Der Fluch vom Gardasee - Alessandro Montano - E-Book

Der Fluch vom Gardasee E-Book

Alessandro Montano

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Beschreibung

In einem kleinen Dorf am Gardasee wird die grausam zugerichtete Leiche eines Mannes entdeckt. In den Händen hält der Tote ein Buch mit schockierendem Inhalt: Es wird geschildert, wie die Einwohner des Ortes der Reihe nach getötet werden. Angst und Schrecken verbreiten sich im Dorf. Hat der anonyme Autor begonnen, seine Geschichte in blutige Wirklichkeit umzusetzen?

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Alessandro Montano verbrachte viele Jahre am Gardasee und schrieb Kritiken für verschiedene Filmmagazine, bevor er in Bologna Filmgeschichte lehrte. Heute lebt er mit seiner Familie in Brescia. »Der Fluch vom Gardasee« ist sein zweiter Roman.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage aus Sabine Lubenow/Lookphotos; shutterstock.com/Loboda Dmytro

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-456-8

Originalausgabe

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Wir Clowns sind umso lästiger,weil unser Widerstand lachend geschieht.

Dario Fo

1

Es könnte nicht besser sein, hatte er damals gedacht. Jetzt war es anders, und es war besser. Es wunderte ihn immer noch, um wie viel besser es war. Wie hatte er nur so blind sein können? Sein Leben war kein Leben gewesen, nur ein Dasein. Irgendwie abgerückt von allem, von der Welt, von sich selbst. Er hatte einiges durchstehen müssen, bis er endlich angekommen war, wo er sich jetzt befand: im Hier und Jetzt. Er war durch die Hölle gegangen. Erneut.

Was er auch erst jetzt verstand, war, wie viel Mut man brauchte, um sich selbst einzugestehen, dass man ein Opfer war. In seinem Fall »gewesen war«. Am Ende hatte er den Täter zur Strecke gebracht. Fast hätte er dabei sein Leben verloren. Er lächelte kaum merklich. Er hatte stattdessen ein neues Leben gewonnen. Und er mochte dieses Leben.

»Machst du noch weiter oder soll ich?« Martina stand in ihrer staubigen Latzhose vor ihm und wischte sich mit dem Handgelenk eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Mmh?«

»Du stehst da wie bestellt und nicht abgeholt.«

Luca blickte auf den Presslufthammer in seiner Hand und dann auf den Mauerrest, den es noch zu zertrümmern galt.

»Man wird ja wohl noch mal Luft holen dürfen«, entgegnete er.

»Geht’s dir gut?« Martina senkte die Stimme und kam näher.

»Sehr sogar.«

Sie lächelte zufrieden.

Martina arbeitete als Kommissarin bei der Polizei in Malcesine. Sie war ein Teil der Sonderkommission gewesen, mit der zusammen er einen Serienkiller gejagt hatte. Dabei hatten sie sich kennengelernt. Nun waren sie seit einem Jahr ein Paar und wollten zusammenziehen. Sie bewohnte ein kleines Apartment auf der Ostseite des Sees und Luca eine Wohnung in Pregasio oberhalb von Pieve auf der Westseite. Lucas Vermieter hatte ihm das Angebot gemacht, die Wohnung zu kaufen, und Luca hatte die Idee gehabt, die Nachbarwohnung, deren Mieter bald wegziehen würden, ebenfalls zu kaufen. Sie waren sich einig geworden, und nun sollten die beiden Wohnungen per Durchbruch miteinander verbunden werden.

Alles war ein Durchbruch für Luca. Alles Schlechte, alles Dunkle und Problematische hatte er hinter sich gelassen. Jetzt kamen die guten Zeiten. Sonne, blauer Himmel, Martina und eine ungewisse, aber zweifellos positive Zukunft. Wenn sie mit den Renovierungsarbeiten fertig waren, würde er mit der Arbeit zu einem neuen Film beginnen. Er wusste noch nicht, worum es gehen würde, aber er verspürte Lust, die Kamera wieder in die Hand zu nehmen.

Luca Spinelli war ein gefragter Dokumentarfilmer, Mörder jagte er normalerweise nicht. Nur wegen seiner Filme, in denen er das Leben und die Menschen am Gardasee porträtierte, war er von Commissario Vialli als Berater in das Team der Soko berufen worden. Aber so eine Arbeit würde er nie wieder annehmen.

Er legte den Atemschutz um und setzte den Presslufthammer an. Nach einer Viertelstunde war der Mauerrest nur noch ein Schutthaufen. Roter Staub waberte durchs Zimmer und bewegte sich träge in Richtung der offenen Terrassentür.

»Geschafft!«, rief er, durch die Feinstaubmaske gedämpft, und hob triumphierend die Hilti in die Luft.

»Starker Mann«, sagte Martina bewundernd und lehnte sich dabei lässig auf eine Schaufel.

»Jaha, stark und verdammt gut aussehend«, bestätigte Luca und nahm den Atemschutz ab. Sein Gesicht war karminrot, bis auf die fast kreisrunde weiße Stelle um Nase und Mund.

Martina fing an zu lachen, sie deutete mit dem Finger auf ihn. »Du siehst aus wie ein Hund! Hübsche Schnauze.« Sie bog sich neben ihrer Schaufel.

»Lachst du mich aus?«

Sie konnte nicht reden, schüttelte nur den Kopf, ohne ihn anzusehen.

»Sieh mich an«, befahl er.

Wieder schüttelte sie den Kopf, und ihre Haare wirbelten wild umher.

»Ich …«, hob er an, als ihn ein Klopfen an der Tür unterbrach. Schmunzelnd ging Luca zur Haustür und öffnete.

Pasquale Vialli, der für die Polizei in Riva arbeitete, stand im Anzug und mit einem Strohhut auf dem Kopf vor ihm.

»Pasquale, schicker Hut. Du kommst wie gerufen«, sagte Luca, und sie schüttelten sich die Hände.

»Schminkt ihr euch Tiergesichter? Ich dachte, ihr renoviert?«

»Er sieht aus wie ein Bernhardiner«, wieherte Martina.

»Ja, das trifft es. Wie weit seid ihr?« Pasquale trat in die Mitte des Raumes und wedelte den Staub vor seinem Gesicht beiseite. Kritisch betrachtete er die Fortschritte.

»Tja, jetzt haben wir eine Wohnung mit zwei Eingangstüren.« Luca stellte sich neben ihn.

»Und habt ihr schon eine Ahnung, wie ihr die Zimmer aufteilt?«

»Wir werden die Küche drüben zu einem großen Badezimmer umfunktionieren, und die neuen Räume werden unsere Arbeitszimmer«, erklärte Martina.

»Sehr schön.« Pasquale nickte anerkennend.

»Warum bist du hier?«, wollte Luca wissen.

»Oh, ich wurde gerufen, weil es oben in Veluzzo vielleicht einen Selbstmord gibt.«

»Veluzzo, wo ist das?«, fragte Martina.

»Hier auf der Hochebene«, antwortete Pasquale.

»Noch hinter Prabione und Pra’ da Bont«, präzisierte Luca.

»Kennst du dich da etwa auch aus?«, fragte Pasquale.

»Ich hab dort vor Jahren mal ein paar Leute interviewt. Ist ein sehr abgeschottetes Dorf. Kaum Tourismus, sehr ursprünglich.«

»Ja, ja, ich werd dann auch mal fahren. Man wartet auf mich. Wollte nur mal schnell bei euch reinschauen.«

»Schön, hat uns gefreut. Wenn du hinterher noch Zeit hast, komm wieder, dann können wir was zusammen essen.«

»Hier?« Pasquale blickte erschrocken auf den Schutt um sich herum.

»Für dich gehen wir natürlich in den Ort, damit du dich nicht schmutzig machst.«

Luca brachte Pasquale zur Tür.

»Du siehst mit dem Hut aus wie Jack Nicholson in ›Chinatown‹!«, rief er ihm nach, als Pasquale die Stufen hinunterging.

»Ist das gut oder schlecht?«

»Das ist … na ja, such’s dir aus.«

Pasquale winkte und stieg in seinen schwarzen Alfa Romeo.

***

Sie hatten fünfzehn Schubkarren Schutt aus der Wohnung die Treppe hinunter und in den auf dem Hof stehenden Container geschleppt. Verschwitzt und müde hockten sie nun auf der Terrasse und blickten in einen diffusen Sonnenuntergang, während sie immer mal wieder aus einer Flasche Wasser tranken.

»Meinst du, wir machen alles richtig?«, fragte Martina leise.

»Dieselbe Frage könnte ich dir auch stellen. Ich weiß es nicht. Aber es fühlt sich richtig an.«

Sie strich mit ihrer Hand über seinen schmutzigen Arm. »Was soll schon passieren?«

»Genau.«

Still lag der See unter ihnen. Nur noch vereinzelt sah man weiße Segel in dem leuchtenden Blau aufblitzen. Es war wieder leise. Nur das Klingeln in Lucas Ohren vom Meißeln des Bohrhammers war noch da. Aber bis morgen würde auch das vorüber sein.

Martinas Handy vibrierte.

»Ja?«, meldete sie sich und blickte dabei nach oben zu den rosa gefärbten Wolken.

»Ich bin’s«, sagte Pasquale am anderen Ende der Leitung. »Ich möchte, dass ihr euch das anseht.«

»Was meinst du, Pasquale?«

»Den Tatort. Ich bin noch in Veluzzo.«

Martina sah Luca an. Er verstand sofort, dass es um nichts Gutes gehen konnte.

»Wir sind noch bei der Arbeit«, entgegnete Martina.

»Dann unterbrecht sie.« Er legte auf.

Martina ließ das Handy schlaff sinken.

»Ist mir egal, was er will. Wir machen es einfach nicht«, sagte Luca entschieden.

»Okay.«

Sie saßen weiter da und schauten auf die Berge, auf das Monte-Baldo-Massiv, auf dessen Kuppe sich langsam das Abendlicht senkte.

Es war ebenso atmosphärisch wie zuvor, doch das Telefonat stand zwischen ihnen wie ein Elefant. Man konnte es einfach nicht ignorieren.

»Verdammt«, fluchte Martina.

»Fährst du?« Luca folgte ihr mit dem Blick, als sie aufstand. Sie war die Polizistin, er war nur ein Filmemacher, der seine Wohnung renovierte. Aber ihr Schweigen beinhaltete deutlich die Aufforderung, sich ihr anzuschließen.

»Ich müsste duschen, sieh mich an«, meinte er mäkelig.

»Dann mach schnell.«

2

Sie hatten Martinas Jeep genommen. Lucas alter Flavia hätte auf den kurvigen Bergstraßen länger gebraucht. Veluzzo war ein von der übrigen Welt nahezu abgeschnittenes Bergdorf in einer Gegend, die einem Niemandsland glich. Hinter Pra’ da Bont verlief die Via Leonardo da Vinci, ein tiefes, unzugängliches Tal umgehend, über Veluzzo bis Sermerio, das bereits auf der gegenüberliegenden nördlichen Seite des Tals lag. Veluzzo war vielleicht das ursprünglichste Dorf, das rund um den Gardasee noch existierte. Hier wohnten ausschließlich Einheimische, die von der Landwirtschaft lebten, und das größtenteils für den Eigengebrauch. Tourismus gab es nicht. Das Tal war ein unerschlossener Kessel, waldreich, felsig, steil. Luca hatte sich vorhin insgeheim gewundert, als Pasquale sagte, er sei auf dem Weg nach Veluzzo und deshalb komme er vorbei. Über Tignale wäre Pasquale mit Sicherheit schneller dort gewesen. Luca wischte den Gedanken wieder fort, denn es war ihm zu mühsam, Pasquale eine Absicht, über die er nur spekulieren konnte, zu unterstellen. Wenn es überhaupt Absicht gewesen war.

Er blickte durch die Frontscheibe auf die Schlucht auf Martinas Seite. Doch die schmalen Bäume, die die Straße säumten, versperrten vollständig den Blick in die Tiefe. Es war fast ärgerlich, nicht sehen zu können, was sich dahinter verbarg. Seit sie Cadignano passiert hatten, war ihnen kein einziges Auto mehr entgegengekommen. Martina fuhr recht zügig, sodass sie die Strecke in zwanzig, fünfundzwanzig Minuten zurücklegen würden. Trotzdem kam ihm die Fahrt endlos lang vor. Sie schwiegen wie vorhin auf dem Balkon, doch Luca hatte viele Fragen, die ihm im Kopf herumschwirrten, die zu stellen er sich aber nicht traute. Warum war er mitgefahren? Hatte er sich nicht heute Nachmittag erst geschworen, nie wieder in einer Polizeisache mitzumischen? Warum hatte Martina ihn dabeihaben wollen? War es, weil sie jetzt ein Paar waren? Weil sie seine Unterstützung brauchte? Oder hatte sie ähnliche Motive wie Pasquale? Aber welche waren das? Warum hatte er nicht einfach abgelehnt?

Ein klebriger, schwerer Kloß steckte plötzlich in seinem Hals. Er schluckte, aber es wurde nicht besser. Noch waren sie auf der Sonnenseite, doch hinter Sermerio würde es dunkel werden, und er fürchtete, dass sein ungutes Gefühl und der Kloß dann nur noch größer werden würden.

»Wann kommt es denn endlich?«, fragte Martina nach einer Weile.

»Hinter der nächsten Biegung geht es wieder bergauf, dann zweigt irgendwann eine kleine Straße in den Serpentinen ab.«

Es wurde dunkler, die Schatten wuchsen und ließen bald gar nicht mehr daran glauben, dass irgendwo hinter den Bergen noch die Sonne scheinen könnte. Kühler wurde es auch. Martina kurbelte am Lenkrad, als die Serpentinen begannen. Luca meinte, ganz entfernt eine Polizeisirene zu hören. Er fragte sich, warum sie das Radio nicht eingeschaltet hatten. Es hätte die Fahrt mit Sicherheit verkürzt und die Stille etwas erträglicher gemacht. Vielleicht hätte er dann die Sirene überhört. Doch jetzt war es zu spät, um es noch einzuschalten. Dort vorn tauchte schon das Hinweisschild auf. Man hätte es auch verpassen können, es war zur Hälfte von einem Ast verdeckt.

Luca streckte den Zeigefinger aus, und Martina setzte den Blinker. Die Straße, auf die sie nun kamen, war noch enger und holpriger. Steil ging es hoch, um zwei Kurven, über eine Brücke und in einen Wald hinein. Hinter einem Felsen, der mit Drahtgitter gesichert war, tauchte das Ortsschild von Veluzzo auf. Links der Straße, am Berghang, standen die ersten Häuser. Sie waren weiß gestrichen, doch bereits schmutzig und ergraut. Das Dorf schmiegte sich an den Berg, war mit ihm verwachsen und stapelte sich treppenartig am Fels nach oben. Sie folgten einer Linkskurve, und rechts endete die Leitplanke. Das einzige Restaurant oder Café des Ortes befand sich direkt an der Straße. Kaum dass es in Sicht kam, erkannten sie auch schon die ersten Polizeiwagen, die links in einer kleinen Gasse parkten, die sich eng zwischen den kleinen Häusern hindurchschlängelte.

Martina trat auf die Bremse, und sie blieben unentschlossen in der Mitte der Straße stehen. Ein alter Mann tauchte gebückt im Türrahmen des Cafés auf. Sein Bart war ebenso grau wie die Häuserfassaden. Weit und breit war kein Parkplatz in Sicht.

»Fahr hier an den Rand und mach den Warnblinker an«, schlug Luca vor.

Martina quetschte den Jeep an den rechten Straßenrand. Die Reifen quietschten am hohen Bordstein.

Sie stiegen aus und betraten die Gasse, gingen an den Streifenwagen vorbei und immer höher hinauf, dorthin, wo man Stimmengewirr und klagende Laute von den Hauswänden widerhallen hören konnte.

Etwa zwanzig Meter weiter oben hatte sich eine Traube von Einheimischen gebildet. Leise und mit gesenkten Köpfen wurde miteinander gesprochen. Kinder standen auf den schmalen Balkonen zwischen aufgehängter Wäsche und starrten auf die Szene zu ihren Füßen.

»Buonasera«, grüßte Luca die Gruppe, die augenblicklich verstummte und ihn und Martina mit abschätzigen Blicken musterte.

»Polizei«, sagte Martina nur und zeigte ihren Ausweis vor.

Eine der Frauen deutete nach rechts in ein Gässchen. Die Häuser standen hier so dicht beieinander, dass man sich auf den Balkonen die Hand reichen konnte. Überall waren die hölzernen Fensterläden noch geschlossen. Aus einigen Häusern drangen Fernsehgeräusche, eine Frauenstimme sang, und die Wäsche über ihren Köpfen flappte im abendlichen Wind.

Luca und Martina passierten einen Hofeingang. Hinter dem bogenförmigen Holztor standen drei Männer beisammen und rauchten. Fünf Meter weiter hörten sie schnelle Schritte eine Treppe herunterkommen, und ein Carabiniere sprang auf die Straße. »Hier, bitte!«, rief er und winkte die beiden heran.

Luca sah nach oben. Pasquale stand mit versteinerter Miene auf einem der Balkone. Er hatte seine Anzugjacke ausgezogen, trug aber noch den Hut. Jetzt erkannte Luca das Lied, das von irgendwo aus einem Lautsprecher tönte. »O mio babbino caro«, eine Arie aus der Oper »Gianni Schicchi«. Eine seltsame Musik an so einem Ort, dachte Luca.

Martina ging voraus, und sie folgten dem Beamten in einen schummrigen Hausflur. Es roch nach gekochtem Fleisch, Knoblauch und Zigarettenrauch. Im Treppenhaus war es erstaunlich kühl. Die steinernen Stufen glänzten feucht.

»Es ist im ersten Stock«, informierte sie der Carabiniere und drehte sich dabei kurz zu Martina um. Unter seinen Armen und am Rücken waren Schweißflecken zu erkennen.

Je höher sie kamen, desto deutlicher trat ein weiterer Geruch in Lucas Nase. Ein Geruch, der ihm sagte: Geh nicht weiter, dreh einfach um und verschwinde aus dem Haus. So schnell du kannst. Die weinende Frau, wo immer sie sich auch befand, klagte und jammerte in einem fort und stieß Worte aus, die Luca kaum verstehen konnte.

Die rechte Tür im ersten Stock stand offen. Aus der Wohnung drang dieser fürchterliche Geruch nach Eisen, und auch die Arie, die inzwischen wieder von vorn begonnen hatte, kam von hier. Luca hielt sich unwillkürlich eine Hand vor die Nase. Noch im Türrahmen blieb er stehen.

»Da seid ihr ja«, sagte Pasquale, der aus einem der Zimmer auf sie zustrebte. »Ich möchte –«

»Pasquale, was wird das hier?«, hörte Luca sich aufgebracht fragen. »Ich weiß nicht, was ich hier soll. Das hier hat nichts mit mir zu tun. Ich bin kein –«

»Ich weiß, ich weiß«, fiel Pasquale ihm ins Wort. »Aber ich brauche euren Rat. Der Selbstmord ist kein Selbstmord, wie ihr euch ja denken könnt. Er ist … ungewöhnlich, will ich mal sagen.«

Keine zehn Pferde kriegen mich da rein, dachte Luca. Die Tür zu dem Raum, aus dem Pasquale gekommen war, stand offen wie ein Mund. Ein Mund, der ihm zurief, dass er verschwinden sollte.

»Er ist da drin.« Pasquale deutete mit dem Daumen über seine Schulter.

»Ich bleib hier im Flur«, stellte Luca fest und verschränkte die Arme vor der Brust.

Martina setzte sich langsam in Bewegung. »Ich geh mit«, flüsterte sie ihm zu und ging auf leisen Sohlen Pasquale hinterher. Im Türrahmen stehend blieb ihr Blick an etwas haften. Sie gab einen erstickten Laut von sich und verschwand aus Lucas Sichtfeld. Die Musik spielte immer weiter. Das dritte oder vierte Mal inzwischen.

Luca war jetzt allein im Flur. Er musste einen Würgereiz unterdrücken, weil dieser verdammte Gestank in seine Nase drang wie eine dicke, breiige Flüssigkeit. Er wollte sich gar nicht ausmalen, woher er stammte. Dumpf konnte er die Stimmen von Martina und Pasquale unter der Musik vernehmen. Und aus der Küche kam ein Klappern. Er machte vorsichtig zwei Schritte und lugte um den Türrahmen herum. Der Carabiniere saß mit dem Rücken zu ihm auf einem Küchenstuhl, den Kopf gesenkt und schwer atmend. Von einem zweiten Carabiniere keine Spur. Luca zog sich zurück und horchte hinaus in den Hausflur. Die Stimme der Frau war schwächer geworden, nun konnte er auch die Stimme eines Mannes hören, der versuchte, die Frau zu beruhigen. Sie mussten in der Wohnung über ihnen sein. Aber diese ständige Musik machte einen fast verrückt. Warum konnte man das nicht endlich abstellen?

»Luca?«

Er fuhr herum. Martina stand in der Tür.

»Was ist?«

»Kannst du mal kommen?«

»Ich geh da nicht rein.«

Sie nickte, und Luca ging auf sie zu, stoppte aber eine gute Armlänge von ihr entfernt.

»Es ist ein Mann, man hat ihm die Kehle durchgeschnitten«, sagte sie. »Aber das ist nicht alles, der Mörder hat noch etwas hinterlassen.«

»So, was denn?«

»Sagt dir der Titel ›Das Dorf der Verdammten‹ etwas?«

»Nein, was soll das sein?«

»Ein Buch. Er hält es in seinen Händen.«

»Nein, keine Ahnung.«

»Okay.«

Sie wandte sich ab und ging zurück, wobei sie gut darauf achtete, wo sie hintrat. Luca wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht. Seine Nerven lagen blank. Jede Faser in ihm wehrte sich dagegen, auch nur eine Sekunde länger hierzubleiben, doch irgendetwas Unerklärliches in ihm wollte endlich sehen, was sich hinter der Tür verbarg. Dieser schreckliche Drang, alles mit eigenen Augen sehen zu müssen, im Moment konnte Luca ihn nur schwer unterdrücken. Er spürte schon, wie er sich gegen seinen Willen vorbeugte. Fast wäre er aus dem Gleichgewicht geraten, da machte er einen Schritt vorwärts, hielt sich mit der rechten Hand am Türrahmen fest und blickte auf die Szene in dem knapp fünfzehn Quadratmeter großen Raum. Das Lied wurde noch lauter. Die Schönheit der Musik war ein morbider Kontrast zu dem, was Luca vor sich sah.

An der gegenüberliegenden Wand stand die Balkontür offen, und die vergilbten, mit Flecken und Spritzern übersäten Vorhänge wurden vom Wind aufgebauscht. Rechts schaute man auf eine Anrichte aus dunklem Eichenholz mit einem alten Röhrenfernseher und einer Antenne obendrauf. Zu beiden Seiten des Bildschirms hingen Bilder an den Wänden. Die komplette Wand war bis zur Decke dunkelrot, fast braun gesprenkelt, die Bilder und die Personen darauf durch die zähe Flüssigkeit nahezu unkenntlich. Auch auf dem schwarzen Bildschirm klebten Rückstände wie von einer Fontäne verspritzt. Der Steinfußboden war mit verschiedenen Teppichen ausgelegt, in die eine große Menge Blut eingesickert war. Die Fasern hatten es nicht vollständig aufnehmen können, sodass es darunter wieder ausgetreten war und sich als Pfütze auf dem Stein weiter ausgebreitet hatte.

Die linke Wand wurde in der hinteren Ecke von einem Holzschrank begrenzt, der Geschirr oder Kleidung enthalten konnte, das ließ sich nicht genau sagen. Vor einem braunen Sofa mit zerschlissenem Bezug und einigen darauf drapierten Decken und Kissen stand ein Eichentisch. Der Mann lag rücklings auf der Tischplatte. Die Arme ausgebreitet, die Unterschenkel über die Tischkante hängend. Die Wunde an seinem Hals sah so fürchterlich aus, wie Luca sie sich nicht hätte vorstellen können. Wieder überkam ihn ein heftiger Würgereiz. Der Mund des Toten stand offen und sah ebenfalls wie eine Wunde aus. Seine Haut war grau und blutbefleckt.

Die Arie klang laut in Lucas Ohren, und endlich konnte er den Ursprung der Musik ausmachen: Es war ein kleiner zylinderförmiger Lautsprecher, der neben dem Kopf des Mannes auf dem Tisch stand. »Herrgott, kann man das nicht ausstellen?«, fragte er und wandte seine Augen von der Leiche ab.

»Nicht, bis die Kriminaltechnik hier war. Keiner fasst etwas an«, sagte Pasquale.

Luca wollte sich den Leichnam nicht noch mal ansehen, doch er musste zumindest einen Blick auf die Hände werfen. Sie waren vollständig mit Blut bedeckt, so als hätte der Mann sie darin eingetaucht. Jemand hatte sie auf Bauchhöhe über dem Buch übereinandergelegt, die Finger nicht verschränkt. Ein dunkelblauer Umschlag mit roter und gelber Schrift. Mehr konnte Luca nicht erkennen, und das wollte er auch gar nicht. Er wollte die Wohnung auf der Stelle verlassen.

Er rannte hinaus, die Treppe hinunter und stellte sich mitten in die Gasse. Tief sog er die Luft in seine Lungen. Die Übelkeit wurde nur wenig besser. Er spürte, wie seine Beine zu zittern begannen und den Dienst quittieren wollten. Er schaffte es noch, sich an der gegenüberliegenden Häuserwand abzustützen, und ließ sich daran hinabgleiten. Wie viel Zeit vergangen war, bis sich Schritte näherten und eine Hand ihn an der Schulter berührte, konnte er nicht sagen.

»Alles in Ordnung?«, fragte ihn eine tiefe Stimme.

Luca sah auf und erkannte verschwommen einen Mann mit Schnäuzer und einem Arztkoffer. Er nickte schwach und ließ den Kopf wieder sinken. Als Nächstes hörte er Schritte von mehr als einer Person. Metallene Koffer schepperten. Männerstimmen. Die Frau im oberen Stockwerk wimmerte nur noch leise. Und über allem schwebte wie ein trauriger Paradiesvogel die Arie »O mio babbino caro«, »Oh, mein lieber Papa«, so als beweinte die Sängerin ihren toten Vater.

Luca blickte abermals auf. Die Männer von der Kriminaltechnik standen vor dem Haus und zogen sich ihre weißen Anzüge und Fußstulpen an. Zu seiner Rechten lugten neugierig die drei Männer aus der Toreinfahrt. Einer nahm den letzten Zug von seiner Zigarette und warf den Stummel in den Rinnstein. Sein Blick fiel auf Luca, und es fühlte sich an, als würde er von seinen schwarzen Augen durchbohrt werden. Dann zog er sich zurück und verschwand im Schatten. Martina kam einige Minuten später zu ihm und reichte ihm eine kleine Wasserflasche. Es war ihm ein Rätsel, wo sie die aufgetrieben hatte, aber er nahm sie dankbar an und trank.

»Besser jetzt?«

»Ja, danke.«

»Tut mir leid«, sagte sie bedrückt.

Luca glaubte, dass sie damit die Tatsache meinte, dass sie ihn genötigt hatte, mit ihr zu kommen, weshalb er das da oben hatte sehen müssen. Er ärgerte sich darüber, nicht einfach zu Hause geblieben zu sein, und er ärgerte sich über Pasquale, der ihm so etwas zugemutet hatte.

»Können wir gehen?«, fragte er.

Martina blickte hoch zum Balkon.

»Wir warten noch kurz auf Pasquale«, sagte sie.

Unzufrieden über die Antwort, nahm Luca einen weiteren Schluck aus der Flasche. Da verstummte die Musik. Der Paradiesvogel war verschwunden, so abrupt, als hätte ihn jemand vom Himmel geschossen. Beide schauten überrascht nach oben.

»Endlich«, sagte Luca erleichtert.

Wenige Sekunden später trat Pasquale aus dem Haus. Es war inzwischen so dunkel, dass die schmutzig-orangefarbenen Laternen zu leuchten begonnen hatten.

»Da seid ihr ja«, sagte er kleinlaut und stellte sich mit Hut und Jackett über dem Arm zu ihnen. »Vielleicht hätte ich nicht anrufen sollen.«

»Ja«, meinte Luca angefressen.

»Tut mir leid, aber ich … ich dachte, ich könnte euren Rat gebrauchen. So etwas sehe ich auch nicht alle Tage. Die Umstände sind …« Er wusste offenbar nicht, wie er den Satz beenden sollte. Das Zimmer da oben sprach für sich.

Luca rappelte sich wieder auf. »Und jetzt?«, fragte er.

Pasquale sah von ihm zu Martina. »Können wir irgendwo reden?«

Martina zuckte unbestimmt mit den Schultern. Ihr war es unangenehm zu antworten, weil sie wusste, dass Luca hier wegwollte.

»Es gibt ja nur ein Café hier, aber immerhin. Ich brauch jetzt ’nen großen Grappa«, sagte Luca.

»Okay, ich geb einen aus«, entgegnete Pasquale erleichtert.

»Was anderes käme auch nicht in Frage.«

»Wir sind hier ohnehin nicht erwünscht, solange die weißen Jungs da oben zu tun haben«, sagte Pasquale und legte Luca eine Hand auf die Schulter.

»So, wie’s da aussieht, sind die zwei Tage zugange«, sagte Martina. Sie nahm noch kurz das Schloss der Haustür in Augenschein, bevor sie sich an die Fersen der Männer heftete.

Das Café trug den naheliegenden Namen »Café Veluzzo«. Von den beiden Tischen, die draußen vor der Tür standen, war nur einer besetzt. Ein alter Mann mit wettergegerbtem Gesicht und dunkelbrauner Haut saß hier. Drinnen gab es weitere vier Tische und die Bar. Hinter dem Tresen schmückten ein Spiegel mit Martini-Schriftzug und vermutlich selbst gezimmerte Holzregale mit nur wenigen Spirituosen den Raum. Die Kaffeemaschine hatte schon bessere Tage gesehen und war nicht sonderlich gepflegt, wie alles hier.

»Lass uns rausgehen«, bat Luca, der immer noch frische Luft brauchte. Pasquale bestellte bei der Besitzerin, einer Frau in einem roten Kleid mit rotbraunen, grau melierten Haaren, die drei Grappas.

»Buonasera«, grüßte Luca den Alten, »ist der Stuhl noch frei?«

An jedem Tisch standen nur zwei Stühle.

»Chi, Chi«, erwiderte der Alte mit weichem, zahnlosem Mund und schmatzte dreimal.

»Mille grazie.« Luca nahm den Stuhl, und sie quetschten sich zu dritt an den kleinen Holztisch. So, wie die Gläser gefüllt waren, hatte Pasquale Doppelte oder Dreifache bestellt.

Pasquale hob sein Glas. »Salute.« Mit einem großen Schluck leerte er es. Luca und Martina wunderten sich stillschweigend und tranken ihre nur zur Hälfte aus. »So eine Scheiße hatte ich nicht erwartet«, brummte Pasquale und drehte das leere Glas zwischen seinen Fingern. »Die Frau, die die ganze Zeit geheult hat, hatte die Leiche gefunden und die Polizei gerufen. Ich weiß gar nicht, wer auf Selbstmord gekommen ist. Was für eine Sauerei.«

»Ist sie seine Frau?«, fragte Martina.

»Keine Ahnung. Der Carabiniere hat all seine Kraft aufbringen müssen, um sie halbwegs zu beruhigen. Sie schläft jetzt wohl.«

»Und der Mann?«, wollte Luca wissen. »Weißt du etwas über ihn?«

»Ja, von den Nachbarn. Michele Nunzetti, achtundfünfzig Jahre alt.«

»Fehlt was in der Wohnung?« Martina blickte in ihr Glas. »Die Tür unten war nicht aufgebrochen, ebenso wenig wie die oben.«

»Kann ich nicht beurteilen. Nach Einbruch sah es nicht aus, du hast recht. In der Wohnung waren auch keine Schubladen oder Schranktüren geöffnet. Der Kerl lag einfach nur so da.«

»In diesem Ort kennt jeder jeden. Wir könnten die Besitzerin des Cafés nach dem Mann befragen«, meinte Luca und nippte am Grappa. Der Alkohol brannte in seiner Kehle und im Hals, erzeugte aber eine wohlige Wärme im Magen.

»Signora«, rief Pasquale, und die Dame kam – so als hätte sie nur darauf gewartet – mit der Grappaflasche nach draußen. Sie bediente zuerst den Alten und trat dann an ihren Tisch. »Noch eine Runde«, sagte Pasquale und ließ seinen Finger über den Gläsern kreisen.

Sie schenkte nach.

»Sagen Sie, kennen Sie den Mann, der heute gestorben ist? Können Sie mir etwas über ihn sagen?«

Sie blickte ihn an. Ihre Miene zeigte deutlich, dass sie nicht ein Wort mit ihm wechseln würde.

»Ich kenne Sie«, sagte sie an Luca gewandt.

Er sah überrascht auf. »Sie erinnern sich an mich? Es ist Jahre her, dass ich hier war.«

»Es kommen nicht viele Fremde zu uns.«

»Ja, richtig. Ich habe damals für einen Film recherchiert.«

»Das haben Sie gesagt. Und ist er fertig?«

»Ja, er … er ist vor fünf oder sechs Jahren rausgekommen. Manchmal zeigen sie ihn im Fernsehen. Aber meist sehr spät.«

Sie lächelte. Zumindest hielt Luca es für ein Lächeln.

»Michele Nunzetti. Er war Bauer und hat eine kleine Ziegenherde oben in den Bergen«, sagte sie unvermittelt.

»Oh. Danke«, sagte Pasquale. »War er verheiratet?«

»Nein, die Frau ist seine Schwester.« Damit ging sie wieder hinein. Die drei wechselten einen vielsagenden Blick und hoben ihre Gläser.

»Salute.« Luca prostete dem Alten am Nebentisch zu.

»Chalute«, kam es zurück.

»Man kennt dich also hier«, flüsterte Pasquale. »Hat der Alte damals auch schon dort gesessen?« Er lächelte und zwinkerte Luca zu.

»Ja, hat er«, erwiderte Luca und trank sein Glas aus.

3

Sie fuhren nach Hause. Der Himmel war sternenklar und der zunehmende Mond nur eine schmale silberne Sichel. Am Boden war es stockfinster, die Scheinwerfer die einzigen Lichtquellen. Die Fahrbahn hatte keine Markierung in der Mitte, und Martina saß angestrengt hinter dem Lenkrad, den Blick konzentriert auf die Straße gerichtet, mit leicht geröteten Augen nach den zwei Grappas. Luca schaltete das Radio an. Diesmal wollte er es richtig machen.

»Wenn ich fahren soll, musst du Bescheid sagen«, bot er an.

»Geht schon«, sagte sie.

Im Radio lief ein alter Song von Loretta Goggi. Als die Gitarre einsetzte, schaltete Martina sofort lauter. »Gott, ich liebe dieses Lied«, schwärmte sie.

Luca mochte es auch. »Maledetta primavera«, »Verfluchter Frühling«, ein Klassiker.

Tja, irgendwie war es letztes Jahr tatsächlich ein verfluchter Sommer für ihn, für sie beide gewesen. Und jetzt, nachdem sich endlich alles beruhigt hatte, schien es wieder von vorne zu beginnen – mit dem Zimmer voller Blut, in dem sie eben noch gestanden hatten.

Martina begann lauthals mitzusingen und klatschte mit dem Handrücken gegen sein Bein. »Na los, mach mit!«

Und dann sangen sie gemeinsam den verfluchten Frühling im Radio mit. Allein auf einer finsteren Landstraße im Niemandsland der Berge über dem See. Die Fenster waren heruntergekurbelt, und ihre Stimmen hallten durch das Tal.

***

Am Morgen erwachten sie wie mit einem Kater. An den zwei Grappas konnte es nicht liegen, Luca machte den Stress dafür verantwortlich.

»Ich will gar nicht aufstehen«, jammerte Martina. In der Wohnung roch es nach Steinstaub. Egal, wie gut man die Türen abklebte und mit Folie abdeckte, der Staub fand immer einen Weg. »Heute ist mein letzter freier Tag. Morgen muss ich wieder aufs Revier«, ergänzte sie. »Wir müssen heute noch richtig viel erledigen.«

Luca sah sie an. So lange und intensiv, dass sie lachen musste.

»Was ist?«

»Alles ist besser mit dir. Mir ist egal, ob ich in einem Schutthaufen aufwache oder ob so etwas passiert wie gestern. Hauptsache, du bist da.«

Als Antwort bekam er einen Kuss von ihr, und er meinte, Tränen auf ihren Wangen zu spüren.

Sie standen auf, duschten, holten Brötchen vom Supermarkt und frühstückten auf einem der Balkone, die nun beide ihnen gehörten. Dann machten sie sich an die Arbeit.

Während sie den Container draußen füllten, wartete Luca insgeheim darauf, dass Pasquale anrief. Gestern Abend hatten sie alle ein wenig unter Schock gestanden, und die Meinung, wegen der Pasquale um ihre Anwesenheit gebeten hatte, stand noch aus. Aber er rief nicht an. Martina überprüfte mehrere Male ihr Handy, doch sie blieben den ganzen Tag unbehelligt.

»Jetzt müssen wir eigentlich nur noch den Teppich rausreißen, dann können wir mit dem Dielenboden anfangen«, sagte Luca, die Hände in die Hüften gestützt, ihr Tagewerk betrachtend.

»Dazu müssen wir uns erst mal auf eine Diele einigen«, stellte Martina fest.

Luca sah auf die Uhr. »Fünf. Das wird heute ohnehin ein wenig knapp.«

»Dann gehen wir duschen und danach irgendwo schön essen.«

Sie hatten beide Lust, direkt am Wasser und inmitten von Menschen zu sein, nahmen daher die Touristenströme und überteuerten Preise in Kauf und fuhren nach Limone. Sie parkten oben an der Hauptstraße in einem Parkhaus und gingen dann Hand in Hand zu Fuß in den kleinen Ort hinunter. Aus den Geschäften, die wie Höhlen in den alten Steinmauern saßen, leuchtete und funkelte es in allen Farben. Die Lichter spiegelten sich auf dem Wasser des abendlich dunklen Sees. Man hörte Stimmen aus aller Herren Länder, kleine Wellen, die gegen das Hafenbecken und gegen Boote schwappten, Geschäftsbesitzer boten ihre Waren an oder hielten einen Plausch mit dem Nachbarn. Es war ein spätsommerlich warmer Abend, hier unten natürlich noch mehr als oben in den Bergen.

Martina und Luca ließen sich treiben. Erst gegen halb zehn entschieden sie sich für einen schönen Platz vor einem kleinen Restaurant. Von hier sah man direkt auf das Wasser, auf die nach links weiterführende Hafenpromenade und, wenn man sich umdrehte, auf die Berge, die sich in ihrem Rücken auftürmten. Sie bestellten und warteten bei einem Glas Weißwein auf das Essen. Aus dem Restaurant schepperte etwas blechern die Stimme von Eros Ramazotti, und von einem benachbarten Gasthaus klangen Mandolinenklänge zu ihnen herüber.

Malcesine auf der anderen Seite des Sees glitzerte im typischen orangefarbenen Licht der Promenaden.

»Hast du Heimweh nach drüben?«, fragte Luca mit einem Lächeln, doch insgeheim befürchtete er, dass Martina tatsächlich mit Wehmut hinüberschaute.

»Ob ich hier sitze und rüberschaue oder drüben sitze und hier herüberschaue, ist egal. Es ist beides wunderschön, und ich genieße es.«

Luca hoffte, dass das der Wahrheit entsprach. Martina streckte ihre Hand über den Tisch, und Luca legte seine in ihre. Da hörte er es. Es kam mit einer Brise von weiter oben zu ihm herübergeweht. Das Lied »O mio babbino caro«. Er merkte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich und eine plötzliche Übelkeit in seinen Magen fuhr. Sogleich zog er, wie von einem Stromschlag getroffen, seine Hand zurück.

Martina blickte ihn verwundert an. Sie hatte es wohl noch nicht gehört. Luca setzte sich kerzengerade auf.

»Hörst du es auch?«

»Was meinst du?«, fragte sie irritiert.

»Hörst du’s nicht?«

»Nein, was denn?«

Luca stand auf und versuchte zu lokalisieren, woher die Musik kam.

»Ich bin gleich wieder da. Alles in Ordnung«, sagte er. Dass aber eben nicht alles in Ordnung war, war offensichtlich.

Er ließ Martina in Sorge und Ratlosigkeit an ihrem Tisch sitzen und eilte den Klängen hinterher. Er ging durch eine tunnelartige Passage und kam zu einer kleinen Kreuzung, von der drei Wege abzweigten. Luca horchte angestrengt und schlug den linken Weg ein, eine steile Gasse, die an verschiedenen Souvenirläden vorbeiführte. Er sah nach oben zu den Wohnungen und Balkonen und passierte dabei das letzte Geschäft, ohne die Quelle zu finden. Im nächsten Haus standen im Erdgeschoss die Fensterläden offen. Von dort musste die Musik kommen.

Er machte zwei schnelle Schritte und konnte durch ein geöffnetes Fenster in eine Küche blicken. Auch die Haustür stand offen, also ging er hinein und betrat die fremde Küche. Eine Frau in den Vierzigern mit Kopftuch und einer Schürze bekleidet sah ihn erschrocken an. Auf dem Herd kochte etwas in zwei alten, verbeulten Töpfen. Am Küchentisch unmittelbar links neben dem Fenster saß ein alter Mann in braunen Stoffhosen und Unterhemd, er hielt eine Zeitung in den Händen. Auf der Anrichte neben ihm stand ein Radio, aus dem die Arie aus Puccinis Oper drang. Luca wunderte sich noch, dass er die Callas erkannte, während er nur dastand und sich nicht rühren konnte.

»Was wollen Sie?«, fragte die Frau.

Der alte Mann war nur wenig überrascht. Er musterte Luca, als würde der jeden Tag um diese Zeit hier hereinschneien.

»Scusi, es tut mir leid. Ich … ich habe mich im Haus geirrt«, stotterte Luca und ging rückwärts wieder hinaus.

Als er auf die Straße trat, endete die Arie. Zwei Moderatoren übernahmen das Mikrofon und schwärmten lautstark von dem Klassiker und von Maria Callas’ Darbietung.

Luca war sein Verhalten so unangenehm, dass er als Entschuldigung am liebsten gleich ein Geschenk für Martina gekauft hätte. Doch er zog es vor, so schnell wie möglich zurückzulaufen und ihr alles zu erklären.

Martina stand kerzengerade am Tisch und blickte suchend in seine Richtung, ein besorgter Kellner, der gerade das Essen serviert hatte, trat unschlüssig neben ihr von einem Fuß auf den anderen.

»Tut mir leid«, rief Luca ihr entgegen. »Wirklich, es tut mir leid, ich hab … Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Das war ganz und gar unpassend. Entschuldige bitte.« Er nickte dem Kellner freundlich zu und nahm Martina in den Arm. Sie zitterte. Die anderen Gäste starrten.

»Tu so was nie wieder«, flüsterte sie, als sie sich aus der Umarmung löste.

Luca räusperte sich. Sein Gesicht glühte jetzt.

»Was war denn bloß los?«, fragte sie leise und nahm das Besteck zur Hand.

»Ich dachte, ich hätte etwas gehört.«

»Und deshalb springst du auf wie ein Verrückter?«

»Ich weiß, es war dumm von mir.«

»Dumm ist gar kein Ausdruck. Was soll denn das gewesen sein?«

Luca stockte. »Das Lied«, sagte er tonlos. »Das Lied, das oben in dem Zimmer in Veluzzo spielte.«

Sie hielt kurz in der Bewegung inne und schnitt dann ihr Bistecca an.

»Das passt ja«, meinte sie mit belegter Stimme, ohne ihn anzusehen.

»Bitte?«

»Pasquale hat gerade angerufen. Er will uns sehen.«

»Heute Abend noch?«

»Ich hab ihm gesagt, dass wir nach dem Essen nach Riva ins Polizeirevier kommen.«

Luca erwiderte nichts. Der Abend, so schön er angefangen hatte, hatte sich zum Gegenteil entwickelt. Es war nichts mehr so wie vor wenigen Momenten noch. Und zwischen ihm und Martina lag eine bislang unbekannte Kühle.

***

Die Fahrt verbrachten sie wieder einmal schweigend, doch das Radio lief. Martina hatte es eingeschaltet.

Das Essen lag Luca schwer im Magen. Als sie um halb elf Riva erreichten, berichteten die Nachrichten von einem Todesfall im Gebiet von Tignale. Es musste sich um den Fall in Veluzzo handeln, wegen dem sie nun hier waren.

Nachdem sie von zwei Beamten anhand ihrer Ausweise überprüft worden waren, durften sie passieren und gingen Schulter an Schulter durch die verlassenen Gänge bis zu dem Raum, in dem sie sich das erste Mal gesehen hatten. Als sie vor der Tür standen und eintreten wollten, hielt Luca Martina am Arm zurück.

»Martina …«

Sie sah ihn an und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Herrje, hast du ein schlechtes Gewissen«, sagte sie.

Er war überrascht und froh zugleich, diese Worte zu hören.

»Nein, überhaupt nicht. Ich wollte nur …« Er küsste sie, und in dem Moment ging die Tür auf. Pasquale stand vor ihnen.

»Ihr zwei. Ich hatte Geräusche gehört und mich gewundert, was hier draußen los ist«, sagte er. »Wie zwei Teenager, wirklich.« Er schüttelte tadelnd den Kopf.

»Ich frage mich, was du um diese Zeit von zwei Teenagern wollen könntest«, konterte Martina.

»Kommt rein und setzt euch. Wenn ihr was trinken wollt, Wasser steht dort drüben.«

Pasquale hatte zwei Tische zusammengeschoben. Seine Notizen und eine Akte lagen bereit, außerdem lief der Beamer, was nach Lucas Ansicht nichts Gutes bedeutete.

»Wir hatten ein schönes Abendessen genießen wollen, bis du anriefst«, beschwerte sich Martina.

»Euch den Abend zu ruinieren, lag nicht in meiner Absicht«, sagte er und nahm Platz.

Luca und Martina setzten sich ihm gegenüber, mit Blick zur Tafel. Pasquale stützte seine Unterarme auf die Tischplatte, faltete die Hände und blickte sie ernst an. Luca kannte diesen Ausdruck, und Martina mit Sicherheit auch. Sie waren nicht nur gekommen, um ganz unverbindlich Informationen zu erhalten.

»Ich weiß, dass wir alle gerade andere Dinge im Kopf haben. Ihr zieht um und renoviert, Franco hat einen Mordfall in Brescia am Hals, und Tomasio unterzieht sich einem Gesundheitscheck.«

»Was hat er denn?«, wollte Luca wissen. Tomasio war sein Kinderfreund aus alten Tagen und Commissario in Malcesine. Er arbeitete mit Martina zusammen und hatte im letzten Sommer genau wie sie, Luca und Franco zur von Pasquale einberufenen Sonderkommission gehört. »Wusstest du davon?«, fragte er Martina.

Sie senkte den Blick.

»Also alle wissen es, nur mir sagt keiner was«, konstatierte Luca. »Was bedeutet, dass es was Ernstes ist, richtig?« Er blickte die beiden auffordernd an. »Sagt ihr mir jetzt bitte, was los ist?«

Martina ließ sich als Erste erweichen.

»Er wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.«

»Prima, das klingt ja toll. Ist es Krebs?«

»Man weiß noch nicht genau, was dahintersteckt. Er hat oft Schwindelanfälle und manchmal Erinnerungslücken. Morgen machen sie ein CT.«

Luca neigte enttäuscht den Kopf. »Und ihr hattet beide nicht den Anstand, mir etwas zu sagen?«

Schweigen erfüllte den Raum. Nur das sonore Summen des Beamers war zu hören.

»Na gut, jetzt ist es ja raus«, meinte Luca. »Dann lasst uns mit dem beginnen, weswegen du uns hierher beordert hast.«

Pasquale fühlte sich nicht wohl, er war jetzt in einer defensiven Position, was ihm sichtlich missfiel. Er verzog den Mund und knetete seine Hände.

»Mir ist, wie schon gesagt, bewusst, dass unsere Sonderkommission sich aufgelöst hat und wir alle anderes um die Ohren haben. Dennoch möchte ich euch bitten, mir erneut quasi beratend zur Seite zu stehen. Ich schätze eure Meinung und finde diesen Fall sehr ungewöhnlich. Versteht ihr, was ich meine?« Er blickte ihnen ein wenig hilfesuchend in die Augen.

Martina nickte nur.

»Also nichts Offizielles, meinst du das?«, hakte Luca nach.

»Richtig. Es wird keine Sonderkommission oder dergleichen geben. Es ist mein Fall, ich werde ihn bearbeiten, allerdings möchte ich nicht auf eure Kompetenzen verzichten.«

»Pasquale, ich bin nur ein Filmemacher, wie du weißt. Und unsere Zusammenarbeit im letzten Jahr war für mich eine einmalige Angelegenheit. Ich möchte mit Mord und Totschlag nichts mehr zu tun haben«, erklärte Luca ruhig.

»Das verstehe ich vollkommen«, sagte Pasquale, »aber gerade dich wollte ich bitten, vielleicht mal auf unverfängliche Weise mit ein paar Leuten zu sprechen. Dort oben sind alle sehr zugeknöpft, mir erzählt keiner mehr als das Nötigste.«

Martina warf Luca einen raschen Seitenblick zu. Sie war offenbar neugierig, wie er reagieren würde. Luca ließ sich Zeit mit seiner Antwort und starrte nachdenklich auf die Tischplatte. Er dachte an die Besitzerin des Cafés und war sich sicher, dass sie Pasquales Beweggrund war, ihn einzubeziehen.

»Du kannst ja noch mal eine Nacht drüber schlafen. Martina, dich bitte ich als Kollegin mit Erfahrung beim Erstellen von Täterprofilen. Ich hab die Tatortfotos hier, und ein paar Neuigkeiten haben wir auch rausgefunden. Ist allerdings nicht viel. Die Kriminaltechnik wertet bestimmt noch eine Woche lang die Spuren aus.«

»In Ordnung«, sagte sie kurz und wandte sich an Luca. »Willst du schon gehen?«

»Nee. Macht ihr mal, ich schau einfach aus dem Fenster.« Luca stand auf und zog eine der Jalousien hoch, sodass er auf den Parkplatz und das dahinterliegende Riva sehen konnte.

»Soll ich dir die Bilder zeigen und erläutern, was wir daraus bis jetzt für Schlüsse gezogen haben?«

»Lass mich erst mal nur die Fotos sehen, ich mach mir gern mein eigenes Bild.«

Luca musste schmunzeln, das war typisch Martina. Er hörte, wie Pasquale seinen Laptop hochfuhr und einige Dateien anklickte. Dann wurde es still. Er betrachtete weiterhin die beleuchteten Häuser der Stadt. Auf einmal verblasste das Grün der Palmen, zwischen denen die Lichter wie goldgefüllte Schatztruhen funkelten, und eine andere Farbe und merkwürdige Konturen brachen in dieses Bild ein. Eine zweite Welt schien sich auf die erste zu legen. Es war die Reflexion eines der Tatortbilder auf der Scheibe. Er erkannte das Zimmer wieder. Die befleckten Bilder an der Wand. Luca drehte sich um und blickte auf die Tafel. Jetzt waren Fotos der blutbespritzten Wand und anschließend vom Fernsehbildschirm zu sehen. Es folgten Aufnahmen der Teppiche und der Blutlache am Boden. Luca glaubte, den Geruch von Blut wieder in der Nase zu haben. Dann warf der Beamer Fotos des Opfers an die Wand.

Der abgelichtete Tod war furchtbar schmutzig, fand Luca, der verstorbene Mensch hatte völlig seine Würde verloren. Es war fast so, als läge dort nur eine beschmierte, kaputte Körperhülle. Er wandte sich ab, weil er den Anblick nicht länger ertragen konnte. Um sich abzulenken, nahm er sein Handy zur Hand.

»Wie war noch gleich der Titel des Buches?«, fragte er.

»›Das Dorf der Verdammten‹«, hörte er Pasquale sagen, »von einem gewissen Giovanni Sicaro.«

Luca gab den Titel ein und erhielt nur einen Treffer, doch das Cover wich von dem Einband ab, den er gesehen hatte, und das Buch war auch nur als E-Book erhältlich. Also gab er den Namen des Autors ein. Auch hier fand er nur unzulängliche Ergebnisse. Sicaris oder Sicuros gab es mehrfach als Facebook-Profile, aber ein Sicaro war nicht dabei.

»Das Buch existiert nicht«, sagte er.

»Ja, aber es ist 1986 gedruckt worden und lag in den Händen des Opfers.«

»Wie ist der Name des Verlags?«

»Bretone.«

Luca tippte den Namen ein.

»Das ist eine Hunderasse.«

»Ich dachte, Pferde«, warf Martina ein.

»Ja, auch. Aber kein Verlag.«

Luca suchte weiter, jedoch ohne Ergebnis.

»Wir sind durch, du kannst dich umdrehen«, informierte ihn Martina. Luca setzte sich wieder zu ihnen.

Pasquale kopierte die Bilder auf einen Stick und reichte ihn Martina. »Also, was denkst du?«, fragte er, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Auf der linken Wand hinter dem Sofa gab es so gut wie keine Blutspuren«, resümierte Martina. »Das Opfer stand also mit dem Gesicht zur rechten Wand. Vielleicht eher noch dem Balkon zugewandt, weil dort die höchsten Blutspritzer zu sehen waren. Es ist eher unwahrscheinlich, dass der Täter sein Opfer von vorn angriff. Er wird entweder direkt hinter ihm und damit vor dem Tisch gestanden haben oder hinter dem Tisch. Das Opfer wog zwischen siebzig und achtzig Kilo, schätze ich. Er musste also einige Kraft aufwenden. Ich würde daher auf einen Mann tippen. Der Schnitt selbst ist relativ gerade, ich kann mich anhand der Bilder jedoch nicht festlegen, ob er von links oder rechts gesetzt wurde. In jedem Fall ist es so, wie das Opfer lag, unwahrscheinlich, dass der Täter direkt nach dem Schnitt von ihm abgelassen hat. Der Mann hätte sich im Ringen um sein Leben bewegt und wäre nicht einfach rücklings umgefallen. Ich schätze, er hat das Opfer während des Todeskampfes festgehalten und dann abgelegt. Anschließend drückte er ihm, aus welchen Gründen auch immer, das Buch in die Hand.«

»Sehr gut beobachtet«, sagte Pasquale. »Das deckt sich in etwa mit dem, was die Techniker und ich bislang rekonstruiert haben.«

»Interessant wäre noch die Frage«, fuhr Martina fort, »wie und wann der Täter in die Wohnung gekommen ist. Einbruchspuren gab es nicht, weder an der Haustür noch an der Wohnungstür. Auch keine Spuren, die auf einen Kampf hindeuten. Wie kam der Täter also herein? War er vielleicht schon vor dem Opfer in dem Zimmer?«

»Darüber haben wir auch nachgedacht«, sagte Pasquale und stützte seine Ellbogen auf den Tisch. »Wäre er schon im Zimmer gewesen, hätte das Opfer aber vermutlich nicht mehr das Zimmer betreten, sondern wäre geflohen.«

»Es sei denn, er kannte das Opfer«, sagte Luca.

»Richtig«, pflichtete Pasquale ihm bei.

»Er könnte ihm aber auch hinter der Tür aufgelauert haben. Sie geht nach links auf, wenn ich es richtig in Erinnerung habe«, warf Martina ein.

»Dann folgte er ihm mit ein paar schnellen Schritten bis zum Tisch«, spann Pasquale den Gedanken weiter, »attackierte ihn von hinten und drehte ihn dabei mit dem Gesicht zur rechten Wand.«

»Egal, wie es passiert ist«, sagte Martina, und es klang nach einem abschließenden Statement, »der Täter muss danach zwangsläufig Blut an der Kleidung gehabt haben. Der schnittführende Arm wird das meiste Blut abbekommen haben. Mehr, als seine Kleidung aufnehmen konnte. Und wenn er das Gebäude verlassen hat, müssen im Haus Blutspuren zu finden sein.«

»Könnte er noch im Haus sein?«, fragte Luca erschrocken.

Pasquale lehnte sich erneut zurück und hob die Finger seiner linken Hand. »Es gibt fünf Parteien in dem Haus, die Wohnung des Opfers und die seiner Schwester eingeschlossen. Gesprochen habe ich mit zweien. Eine Wohnung im Obergeschoss wird wohl von einem einzelnen Mann bewohnt, doch laut Aussage der direkten Nachbarin des Opfers«, er blickte in seine Notizen, »Signora Micchietti, ist er verreist.«

»Was, wenn der Täter sich da oben verschanzt hat?«, fragte Luca.

»Was, wenn der Täter der Wohnungsinhaber selbst ist?«, fragte Martina.

»Zurzeit kann ich rechtlich gesehen keine Durchsuchung erwirken. Das heißt im Klartext: Wir müssen warten, bis der Kerl von seiner Reise zurückkommt beziehungsweise freiwillig die Tür öffnet.«

»Aber die Kriminaltechnik kann rausfinden, ob Blutspuren nach oben führen«, sagte Luca mit erhobenem Zeigefinger.

»Sehr richtig«, lobte Pasquale. »Und weil du das erkennst, bist du auch so ein verdammt guter Polizist.«

»Komm mir nicht so«, wiegelte Luca ab. Er stand auf, nahm Martina bei der Hand und zog sie von ihrem Stuhl hoch. »Lass uns gehen. Es ist spät.«

»Ja, ja, haut nur ab. Aber Luca: Überlegst du’s dir?«

»Ich schlaf drüber.«

***

Der nächste Morgen begann bewölkt und mit einem kühlen Nordwind.

»Ich möchte zu Tomasio Giancarlo«, sagte Luca zu der Dame am Informationsschalter. Sie tippte lautstark auf der Tastatur ihres Computers herum.

»Tut mir leid, wir haben keinen Tomasio Giancarlo.«

»Er ist heute zu einer Untersuchung hier, ich weiß allerdings nicht, ob er dafür stationär aufgenommen wurde.«

»Offenbar nicht, tut mir leid«, sagte die Dame und zeigte ein strahlend weißes Lächeln unter ihrem knallroten Lippenstift.

»Gibt es dann vielleicht die Möglichkeit zu schauen, ob er ambulant hier ist?«, fragte Luca mit weniger Geduld.

»Ob er einen Termin in der Ambulanz hat, kann ich Ihnen aus Datensicherheitsgründen nicht sagen.«

»Datenschutz«, korrigierte Luca sie. »Das verstehe ich. Wo finde ich denn die Radiologie?«

»Folgen Sie den Schildern dort auf der linken Seite. Es ist ein Nebengebäude.«

»Vielen Dank.«

Luca betrat nach kurzem Gang die Radiologie und wandte sich auch hier an eine Dame am Empfangstresen.

»Buongiorno, ich bin die Begleitung von Tomasio Giancarlo, ich soll ihn nach Hause fahren. Ist er schon fertig?«, fragte Luca und lächelte so charmant, wie er konnte.

Die Dame schaute auf ihren Bildschirm.

»Nein, der sitzt noch im Wartezimmer, er ist aber als Nächster dran.«

Luca sah sich suchend um.

»Dort drüben bitte.« Sie deutete auf eine Glastür.

Luca näherte sich dem quadratischen Raum, in dem rechts und links Stuhlreihen unter Gemäldekopien von Mirò und Kandinsky verliefen. Drei Stühle waren belegt. Tomasio saß links, fast unter dem Fenster an der hinteren Wand, und las in einem Magazin. Luca öffnete die Tür und trat ein. Die Wartenden blickten auf, und Tomasios Augen explodierten förmlich.

»Buongiorno«, grüßte Luca. Nur zwei Personen grüßten zurück. Luca grinste spitzbübisch, nahm sich eine Zeitung vom Tisch und setzte sich neben Tomasio.

»Du dämliches Arschloch«, flüsterte Tomasio, ohne von seiner Lektüre aufzuschauen.

»Ah, du führst Selbstgespräche, deshalb das CT«, sagte Luca in normaler Lautstärke. Die beiden anderen Patienten schauten zu ihnen herüber.

»Halt die Klappe«, zischte Tomasio und lächelte dabei.

»Widerlicher Sturkopf«, gab Luca zurück und lächelte noch breiter.

Die Tür wurde von einer jungen Arzthelferin geöffnet, sie lehnte sich halb herein und sagte: »Signore Giancarlo, bitte.«

Tomasio stand auf und warf die Zeitung auf den Tisch.

»Ich warte hier«, gab Luca ihm noch mit auf den Weg.

Es dauerte eine knappe Stunde, bis Tomasio zurückkehrte. Sofort klappte Luca seine Zeitung zu und sprang auf. Er war froh, hier wieder wegzukönnen. Sie gingen zusammen hinaus, als wären sie auch so gekommen. Draußen marschierten sie Seite an Seite zum Parkplatz.

»Warum bist du hergekommen?«, wollte Tomasio wissen.

»Weil ich es wollte.«

»Kein schlechter Grund«, sagte Tomasio. »Aber hör zu, das war jetzt kein Termin, der mein Schicksal besiegelt, okay? Ich hab lediglich ein paar Symptome, und die haben nachgeschaut. Mehr war es nicht.«

»Deswegen hast du mir auch nichts davon erzählt«, stellte Luca fest.

»Nervensäge.« Tomasio musste grinsen.

»Also, was ist bei der Untersuchung rausgekommen?«, fragte Luca. »Haben sie überhaupt was gefunden in deinem Kopf? Wenigstens ein Gehirn?«

Tomasio blieb stehen und lachte laut auf. Doch dann übermannte ihn die Sorge, und er vergrub das Gesicht in den Händen.

Luca nahm ihn in den Arm.

»Du hast nichts, Tomasio. Alles wird gut. Ich bin sicher, es ist alles in bester Ordnung.«

4

Tomasio hatte noch keine Diagnose bekommen. Selbst wenn sie etwas Auffälliges gefunden hätten, hätten sie es ihm während der Untersuchung nicht mitgeteilt. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten. Doch Tomasio war nicht der Typ, der solange zu Hause herumsaß und grübelte, er arbeitete einfach weiter. Luca fand es beruhigend, ihn in die Hände von Martina übergeben zu können. Ohne sich noch lange aufzuhalten, fuhr Luca weiter. Jedoch nicht nach Hause, wie er Martina erzählt hatte, nein. Er verspürte den Drang, nach Veluzzo zu fahren. Nicht weil Pasquale ihn darum gebeten hatte, nicht weil er sich aus Solidarität dazu gezwungen fühlte. Nein, er wollte wissen, was geschehen war.

Pasquale zu informieren, vergaß er. Er fuhr in Gedanken versunken, und die Fahrt kam ihm heute viel kürzer vor als vorgestern Abend. Am Ziel ergab sich jedoch ein fast identisches Bild. Im Café saß der Alte am Tisch und beobachtete das Treiben auf der Straße. Am Anfang der kleinen Gasse, die ins Dorf hinaufführte, parkten zwei Streifenwagen. Erst als Luca ausgestiegen und ein paar Schritte gegangen war, entdeckte er den dunklen Bus, der der Kriminaltechnik gehören musste. Auf den Balkonen standen dieselben Kinder, nur die drei Männer im Torbogen fehlten, das Holztor war heute verschlossen.

Luca wollte den Hausflur des Hauses Nummer 9 betreten, doch er wurde von einem Absperrband daran gehindert. Der Carabiniere, der ihnen vorgestern den Weg gewiesen hatte, stand am Fuß der Treppe und blickte alarmiert auf.

»Ah, Sie sind es. Kommen Sie durch«, sagte er, als er Luca erkannte, und winkte ihn herein.

Luca duckte sich unter dem Plastikband hindurch. »Ist Commissario Vialli oben?«, fragte er.

»Ja, er und die Kriminaltechniker. Wenn Sie raufmöchten, muss ich Sie erst anmelden. Und Sie müssen sich etwas überziehen.« Er deutete auf Lucas Straßenschuhe.

»Schon gut, ich hör mich erst mal ein bisschen um. Ist hier unten jemand zu Hause?«, fragte er mit Blick auf die Erdgeschosswohnung.

»Allerdings. Ein älterer Herr. Ist ein wenig wunderlich«, verriet der Carabiniere leise und beschrieb mit dem Zeigefinger kreisende Bewegungen an seiner Schläfe.

»Okay, danke.«

Luca trat vor die alte Eichentür mit dem abgewetzten Messinggriff und las den Namen auf der Türklingel: »Cotugno«.

Er klingelte und wartete eine ganze Weile, bis er schlurfende Schritte hinter der Tür hörte. Der alte Herr öffnete sie einen schmalen Spalt breit, sodass Luca nur seine gelblichen, wässrigen Augen sehen konnte.

»Mmh?«, machte er knapp. Dann war schweres Atmen zu hören.

»Buongiorno, Signore Cotugno, mein Name ist Spinelli, haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?«

»Kenne Sie nicht.«

»Ich war vor einigen Jahren schon mal hier im Dorf und habe mit Silvana und Gino gesprochen.«

»Gino?«, fragte er, und seine Augen verengten sich.

»Ja, Gino Battista.«

Einen Moment lang hörte man nur das schwere Atmen. Der Carabiniere im Hintergrund beobachtete gespannt, ob es Luca gelingen würde, in die Wohnung zu kommen. Dann wurde das Schloss entriegelt, und die Tür öffnete sich quietschend. Signore Cotugno drehte sich wortlos um und schlurfte in alten Pantoffeln zurück in seine dunkle Wohnung. Er atmete schwerer, als seine Bewegung es vermuten ließ. Vielleicht war es Aufregung, vielleicht eine Lungenkrankheit.

»Kalte Kirche war es an dem Tag. Keine Blumen. Kaffee vergessen«, murmelte er vor sich hin. Luca folgte ihm vorsichtig.

In der ganzen Wohnung standen die Türen offen, aber die Läden vor den Fenstern waren geschlossen, sodass es dunkel war wie in der Nacht. Es brannte nur ein schwaches, gelbliches Licht im Wohnzimmer, in das Signore Cotugno mit zittrigen Händen steuerte.

»Wer weiß das schon? Sieben ist keine Zahl. Vielleicht mehr Äpfel.«

Luca zweifelte mit jedem Schritt mehr daran, dass er hier etwas erfahren würde, was ihn im Mordfall weiterbringen konnte. Trotzdem betrat er hinter dem Alten hergehend das karge, muffige Wohnzimmer. Die Holzdielen knarrten unter ihren Füßen, und Luca hatte Angst, dass der Alte ihn vergessen haben könnte und sich womöglich furchtbar erschrak, wenn er sich umdrehte und ihn sah.

»Michele ist tot. Michele ist tot. Sieben ist keine Zahl. Sieben. Mögen Sie Äpfel?«, fragte der Alte und drehte sich um.

Nun war es Luca, der ein wenig erschrocken war. Darüber, wie nah er ihm jetzt war, und weil er zum ersten Mal in sein Gesicht blicken konnte. Es war blass und irgendwie schwammig, ohne füllig zu sein. Die Haut des Mannes hatte einen wächsernen Glanz, und die großen Tränensäcke unter seinen Augen zogen schwer an seinen unteren Lidern, sodass man das Rot darin sehen konnte. Sein Mund stand offen, die Unterlippe war vorgeschoben.

»Ich? Ja, natürlich mag ich Äpfel.«

»Nehmen Sie sich welche aus dem Garten. Sieben ist keine Zahl. Michele, ja. Michele. Was wollen Sie wissen?« Er hielt sich unsicher an einer Sessellehne fest.

»Na ja, eigentlich wollte ich über den Michele aus Ihrem Haus sprechen. Michele Nunzetti.«

»Michele ist tot.«

»Ja, man fand ihn vorgestern in seiner Wohnung.«

»Sieben. Nein. Keine Blumen, keine. Sie kannten Michele?«

»Nicht persönlich. Wie war er denn?«

»Oben wohnt er. Vorgestern, vorgestern …«

»Ja?«

»Mögen Sie Äpfel?« Er deutete aus dem Fenster.

»Ja, schon, aber was ist mit Michele Nunzetti? Mochte der Äpfel?«

»Nein, keine Äpfel. Nie. Keine Blumen.«

»Haben Sie an dem Abend Lärm gehört?«

»Lärm? Im Fernsehen, ja. Viel Lärm.« Sein Zeigefinger zitterte in Richtung eines kleinen Fernsehers in der Schrankwand.

»Und Musik, haben Sie Musik gehört?«, wollte Luca wissen.

»Ja, sieben. Sieben ist keine Zahl. Keine Blumen. Michele ist tot.«

»Ja, ich weiß«, sagte Luca niedergeschlagen. »Hat Michele Nunzetti in letzter Zeit mit jemandem Streit gehabt?«

»Michele? Nein. Michele hat Ziegen. Keine Blumen. Kein Streit.«

Signore Cotugno schaute immer hilfloser. Das Gespräch schien ihn anzustrengen.

»Michele hatte auch eine Schwester.«

»Sina, ja. Sina. Sie mag Äpfel. Sina isst Äpfel.«

»Das ist gut«, sagte Luca. Er wollte den Mann beruhigen, weil der immer besorgter und nervöser zu werden schien. »War Sina vorgestern Abend zu Hause, oder kam sie von irgendwoher? Sie hat Michele gefunden.«

»Sina war beim Gemüse. Sie ist immer da. Oben am Berg.«

»Hat sie dort einen Garten?«

»Ja. Am Berg.«

»Kennen Sie die beiden gut?«

»Sina, ja. Michele. Ich bin der Onkel.«

Das schockte Luca. Er hatte Signore Cotugno für einen unbeteiligten Nachbarn gehalten. Aber sie waren verwandt. Der alte Mann hatte seinen Neffen verloren.

»Onkel?«, konnte Luca nur sagen.

»Ja. Meine Schwester ist tot.« Er zeigte auf ein Foto in der Schrankwand.

»Und Ihre Schwester war die Mutter der beiden?«

»Mmh. Ja.«

»Es tut mir sehr leid, Signore Cotugno.«

»Mmh. Ja. Keine Blumen.«

»Ich muss jetzt gehen. Vielen Dank.«

Hilflos blickte der Alte Luca hinterher.

Im Hausflur musste Luca erst mal durchatmen. Der Carabiniere stand immer noch am Fuß der Treppe. Weiter oben sicherte ein Kriminaltechniker mit einem Pinsel Spuren am Geländer.

»Na, ganz schön durcheinander, der Alte, was?«, meinte der Carabiniere.

»Er war der Onkel des Opfers, wussten Sie das?«

Der Beamte stockte. Dann schüttelte er betroffen den Kopf. Luca ging ohne ein weiteres Wort an ihm vorbei nach draußen.

Er wandte sich nach links und ging weiter in den Ort hinein, bis ihm ein kleines Mädchen mit einem Fahrrad fast über den Fuß gefahren wäre. Sie lachte lauthals, als er zurücksprang, und hielt an.

»Das war knapp«, meinte Luca und schüttelte seine Hand dabei.

»Du bist von der Polizei«, stellte sie fest. Ein weiteres Mädchen kam mit klatschenden Sandalensohlen zu ihnen gelaufen.

»Nein, ich bin kein Polizist. Ich mache Filme.«

»Filme? Wie ›Star Wars‹?«, fragte die Kleine.

»Nein, Filme über Menschen.«

»Bei ›Star Wars‹ gibt es auch Menschen.«

»Ja, aber in meinen Filmen geht es um normale Menschen, wie die Leute hier aus dem Dorf.«

Sie blickte sich um. »Echt? Langweilig.«

Luca lächelte. »Kanntet ihr Michele Nunzetti?«

»Der ist tot«, rief sie für Lucas Geschmack etwas zu laut.

»Ja, das stimmt. Sein Onkel sagte mir, er habe eine Ziegenherde in den Bergen.«

»Er und Sina«, präzisierte die Kleine.

»Wisst ihr, wo das ist?«

»Klar.«

»Könnt ihr mich hinführen?«

»Klar!« Sie riss ihr Fahrrad herum.

Luca fiel auf, dass es keine gute Idee war, wenn ein Fremder zwei kleine Mädchen bat, ihm einen Ort in den Bergen zu zeigen. »Fragt eure Eltern vorher aber bitte, ob ihr überhaupt dürft«, fügte er an.

»Meine Eltern sind nicht da«, sagte das Mädchen ohne Fahrrad.

»Meine Mutter ist zu Hause, sie ist krank.«

»Oh, was hat sie denn?«

»Einen Gips.«

»Ach so.« Luca musste lachen.

»Sie hat sich den Arm gebrochen, weil es auf der Treppe nass war«, erklärte die Kleine.

»Ja, und dann ist sie ausgerutscht und hingeknallt. Voll auf den Arm«, erläuterte ihre Freundin mit martialischem Gesichtsausdruck.

»Soso.«

»Luciaaa«, hallte es plötzlich hinter Luca durch die Straße. Er drehte sich um und sah, dass sich im ersten Stock eines Hauses eine Frau aus dem Fenster lehnte. Sie trug einen blauen Gips am Unterarm.

»Mama, wir zeigen dem Mann, wo Micheles Ziegenherde ist«, rief das Mädchen mit dem Fahrrad.

Luca winkte der Mutter.

»Sind Sie von der Polizei?«

»Nicht direkt. Ich berate die Polizei.«

»Er macht Filme«, rief Lucias Freundin.

»Ach, Sie sind das«, sagte die Frau. »Na los, zeigt ihm die Stelle. Aber dann kommt ihr sofort wieder nach Hause, verstanden?«

»Jaaa«, sangen beide lustlos im Chor.

Lucia ließ ihr Fahrrad einfach fallen und sprintete los. »Hier geht’s lang!«

»Wartet. So schnell kann ich nicht«, sagte Luca und beeilte sich hinterherzukommen.