Er blickte um die Ecke des Hauses und erkannte den dunklen Alfa Romeo von Pasquale Vialli, dem Commissario, der ihn vor einigen Jahren zu der Zusammenarbeit überredet hatte und für ihn seither zu einem guten Freund geworden war.

Luca verstaute das Teleskop rasch im Haus und erwartete Pasquale dann in seinem Garten. »Ich bin hier hinten!«, rief er ihm zu.

Pasquale winkte mit einer Flasche Wein in der Hand. Er trug das Jackett seines Dienstanzugs über dem Arm und hatte zwei Knöpfe seines Hemdes geöffnet.

»Ciao, Luca«, sagte er und umarmte ihn.

»Schön, dass du kommst.«

»Was machst du so?«, fragte Pasquale und ließ seinen Blick flink über Hauseingang, Veranda und Garten gleiten. Vielleicht war es nur eine Berufskrankheit, die Details seiner Umgebung zu erfassen, vielleicht war es Sorge um Luca.

»Ich hab Bienen in der Hauswand.«

»Oh, das ist mal was anderes«, sagte Pasquale lächelnd.

»Setz dich, ich hol dir noch ein Glas.«

»Du hast nicht zufällig was zu essen da?«

»Ich hab frisches Brot und Wurst.«

»Wunderbar.«

Luca machte etwas für sie beide zurecht und gesellte sich dann zu Pasquale nach draußen.

Das Plateau warf seinen Schatten bis auf die Ostseite und verdunkelte Malcesine, während der Monte Baldo kupferfarben im Abendlicht leuchtete.

Sie blickten stumm auf diese Aussicht und ließen sich Wein und Brot schmecken.

»Wie geht’s dir so, kommst du zurecht?«, fragte Pasquale nach einer Weile.

»Alles bestens, danke.«

Pasquale wandte sich ihm zu. »Verarsch mich nicht, ich sehe, dass das nicht wahr ist.«

»Was soll ich denn sagen? Was willst du hören?«

»Ich will, dass du ehrlich bist. Du kannst mir alles sagen.«

»Ich will nicht jammern.«

»Ist mir klar, aber darüber zu reden, tut gut. Kannst du schlafen?«

»Ich schlafe zu viel«, entgegnete Luca ein wenig bitter. »Eigentlich will ich das gar nicht, weil ich dann immer wieder dasselbe sehe. Ich bin wieder in dem Tunnel, höre wieder den Einschlag, liege wieder auf der Straße und sehe sie dort im Auto sitzen.«

»Wie oft gehst du hier raus? Verlässt du das Grundstück überhaupt mal?«

»Na, ich muss doch einkaufen und so weiter.«

Pasquale nickte wenig überzeugt.

»Die Veranda mache ich jetzt neu. Das ist mein nächstes Projekt.«

Pasquale betrachtete die Holzbohlen unter seinen Füßen. »Gut, das klingt doch super. Du könntest auch mal wieder zu mir kommen. Ich koche und wir reden, so wie jetzt auch. Oder wir besuchen Tomasio. Wann hast du den das letzte Mal gesehen?«

»Ist schon ’ne Weile her. Gibt’s noch einen Grund, warum du hier bist?«, wollte Luca wissen und hatte so ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend.

Pasquale lehnte sich zurück, nahm einen Schluck vom Wein und sah eine Weile nachdenklich in das Glas, ehe er antwortete.

»Bist du hier oben schon mal einem Wolf begegnet?«

»Wie meinst du das?« Die Frage kam für Luca etwas überraschend, er hatte mit etwas ganz anderem gerechnet.

»Na, einen Wolf. Hast du schon mal einen gesehen hier in den Bergen? Du bist doch viel in der Gegend unterwegs gewesen.«

»Ich selbst nicht, aber ich weiß von Leuten in den Bergdörfern, die eine solche Begegnung hatten. Ziegen und Schafe sind gerissen worden.«

»Ja, ja, hab ich auch gehört.«

Pasquale war jetzt ganz in Gedanken. Luca beobachtete ihn nur und ließ ihm Zeit. Wenn es noch etwas gab, das er ihm sagen wollte, käme er sicher bald damit heraus.

»Wir haben da eine Leiche gefunden … Genau genommen sind es zwei. Eine ist vollkommen skelettiert. Die andere ist ungefähr eine Woche alt. Sie weist üble Verletzungen auf. Wir denken, dass sich ein Raubtier daran zu schaffen gemacht hat.«

»Es gibt auch Bären in den höhergelegenen Bergen«, sagte Luca. »Im Sommer eher selten. Aber es gibt sie. Luchse bestimmt auch.«

Pasquale nickte und stellte sein Glas ab.

»Was war denn die Todesursache? War es ein Unfall, oder glaubst du, ein Raubtier hat die Person getötet?«

Pasquale sah Luca fest in die Augen. »Beiden wurde die Kehle durchgeschnitten.«

»Ach so, also Mord, kein Unfall.«

»So ist es.«

»Du bist aber nicht hier, um mich zu überreden, wieder für euch zu arbeiten?«

»Nein, ich habe dich in der Vergangenheit zu sehr … in Gefahr gebracht«, sagte Pasquale leise. Lucas Schicksal lag schwer auf seinen Schultern. Er fühlte sich verantwortlich für das, was geschehen war. Und das musste er ihm endlich sagen. »Luca, mir tut unendlich leid, was passiert ist. Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht, als ich dich da mit reingezogen habe. Ich werde dich nie wieder bitten –«

»Pasquale.« Luca legte eine Hand auf Pasquales Arm. »Bitte nicht. Es war nicht deine Schuld. Ich habe nie auch nur ansatzweise darüber nachgedacht, dich dafür verantwortlich zu machen. Hörst du? Außerdem … Ohne dich hätte ich sie nie kennengelernt.«

Pasquale verbarg die Augen hinter seiner Hand.

»Fang jetzt bloß nicht an zu weinen, ich warne dich«, drohte Luca.

Das brachte Pasquale zum Lachen. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich wollte eigentlich nur sagen, dass ich dich gut leiden kann und möchte, dass es dir gut geht.«

»Und?« Luca ahnte, dass das noch nicht alles war.

»Außerdem wollte ich, dass du weißt … Wenn mir mal was passieren sollte, dann möchte ich, dass du alles regelst. Du weißt ja, wo alles ist. Ich hab sonst keinen …«

»Du bist ja noch schlechter drauf als ich«, stellte Luca fest, und beide lachten laut drauflos. »Besuchst einen Depressiven und ziehst ihn noch mehr runter. Was bist du denn für ein Freund?«

Ihr Gelächter schallte über die Klippe hinweg und wurde von irgendwo als entferntes Echo wieder zurückgeworfen. Es ebbte langsam ab, wurde zu einem Glucksen, und das Glucksen wandelte sich zu einem stillen Schmunzeln.

»Meinst du, man findet die große Liebe nur einmal im Leben?«, fragte Luca.

Pasquale hatte bereits eine Scheidung hinter sich und keine Kinder. Auch er war schon lang allein. Und sein Beruf machte es sicher doppelt schwer, eine neue Beziehung einzugehen.

»Weißt du«, begann Pasquale, »ich denke, es muss nicht so sein. Wir befragen so viele Menschen in unserem Berufsleben, dabei erfährst du so manche Lebensgeschichte. Und ganz oft hört man von der zweiten oder dritten Liebe. Eigentlich kann es nicht nur einen Menschen für einen geben.«

»Wahrscheinlich ist es so«, entgegnete Luca.

»Ganz bestimmt«, sagte Pasquale und senkte seinen Kopf. Er wirkte nicht sehr überzeugt, fand Luca.

Pasquale ging, als es schon dunkel geworden war und sich die Luft merklich abgekühlt hatte. Sie verabredeten, sich das nächste Mal bei ihm zu treffen und auch Tomasio einzuladen. Tomasio war ein alter Freund von Luca, mit dem zusammen er aufgewachsen war und der nun als Polizist in Malcesine arbeitete. Seine Frau Lia litt an Demenz und war letztes Jahr in ein Heim gekommen, weil Tomasio sich nicht mehr allein um sie kümmern konnte.

»Ich ruf dich in den nächsten Tagen an«, sagte Pasquale, in der offenen Autotür stehend.

»Alles klar. Ciao, Pasquale. Und viel Glück mit deinem neuen Fall.«

»Danke, bis dann.«

Er stieg ein und fuhr langsam rückwärts aus der schmalen Schottereinfahrt.

***

Am nächsten Morgen wurde Luca vom Klingeln seines Handys geweckt. Er lag quer auf seinem Bett, die dünne Decke nass geschwitzt um seine Beine gewunden, und tastete auf dem Boden nach dem Telefon. Das Klingeln verstummte. Luca fand das Gerät schließlich halb unter dem Bett, nahm es in die Hand, um zu schauen, wer angerufen hatte, da schrillte es erneut los.

»Spinelli?«

»Ah, Signor Spinelli, endlich. Zia Busconi hier, vom Tierheim.«

»Ach, Signora Busconi …« Luca setzte sich im Bett auf und drückte das Telefon fester ans Ohr.

»Ich habe immer noch Ihren Hund hier in Pension. Sie meinten, Ihr Umzug dauere ein oder zwei Wochen, inzwischen ist ein ganzer Monat vergangen. Der arme Kerl vermisst Sie.«

»Ja, es tut mir leid, ich war etwas … Also, mir geht’s gerade nicht so gut.«

»Sie sind krank?«

»Ja, genau.«

»Was haben Sie denn, wie lange wird es dauern?«

»Also, ich glaube nicht, dass ich Ihnen das sagen muss.«

»Wie lange es dauert, schon. Ich kann ihn nicht einfach auf unbestimmte Zeit hierlassen. Außerdem müssten Sie die Verlängerungswochen auch bezahlen.«

»Das ist richtig. Ich … Kann ich auch überweisen?«

»Sicher, aber ich fänd’s besser, Sie kämen und würden ihn mit nach Hause nehmen.«

»Ich kann mich im Moment nicht um ihn kümmern.«

»Na gut, sagen wir, Sie überweisen zwei weitere Wochen. Und Ende nächster Woche sprechen wir noch mal.«

Luca war hin- und hergerissen. Ihm gefiel die Beharrlichkeit dieser Frau nicht. Hinzu kam, dass er sich furchtbar schuldig fühlte, Belmondo so lang dort zu lassen.

»Können wir machen«, sagte er schließlich widerstrebend.

Den Rest des Tages räumte er die Veranda leer und stellte alles auf die wild wuchernde Wiese. Das brusthohe Regal mit dem Feuerholz baute er an der linken Hausseite neben einem kleinen Geräteschuppen auf und stapelte das Holz um. Im hohen Gras war jeder Schritt ein wenig mühsam, und so entschied er sich, mit dem alten Handrasenmäher ums Haus herum zu mähen und eine Schneise von der Veranda bis zum Zaun an der Klippe zu schneiden. Die restliche Wiese sollte für die Bienen und Hummeln reserviert bleiben.

Obwohl die Arbeit bei dieser Hitze anstrengend war, war er am Ende mit dem Ergebnis vollauf zufrieden. Die ganze Zeit über quälte ihn allerdings ein bestimmter Gedanke, nämlich, wie sehr dieses Grundstück Belmondo gefallen würde. Der Hund war ihm in einem kleinen Dorf während einer schrecklichen Mordserie dort quasi zugelaufen. Sofort waren sie unzertrennlich gewesen. Luca hatte Belmondo allerdings als Martinas und seinen Hund angesehen, und das Tier um sich zu haben, weckte in ihm nur noch mehr Schmerz über ihren Verlust.

Aber jetzt im Moment fühlte er sich unglaublich schlecht deswegen. So schlecht, dass er es nach getaner Arbeit nicht mehr aushielt. Er lief ins Haus, holte seinen Autoschlüssel und stieg in seinen alten Flavia.

Sermerio lag auf der Hochebene weiter landeinwärts, nahe einem Tal am Berg Pra da Bont. Es war bereits nach achtzehn Uhr, als er dort eintraf, und er hoffte, dass das Tierheim überhaupt noch geöffnet hatte. Auf dem Parkplatz stand ein staubiger Fiat Panda, also hatte er vielleicht Glück. Er eilte durch das Tor in ein eingezäuntes Gehege und auf das kleine Gebäude zu, in dem das Büro untergebracht war. Als er eintrat, bemerkte er, wie ihm der Schweiß von der Stirn rann.

»Hallo?«, rief er, weil an der Anmeldung niemand zu sehen war.

Durch einen Pergola-Vorhang kam eine junge Frau mit einem Rucksack in der Hand und einem Wäschesack auf dem Rücken nach vorn. »Wir haben eigentlich schon zu«, sagte sie.

»Ist Signora Busconi noch da? Ich habe vorhin mit ihr telefoniert. Es geht um meinen Hund.«

»Belmondo?«, fragte sie lächelnd.

»Genau.«

»Ein Schatz. Signora Busconi müsste hinten bei den Volieren sein. Wenn Sie am Katzenhaus vorbeigehen, die kleine Treppe hoch.«

»Okay, danke.«

»Sagen Sie ihr bitte, dass ich gefahren bin?«

»Mach ich.«

Luca war froh, dass er nicht an Belmondos Zwinger vorbei und ihn zunächst zurücklassen musste. Er sprang die drei Stufen zu der kleinen, schattigen Ebene hinauf, auf der inmitten eines alten Baumbestands die Vogelvolieren standen.

»Signora Busconi?«, fragte er laut.

»Hier bin ich!«, hörte er sie von weiter rechts sagen. Er ging an einer Eule vorbei, die ihn mit ihren großen Augen verfolgte.

»Wo?«

»Ich bin hier«, sagte sie erneut, und da erst entdeckte er sie in einer großen Voliere, halb verdeckt von einem riesigen Greifvogel, der vor ihr auf einem Baumstumpf saß.

»Mein Gott, was ist das?«, fragte Luca erschrocken.

»Nicht so laut, Sie machen ihn sonst nervös. Das ist ein Steinadler.«

Luca staunte das Tier an, das ein Stück Fleisch aus der behandschuhten Hand von Signora Busconi riss.

»Ist der zahm?«

»Nein, der geht bald wieder zurück in die Freiheit. Wenn sein Flügel verheilt ist. Was machen Sie hier, Signor Spinelli?«

»Ich … ich habe mich anders entschieden. Ich möchte meinen Hund abholen.«

Sie überließ dem Adler den letzten Bissen Fleisch, kam aus dem Käfig und stellte sich vor Luca. Sie trug lederne Wanderstiefel, olivgrüne Cargoshorts und ein rotes T-Shirt. »Vorhin klang das noch ganz anders«, meinte sie zweifelnd.

»Ich weiß, aber jetzt will ich ihn gern mitnehmen.«

»Und Ihre Krankheit?«

»Na ja, es war nicht direkt eine Krankheit. Ich … ich habe vor Kurzem meine Lebensgefährtin bei einem Unfall verloren, und ich war danach nicht ganz auf dem Damm«, gab er zu und konnte ihr dabei nicht in die Augen sehen.

»Verstehe. Und was hat sich seit heute Morgen geändert?«

»Nichts, oder doch … ich hab eingesehen, dass ich den Hund nicht länger leiden lassen will.«

»Sie meinen, Sie kriegen das hin? Sie können sich um ihn kümmern?«, fragte sie prüfend, nun aber mit etwas mehr Mitgefühl in der Stimme.

»Ja, ich kann das«, antwortete Luca und dachte an Massimo, der die Einkäufe für ihn erledigte, weil er im Grunde nicht mehr rausgehen wollte. »Doch.«

»Na schön, das freut mich zu hören«, meinte Signora Busconi mit einem Lächeln. »Aber wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich zwischendurch gern mal vorbeischauen und nach dem Rechten sehen.«

»Okay, das klingt fair.«

»Kommen Sie, dann holen wir Belmondo.«

Sie gingen Seite an Seite über den Rasen, und Luca sah sich neugierig um.

»Haben Sie so etwas wie diesen Adler öfter hier?«

»Oh ja. Wir pflegen Wildtiere aller Art. Wenn jemand ein verletztes Tier findet, bringt man es meistens zu mir.«

»Ich habe mich gestern erst mit einem Freund unterhalten, ob es hier in der Gegend auch Bären und Wölfe gibt.«

»Die gibt es. Man vergisst irgendwie schnell, dass das hier nicht einfach nur ein großes Urlaubsresort ist, sondern Wildnis, inmitten von Bergen und dichten Wäldern. Wir leben in den südlichen Ausläufern der Alpen. Es gibt Bären, Wölfe und Luchse. Wir haben im Moment sogar einen hier, der in einer Drahtschlinge gefangen war.«

Sie bogen am Fuße der kleinen Treppe nach links zu den Hundezwingern ab, und schon begann das Gebell, und die Hunde sprangen am Gitter hoch.

Belmondo stand in Zwinger 7, wedelte mit dem Schwanz und bellte ohne viel Elan. Luca blieb stehen.

»Was ist?«, fragte Signora Busconi.

Luca schüttelte nur den Kopf.

»Haben Sie doch Bedenken?«

»Nein, ein schlechtes Gewissen.«

»Ich sage Ihnen was«, meinte sie und berührte ihn leicht am Arm, »er wird nicht nachtragend sein. Belmondo freut sich über das, was jetzt gleich passieren wird. Alles andere ist ihm egal.« Jetzt zog sie sanft an seinem Arm, und er setzte sich in Bewegung.

Belmondo schien es zunächst gar nicht glauben zu können. Er reckte zwar neugierig den Hals und sah Luca mit großen Augen an, aber er blieb stehen, und seine Rute regte sich nicht.

»Schau mal, wen ich mitgebracht habe«, sagte Zia Busconi und öffnete das Schloss.

»Belmondo.« Luca machte einen Schritt auf ihn zu.

Der Hund schnüffelte in seine Richtung, dann ging ein Zucken durch seinen Körper, und er begann sich zu drehen und zu winseln. Er trippelte mit den Pfoten, und sein Schwanz wedelte wie wild.

»Ciao, Belmondo. Ja, ich bin’s. Wir fahren nach Hause.« Luca ging in die Knie und nahm den Hund in den Arm, der aber viel zu aufgeregt war, um das geschehen zu lassen. Er leckte Luca immer wieder übers Gesicht und sprang an ihm hoch.

»Sehen Sie«, kommentierte Zia Busconi die Szene.

»Danke«, sagte Luca.

Die Rückfahrt verlief ähnlich hektisch wie die Begrüßung. Belmondo sprang von der Rückbank auf den Beifahrersitz und wieder zurück und leckte Luca zwischendurch immer wieder übers Ohr. Er konnte keine dreißig Sekunden still sitzen und winselte unentwegt. In Pieve hielt Luca an dem kleinen Alimentari, nahm Belmondo mit hinein und kaufte eine Ration Hundefutter. Als sie endlich an ihrem neuen Zuhause ankamen, setzte sich Luca auf die Veranda und sah zu, wie der Hund den Garten erkundete. Im rötlichen Licht der untergehenden Sonne lief er schnüffelnd durch das Gras, aus dem kleine Wolken von Bienen aufstoben, wenn er kam. Das alles schien wie in Zeitlupe zu passieren. Ein schöneres Bild hatte Luca schon lange nicht mehr gesehen, und er fragte sich, wie er sich das hatte vorenthalten können.

Er blickte über die frisch gemähte Schneise im Gras hinweg auf die andere Seite des Sees.

»Tut mir leid, Martina«, sagte er. »Ich war ein Idiot.«

Und für heute reichte das. Das Teleskop blieb im Haus, und Luca saß dort, bis es dunkel wurde.

DREI

»Aufstehen!«, rief seine Mutter erneut, zumindest klang ihre Stimme so, als hätte sie ihn schon mal gerufen.

»Ich komme«, brummte Pasquale ins Kissen und drehte sich auf die andere Seite.

»Du darfst am ersten Schultag nicht gleich wieder zu spät kommen.« Sie klopfte laut gegen seine Tür und stieg dann ebenso laut die Holzstufen hinunter.

Wie können drei Monate Sommerferien nur so schnell vergehen, dachte er, bevor er wieder einnickte und erst wieder hochschreckte, als seine Mutter die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss fallen ließ.

Eilig kletterte er aus dem Bett, riss die Augen auf, um wieder scharf sehen zu können, und streifte sich seine Sachen über. Die Schultasche stand fertig gepackt auf dem Boden.

Unten in der Küche war der Frühstückstisch gedeckt, seine Eltern waren bereits auf dem Feld bei der Arbeit. Pasquale stopfte sich ein Brot mit Butter in den Mund und spülte das Ganze mit einem Glas Milch hinunter.

Die Bäume warfen noch lange Schatten auf ihr Feld, als er hinaus in die Morgenluft trat. Am gegenüberliegenden Rand des Feldes befüllte sein Vater gerade die alte Badewanne, die als Tränke für die Kühe diente.

»Papa!«, rief er und winkte.

Sein Vater sah auf und hob die Hand. Pasquale lächelte und lief los. Sein Schulweg führte ihn zunächst über die von Bäumen überwucherte Straße Località Coloer und dann quer über die Felder der anderen Bauern den Berg hinunter. Von hier oben konnte man den Ort sehen, der mit seinen roten Häuserdächern im Tal lag wie ein versteinerter See. Er hielt sich rechts, durchquerte ein schmales Waldstück und rannte quer zum Hang, damit er nicht zu schnell wurde, in Richtung der Via Mosi, die hier oben nur eine Schotterstraße war. Die kleinen Bauernhäuser und Höfe standen nun immer dichter und zahlreicher auf der Alm, und bald erreichte er den Ortsrand von Tiarno di Sopra. Jetzt kamen auch andere Kinder aus allen Richtungen und trafen sich auf der Via Mosi, die direkt ins Zentrum und bis zu der alten Grundschule an der Piazza Milyn führte. Die weiterführende Schule befand sich in Bezzecca, zwei Dörfer weiter, und man konnte von hier aus mit dem Bus fahren.

Eigentlich war an diesem Morgen alles wie immer. Pasquale traf dieselben Kinder auf dem Schulweg, er hatte denselben Busfahrer wie sonst auch, und in der Schule hatte sich ebenfalls nichts verändert. Ihr Klassenraum im Schulgebäude in der Via Falcone e Borsellino war noch derselbe, mit Blick auf den kleinen roten Grandplatz, auf dem der Sportunterricht stattfand, und seine Lehrerin, Signora Venduto, war ihnen im dritten Jahr geblieben. Pasquale war das ganz recht, sie war eine unauffällige Lehrerin, nicht sonderlich beliebt, aber auch nicht unbeliebt. Sie war kühl und korrekt und fair. Heute trug sie ein langes Kleid mit einem schwarz-weißen Blumenmuster, das Pasquale ebenfalls schon kannte. Eine Neuerung jedoch gab es an diesem ersten Schultag nach Ferienende. Signora Venduto schob eine neue Schülerin ins Klassenzimmer und musste dafür offenbar etwas Kraft aufwenden, denn das schüchterne Mädchen traute sich kaum zwei Schritte in den Raum hinein. Widerstrebend ging es vorwärts, den Blick gesenkt, die Augen und das blasse Gesicht fast vollständig durch die langen schwarzen Haare verdeckt. Sie trug ein schwarzes Kleid und schwarze, staubige, ausgetretene Ballerinas, die ihr nicht recht zu passen schienen. Ihre Tasche hatte sie ganz fest wie ein Schild an die Brust gedrückt.

»Buongiorno, alle zusammen«, begrüßte Signora Venduto die Klasse und lächelte. »Willkommen zurück in der Schule.«

»Buongiorno, Signora Venduto«, sagten alle brav im Chor, wie sie es schon in der Grundschule gelernt hatten.

»Wie ihr seht, habe ich heute jemand Neues dabei. Bitte begrüßt alle eure neue Klassenkameradin Regina.«

Ein müdes Gemurmel ging durch die Reihen, während sich Signora Venduto im Klassenraum nach einem freien Platz umblickte.

»Wir sagen also herzlich willkommen, Regina. Und sieh mal, dahinten ist noch ein Stuhl für dich frei.«

In der letzten Reihe, ganz links an der Wand, war noch ein freier Tisch, an den manchmal Kinder gesetzt wurden, wenn sie zu viel quatschten oder Unsinn machten. Nun sollte Regina dort sitzen, und aller Augen folgten ihr, bis sie sich kaum hörbar auf dem Stuhl niedergelassen und den Kopf so weit gesenkt hatte, dass man über dem schwarzen Kleid nur noch einen schwarzen Vorhang aus Haaren sah. Pasquale hätte wetten können, dass sie weinte, und da war er nicht der Einzige. Geflüster und Gekicher brandete auf, und amüsierte Blicke wurden ausgetauscht. Pasquale schaute über seine Schulter hinweg auf ihre schmutzigen Knöchel und eine einzelne Ader, die sich unter der Haut erhob.

»Was is ’n das für eine?«, flüsterte Bernardo, sein Tischnachbar, ihm zu und stieß ihn mit dem Ellbogen an. Aber Pasquale antwortete nicht.

Den ganzen Schultag über saß Regina reglos da. Wenn es zur Pause klingelte und alle hinausliefen, blieb sie im Klassenraum.

»Wer ist denn die Neue, kennt die einer?«, fragte Pasquale auf dem Schulhof eine Mädchengruppe aus seiner Klasse.

»Die ist ja soo schräg«, antwortete Cinzia hinter vorgehaltener Hand. »Keiner weiß, wer sie ist.«

»Ich hab gehört, dass sie gezwungen wurde, in die Schule zu kommen«, verriet Claudia ihnen mit gedämpfter Stimme und einem verstohlenen Blick nach oben zum Klassenzimmer.

»Wieso?«

»Keine Ahnung, die wohnt in einem Spukhaus, glaub ich. Die ist noch nie in der Schule gewesen.«

»Ach, so ’n Quatsch.« Pasquale winkte ab und lachte.

»Ich find sie echt gruselig.«

»Sie ist schmutzig und riecht«, sagte Cinzia mit gekräuselter Nase. »Und dieses Kleid, wie bei einer Beerdigung.«

Pasquale setzte sich wieder von der Gruppe ab, das musste er sich nicht weiter anhören. Alle Kinder hier im Tal waren im Grunde arm, kamen aus einfachen, bäuerlichen Verhältnissen. Keiner hier hatte Geld für teure Klamotten. Sie alle trugen jeden Tag dasselbe und erbten die Kleidung ihrer älteren Geschwister.

Am Ende des Tages hatten sich die Schüler in seiner Klasse an die dunkle, stumme Gestalt in der letzten Reihe gewöhnt, so schien es. Regina blieb auch sitzen, als es zum letzten Stundenende klingelte und der erste Tag beendet war. Pasquale verabschiedete sich von Bernardo, weil er in der Apotheke noch etwas für seinen Vater besorgen musste. Der hatte vor vier Jahren einen Unfall mit dem Traktor gehabt. Der Traktor war am Hang umgekippt und hätte seinen Vater fast unter sich begraben. Nur ein beherzter Sprung hatte ihn noch retten können, aber sein Arm war dennoch unter das Hinterrad gezogen worden, und er hatte zwei Finger verloren. Das war eine schlimme Zeit gewesen damals, nicht nur weil sein Vater nicht mehr arbeiten konnte und ihnen das Wasser bis zum Hals stand, sondern weil Pasquale sich große Sorgen um seinen Vater machte. Er hätte sterben können und war – er, der sonst wie ein unzerstörbarer Fels wirkte – auf einmal ganz verletzlich und schwach gewesen. Aber er hatte sich durchgekämpft, und nun arbeitete er wie eh und je. Nur manchmal brauchte er ein besonderes Schmerzmittel, das meistens bestellt werden musste.

Pasquale betrat die kleine Apotheke, in der es immer herrlich kühl war und nach Pfefferminz roch.

»Hallo, ich wollte ein Medikament abholen, das mein Vater gestern bestellt hat.«

»Ach ja, ich weiß«, sagte der Apotheker. Er hatte immer nass aussehendes, dünnes Haar, das er zu einem akkuraten Seitenscheitel kämmte, und trug eine Brille, die aussah wie zwei Fernsehgeräte vor den Augen. Er ging nach hinten und suchte das Präparat im Lager.

Pasquale blickte sehnsüchtig auf die kleinen Bonbonpackungen neben der Kasse, während er wartete.

»Na, nimm dir ruhig eine, ihr seid ja Stammkunden bei uns.« Der Apotheker kam mit der weiß-roten Schachtel zurück.

»Danke«, sagte Pasquale überrascht und nahm sich eine Packung von denen mit Orangengeschmack.

»Wie geht’s deinem Vater?«

»Er sagt, er merkt, dass es jetzt Herbst wird.«

»Verstehe. Das kann gut sein bei solchen Geschichten.« Durch den unteren Teil seiner Gleitsichtbrille blickte der Apotheker auf den Bestellschein. »Bezahlt ist ja schon. Dann kannst du es so mitnehmen. Schöne Grüße.«

»Alles klar, arrivederci.«

Pasquale ging wieder hinaus in die Hitze und verstaute die Packung Tabletten im Rucksack, die Tüte mit den Bonbons riss er auf und steckte sich zwei in den Mund. Als er gerade losgehen wollte, sah er, wie weiter hinten an der Straße eine schwarze Gestalt über die Straße lief und an der Bushaltestelle stehen blieb. Regina. Sie musste gewartet haben, bis alle anderen Schüler nach Hause gefahren waren. Pasquale überquerte ebenfalls die Straße und wurde auf dem Weg zur Haltestelle von dem nächsten Bus überholt. Er begann zu laufen, verfolgte den Bus fast siebzig Meter und schaffte es gerade noch einzusteigen, bevor sich die Türen wieder schlossen. Ganz außer Atem blickte er suchend über die Sitzreihen und entdeckte Regina auf der vorletzten Bank links am Fenster. Ihre Haare verdeckten ihre Augen, aber er meinte, sie würde ihn ansehen. Mehr aus einem Reflex heraus nickte er ihr zu und setzte sich dann drei Reihen vor ihr ans Fenster. Das Gefühl, beobachtet zu werden, erfasste ihn, und irgendwie bekam er eine Gänsehaut auf den Unterarmen. Er konnte nicht sagen, ob es ein wohliger oder ein unangenehmer Schauer war, der ihn da überfuhr.

Er steckte sich noch ein Bonbon in den Mund und wischte sich gleichzeitig den Schweiß von der Oberlippe. Es waren nur wenige Haltestellen bis zur Piazza Milyn, wo er aussteigen musste. Er fragte sich, wo Regina wohl wohnte und wie weit sie fahren musste. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie schon längst an ihrer Haltestelle vorbeigefahren wären und sie nur nicht den Mut aufgebracht hätte, sich vor ihm an die Tür zu stellen, um bloß nicht von ihm angesehen oder gar angesprochen zu werden. Er stand auf, drückte den Haltewunschknopf und schaute aus dem Fenster auf den in der Sonne liegenden Hang, den er gleich hinauflaufen musste.

Der Bus hielt, und in dem Moment, da sich die Türen zischend öffneten, sah er ganz kurz in Reginas Richtung und sprang dann hinaus. Er rannte sofort los, denn er war spät dran, und folgte der Via Mosi in Richtung Norden. Anstatt wie heute früh über die Felder zu laufen, was bergauf und bei der Mittagshitze zu anstrengend war, ging er die kleine betonierte Straße hinauf, die von dichtem Laubwerk gesäumt immer im Schatten lag. So musste er zwar einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, aber es war hier unter den Bäumen bestimmt vier Grad kühler. Manchmal hatte er auch Glück, und ein Nachbar, der hier hochfuhr, nahm ihn auf der Ladefläche oder auf dem Trecker mit. Auch wenn in der Gegend viel über den Tourismus geredet wurde, bis hierhin war er so gut wie gar nicht vorgedrungen. Kaum ein Urlauber aus einem anderen Land verirrte sich in die höhergelegenen Regionen von Tiarno. Die Madonna weiter oben am Berg wurde von Zeit zu Zeit besichtigt, aber das eher von Einheimischen oder italienischen Besuchern.

Pasquale hatte etwas mehr als die Hälfte des Aufstiegs geschafft, hatte die »Rocca«, den Felsen, der stoisch und störrisch dastand wie ein Objekt aus einer anderen Welt, weil er mit nichts zu vergleichen war, was es hier gab, hinter sich gelassen und schlug sich links in die Büsche, um zu pinkeln. Er vermied es, in der Schule auf die Toilette zu gehen, weil es dort so stank und schmutzig war.

Hier war alles sauber, und es duftete nach Kräutern und warmem Heu. Das Einzige, was man hier oben hörte, waren die Vögel und vereinzelt ein paar Kuhglocken. Nur ganz entfernt war die Straße zu vernehmen, aber auch nur dann, wenn der Wind von Süden kam.

Er schloss seine Hose wieder und wollte zurück auf den Weg gehen, als er sie sah. Ihre dunkle Silhouette war in dem fleckigen Gemisch aus Schatten und Licht nur schwer auszumachen, doch er war sich sicher, dass Regina weiter unten den Weg heraufkam. Warum folgte sie ihm? Wieder bekam er eine Gänsehaut und zog sich augenblicklich ins Unterholz zurück, wo er in die Knie ging und auf sie lauerte.

Ihre Schritte waren kaum zu hören, aber dafür etwas anderes. Ein Summen. Sie summte ein Lied, mit einer klaren, hohen Stimme. Pasquale duckte sich noch ein wenig mehr, um auf keinen Fall von ihr entdeckt zu werden, doch er wollte auch unbedingt einen Blick auf sie erhaschen. Er musste sie sehen. Also schob er einen störenden Zweig beiseite und riss die Augen auf. Regina war jetzt nur noch fünf Meter von ihm entfernt, aber sie ahnte nichts. Ihre Haare hatte sie hinter die Ohren geklemmt, sodass er ihr weißes Gesicht sehen konnte. Sie sah traurig aus, aber das Lied klang fröhlich und zufrieden zugleich. Sie schwebte an ihm vorbei wie ein Geist, und Pasquale registrierte, wie sein Herz in seiner Brust immer lauter und lauter schlug. Er blieb in seinem Versteck, bis sie hinter der Biegung verschwunden war, und ging zurück auf den Weg. Was konnte sie hier verloren haben? Würde sie hier wohnen, wüsste er es. Ganz sicher. Er kannte jedes Haus auf der Alm. Es sei denn … Aber das konnte er sich nicht vorstellen.

Es gab ein Haus weiter oben, das vom Wald komplett eingeschlossen war. Es stand auf einer Lichtung, und sein Vater hatte ihm verboten, dorthin zu gehen, weil ihm der Besitzer nicht geheuer war. Aber dieser Kerl konnte doch kein Kind haben. Pasquale wusste nicht mal, ob er eine Frau hatte. Er beschleunigte seinen Schritt und eilte ihr leise nach.

Der Weg beschrieb nun eine Rechtskurve. Etwa an deren Scheitel zweigte der Weg in Richtung der Madonna ab und noch ein Stück weiter, wenn es bereits wieder bergab ging, lag die Einfahrt zu ihrem Haus. Jetzt sah er sie von hinten den Weg entlanglaufen, und automatisch duckte er sich ein wenig. Sie lenkte ihre Schritte nach links und kletterte die Böschung hinauf, lief zwischen den Bäumen hindurch und immer tiefer in den Wald hinein.

Es gab keinen Zweifel mehr. In dieser Richtung kam nur noch das Haus dieses unheimlichen Kerls. Sein Vater hatte oft gesagt, dass die Polizei wieder bei dem gewesen sei, weil er wohl seine Tiere nicht richtig hielt, sie verhungern und verdursten ließ.

Pasquale folgte ihr und krabbelte förmlich über die Böschung. Regina war etwa zwanzig Meter vor ihm und ging mit sicherem Schritt über den Waldboden. Ungefähr zehn Meter weiter oben gab es zwar einen kleinen, jedoch völlig überwucherten Weg zum Haus, der außerdem immer mit einem rostigen Eisentor verschlossen und einem verbeulten Schild mit der Aufschrift »Kein Zutritt« versehen war.

Pasquale legte sich flach auf den Bauch und konnte nicht glauben, dass ihm dieses Mädchen noch nie begegnet war. Er lebte hier sein Leben lang, das war sein Revier, hier kannte er sich aus, aber hatte sie bis zum heutigen Tag nicht ein einziges Mal gesehen. Natürlich könnte sie erst kürzlich hierhergezogen sein. Vielleicht war sie seine Nichte oder so etwas, und der Mann hatte sie bei sich aufgenommen. Das war wohl die plausibelste Erklärung.

Er ließ es für heute dabei und machte sich auf den Heimweg. Von hier waren es nur noch zweihundert Meter bis zu seinem Elternhaus.

VIER

Massimo und sein Vater Giorgio kamen gegen dreizehn Uhr den Weg hochgefahren und hupten einmal. Belmondo bellte und lief sofort zur Tür hinaus.

»Wo kommt der denn her?«, fragte Massimo und freute sich, als der Hund schwanzwedelnd auf ihn zurannte.

»Das ist meiner, er war in einer Hundepension. Hab ihn gestern abgeholt.«

»Wie heißt er?«

»Belmondo.«

»Wie der Schauspieler?«, fragte Massimos Vater, und sie reichten sich die Hände.

»Genau so.«

»Es ist alles im Laderaum, eine Menge Arbeit«, sagte Giorgio.

»Wird mir guttun.«

Sie luden die Terrassendielen ab und stapelten sie neben dem Haus. Anschließend schraubten sie gemeinsam drei Teile der Holzfassade ab, um so an das Bienennest zu gelangen.

»Ab jetzt mache ich allein weiter«, sagte Massimos Vater und holte seine Imkerausrüstung aus dem Wagen. Innerhalb einer Stunde hatte er das Bienenvolk in ein neues Zuhause umgesiedelt und fuhr damit zurück auf sein Grundstück. Massimo wollte noch ein wenig bleiben und Luca bei der Arbeit helfen.

Sie lösten die alten morschen Dielen mit einem Akkuschrauber, den Massimos Vater ihnen dagelassen hatte, von dem Unterbau. Luca konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so gut gefühlt hatte. Er mochte die Gesellschaft des Jungen, er mochte die körperliche Arbeit und die Tatsache, dass sie etwas optisch veränderte, auch wenn das Resultat zunächst nicht sehr ansehnlich war. Belmondo war wieder da und brachte Massimos Augen zum Leuchten, wenn er um sie herumlief und alles neugierig beschnupperte.

Am Abend saß Luca auf dem geschnittenen Rasen, sah auf die Bergspitzen und den See, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Auch das war ein ungewohntes Gefühl.

***

Als es am folgenden Morgen laut an der Tür klopfte, dachte Luca, er habe verschlafen und Massimo wolle ihn wecken, um mit der Arbeit an der Veranda fortzufahren. Belmondo bellte aufgeregt, und Luca wies ihn zurecht. Er hatte so fest geschlafen, dass er meinte, aus unendlichen Tiefen an die Oberfläche seines Bewusstseins gekommen zu sein.

»Ja, ja, ich komme«, rief er matt und rappelte sich auf. Als er die Tür öffnete, blendete ihn die Sonne, doch wer da vor ihm stand, war auf keinen Fall Massimo. Der Besucher war groß, größer als er, und sehr massiv. Als sein Gegenüber sich ein wenig bewegte und so die Sonne verdeckte, stellte er fest, dass er ihn nicht kannte.

»Ja?«, fragte Luca verunsichert.

»Signor Spinelli?«

»Ja.«

»Mein Name ist Bruto. Ich bin Commissario bei der Polizei Trient. Dürfte ich Sie kurz sprechen?«

»Ich bin gerade erst aufgestanden.«

»Es ist wichtig.«

Luca war überrascht und ließ ihn ein, ohne weitere Fragen zu stellen. Er fragte sich nur, warum man einen Commissario aus Trient zu ihm schickte, Pasquale hätte das doch übernehmen können. Aber wahrscheinlich ging es um den neuen Fall, und Pasquale selbst hatte den Mann geschickt.

Luca zog sich schnell eine Hose an.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich.

»Kein Problem«, sagte Commissario Bruto und sah sich aufmerksam in dem Häuschen um. Belmondo stand angespannt ein paar Meter von ihm entfernt und schnupperte in seine Richtung.

Bruto trug einen zerknitterten khakifarbenen Anzug und ein faltiges weißes Hemd mit geöffnetem Kragen darunter. So langsam gewöhnten sich Lucas Augen an das Tageslicht, das durch die Tür einfiel, und er sah mit Respekt und ein wenig unsicher, weil er nicht wusste, was nun kommen würde, in das grobschlächtige Gesicht des Beamten. Dessen Augen waren kleine, blanke kohlschwarze Knöpfe über wuchtigen Wangenknochen und einer breiten, dreieckigen Nase. Narben und Kerben in seiner großporigen Haut ließen ihn wie einen Boxer oder Straßenkämpfer wirken, weniger wie jemanden in der höheren Beamtenlaufbahn.

»Darf ich fragen, worum es geht? Man ist etwas besorgt, wenn die Polizei vor der Tür steht«, sagte Luca und bot ihm einen Stuhl am Tisch an. Der Commissario setzte sich, und Luca öffnete den Fensterladen neben dem Esstisch und nahm ebenfalls Platz.

»Ich komme wegen Ihres Freundes Commissario Pasquale Vialli«, begann Bruto.

»Das dachte ich mir schon«, sagte Luca.

»Warum, wie kommen Sie darauf?«

»Na ja, es ist ja nicht das erste Mal, dass Pasquale mich zu einem seiner Fälle hinzuziehen möchte. Aber ich habe ihm bereits abgesagt.«

»Darum geht es nicht.«

»Ach nein?«

»Nein. Sie beide sind gut befreundet?« Bruto blickte sich erneut im Raum um, so als ob er irgendwelche Beweise dafür suchte.

»Das kann man sagen, ja.«

Jetzt sah er Luca direkt und unangenehm bohrend in die Augen. »Commissario Vialli wird vermisst«, sagte er.

»Was? Aber …« Luca war wie vor den Kopf gestoßen, er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. »Wie meinen Sie das?«

»Er erschien gestern nicht zur Arbeit. Er ist nicht zu Hause und telefonisch nicht erreichbar. Er ist sozusagen wie vom Erdboden verschluckt. Ich bin nach Riva beordert worden, um seinem Verschwinden auf den Grund zu gehen.«

»Ist ihm etwas zugestoßen?«, fragte Luca.

»Wir wissen es nicht. Auch sein Auto ist nicht auffindbar. In Unfälle hier in der Gegend war er aber nachweislich nicht verwickelt. Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«

»Das war vor zwei Tagen. Vorgestern Abend hat er mich besucht.«

»Er war hier bei Ihnen?«

»Ja.«

»Und wie hat er sich verhalten, worüber haben Sie gesprochen?«

»Das … war rein privat. Es ging um mich und … Er schlug vor, dass wir uns demnächst bei ihm zum Essen treffen.«

»Und wie würden Sie ihn emotional einschätzen? War er besorgt, verängstigt, oder wirkte er depressiv?«

»Nein, ganz und gar nicht. Es ging, wie gesagt, eher um mich«, entgegnete Luca.

»Darf ich fragen, was Sie damit meinen?«

»Ich mache gerade eine schwierige Phase durch. Er kam, um mich aufzuheitern und mir Gesellschaft zu leisten. Sie glauben doch nicht an Selbstmord, oder warum fragen Sie das?«

»Das dürfen wir nicht ausschließen. Ich muss alles in Betracht ziehen.«

»Nein, dafür ist er nicht der Typ. Er arbeitet an einem neuen Fall, das hat er mir erzählt.«

»So? Was sagte er denn?«

»Na ja, dass zwei Leichen gefunden wurden, von denen eine bereits skelettiert war.«

Commissario Bruto nickte ernst. Wieder ließ er seinen Blick schweifen, und seine schwarzen Kohleaugen blitzten.

»Soll ich mal versuchen, ihn zu erreichen?«, schlug Luca besorgt vor und griff zu seinem Handy.

»Wir konnten seine Handys nicht mehr orten. Sie werden kein Glück haben.«

Luca ließ seine Hand sinken. Aber das kann doch nicht sein, dachte er, es muss einen triftigen Grund geben, weshalb Pasquale verschwunden ist.

»Wissen Sie von irgendwelchen Personen, die Commissario Vialli bedroht haben oder mit denen er in Konflikt geraten ist, beruflich wie privat?«

»Nein, weiß ich nicht. Zumindest hat er nichts erzählt. Vielleicht ist er einfach nur beruflich in einer anderen Stadt unterwegs«, meinte Luca, aber es klang weniger wie eine ernsthafte Vermutung als wie ein Versuch, sich einzureden, dass alles in Ordnung war.

»Das glauben wir nicht«, entgegnete Commissario Bruto und stützte sich auf seine Knie. »Sie sind, wie sich herausstellte, außer den Kollegen seine einzige Kontaktperson. Er hat keine Angehörigen hier. Besitzen Sie einen Schlüssel für sein Haus?«

»Ja, tue ich.«

»Ich möchte Sie bitten, mit mir zusammen ins Haus zu gehen. Es besteht immerhin noch die Möglichkeit, dass er dort ist und sich nicht mehr bemerkbar machen kann.«

»Ist gut, können wir machen«, willigte Luca ein.

»Wenn Sie mich bitte gleich begleiten würden?«

»Natürlich. Ich werde aber besser meinen eigenen Wagen nehmen«, sagte Luca.

Sie verabredeten sich vor Pasquales Haus, Luca nahm Belmondo mit in den Flavia und hoffte, dass der Wagen ansprang. Der Oldtimer startete verlässlich, und Luca fuhr mit einer Mischung aus Unglauben und Sorge die Brasa-Schlucht hinunter. An der Ampel, die den Verkehr durch das tiefe Flussbett im Fels des Berges regelte, musste Luca halten. Ihm fiel Tomasio ein, und er rief ihn sofort an.

»Luca, ciao!«, meldete der sich erfreut. Es klang nicht so, als wüsste er von Pasquales Verschwinden.

»Ciao, Tomasio. Es gibt ein Problem. Pasquale ist seit gestern nicht mehr bei der Arbeit erschienen, hast du etwas von ihm gehört?«

»Nein, aber er rief mich erst … vorgestern, glaube ich, an und schlug vor, dass wir drei uns mal treffen sollen.«

»Ja, das hat er mir auch gesagt. Er war bei mir. Tags darauf kam er nicht mehr zur Arbeit und ist seitdem quasi verschollen. Auch sein Handy ist nicht zu orten.«

»Mein Gott, könnte ihm was passiert sein?«, fragte Tomasio mit belegter Stimme.

»Ich bin gerade auf dem Weg zu seinem Haus. Ein Commissario aus Trient untersucht das Ganze, ich treffe ihn dort. Das ist so unwirklich.«

Die Ampel wurde grün, und Luca fuhr an. Das Auto schlängelte sich durch die düstere Schlucht, und Luca musste unweigerlich an den Unfall denken, den er und Martina weiter unten auf der Straße gehabt hatten. Panik stieg in ihm auf, er schnappte nach Luft.

»Luca, alles in Ordnung?«

»Ja, es ist nur … Ich leg mal besser auf, melde mich später noch mal, okay?«

»Gut, bis dann.«

Er warf das Handy auf den Beifahrersitz und griff mit beiden Händen fest ins Lenkrad. Belmondo steckte seinen Kopf zwischen den beiden Sitzen hindurch nach vorn und berührte ihn an der Schulter. Das riss ihn heraus aus der Attacke, und er lächelte.

»Gut, dass ich dich habe, alter Junge.«

Den Tunnel zu durchfahren, in dem er vom Wagen des Killers, den sie gejagt hatten, angefahren worden war, bereitete ihm Schweißausbrüche, obwohl ihm gleichzeitig eiskalt war. Er fuhr langsam und vorsichtig, auch wenn er die Stelle lieber schnell passiert hätte, um den Bildern und den Gefühlen, die dabei unweigerlich hochkamen, zu entfliehen. Als endlich das Tunnelende in Sicht kam, wurde es besser, und seine Atmung beruhigte sich wieder. Den Rest der Fahrt über spürte er noch das Zittern in seinen Gliedern, und er beschloss, auf dem Rückweg eine alternative Strecke zu nehmen, auch wenn das länger dauern würde.

Pasquales Haus lag am nördlichen Rand von Riva in einer ruhigen Wohngegend unterhalb der bis zum Plateau steil aufragenden Berge. Commissario Bruto war bereits ausgestiegen und schien an der Tür zu klingeln.

Luca ließ Belmondo im Wagen, um zu vermeiden, dass er irgendwelche Spuren vernichtete oder hinterließ, stieg die Treppe zur Haustür empor und holte die Schlüssel aus seiner Tasche. Wieder bemerkte er dieses Zittern, als er versuchte, den Schlüssel in den Zylinder zu stecken.

Im Haus war es kühl, was daran lag, dass alle Läden verschlossen waren. Luca machte im Flur das Licht an, rief Pasquales Namen, bekam keine Antwort außer einem kurzen Echo seiner Stimme und ging dann ins Wohnzimmer. Auch hier machte er Licht. Alles war aufgeräumt. Luca blickte zurück zur Tür, wo Bruto den Türrahmen inspizierte.

»Eingebrochen wurde nicht. Zumindest nicht hier vorn«, sagte er.

Luca antwortete nicht, er lief durch alle Räume im Erdgeschoss, rief immer wieder nach Pasquale, fand ihn aber nicht. Auch oben im ersten Stock, wo sich das Schlafzimmer befand, war er nicht. Das Bett war gemacht. Im Schrank standen seine Koffer unter den dort hängenden Anzügen. Alle Fenster waren intakt. Im Badezimmer entdeckte Luca Zahnbürste, Rasierer und andere Toilettenartikel auf der Ablage unter dem Spiegel. Er war also nicht verreist.

»Keine Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens im ganzen Haus«, resümierte Bruto unten im Wohnzimmer.

Luca stand neben ihm und suchte mit Blicken weiterhin alles nach Hinweisen ab. »Es scheint, als ob er das Haus zur Arbeit verlassen hat und nicht wieder zurückkam. Bett gemacht, Fensterläden geschlossen.«

Bruto fiel auf, dass Luca immer noch beschäftigt war. »Fehlt etwas? Können Sie etwas entdecken, das anders ist als sonst?«

»Nein, das ist es ja«, antwortete Luca. Er ging zum Schreibtisch und knipste die Tischlampe an. Es lagen zwei Aktenordner auf dem Tisch, die sich aber nur als Steuerakten und Bankunterlagen herausstellten. Luca wusste, dass Pasquale einen Safe besaß, in dem er Bargeld und eine Waffe lagerte. Aber das wollte er nicht ohne Weiteres an den Kommissar weitergeben. Er hielt das für zu persönlich.

»Und?«, fragte Bruto und kam näher.

»Alles sehr ordentlich. Wie man es von ihm kennt.«

»Besitzt er keinen Computer oder Laptop?«, fragte Bruto.

»Einen Laptop«, sagte Luca. »Aber der ist nicht da. Er könnte ihn mitgenommen haben, wo immer er auch hingefahren ist.«

»Was ist in den Schreibtischschubladen?« Bruto deutete auf die beiden verschließbaren Fächer in dem Kirschbaumtisch. Luca war sich sicher, dass Bruto sie, während er hier unten gesucht hatte, längst geprüft hatte. Er zog daran. Sie waren nicht verschlossen.