Das Buch Goldmann - Ingeborg Bachmann - E-Book

Das Buch Goldmann E-Book

Ingeborg Bachmann

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Beschreibung

»Nun startet sie, die große Ingeborg-Bachmann-Gesamtausgabe: eine Schatztruhe für Bachmann-Süchtige.« Deutschlandfunk Kultur Die Hauptfigur: Fanny Goldmann. Ihr Mann Harry Goldmann, österreichischer Jude, kehrt 1945 aus dem Exil nach Wien zurück. Doch die Heimkehr ist zum Scheitern verurteilt: Dieses Österreich ist nicht mehr wiederzuerkennen. Schonungslos brechen soziale Gewalt und die moralischen Verbrechen innerhalb der Gesellschaft über Fanny und Harry herein.Voll trauriger Komik und analytischer Schärfe porträtiert Ingeborg Bachmann in diesem herausragenden Roman ein jüdisches Paar im Wien der Nachkriegszeit. Das Buch Goldmann, der Titel des hier neu editierten Romans von Ingeborg Bachmann, taucht zum ersten Mal in einem Reisebericht des Verlegers und Freunds Siegfried Unseld aus Rom auf. Dieses Vorhaben hat sie von 1964 bis über den Roman Malina (1971) hinaus beschäftigt. Durch den Unfalltod der Schriftstellerin im Otober 1973 ist es Fragment geblieben. Die Darstellung im Buch Goldmann wird geprägt von einer Österreich-Sehsnucht, deren Intensität sich aus der Zeit nach dem Krieg und nach der Shoah erklärt, aus der Zeit »nach 1945«, der dem Schreiben Ingeborg Bachmanns zugrunde liegenden Zeitrechnung.  Ingeborg Bachmann schreibt auf diese Weise dem Zeitroman eine kritische Dimension ein, es sind die Fragmente einer Prosa, die Gerechtigkeit herstellen will, die geläufigen geschichtlichen Verstehensmuster nicht übernimmt und die in der Beziehung von Fanny und Harry Goldmann paradigmatisch die Geschichte einer gescheiterten Rückkehr nach Österreich zeichnet.

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Seitenzahl: 531

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Inhalt

Cover & Impressum

Vorwort

Das Buch Goldmann

Fanny P., die PEN-Club-Sekretärin

\ Die gestohlenen Jahre

\ Phase 2

II Fanny Goldmann, die Schauspielerin

III Die Erzähler: Von Martin zu Malina

IV Auf der Frankfurter Buchmesse

V Eka Kottwitz, die Journalistin

VI Aga Rottwitz, die Journalistin

VII Ernst und Fanny Goldmann

Kommentar

Editorische Vorbemerkung

Zur Edition

Zu den »Kapitelüberschriften«

Das Buch Goldmann

der Salzburger Bachmann Edition und das »Todesarten«-Projekt

Ingeborg Bachmanns Arbeitsweise

Überlieferung und Konkordanz der Überlieferungsträger

Rezeption

Das andere Buch

Neue Sprache, neue Heldin

Schauspielerinnen: Fanny – Eleonora Duse – Maria Malina

Die »Geschädigtenecke«

Aus der Provinz: Eleonora Duse – Maria Malina

Die ersehnte Rache

Eine schlechte Schauspielerin

Komplementär:Die emanzipierte deutsche Intellektuelle

Karin

Eka / Aga

Sexualität

Ein Österreich-Roman

Tonfälle und Topographien

Theaterstadt Wien

Konversation

Antoinette Altenwyl

Nachkrieg und Adel

Fannys Herkunft

Der Vater

Die Mutter und die Tanten

… und die Musik

Theater der ersten Nachkriegszeit

Die Scala

Ausländische Autoren, österreichische Tradition, Katholizismus

Die jüdischen Remigranten

Unter Mördern und Irren

Hans Weigel und der Kalte Krieg

Die linke Remigration

Malina in Frankfurt. Eine ›unzeitgemäße‹

Ethik, ein ›unzeitgemäßes‹ Erzählen

Der Markt

Österreichische Schriftsteller

Eine Genealogie

Alte Sprache, alte Begriffe

»Bücher« und »Analogien«

Das Melodram

Eine ›Arena‹

Talent und Charakter

Neue Erzähler und Erzählerinnen

Martin

Malina

Ich

Dunkelstellen

Baby

Von den » Opfern « zu den » Verdammten «

Opfer / Frauen / Shoah

Ernst Goldmann

Die Verdammten

Literatur

Quellen

Werke von Ingeborg Bachmann

Briefwechsel

Kritische Literatur zu Ingeborg Bachmann

Weitere Literatur

Faksimiles

Vorwort

Hans Höller / Irene Fußl

Das Buch Goldmann, den Titel des hier neu edierten Romans, kennt kaum jemand. Er ist verborgen in einer Notiz von Ingeborg Bachmanns Verleger und Freund Siegfried Unseld und taucht in seinem Rom-Reisebericht zu diesem Romanvorhaben auf. Das Buch hat sie unter allen »Todesarten«-Projekten am längsten beschäftigt, nämlich von 1964 bis über den Roman Malina (1971) hinaus, auf den es ein paar Jahre später hätte folgen sollen. Durch den Unfalltod der Schriftstellerin im Oktober 1973 ist es Fragment geblieben. Einzelne Teile erschienen postum in der ersten Werkausgabe (1978), vollständig wurden die nachgelassenen Typoskript-Konvolute erst siebzehn Jahre später in der Kritischen Ausgabe des »Todesarten«-Projekts ediert, und zwar als Teil von Todesarten < Eugen[1]-Roman II > sowie unter den Titeln Requiem für Fanny Goldmann und < Goldmann / Rottwitz-Roman >. Die publizierten Roman-Teile fanden aber neben Malina und neben Das Buch Franza nie eine vergleichbare Beachtung.

Manchmal braucht es den begeisterten Hinweis einer Entdeckerin wie Marie Luise Wandruszka, es braucht ein staunendes Lesen, und mindestens ebenso sehr braucht es eine gute Begründung der Wertschätzung im Kommentar, der neugierig macht auf ein ganz zu Unrecht vernachlässigtes erzählerisches Werk. Wie konnte es passieren, dass der Roman mit seinen schönen, berührenden erzählerischen Passagen, mit seiner traurigen Komik und seiner analytischen Schärfe nie entsprechend gewürdigt wurde? Oder dass nie die auch im Werk Ingeborg Bachmanns einzigartige epische Klage über die Verdammnis der Romanfiguren und über unser aller Verdammnis gesehen wurde? Und wenn sie gesehen wurde, warum hat sich das nicht herumgesprochen in der Bachmann-Leserschaft?

Vielleicht hat dem Buch bisher die Taufe auf seinen (Titel-) Namen gefehlt. Denn Bücher brauchen ihre Namen, »um in der Welt zu sein« und in die »außerordentliche Landkarte« der Literatur eingetragen zu werden, in diesen »Zauberatlas«, von dem die Schriftstellerin in ihrer vierten Frankfurter Vorlesung gesprochen hat. Im Namen Das Buch Goldmann verbirgt sich jene biblische Dimension, die Bachmann, ähnlich wie der mit ihr befreundete Pier Paolo Pasolini, ins Gesellschaftskritische gewendet hat, eine Gegensprache, mit der sie besonders seit den sechziger Jahren ein Mittel fand, die Welt der Geschäftemacherei und der Verabsolutierung des Verwertungsprinzips zu transzendieren.

Und wenn die Bandherausgeberin dem Buch Goldmann seinen Namen zurückgibt, so kann sie in ihrer Kommentierung die große Bedeutung der Namensfrage zeigen. Dessen Hauptfigur heißt Fanny Goldmann, geborene Stephanie Marie Theres[2] Wischnewski; ihr Mann heißt Harry Goldmann, der sich später den Namen Ernst gibt, ein österreichischer Jude, der 1945 aus dem amerikanischen Exil nach Wien zurückkehrt. Und wie sie und wie er haben alle im Buch Goldmann ihre Namen, aus denen die Geschichte zu uns spricht, genauso wie aus den Namen der Orte und Straßen und Plätze in Wien. Es sind die Namen einer wirklichen und einer imaginären Landkarte mit ihren ›unterirdischen Querverbindungen‹ zur Geschichte und Kultur, getragen von einer allgegenwärtigen Österreich-Sehnsucht, deren Intensität sich im Roman aus der Zeit nach dem Krieg und nach der Shoah erklärt, aus der Zeit »nach 1945«, der dem Schreiben Ingeborg Bachmanns zugrunde liegenden Zeitrechnung. Ein »Paralipomenon« zum ersten Österreich-Roman der Todesarten erklärt wie von selbst, warum besonders die Emigranten im österreichischen Tonfall von Bachmanns Prosasprache ihr eigenes Heimweh nach Wien ausgedrückt finden konnten : »Über dem Stadtplan von Wien liegen, wie ein Ertrinkender, ein Sehnsüchtiger, der nicht mehr weiß, wohin eine Sehnsucht geht. Die Namen vor allem sind es […]. Ich möchte wissen, wie Neustift aussieht und Alt-Erlaa, wie jeder Bezirk aussieht, wie er riecht, das möchte ich wissen, und zugleich weiß ich nicht, wie ich dort je wieder sein könnte. Aber die Namen, die Namen, es gibt keine Namen, die so auf mich wirken. Daneben hält nur noch Eleusis stand und Olympia. (TA 1, S. 166)«

Und doch ist Das Buch Goldmann alles andere als ein nostalgischer Österreich-Roman. Wandruszka zeichnet die kritische Dimension dieses Zeitromans nach, der Gerechtigkeit herstellen will, die geläufigen geschichtlichen Verstehensmuster nicht übernimmt und der in der Beziehung von Fanny und Harry bzw. Ernst Goldmann das erzählerische Gedächtnis des Scheiterns einer Rückkehr nach Österreich darstellt, genauso wie durch das eingespiegelte Porträt eines Wiener Kommunisten daran erinnert wird, auf welche Weise der österreichische Widerstand bald nach dem Krieg ins gesellschaftliche Abseits verdrängt wurde.

Wandruszkas Kommentar zu Das Buch Goldmann geht nicht in der Bestimmung der Elemente eines österreichischen Zeitromans auf, sondern sie rückt eine weit zurückreichende europäische Romantradition in den Blick, die der Autorin zum Selbstverständnis und zur Selbstvergewisserung diente. Vor allem war das Honoré de Balzacs Comédie humaine, diese Recherche der Verbrechen in der Welt des sich etablierenden Kapitalismus. Bis in strukturelle Details von Bachmanns Fanny-Texten kann die Herausgeberin Affinitäten zu den Romanen der Comédie sichtbar machen und zugleich den entscheidenden Unterschied von Bachmanns »Wienerischem Requiem« bestimmen, der im sprachlichen Ausdruck der Erschütterung und der inneren Verwundung der Menschen liegt, die vor der Erzählinstanz und ihrer Autorin nicht haltmacht. »Wer nicht ganz blind ist«, hat Jean Améry in seinem Nachruf auf die »ungekannte Freundin« geschrieben, »der mußte hinter dem ›Text‹ den Menschen sehen, auf den es allemal ankommt. Ich habe nicht aufgehört, die geistige Gestalt dieser Frau vor Augen zu haben. Sie ist mehr und anderes als der bare ›Text‹.«

Vor mehr als zwanzig Jahren haben Monika Albrecht und Dirk Göttsche unter der Leitung von Robert Pichl die 181 zum Fanny-Goldmann-Konvolut gehörenden Typos kriptblät ter in einer in allen Einzelheiten begründeten textgenetischen Anordnung im »Todesarten«-Projekt (1995) herausgebracht. Diese Pionierarbeit der ersten (historisch-)kritischen Edition hat ermöglicht, es anders zu machen, mehr Freiheit für die Gestaltung der kritischen Apparate zu bekommen, die Transkriptionen nachvollziehbarer und lesbarer zu gestalten und anstelle der vor allem textgenetischen Kommentierung einen Kommentar zu schreiben, der das Lesen und Verstehen von Bachmanns erzählerischem Meisterwerk befördern kann – und der Freude an der Lektüre dient.

[1]\ Die gestohlenen Jahre

In der Küche, sie stand da, sie rührte sich nicht, sie bewegte dann ihre Hände, sie hatte die Blumenstengel abgeschnitten, sie kehrte sie mit den Fingern zusammen, sie warf sie in den Abfalleimer. Sie wusch noch ein paar Schalen und Gläser, sie war nicht müde, aber jede Bewegung war müder, als Müdsein es erlaubt. Dann ging sie ins Zimmer, sie hatte das Bett schon gemacht, warf sich aufs Bett, sie griff nach dem Buch und fing wieder darin zu lesen an. Sie kannte es ja schon, sie las es noch einmal, sie las eigentlich nicht mehr, sie käute es wieder mit den Augen.

Sie käute jedes einzelne Wort, manche Sätze dann schnell, um sich nicht daran zu verschlucken[2], dann wieder Wort für Wort. Er schrieb, und sie las, und so würde es nun immer bleiben, sie war über vierzig, und sie las nur noch in einem Buch.

Das Buch handelte von ihr, so sagte sie sich, er hatte sie zwei Jahre gekannt und dann nicht mehr, und es handelte aber von ihr. Sie konnte hier wiederlesen, wiederkäuen, wie sie mit ihrem Mann gelebt hatte, dann wie sie als junges Mädchen das getan und jenes unterlassen hatte, es waren lauter Dinge, die sie ihm erzählt hatte, wann erzählt, nachts, wenn sie neben ihm lag, am Nachmittag, wenn sie durch einen Wald gingen, wie sie radfuhren, wenn sie Kaffee tranken, was war ihr bloß eingefallen, sie hatte ihm in zwei Jahren das wirklich alles erzählt. Oh ja, das hatte sie getan. Sie sagte sich: schuldig, sie käute jetzt wieder.

Nur sah ihr Leben hier ganz anders aus, obwohl es von ihr kam, sah es anders aus, auf S. 226 z. B. sah es aus, als hätte sie gelacht über die Stiefmutter ihres Mannes, das war aber nicht wahr gewesen, niemals, und sie fragte sich, ob ihr Mann nun auch das Buch lese, zur Zeit oder ob er es gelesen habe vor einem Jahr, denn auch das wäre möglich, vieles, auch daß er es überhaupt nicht kannte, auch das, sie fragte sich aber, bei jedem Satz, der die anderen betraf, ihre Schwester Klari[3] und Hedy, ihre Freundin, die standen doch auch alle da, und immer durch ihren Mund und nun durch seinen Mund, nein, was für ein Unsinn, durch seine[3] Buchstaben standen sie da, und sie war beraubt[4], ausgeraubt mit allen ihren Sätzen aus 700 Nächten und Tagen, aus beiläufigen und Hauptsätzen, aus Urteilen und Anzügen, sie im Pyjama, sie auf dem Fahrrad, sie in einem Konzert, wo war ihr Leben, hier war es.

In der ersten Zeit, da dachte[5] sie in ihrem grenzenlosen Erstaunen, daß er das Buch geschrieben hatte, nun würde er nur noch drei Tage brauchen und dann zu ihr fahren und vor ihr auf die Knie fallen (ein Mensch, der überhaupt nicht auf die Knie fallen konnte), dachte sie aber, und er würde

sie bitten, weiter mit ihm zu leben, weil er ihre 700 Nächte und auch Tage und Weinstunden aufgeschrieben und »ausgeschlachtet« hatte, ja es heißt ausgeschlachtet, so heißt es, sie hatte das einmal gehört, er hatte sie ausgeweidet, hatte aus ihr Blutwurst und Braten und alles gemacht, er hatte sie geschlachtet sie war geschlachtet auf 386 Seiten in einem Buch, das dachte sie, er werde kommen, dann werde alles gut, er werde wieder mit ihr und für immer leben, um diese Schande zu decken, diese Schande, daß sie hier geschlachtet, gekocht und geräuchert worden war wie ein Schwein.

Sie dachte aber auch, du Schwein, er war ein Schwein, das war das einzige Wort, das sie für ihn fand. Er war zehn Jahre jünger als sie gewesen und war es eigentlich noch immer, dort drüben, einige Bezirke weiter war er noch immer zehn Jahre jünger, ihr Schlächter, den sie Schwein nannte, obwohl sie das Tier war, das er geschlachtet hatte, ein Lamm, Lamm Gottes, nein nicht Gottes, einfach 〈 〉 , \[6] sie war sein Tier gewesen, weil sie aber nie ein Tier war, höchstens ein Lamm, dachte sie, Lamm Gottes, und meine unsterbliche Seele.

Sie hatte aber keine unsterbliche Seele, das wußte sie, und sie war nur eine arme Frau, die Karotten putzt und ihr Bett machte am Abend und unregelmäßig aß und ab und zu zuviel trank, schlechten Slibowitz oder schlechten Wein, Wachauer Wein, während der Schlächter nun mit ihr, nicht mit ihr, mit ihr, der anderen, sie die geselchte Wurst, das rohe Blut, die Keule, das alles aufaß und sich nährte von ihr.

Er, der Schächter[4][7], kaum dreißig Jahre alt, jetzt schon über dreißig, wie sie befriedigt feststellte, auch er nicht mehr unsterblich und unverwundbar, er lag dort mit ihr, einer Karin, einem schauerlichen Namen, der vierundzwanzig Jahre alt war und seine gemeine Abkunft verriet, dieser Name, geboren im Jahr 1939, also auf tausendjährig, während[8] sie geboren wurde mit einem altmodischen Namen, der höchstens seine achtzig Jahre währen konnte, Stefanie, er lag dort mit diesem Namen in seinem Bezirk, jetzt war es sicher der siebente Bezirk, den sie nie hatte leiden können und den sie den beiden vergönnte. Er hatte aber einen vollen Namen, der Bibelschreiber, der Passionsschilderer, hieß Anton Marek und hatte jetzt Erfolg mit der Schlachtung, mit dem Ölberg und dem Essigschwamm, den sie sich auf die Stirn gepreßt hatte.

Sie las manchmal seinen Namen ganz langsam, wie den eines Fremden, der war es auch. Es war nicht der Name des jungen Mannes, den sie kennengelernt hatte eines Nachmittags, den sie sich falsch gemerkt hatte, der niemand und am wenigsten ihr damals etwas bedeutet hatte. Zwei Wochen später war sie nicht bei diesem Namen, sondern in seinem Vornamen untergegangen, den sie tausendmal gesagt hatte und sich nun verschwieg, ihr alter Name Fanny war in seinem jungen Namen Walter[5] untergegangen, hatte sich von ihm überwältigen lassen, er war in alle ihre Buchstaben eingedrungen, sein A hatte mit ihren Vokalen sich berührt, seine Konsonanten sich mit ihren verschlungen, sie hatten sich befeuchtet, sich gedreht ineinander, er hatte ihren Namen aufgeweicht, ihn vom F bis zum Ypsilon umarmt, ihr Name war so besamt von seinem Namen, er war auch in ihr aufgegangen, so hatte sie gemeint, aber nein, er war es nicht, er hatte sie umbenannt, er nannte sie Stephanie in seinem Buch, meine Fanny, meine einzig geliebte Fanny, nannte sie einfach Stephanie und umarmte keinen ihrer Konsonanten, sondern spießte ihn auf wie einen Schmetterling, diesen Namen, der nicht ihrer war und den sie als den ihren nun ansah, auf 386 Seiten Bibel.

Und Gott sprach, und als sie sich umwandte, erstarrte sie zur Salzsäule. Sie brachte das alles nicht füreinander, sie sah vielmehr ihn, Marek, auch Toni, auch Anton Marek, zur Salzsäule erstarrt, dann wieder sich.

Und sie dachte, was denkt er jetzt, er ist jetzt sicher auf dem Weg zu mir, um vor mir niederzufallen unter tausend Tränen und zu sagen, Fanny, verzeih mir (vergib mir?) und unter tausend Tränen für 386 Seiten niederzufallen und zu sagen, vergib mir, denn. Ich war es nicht wert, so sagte er, ich war nicht wert, ich tauge nichts. Aber es schien, daß Marek, Anton, auch Toni genannt, ihrer wert war und sich nicht auf den Weg machte, nicht vom siebenten Bezirk in den dritten, nicht einmal so weit.

Dieser Herr Marek, eine nicht so sonderbare Spezies Mensch, ein Schlächter, dunkelblond, grauäugig, hatte besseres zu tun, er hatte einen Vertrag zu machen. [9]\ Fanny hatte auch dem Verleger geschrieben, damals war ihr noch nicht das Herz[6] dabei gebrochen, damals hatte sie auch noch nicht versucht, sich umzubringen, erst einige Wochen später, eine Logik, die keinen Platz hatte in Herrn Mareks Hirn, wieso auch, er sah Fannys Bemühungen und dankte ihr, die deutsche Qualitätsarbeit Karin bedankte sich auch, aber da Fanny so lange brauchte, wie sie zu allem zu lange brauchte, was sie selber anging, begriff sie erst später, daß sie ihr Todesurteil unterschrieben hatte, als sie dem Verleger schrieb, als sie Marek schrieb, als der Verleger und der hoffnungsvolle Herr Marek einander schrieben. Als es soweit war, empfand sie mit einer gehörigen Verspätung, daß dieser Marek davor nicht zurückschreckte, sie zu verkaufen an breiteres Publikum, ja sogar bereit gewesen wäre, ihr eine Provision zu zahlen, in Gestalt einer Abfindung oder Beteiligung, die sie ablehnte, weil sie nicht begriff, natürlich hatte er das nie vorgehabt, er hatte ihr bloß mitgeteilt, daß im Fall seines Todes alle Tantiemen an sie gingen, und sie verstand nicht, warum er seinen Tod ins Spiel brachte, der von ihm so weit weg war wie nur möglich, der ihre viel eher zur Diskussion stand, aufgrund ihrer Gesundheit, aufgrund ihrer Manipulationen mit Seconal und Nembutal, die sie Mitte Dezember verschluckte, um danach halbschlafen ins Wasser zu springen, bei der Reichsbrücke, um danach halbschlafen und halb erfroren eingebracht zu werden auf[10] eine Klinik, wo man die Routineheilung betrieb, sie ohne Testament und ohne Tantiemen, während Herr Marek, nicht bereit ins Spital zu kommen, die Korrekturen vornahm an seinem Werk und die Änderungen, die ihm ein Herr des Verlags vorschlug, den er anmaßend fand, wegen der Vorschläge, Genetive und Austr iazismen betreffend. Karin Krause[7] hatte mittlerweile Herrn Marek geehelicht und sich von ihm weismachen lassen, daß es besser sei, Fanny in Ruhe zu lassen mit freundschaftlichen Beteuerungen, da Fanny ihn schließlich auch einige Nerven gekostet habe, speziell an Sonntagen, wenn sie sich geweigert hatte, mit ihm Ausflüge zu machen, speziell auch wegen ihrer Unfähigkeit, mit seinen Freunden zu harmonisieren, speziell auch wegen einiger hysterischer Anrufe, in denen sie ihm, Marek, zu verstehen gegeben hatte, daß sie auf ihn zähle und seinen Besuch erwarte. Karin Marek sah von da an keine Veranlassung mehr, sich über die Leintücher den Kopf zu zerbrechen, in denen sie lag, oder den Eisschrank zu benutzen, den Fanny Toni geschenkt hatte, sondern versuchte, mit seinen Freunden zu harmonisieren, sonntags im Auto, wenn er mit ihr ins Burgenland raste, zu lachen, wenn die Tachometernadel vorrückte und er lebensgefährliche Überholmanöver vornahm, alles fiel ihr leicht, was Fanny so schwer gefallen war, sie war also die ideale Frau für den eben erst geborenen Marek, der schon angekündigt wurde auf Prospekten und Büchervorschauen.

Fanny hatte das Pech, jeden dieser Prospekte zu sehen und jede Vorschau zu lesen, in denen die Geschichte von der leidenschaftlichen Hörigkeit einer älteren Frau, zu einem jüngeren Mann, etc., vorausgekündigt[11] war, sie konnte sich die Lippen lecken und sich sagen, da kommt es also, da kommt es langsam auf mich zu, nur noch sechs Monate, dann bin ich in aller Öffentlichkeit geschlachtet, ein blutendes Schwein, mit kleinen irrsinnigen Schreien, und sie lag zuhause und stieß kleine irrsinnige Schreie aus und trank und trank den billigsten Alkohol, den es zu kaufen gab, bei Bohrer Delikatessen.

Er muß zurückkommen, sagte sie sich aber mit großem Mut, er muß kommen. Er muß mich decken, er muß sich vor mich stellen, mich schützen, in der Nacht besonders, damit er mir nichts antut, er selber muß es tun, muß mir versichern, daß ich in jeder Minute nicht war, wer ich für ihn gewesen bin, er muß die Seite 66 zurücknehmen mit den verrunzelten Händen und dann die zwei Seiten danach mit dem schlechten Mundgeruch und der Erzählung von der ersten Nacht, die wir miteinander verbracht haben, er muß es wiedergutmachen, sicher will er das auch, er will nicht nur verdienen, Kritiken, Aufsehen [12]\ erregen, natürlich mußte er das wünschen, er konnte aber trotzdem wünschen, daß Fanny nicht dabei zu Schaden kam. Eines Tags schrieb sie ihm, obwohl sie nie religiös gewesen war, bitte geh in eine Kirche und stecke eine Kerze für mich und zünde sie an, darauf schrieb Herr Marek, er schlage ihr, wie sie verstehen könne, diesen blödsinnigen Wunsch ab, da er nicht religiös sei, von Kerzen nichts hielte etc. Was er für den Grund dieser Bitte hielt, die tatsächlich blödsinnig war, schon einige Monate später, wo andre blödsinnige Bitten sie bewegten, nicht mehr an der Reihe gewesen wäre, was er also für den Grund dieser irrsinnigen Bitte hielt, das teilte er nicht mit, überhaupt nichts dazu. Er sagte scherzhaft, er hoffe, es gehe ihr gut. Drei Monate später bat sie ihn, dieser Gedanke war ihr beim Osterputz gekommen, den sie nach der ersten Stunde abbrach, weil sie vor Tränen nicht mehr weiter staubsaugen konnte, daß er wenigstens so gut sein solle, von ihr eine Schallplatte anzunehmen, die sie gemeinsam so oft gehört hätten, die sie nun bis zum Exzeß allein gehört hätte, aus Verzweiflung, er solle sie sich hie und da wenigstens vorspielen, die schickte er ihr nach drei Wochen zurück, mit einer Verspätung deswegen, weil er in München gewesen war, um seinen Verleger zu treffen. Er sagte, er glaube nicht, daß er diese Platte, da er keine Opern liebe, hören möchte, das könne sie mittlerweile begriffen haben, denn in manchen Dingen war er ein Purist, so nannte er sich jedenfalls, und Fanny packte die Platte aus und legte sie ohne eine Erschütterung in den kleinen Kasten, in dem ihre andren Platten lagen. Die dritte Bitte, die sie hatte, die betraf zwei Tassen, die sie ihm geschenkt hatte und aus denen sie täglich ihren Kaffee zum Frühstück getrunken hatten, aber darauf gab er keine Antwort mehr, wahrscheinlich hatte Frau Marek die zerschlagen, oder es gab sie nicht mehr, oder sie standen dort jeden Morgen fürs Frühstück neben vielen andren Gegenständen von ihr, deren Herkunft Frau Marek nicht kannte. Und von Frau Marek, geborene Krauss, konnte man nicht verlangen, daß sie eine Hellseherin sei und etwas wisse von dem gemachten Nest, in das sie sich glücklich gebettet hatte. Mittlerweile war sie nämlich, die Krauss, auch nicht mehr so glücklich, und es gab Stimmen, die von einer vorübergehenden Stimmung sprachen. Es war anzunehmen, daß die geborene Krauss darum andere Sorgen hatte als zwei Schalen aus Fannys großer Zeit.

Nach zwei Jahren war Fanny allein. Drei oder vier ihrer alten Freunde verkehrten jetzt mit Marek, den sie früher nie zur Kenntnis genommen hatten[13], [14]\ den sie nur durch sie kannten, und die ließen von sich nichts mehr hören, die anderen wenigstens hatten anfangs etwas von sich hören lassen, hatten bedauert, unverständlich gefunden, verständlich gefunden, Lauf der Zeit, das Übliche, schade, aber Fanny war hartnäckig, sie verlangte insgeheim, da sie offen nichts mehr verlangen konnte, daß diese alten Freunde zu ihr stünden, daß sie zu ihr kämen, sie wenigstens mit einem Wort wissen ließen, wie traurig sie seien über das Vorgefallene. Was war aber das Vorgefallene. Da nichts zu erkennen war. Die alten Freunde, die vielleicht nie Freunde gewesen waren, und die Fanny in ihrer hysterischen Menschenliebe zu solchen erklärt hatte, waren gar nicht gegen Fanny, sie waren nur gegen eine abwesende, verschollene, vertrauerte Fanny, sie waren Lebensknechte, wie Fanny sie schimpfte, und dies mit einigem Recht, sie waren gegen das Zusammentreffen mit einer morosen, vertränten und verhuschten Person[8], denn so nannten sie sie, wenn sie zufällig auf sie zu sprechen kamen.

Fanny trank nun weniger, aber sie trank jeden zweiten oder dritten Tag und wenn sie am Tag darauf aufstehen wollte, merkte sie, daß es nicht mehr ging. Sie zitterte schon im Bett, um sieben Uhr früh, sie blieb liegen, sie bekam Kopfschmerzen gegen 10 Uhr morgens, nach dem Einkaufen hatte sie Schwindel im Kopf, nach dem Kochen mußte sie sich niederlegen, am Nachmittag rief sie Klari an, um ihr zu sagen, daß sie unmöglich abends ausgehen könne, sie ließ sich so gehen, daß sie Klari jedesmal sagte, als sei jeder Tag wie der Tag vorher, es geht mir schlecht, ich kann nicht, wir sehn uns besser nicht, hab Geduld, es geht mir scheußlich, bitte versteh mich, ich kann nicht drüber reden (und darüber redete sie dann zwanzig Minuten, bloß darüber, daß es ihr unmöglich sei, darüber zu reden!), und Klari sagte, ich versteh dich, aber nein, das ist wirklich schrecklich, du mußt etwas tun, was sagt denn der Arzt, komm doch zu mir, ich seh dich morgen, see you tomorrow, darling, Liebes, das kann nicht so weitergehen, du ruinierst dich, es steht doch nicht dafür. Und Fanny sagte: Es ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit, verstehst du, ich muß mir etwas überlegen. Und Klari: Um Himmels willen, soll ich gleich zu dir kommen! Und Fanny: Um Himmels Willen, bleib zuhause, geh aus, wie geht es Fritz, geht ihr essen in die Linde[9], so, war er da, mit wem denn, nein es interessiert mich nicht, nein bitte, das ist immer zum Wahnsinnigwerden, sag mir nichts von ihm, das macht alles nur ärger, ich bin jetzt beinahe drüber hinweg. Und Klari: Am besten wir sprechen nie mehr darüber. Gehst Du wirklich gleich schlafen? Trinkst du wirklich nicht mehr? Das musst Du mir beschwören. Nein bitte. [15]\ Fanny sagte: ich bin schon halb hinüber, es hat wirklich keinen Sinn, ich habe schon ein Schlafpulver genommen, bitte, bitte, mach dir nichts daraus, das ist mir schrecklich, ich wollte dich nicht aufregen. Und Klari sagte: Aber bitte, bitte, du mußt doch reden können. Fritz kommt grad zur Tür herein, willst du noch mit ihm reden, wir gehn jetzt aus, mit den Zibaleks, die sind hier für acht Tage, aus Kitzbühel, dann ruf ich dich an, nein ich ruf dich nicht an, du schläfst dann besser schon. Ich soll also Fritz nichts sagen, nein, natürlich, ich sage kein Wort, das versteht sich. Gut Nacht.

Klari sagte zu Fritz: Die Fanny. Ich weiß nicht. Sie läßt dich grüßen. Nein, nichts besonders, nein, ich mach mir Sorgen, sie steckt in keiner guten Haut. Nein, ich hör schon auf, es war nur im Moment, nein, ist das wahr, daß der Trattner jetzt wieder anfängt mit diesen Geschichten, ich finde das ja ungeheuerlich, das kannst du dir einfach nicht gefallen lassen …

Fanny halb hinüber. Fanny weint. Fanny weint nicht mehr. Fanny hat ihren Stolz, sie liest ein Buch, dann liest sie nicht mehr. Fanny geht durch die Wohnung, wäscht noch das Geschirr, sie putzt die Kacheln im Badezimmer, sie wechselt die Handtücher. Um fünf Uhr früh wandert Fanny durch die Wohnung, ohne Hausschuhe, mit eiskalten Füßen und sucht etwas. Sie sucht einen Bleistift, den sie gestern gesehen hat, sie will etwas aufschreiben, dann will sie ihrer Mutter schreiben, aber der Bleistift ist nicht zu finden. Fanny um sieben Uhr früh, mit einer Wärmflasche, mitten im Sommer, liegt im Bett, sie sucht den Bleistift nicht mehr, den sie gefunden hat, mit dem sie nichts geschrieben hat, sie hat ihr Gesicht eingekremt, fettet gegen den Polster, wischt ihr Gesicht wieder ab, sagt sich, daß es keinen Sinn hat, ein Gesicht einzufetten. Sie weiß nicht, warum sie es getan hat. Für Leben. Wie ein Lebensknecht. Ich bin kein Lebensknecht, sagt sie. Dann sagte sie sich: ich will jetzt noch ein halbes Jahr leben, wenn es dann noch nicht anders[16] ist, töte ich mich. Ich gebe – nicht mir, nicht dem Leben, nicht ihm, nicht den anderen, – ich gebe nur diesem Zittern, diesem Nachtumgehen, dieser Katastrophe, die lautlos ist und die für mich nicht mehr leben ist[17], eine Chance. Wenn das halbe Jahr vorbei ist, und ich schaue auf das Datum, heute ist der, – dann nehme ich mir das Leben. Vorher muß ich noch einmal nach Italien fahren, da gibt es Medikamente ohne Rezept, das muß ich noch machen, dann, ja, 〈 〉

[18]\ Fanny hinüber: Fanny träumt, daß er ihr Bruder ist, daß sie ihren Bruder liebt, daß er nachhause kommt und kein Wort mit ihr spricht. Fanny weiß zum erstenmal, daß Toni und ihr Bruder (sie hat keinen) nicht ein und dieselbe Person sind, daß sie die beiden trennen muß, und Fanny weint, sie kann nicht ihren Menschenbruder von Toni trennen. Sie spricht mit Toni, der in den Prater gehen will, der mit der Sturmschaukel fahren will, der die Grottenbahnmusik hören will, Troubadour, (und Toni hat den Troubadour und noch tausend Dinge nie gemocht), und es ist klar (im Traum natürlich), daß Toni die Grottenbahnmusik schon mit Karin gehört hat und mit Karin vielleicht wieder hingeht, die mich nicht mehr leben ist (TA: die nicht mehr Leben ist) jedenfalls aber, Fanny weiß, daß Toni mit ihr Blutschande begeht, Blutschande, mein Bruder, Blutschande, Blutschande sag ich, Schande, sag ich, ich sage Schande, und Fanny versucht zu reden und zu trennen, sie will die Personen trennen, und darum spricht sie, aber sie hat keine Stimme im Traum, und er, ihr Bruder, ist so fürchterlich, er sagt etwas, er kann den Mund auftun, und sie tut zwar auch den Mund auf und jedes Wort bleibt unhörbar, ein Bewegen ihrer Lippen, ein grausiges Bewegen ihrer Lippen und kein Ton, sie fühlt, daß sie keinen Ton hat, und Blutschande, ich sage Blutschande, und meines Vaters Haus. Gott, und Lamm Gottes, und sie wüßte nicht, was das Lamm Gottes ist, gekreuzigt, und Lamm Gottes, aber sie ist unschuldig, wer hat ihr ein Lamm und Gott und einen Bruder und die Blutschande eingepflanzt, und wer hat ihr ihr Leben, ich sage Blutschande, 〈 〉 daß nicht nur er sie nicht hört, daß ihre Mutter und ihre Schwestern sie nicht hören, keiner der Nachbarn, die alle im Haus stehen, denn sie hört sich selber nicht, sie erklärt etwas ungeheuer Wichtiges[19] und hört sich selber nicht.

[20]\ Fanny rekonstruierte Tag für Tag die Stunde des Meuchelmords, diesen Augenblick, in dem sie von hinten angeschossen wurde, um dran langsam zu verbluten. Sie erinnerte sich, sie war in der Küche gestanden, sie redeten durch die offenen Türen, Toni hatte die Theaterkarten von Karin bekommen, Toni sagte, weil sie anstatt von Karin von Fräulein Kraus[21] gesprochen hatte, heftig, er verbitte sich diesen Ton, anstatt Karin Fräulein Kraus das Mädchen heiße Karin, obwohl es zweifellos auch Fräulein Kraus hieß, und sie solle das Mädchen aus dem Spiel lassen, das alles (was alles) habe nichts mit dem Mädchen zu tun, er sprach plötzlich von Fannys Versäumnis wegen der Briefe, sie hatte tatsächlich vergessen, die Briefe für ihn zu schreiben, und plötzlich weinte Fanny über dem Gurkensalat, während sie den Rahm über die gehechelten Gurken fließen ließ, es flossen schon ihre Tränen in den Rahm und salzten ihn, dann – oder erst später, nein, viel später, als sie schon gedeckt hatte und plötzlich weinte, ja warum, sie weinte, diese grundlosen Depressionen, so sagten sie beide, sie weinte als sie saßen und aßen, oder war es später, es mußte ja viel später gewesen sein, als sie schon tranken und sie auf der Sitzbank saß, die immer hart und zu blau war, sie weinte wohl in den Aschenbecher in ihrem Schoß, immer hatte sie die Gewohnheit, einen Aschenbecher zu nehmen, auf ihren gespannten Rock zu stellen, und nun also die Tränen und die Asche, Toni stand auf, er sagte, er habe ihr heute das Buch gebracht, sie sah nicht auf, dann setzte er sich mit dem Buch zu ihr, er schlug die erste Seite auf, und Fanny umarmte ihn, sie stammelte den Dank dafür, daß er es ihr gebracht hatte und sie war froh, daß es wirklich fertig war und sie sagte ihm, sie sei froh, das sei ihre größte Freude, denn oft hatte sie gefürchtet, er werde beim Reden bleiben und ihr Reden von wieder 20 Seiten und dann wieder 10 Seiten weniger, es war so undurchsichtig, er war aber auch nicht der Mensch, stundenlang zu sitzen, sie wußte es schließlich, nach zwei Jahren wußte sie alles, so meinte sie, dann sagte er, er fahre an den Wolfgangsee, morgen früh, allein, natürlich nicht mit Karin, die ihre Reportage machen mußte, er müsse jetzt weg, einfach ein paar Tage segeln gehen, zu den Altenwyls, sie habe dann die Ruhe zum Lesen, und ihr Urteil, natürlich, Fannys Urteil, ihm war nur wegen Fannys Urteil[22], und dieser Erleichterung1, jetzt ins Salzkammergut fahren zu können, und Fanny, die nicht mehr weinte, wie lang war er geblieben an dem Abend, sie wußte es nicht mehr, in der Nacht noch hatte sie angefangen zu lesen, hatte ununterbrochen gelesen bis zum nächsten Mittag. Um fünf Uhr früh, als sie zuviel getrunken hatte, ging sie ins Bad und erbrach sich, dann las sie wieder von vorn, sie kochte sich Kamillentee, erbrach sich noch einmal, aber es kam nur mehr der farblose Tee in die Waschschüssel, sie hatte das Klo nicht mehr erreicht, im Waschbecken klebte noch 24 Stunden später [23]\ das Abendessen, der Wein, die Brocken der Saltimbocca, ja Pariser Schnitzeln und der Gurkensalat, der rote Rahm, rotweinrot. Zu mittag nahm sie zwei Schlaftabletten und schlief bis in die nächste Nacht, dann fing sie wieder zu lesen an und mitten in der Nacht schickte sie ihm ein Telegramm, noch eh sie sich nachdenken erlaubte, sie telegrafierte ihm, jetzt war ihr Geburtstag vorbei, und er hatte nicht anrufen können, weil sie das Telefon nicht abnahm, hatte aber womöglich nicht angerufen. Sie telegrafierte, wie wunderbar sie das Buch fände, wie stolz sie sei und ähnliches mehr, ein Telegramm von fünf Zeilen und nicht als Brieftelegramm. Vier Tage später war er wieder in Wien, er kam direkt in die Wohnung, mit Blumen und Mozartkugeln, einem kleinen Geschenk, und Trakl-Erstausgabe[10], sie war totenähnlich und bewegte sich kaum, sie sagte, sie habe eine Magenverstimmung, sonst sei nichts, über das Buch wurde nicht gesprochen, sie sagte, das seien nur Kleinigkeiten und vielleicht der Schluß, sie sprach lange und konzentriert über den Schluß, einen überhasteten schlecht komponierten Schluß, und er gab ihr recht, er ging, nachdem sie über den Schluß sich ganz und gar ausgesprochen hatte und plötzlich nicht mehr reden konnte. Sie suchte nach Worten, es war ihr einfach die Sprache weggeblieben, sie war so erschöpft und unausgeschlafen und jetzt überanstrengt, weil nicht ausgeschlafen, ihre Backenknochen traten breit und wächsern hervor, diese Backenknochen, die in dem Marekschen Buch eine nicht unerhebliche Rolle spielten, ihre slawischen, und ihre Mongolenaugen, die Tartarinnenaugen, die waren plötzlich zu groß, sie traten ganz aus, sie schaute ihn an, nicht mit dem schmalen Blick, der ihm gefallen hatte, sondern mit aufgeschwollenen aufgerissenen Augen, die sagten, nein, nein.

Liturgien: Fanny auf den Knien, Fanny stundenlang, mit den Haaren übergeworfen 〈 〉

[24]\ Wieviel Jahre sind jetzt schon vergangen, fragte sie laut in die Nacht, denn ihre Nacht war ja schon lang, vielleicht zwei Jahre alt, wieviel Nacht ist schon vergangen, schrie sie, und er stand vor ihrer Tür und sagte, vergib mir, und sie sagte, denn ich soll getröstet werden.

Die Wirklichkeit war aber, daß Herr Marek, den sie jetzt auch öfters schon so nannte, Herr Marek, obwohl die meisten[25] Marek und der Marek sagten, wenn sie sie trafen, nicht dran dachte zu sagen, was in der Bibel steht, obwohl er der Verfasser einer Bibel war.

Sie wollte das Buch zerfetzen, dann bei ihm eindringen und es zerfetzen, dann bloß den Brotkorb und die Tassen zerschlagen und zerbrechen, die sie diesem Herrn und seiner Donna, so nannte sie manchmal das tausendjährige Produkt Karin, hinterlassen hatte, da er irrtümlich vergessen hatte, ihr den Brotkorb zurückzugeben, den sie nicht haben wollte, sie wollte ihn nicht, aber sie wollte auch nicht, daß er mit diesem Schandnamen, diesem deutschen, daraus aß, denn der junge Herr hatte natürlich vergessen, vergeßlich wie junge Herren sind, Brotkörbe und Socken und Blumentöpfe zurückzugeben, er dachte eigentlich nie daran, er lebte stillvergnügt vor sich hin, aber daran dachte er nie. Er war nicht in Sodom[11][12] und nicht in Gomorra. Er war Fanny dankbar, die damals so rasch verstanden hatte, da sie immer verstehen sollte. Er sagte eines Tags zu ihr, das ist[26]Karin, sie möchte dich gerne kennen lernen, und sie sagte, das möchte ich auch. Sie lernte Karin kennen, die aus dem tausendjährigen Reich, und sie wußte sofort, daß man mit vierzig nicht gegen zwanzig ankommt, oder war es zweiundzwanzig, das Kind, sagte sie, sie ist ein hübsches Kind und so jung, und der junge Herr, der verstand es auch und sie beide verstanden es, es war längst fällig gewesen. Nach drei Monaten, als das hübsche Ding noch immer nicht von der Bildfläche verschwunden war, und Fanny einen Selbstmordversuch machte, dachten ihre Freunde, es sei wegen des hübschen Dings und der Dingsda geschehen, aber sie schwieg beharrlich[27], denn es war nicht wegen des Dings geschehen. Mit dem Dings konnte man über das Buch nicht reden, und Fanny war dazu da, seit Jahren, über alles reden zu können[28], es war so großartig an Fanny, daß man alles, mit ihr, und über alles, und Fanny, so großartig und so viele Leute kennend, und Fanny, die schon längst alles in die Wege und mit Leuten, und Fanny, die weiterhin natürlich, selbstverständlich, auf Fanny war soviel Verlaß, Fanny, die soviel älter war, 〈 〉

[29]\ Nachwehen. Was war mit Fanny geschehen? Sie hatte gekündigt, nachdem ein deutscher Schriftsteller angesagt war, für den sie noch das Hotel reservierte, sie sollte ihm, einem 60jährigen Barden deutscher Lyrik, wahrscheinlich die Stadt zeigen, worauf der Barde wahrscheinlich auch keinen Wert legte, er sollte angeblich sowieso Schwiegereltern in Wien haben, jedenfalls hatte sie plötzlich eine Panik, der Barde könne (auch wenn er das nie und schon gar nicht in Bezug auf sie vorgehabt haben sollte) über sie ein Gedicht schreiben. Sie stellte sich plötzlich vor, das war der Beginn ihrer Krankheit, Herr Hotop könne sie in eine Arabeske verwandeln. Zur gleichen Zeit war eine Delegation von Schriftstellern und Journalisten aus Prag angesagt, und sie hatte plötzlich das Gefühl, die Tschechen könnten sie in ihren Berichten verarbeiten, sei es als [30]charmante Ariadne[13] durch das wienerische Labyrinth oder als Exponentin einer Institution wie der des Clubs. Ebenso erschreckte sie eine Delegation aus Polen, von der sie noch nichts Näheres wußte, sie kündigte jedenfalls, krankheitshalber, wobei ihre Krankheit eben aus Furcht bestand [31]und sie[32] zog sich zurück, so sehr, daß niemand, was in Wien leicht der Fall war, auf die Idee kam, sie möge noch jemand sehen. Sie war über Nacht verschwunden, obwohl 100 Menschen ihre Adresse und ihre Telefonnummer kannten, sie war »außer Betrieb« wie ein Lift, an dem ein Schaden entstanden war, sie telefonierte noch ab und zu mit Hedy und bestätigte ihr, daß sie am Leben sei, daß sie mit Geld zwar knapp sei, aber sie war immer knapp mit Geld gewesen, das war so neu also nicht. Neu war höchstens für sie, daß sie nicht mehr eingeladen wurde zu einem Paar Würstel und Eiern im Glas[33]und einem doppelten Großen Braunen, sie hatte nun niemand mehr, der ihr so etwas wie eine andeutungsweise Mahlzeit bezahlte, und sie aß also so gut wie gar nichts mehr, etwas rohes Gemüse und Buttermilch, und sie hielt das für erträglich, weil sie sich oft gewünscht hatte, nur mehr das essen zu müssen, während sie gezwungen war, in der Linde oder im Rauchfangkehrer[14] Suppen und Mehlspeisen2 [34]zu essen, die sie nicht mochte, pappiges Zeug, mehlig alles, schleimig[35] und mehlig. Sie war also aus dem Schneider[15].

Sie lag nun tagelang da und beschäftigte sich mit der Bibel, es wurden Monate daraus, sie beschäftigte sich immer noch mit der Bibel. Zuerst war es nur die Bibel, die sie beschäftigte, später wurden es sehr merkwürdige Dinge, zum Beispiel fiel ihr plötzlich ein, daß Herr Marek jetzt mit Frau Marek in der Linde saß und beide aßen, und daß er nicht daran dachte, ihr auch nur ein Brot zu bringen, er überhaupt nie gedacht hatte, daß sie seinetwegen Hunger leiden müsse. Sie sagte sich aber, seltsame Logik, er wisse es natürlich, da sie meinte, er rechne so genau nach wie früher und errechne sich auch, daß seine Fanny nun überhaupt nichts mehr hatte, alles verloren hatte, die Stellung und den Charme, und das Geld und die Herren, daß also alles dahin war, aber sie vergaß, daß Herr Marek nicht rechnete, daß er nur früher gerechnet hatte und gesagt hatte, das ist billig hier, oder das ist teuer hier, oder das kostet für uns zuviel. Jetzt interessierte es ihn natürlich überhaupt nicht mehr, ob Fanny an einer Brotrinde kaute oder sich mit schlechtem Schnaps betrank, denn er hatte es ihr [36]deutlich gesagt, sie heißt Karin, und er hatte ihr gesagt: wir werden einander nun selten sehen, und er hatte gesagt: ich muß mir das Geld für Deutschland sparen.

Sie hatte nie gespart, während Toni immer gespart hatte, sie wußte auch genau, wieviel er hatte, als er sie mit Karin Krause verließ, um mit Karin zu sparen, sie hatte einfach kein Geld mehr, als Toni mit Karin zu sparen anfing. Sie fragte sich, wie das möglich war und warum sie immer alles Geld für die Männer gelassen hatte, aber es war schwer, dahinter zu kommen, weil es so einfach war, sie hatte immer den letzten Schein, auch wenn sie an dem letzten immer sehr hing, hergegeben, während diese Männer eine Zukunft hatten und weiter [37]\ dachten. Sie hatte keine Zukunft, sondern einen Mann, darum fiel ihr manchmal der letzte Schein schwer, aber sie gab ihn dann her, nur weiter dachte sie nie, weil sie keine Zukunft hatte, ja und weil ihr die Männer Zukunft versprachen, etwas, das sie nie getan hatte. Marek hatte ihr darum auch gesagt, als sie[38]keinen Groschen mehr hatte, Du spielst Dich jetzt auf, aber Du hast mir ja nie gesagt, daß Du eine Zukunft mit mir willst. Sie war ganz eingesunken, denn sie hatte wirklich nie an eine Zukunft gedacht mit ihm, er war ja zu jung dafür gewesen, aber sie hätte sagen können, ich habe Dir doch alles gegeben, aber das konnte sie nun nicht sagen, das hätte ihn sogar überzeugt, aber sie wollte es nicht sagen, hätte sich eher umbringen lassen, als es zu sagen, obwohl es auf der Hand lag, aber er hatte wohl nicht das geringste Interesse, nachzurechnen, er wäre dann leicht darauf gekommen, daß Fanny ihr ganzes Geld für ihn hergegeben hatte, er aber nicht sein ganzes Geld für Fanny, natürlich nicht, er hatte ja eine Zukunft, für die er präpariert sein wollte, für Deutschland, für Karin, für eine Eigentumswohnung, für ein Kind.

[39]\ Fanny schlotterte, ihre Haut zuckte am ganzen Körper, als teilte man auf sie elektrische Schläge aus, dann wieder rann über das Bein ein Strom dicht unter der Haut, ein neuer Strom setzte in der Kreuzgegend ein und floß den Rücken hinauf, bis unter ihre Kopfhaut. Sie war jetzt eiskalt, aber die Ströme flossen, sie bebte, stöhnte, sie lag ganz still, sie vermochte sich nicht zu rühren. Während die Angst sie hatte und Fanny sich bemühte, die Augen offen zu halten, um sich zu vergewissern[40], daß sie lebte und in ihrem Zimmer war, und in der plötzlichen Gewißheit, daß sie in diesem Zimmer sterben würde, in diesem und keinem anderen, fingen ihr die Tränen 〈 〉 die Tränen nach einem furchtbaren Krampfzustand, nicht weil sie irgendetwas traurig machte, nicht weil sie dachte, sondern weil ihre Drüsen die Tränen entließen zur Entlastung eines unerträglichen Zustands. Von ihrer Mutter wußte sie, daß ein Kranker, der Tränen hat, nicht stirbt, das beruhigte sie sofort und sie weinte weiter, gegen ihren mutmaßlichen Tod. Da hielt sie inne, weil sie auf ihrem Körper etwas schreiben fühlte, sie zog ihr Hemd herauf und versuchte ihren Körper zu sehen, auf dem Schriftzüge entstanden, Stigmen, und sie wußte sofort, daß es sein Name war, der ihr fleckig[41]auf ihrer Haut erschien, brennende Auf- und Abstriche setzte. Unter diesem aufflackernden Namen brachte sie die Zeit zu, ohne Zigarette, ohne Tiefatmung, sie atmete flach durch die Flanken, durch die Spitze, sie vermochte nicht, tief zu atmen. Sie war ein Mensch ohne Vermögen, das Ratsame zu tun. Zwei Monate später sagte ihr ein Arzt, sie sei stigmatisiert, das sei nicht zu ändern, sie habe damit zu rechnen, daß bei jeder neuen Aufregung die Zustände aufträten. Aber sie fand, daß er sich irre, denn sie hatte keine neuen Aufregungen, es sei denn, man wollte die Erhöhung ihrer Miete, die sie sowieso kaum mehr zahlen konnte, zu Aufregungen zählen. Fanny zahlte 80 Schilling mehr, aber sie regte sich nicht auf.

Trotzdem kamen die Stunden wieder, mit den Strömen und der Schrift, und sie wußte, sie war Toni Marek jetzt verfallen, mehr, weitaus mehr als zu der Zeit, in der sie ihn gekannt hatte. Bücher besonders konnte sie nicht mehr angreifen, wenn sie bestimmte Farben auf dem Umschlag sah. Der seine war grün und schwarz, ein gerührtes Fleckengemisch.

[42]\ Fanni war eine Musterschülerin der neuen Literatur gewesen, sie hatte von Joyce und Kafka[16] bis Michaux[17] und Heissenbüttel in genauen Gruppierungen ihre Bücher, Nesterbildungen von Expressionismus, von den Pragern, den Franzosen, den Amerikanern, aber nun geschah etwas mit ihren Büchern, an den Wänden verschob sich in den untern Rängen, wo Ginsberg[18] und Ferlinghetti[19], Burroughs[20] und Rauschgift und Mescalin[21], wo Greuel und Päderastie[22] sich als ihre letzten Interessen abzeichneten, plötzlich einzelnen Büchern wichen, die sie früher in anderen Zusammenhängen einmal gelesen hatte, es entstand eine Geschädigtenecke, die immer größer wurde, ein Erinnerungsbuch an die Duse[23], eines an die Gräfin Tolstoi[24], eines an Lady Byron[25], die nur noch als Lady Byron und Miss Milbanke durch ihren Kopf geisterte, und deren Inhalte man alle dahin feststellen konnte, daß sie die Opfer der Literatur zu sammeln anfing, ihr Verhalten studierte, und die Szenen ablaufen ließ in der Nacht, die Wiederbegegnung, d’Annunzio[26]s »Wie müssen Sie mich geliebt haben, Madame!« »Oh nein, wie wenig muß ich Sie geliebt haben, weil ich überlebt habe« antwortete Eleonora, die doch ein Jahrzehnt zuvor, als ihre Tochter sich ihr in die Arme warf mit ihr geweint hatte und sich Schweigen befahl, und Lady Byron, die sich Schweigen befahl und die Memoiren vernichten ließ, lauter großmütige Befehle zu schweigen, sich hinzuopfern, aber da Fanni sich weder auf ein Schloß zurückziehen und eine Tochter aufziehen konnte, noch Abend für Abend das Publikum Europas atemlos machte und in keinem Triumphzug ihre Gebeine durch die Straßen Italiens getragen wissen konnte, weil zwischen der Beatrixgasse[27] und der Ungargasse und der Landstraßer Hauptstraße für ihr verhuschtes[43] Leben bei Brotkaufen, Milchkaufen und einigen Gängen bis zur Post im III. Bezirk weder ein fantastisches Schweigen noch eine himmlische Großmut die richtige Dekoration abgaben, ja nichts der Größe des Dramas, das sich in ihr abspielte, gewachsen war, nicht der Klatsch in der »Linde« und in zwei oder drei Kaffeehäusern, weil schließlich von Mareks Buch auch höchstens 3000[44] Menschen Kenntnis nahmen und davon vielleicht zwanzig wußten, vermuteten, witzelten, während sie schon überleiteten zu andren Vermutungen, Witzeleien und beispielsweise sogar Karin im Augenblick eine größere Rolle spielte unter den Gerüchtfiguren oder Marek und die Halenke, weil man einerseits meinte, daß Mareks Ehe auseinanderginge, entweder wegen der Halenke oder weil Karin schon mehrmals bei Alda über Nacht geblieben war, dann überhaupt verschwunden war, womit man auf ihre Zeit im Krankenhaus anspielte, [45]\ über die sie, wenig zu ihrem Vorteil, nicht gesprochen hatte, sie sagte nämlich, sie sei mit ihrem Vater nach Jugoslawien gefahren, während Klari und ihr Professor wußten, daß Karin mit einem Koffer auf der Zweierl inie umgestiegen war und die Elektrische[28] zur Alserstraße genommen hatte, also von Jugoslawien nicht gut im Ernst die Rede sein konnte, vielmehr das Allgemeine Krankenhaus[29] mit dem josephinischen Eingang, diese Kaserne, eine Kasernierung[46]im Allgemeinen Krankenhaus der Grund sein mußte, eine zum Verschweigen geeignete Krankheit oder Abtreibung, Karin war allein hingefahren und hatte sich zur Straßenbahn verurteilt, sie verurteilte sich gerne zu Härten, nahm kein Taxi, wenn sie etwas erhoffte, sie lebte unter einem Strafenhimmel, sie ging zu Fuß, wenn sie einen guten Abend erhoffte, sie arbeitete doppelt soviel, wenn sie nachher ihren Vater um Geld bitten mußte, und um die Spannungen zu Alda zu verringern, unter denen sie litt, rauchte sie vor dem Besuchstundenlang nicht, als könnte dies zwar nicht Alda milder stimmen, aber die Magie der menschlichen Beziehungen erleichtern.

Als Karin einen Tag vor Mareks Rückkehr durch die Straßen ging, sah sie einen Rauchfangkehrer, hielt ihren Mantelknopf fest bis zur Stadtbahn[30] und ging dann bis vor den Briefkasten, in den sie nichts einzuwerfen hatte, ging dann noch zwei Schritte weiter und ließ den Mantelknopf dann erst los, ihre Finger waren klamm[47] und die Hand war eingeschlafen, sie mußte sie in der Stadtbahn massieren bis zur Friedensbrücke[31][48], um dann glücklich auszusteigen, obwohl sie nichts an der Friedensbrücke[49] zu suchen hatte, sie fuhr wieder zurück und zählte die Männer mit Bärten ab, die ihr entgegenkamen, denn nun hatte sie eine Zeit, in der Männer mit Bärten ihr günstig waren, und kurz ehe[50]sie zuhause anlangte sah sie auch einen, da es aber schon dämmrig war, war sie nicht sicher, sie verfolgte ihn bis zu einem Durchhaus, aufgeregt vor Ungewißheit, sie entschied dann, daß er einen Bart getragen habe oder zumindest sehr unrasiert gewesen sei und lief wieder zurück, da war das Telegramm von Toni, das er allerdings versprochen hatte, eingetroffen.

[51]\ Sie wollte nicht mit Marek reden. Er bezeichnet das gewiß als Uterusdenken, aber sie konnte nun einmal nur daran denken. Ohne Gebärmutter, dachte sie, aber mit einer fes ten Muskulatur, ob das noch gehen wird. Sie nahm Cibalgin gegen die Schmerzen, dazu ein leichtes Abführmittel, dann denkt sie wieder an verschiedene Geschichten von Geburten, ein Kind, war es das von Gertie, hatte die Nabelschnur um den Hals, als es herauskam, und der Dammriß, nun wußte sie wieder nicht, was der Damm war, und sie blätterte aufgeregt im Brockhaus, aber dann stolperte sie über neue Worte und wurde abgelenkt, sie lag stundenlang da, und dachte an ihren Ausfluß, sie brauchte jetzt beinahe keine Watte mehr, aber immer wieder waren Spuren auf dem Steg, sie mußte daran riechen, jedesmal, wenn sie sich auszog roch sie an ihrer Hose, jeden Tag einen anderen Geruch, dann bemerkte sie wieder, daß dieses Jucken anfing, und sie dachte auflachend, daß sie die ersten Stäbchen geschluckt hatte, die ihr Alda verordnet hatte, sie führte wieder ein Stäbchen ein vor dem Schlafengehen, und am nächsten Morgen waren sie verschleimt[52], sie haßte nun schon diesen immer offenen Körper, diese Scheide, und konnte nicht begreifen, daß sie sich nicht immer gehaßt hatte, wo sie ging und stand war sie offen, ein Luftzug streifte sie, sie erkältete sich trotz des Haargekräusels.

Simon[32], der nichts argwöhnte, ging morgens durch die Wohnung im Pyjama und sah einmal kurz herein, küßte sie auf die Stirn, aber sie drehte sich weg, weil sie sich sagte, nun müsse sie noch zwei Wochen warten, die Haare wuchsen und wuchsen nicht, sie waren hart und stoppelig, natürlich konnte sie so noch lange nicht erwarten, aber das würde ja um Himmels Willen noch fünf oder sechs Wochen dauern, wenn diese Haare überhaupt nicht wachsen wollten. Und Simon rasierte sich, während sie ohnmächtig die Hand auf ihren kurzen Stoppelhaaren liegen hatte und weinte. Sie versuchte langsam, mit ihrem Finger die Wunden auszukundschaften, das enge wunde Loch, mit dem Mittel- und dem Zeigefinger. Toni war nun wieder in München, und als er nach drei Wochen wiederkam, war mit Karin noch immer nichts zu machen, so ging er Skifahren nach St. Anton, und Karin, die sich noch immer den halben Tag hinlegen mußte und diese Schwäche in den Knien, dieses Ziehen im Bauch hatte, wußte, daß jetzt ihre Liebe oder was sie so benannt oder sich darunter vorgestellt hatte, einen nie wiedergutzumachenden Schaden erlitten hatte, Marek erschien ihr wie ein Mon strum, ein Tier, [53]\ das etwas für sie unerhört Wichtiges, etwas was in ihrem Fleisch geworden war und zerstört worden war, nicht zur Kenntnis nahm, dafür keinen Trost fand, ja nicht einmal die geringste Ahnung hatte, warum Karin im Brockhaus blätterte und unter allen möglichen Buchstaben nie genug Wörter finden würde für ihr Unglück. Es war aus, etwas war aus für sie, auch wenn ihre Eierstöcke noch funktionierten, jedenfalls hatte Alda ihr auch noch einmal versichert, daß das ja ausgezeichnet sei, und Karin weinte über ihrem lateinischen Vokabular, sie zerschluchzte, sie sagte, bitte, wie war das mit den Ovarien und dann die Periode, damit war es also auch aus, und Marek war natürlich beim Skifahren, Karin wußte plötzlich auch mit wem, mit Gertie natürlich, weil Gerti nicht mehr mit Eugen zu sehen war, sie hatten sie doch beide durch Eugen kennengelernt.

[54]\ Eugens Neuerwerbung, neueste Affaire, Diewelche, Diejenige, Duldschinea, eine Mattersburg[33]erin, oder was sonst, eine Bekannte, eine Freundin, Geliebte, die Aprildame seiner freien Abende, bzw. der freien Montage und Donnerstagsabende und des ganzen Wochenendes, mit Ausnahme des Sonntagsfrühstücks, Gertie Zemalek, erschien, am Telefon, von Eugen den Altenwyls[55] geschildert so: Sie gurgelt und sie gähnt so schön. Nein, was du nicht sagst. Gurgelt und gähnt, du hörst recht. Das ist etwas eminent Wichtiges, ich habe das noch nie so bemerkt, ja, zum Beispiel ist es doch so eminent, also meinetwegen nicht eminent, aber wichtig ist es doch, daß sie mit der Zunge im Zahn bohrt und du findest es hübsch. Oder sie drückt sich Mitesser aus. Oder sie schwitzt.

Nach dem Telefongespräch verfiel Eugen in ein langanhaltendes Brüten, er ordnete Gertie ein, er führte sie sich vor Augen in allen erdenklichen Zuständen. In diesen Wochen hatte Gertie bereits zum zweitenmal die Grippe, er[56] übernachtete trotzdem fast immer bei ihr, obwohl sie schwitzte, er drückte sich an ihr verschwitztes Nachthemd, an ihre Haare, er küßte sie, obwohl sie diesmal bestimmt eine Halsentzündung hatte, er studierte ihren Zungenbelag, sie mußte ihm jeden Abend die Zunge zeigen, dann tropfte er ihr Privin in die Nasenlöcher, Otrivin in die Ohren, es war seine liebste Prozedur, dann schaute er ihr noch einmal in den Hals und zählte die Tabletten ab, die sie noch lutschen mußte vor dem Einschlafen. Mitten in der Nacht wachten sie gewöhnlich beide auf, Gertie schwitzte dann fürchterlich, aber sie fühlte sich besser, er trocknete sie ab, dunstete neben ihr und machte ihr Komplimente über ihren Schweiß, über ihr Schnarchen, ihre Ausdünstung. Bitte, du mußt mich nur anrühren oder an mich anstoßen, dann hört das sofort mit dem Schnarchen auf, garantiert, sagte Gertie, aber Eugen beschwor, er werde ihr Schnarchen nie stören, er sei unfähig dazu, das war nicht ganz wahr, denn nun probierte er es doch hier und da, nachdem er Gerties kräftiges Schnarchen nach fünf Minuten etwas monoton fand, nicht halb so hübsch wie ihr Gähnen und Gurgeln. Sie gurgelte immer morgens oder manchmal, wenn er mit ihr ausging, ehe sie sich fertigmachte, mit ein paar milchigen Tropfen auf ein Wasserglas, dabei ließ sie immer die Badezimmertüre offen stehen, und Eugen hörte zu, wie sie mit dem Wasser in ihrem Hals spielte, lauter und leiser wurde, sie [57]\ gurgelte erschütternd und heiter, laut und leise, es entstand jedesmal eine musikalische Figur oder besser doch wohl nur eine Gurgelfigur.

Wenn Gertie nicht krank war, fehlte Eugen etwas, er wußte kaum, worüber er mit ihr reden sollte und was sie gemeinsam tun und reden sollten. Zum Glück entwickelten sie noch eine andere Art des Umgangs miteinander, nämlich sie betrachteten irgendeinen Teil von Gerties Körper und bewunderten ihn gemeinsam. Montags die Knie. Eugen fand die Knie so hübsch, von denen sie die Strümpfe so weit gerollt hatte, daß die Knie jedenfalls bis zehn Zentimeter unter dem Knie frei dalagen. Gertie, die ebenfalls ihre Knie studierte, fragte dann, was er an ihren Knien schön fände. Nun mußte Eugen ins Detail gehen, oder nach Vergleichen fahnden, regelmäßig kehrte er jedoch zurück zu den Körperteilen mit der Frage, ob Gertie etwas weh tue, ob alles gesund sei. Grade in dieser Woche nun hatte Gertie einen Stich im Knie gespürt, einmal im rechten, dann im linken, und das schon zweidreimal im Lauf einer Woche. Gertie mußte den Stich beschreiben, Eugen untersuchte das Knie, er massierte das Knie, er wärmte es, riet ihr zu Knieschützern, die Gertie ablehnte, dann einigten sie sich auf schwarze und rote Wollstrümpfe, obwohl es im April kaum mehr möglich war, mit Wollstrümpfen auf die Straße zu gehen. Donnerstags studierten sie Gerties Bauch, diesmal ein besonders ergiebiges Objekt, weil Gertie Schmerzen hatte, weil der Bauch außerdem sehr hübsch war, zugleich aber wegen der Schmerzen etwas aufgedunsen, sodaß seine Hübschheit momentan wieder bezweifelt werden mußte, besprochen werden konnte, es wurde Kritik geübt, Gertie mußte aufstehen, kein Zweifel, ihr Bauch war zu dick, sie fand es jetzt auch selber, sie gab es zu, sie berieten, um wieviel Zentimeter etwa der Bauch zurückzugehen habe, seit wann sie das, Gertie oder er, Eugen[58], schon bemerkt hatten, sie erforschten die Vorgeschichte, beschlossen dann abzuwarten, bis ihre Tage vorbei waren, es konnte durchaus sein, daß ihr Bauch doch nicht zu dick war. Jedenfalls aß Gertie schon am selben Abend nur noch zwei Äpfel. Sie hatte zwar im Moment keine Arbeit, es war aber durchaus[59]möglich, daß sie Roberto wieder brauchte bei der nächsten Modenschau und die zwei Äpfel schon in weiser Voraussicht gegessen wurden. Gertie, die in zwanzig[60]Zeitschriften pro Monat alle Diätmöglichkeiten und Ratschläge studierte, die Artikel ausschnitt und in einer [61]eigenen Mappe aufhob, die einmal dazu hätte dienen sollen, ihre Tagebuchblätter aufzunehmen, befolgte trotzdem keine Diät, weil sie immer zu faul war, in die Reformgeschäfte zu gehen oder das Ste〈 〉

[1]FP -1 [1350][2]verschlucken] schlucken [3]seine] eine [4]beraubt] geraubt [5]dachte] dachte (TA 〈das〉 dachte) [6][1351] [7]

Schächter] Schächter (TA: Schlächter)

[8]während] wäre [9][1381] [10]auf] auf (TA: 〈 in 〉) [11]vorausgekündigt] vorausgekündigt (TA: 〈 angekündigt 〉) [12][1377] [13]genommen hatten] genommen [14][1385] [15][1384] [16]anders ist] anders, [17]10–11 die für mich nicht mehr leben ist] [18]FP-2 [1376] [19]Wichtiges] Bichtigeiges [20]FP-3 [1379] [21]27–28 anstatt von Karin von Fräulein Kraus] [22]nur wegen Fannys Urteil, und dieser Erleichterung] nur wegen Fannys Urteil und dieser Erleichterung (TA: nur Fannys Urteil, und diese Erleichterung) [23][1378] [24]FP-4 [1325] [25]obwohl die meisten] ob die msiet n [26]das ist] cda is [27]beharrlich] veherll [28]zu können] zu k [29]FP-5 [1352] [30]sei es als] sei als als [31]aus Furcht bestand] uf Furcht bet nad [32]sie] die [33]im Glas] und Glas [34]Suppen und Mehlspeisen] Suppen und Fleisch Mehlspeisen [35]schleimig] sch lmmig (TA: schlammig) [36]er hatte es ihr] er hatte er hr (TA: 〈 das 〉 hatte er ihr) [37][1353] [38]als sie] q sie [39]FP-6 [1338] [40]sich zu vergewissern] sich vergewissern [41]der ihr fleckig] der ihr fleckig (TA: der fleckig) [42][1339] [43]für ihr verhuschtes] ihr verhuschtes (TA: 〈 in 〉 ihrem verhuschten) [44]3000] 3.00 [45][1340] [46]vielmehr das Allgemeine Krankenhaus mit dem josephinischen Eingang, diese Kaserne, eine Kasernierung] vielmehr das Allgemeine Krankenhaus mit em josephinischen Eingang diese Kaserne eine Kasernierung (TA: vielmehr eine Kasernierung) [47]klamm] zitterten [ darüber: klamm] schon (TA: zitterten schon) [48]Friedensbrücke] Friedensbrücke (TA: Friedrichsbrücke) [49]Friedensbrücke] Friedrichsbrücke (TA: Friedrichsbrücke) [50]und kurz ehe] und kurz ehe (TA: und ehe) [51][1341] [52]verschleimt] verkrustet verschleimt [53][1342] [54]FP-7[1374] [55]von Eugen den Altenwyls] von Eugen Atti Altenwyls [56]er] sie [57][1375] [58]oder er, Eugen] oder er Eugen (TA: oder Eugen) [59]war aber durchaus] war durchaus (TA: war durchaus) [60]die in zwanzig] die zwanzig [61]und in einer] und einer

[62]\ Phase 2

Fanny

Fanny hat sich ausgedacht, daß zwei von ihr bezahlte Burschen Marek zu ihr bringen, ihn fesseln, ohne ihm Schmerzen zu verursachen[63]