Salzburger Bachmann Edition - Ingeborg Bachmann - E-Book

Salzburger Bachmann Edition E-Book

Ingeborg Bachmann

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Beschreibung

Der bislang unbekannte Briefwechsel zweier der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts

Eine junge Lyrikerin, die 1952 erstmals bei der Gruppe 47 auftritt, und ein um neun Jahre älterer, als Autor bereits etablierter Kollege. In ihren Briefen sprechen Ingeborg Bachmann und Heinrich Böll über Politik und Literatur, Religion und Reisen und immer wieder auch über die materiellen Voraussetzungen des Schreibens: Geld und eine angemessene Behausung. Über viele Jahre hinweg lesen sie die Werke des anderen – »Bitte schick mir, was Du schreibst, gegen die Trennung und das Abgetrenntsein.« Trotz unterschiedlicher Lebensentwürfe gibt es viele Gemeinsamkeiten. Beide wünschen sich Konstanz und Geborgenheit, beide reizt zugleich eine Existenz außerhalb des eigenen Sprachraums und der Herkunftskultur: Böll zieht es nach Irland, Bachmann nach Italien. Und beide haben mit inneren Dämonen zu kämpfen. Erschöpfung, Sucht und Depression begleiten den Erfolg.

Ingeborg Bachmanns und Heinrich Bölls zwei Jahrzehnte andauernder Briefwechsel bietet faszinierende Perspektiven auf das literarische Leben der ersten Nachkriegsjahrzehnte und profunde Einblicke in die künstlerische und persönliche Entwicklung zweier bedeutender Stimmen der Zeit. Vor allem aber wird deutlich: Bachmann und Böll standen einander näher, als bisher bekannt war.

Das Buch ist Teil der Salzburger Bachmann Edition und wird mit zwei Schutzumschlägen ausgeliefert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 597

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

2Ingeborg Bachmann Werke und Briefe

Salzburger Bachmann Edition

Herausgegeben von Irene Fußl und Uta Degner

Unter Mitarbeit von Silvia Bengesser

Ein Editionsprojekt am Literaturarchiv Salzburg Mit Unterstützung des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek

3Ingeborg Bachmann Heinrich Böll

»Was machen wir aus unserem Leben?«

Der Briefwechsel

Herausgegeben von Renate Langer

Mit einem Vorwort von Hans Höller

Kiepenheuer & Witsch Piper Suhrkamp

Impressum

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Der Band entstand in Kooperation der Ingeborg Bachmann Forschungsstelle am Literaturarchiv Salzburg und der Max Frisch-Stiftung an der ETH Zürich.Er ist zugleich Teil der Salzburger Bachmann Edition.Diese Ausgabe wird von der Republik Österreich, Bundeskanzleramt gefördert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2025.

Originalausgabe© Piper Verlag München, Berlin, Zürich und Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025Briefe von Heinrich Böll© 1999, 2025 Verlag Kiepenheuer & Witsch, KölnNachruf von Heinrich Böll© 2002 Verlag Kiepenheuer & Witsch, KölnAlle Rechte vorbehalten.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Brian Barth, Berlin

Umschlagabbildungen: Ingeborg Bachmann in Rom, 1954, Foto: Herbert List/Magnum Photos/Agentur Focus; Heinrich Böll um 1952, Foto: Archiv Erbengemeinschaft Heinrich Böll, © Heinrich Böll Fotoarchiv

eISBN 978-3-518-78219-4

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Der Briefwechsel

Hans Höller

:

Vorwort

Briefe

Nachruf

Heinrich Böll: Zum Tode Ingeborg Bachmanns

Kommentar

Nachwort

»Bitte schreib, trotz allem«

Eine unbekannte Freundschaft

Bad Dürkheim, Niendorf und die Folgen

Deutschlands Heinrich und die Diva

»Man muss immer den jeweiligen Preis zahlen«

»Die meisten Pläne sind Fluchtpläne«

Ein »Gepäckschein auf Sehnsucht«

»Ja, es war eine Flucht«

»Die katholischen Länder sind sehr gut«

Eine ungetaufte Heilige

Textspuren

I

: Heubäder und Oblivon

Textspuren

II

: Ein Wandspruch und viel Widerspruch

»Ich denke mit Schmerz an sie, mit Zärtlichkeit und in Freundschaft«

Zur Edition

Überlieferung

Editorischer Bericht

Brieftext

Stellenkommentar

Stellenkommentar

Literatur

Abkürzungsverzeichnis mit Bibliographie

Quellen

Aus weiteren Archiven bzw. Privatbesitz

Werke und Briefe von Ingeborg Bachmann

Werke und Briefe von Heinrich Böll

Weitere Literatur

Personenregister

Dank

Fotografien und Faksimiles

Nachweise

Fußnoten

Informationen zum Buch

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Der Briefwechsel

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Hans Höller

Vorwort

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In den Bänden der Salzburger Bachmann Edition nehmen die Kommentierungen einen wichtigen Stellenwert ein. Beim Bachmann/Böll-Briefwechsel gewinnen sie besondere Bedeutung. Renate Langers Stellenkommentar und ihr Nachwort geben eine Vorstellung von dem staunenswerten Reichtum verborgener Beziehungen, die in diesen Briefen zu entdecken sind. Sie folgt damit dem Selbstverständnis Bachmanns, wie es aus der pointierten Formulierung in einem späten Interview spricht: »unterirdische Querverbindungen gelten für mich immer noch« (GUI, 1971, S. 79).

Langers kenntnisreiche Kommentierung, die diese ›unterirdischen‹ Verbindungen freilegt, ist der Archäologie verwandt, zugleich geht es ihr darum, zu zeigen, dass die Briefe genauso wie das literarische Werk Bachmanns »durch die Wirklichkeit angeregt« sind und »darin Grund und Boden« haben. Bachmann bezog sich damit auf Goethes Begriff des ›Gelegenheitsgedichts‹ (GUI, S. 60f.).

Die Briefe könnten unspektakulär erscheinen, wenn man sie an den konfliktbeladenen Korrespondenzen mit Paul Celan oder mit Max Frisch misst. Doch geht es in Bachmanns Briefwechsel mit Heinrich Böll um das Gegenteil, um die Vermeidung von persönlichen Konflikten. Denn beide wollen, vom Literaturbetrieb vereinnahmt, in der freundschaftlichen Zuneigung und Nachsicht ihre Selbstachtung bewahren und sich über die Vermarktung des Schreibens, dem sie das gelebte Leben zum Opfer bringen, austauschen. In bewusster Opposi8tion dazu teilen sie einander die freundschaftliche Kritik ihrer Bücher mit, die an einer anderen, dem Leben verbundenen Idee des Schreibens orientiert ist.

II

Die Schönheit der Briefe ist vor allem in der sprachlichen Vielfalt der dargestellten Wirklichkeit zu finden. Eines der vielen Beispiele dafür ist Bölls Brief vom 27. Jänner 1955, wo er von seiner Sehnsucht nach dem schützenden Raum seiner Familie schreibt: »Ich möchte am liebsten immer in meinem Schlafzimmer bleiben, die Kinder und meine Frau um mich, im Bett essen, trinken, lesen, rauchen und abends dann unrasiert in eine Abendmesse schleichen […]. Verzeihen Sie die Abschweifung in Böll-sche Gefilde« (Brief 42). Derselbe Brief enthält einen satirischen Lehrbrief über den Umgang mit Verlegern – »verstanden, mein liebes, liebes Kind? Verstanden? So wird der Speck geräuchert – –«.

Bei den vielen Klagen über das große Haus, das Böll bauen lässt, denkt man an die Adressatin der Briefe: die viel ärmere Lyrikerin »senza casa«. Die Diskrepanz könnte nicht größer sein.

Bei der Lektüre des Briefwechsels zeigt sich, wenn von den Büchern die Rede ist, die sie einander zum Lesen schicken, dass auch der ›kleine Unterschied‹ der traditionellen Geschlechterverhältnisse in ihre freundschaftliche literarische Beziehung hineinreicht. Bölls einzige Rückmeldung zu ihren Büchern ist kurz gehalten und sie zeigt vor allem sein Interesse an ihrer Prosa: »Ich bin sehr froh über den großen Bären und freue mich auf Deine Prosa. – Schick sie mir, bitte!« (Brief 78) Aber zum Erzählungsband Das dreißigste Jahr gibt es, jedenfalls in den Briefen, keine Resonanz. Dabei läge hier 9seine Domäne und bei ihr die Unsicherheit wegen ihrer ganz anderen Prosa.

Zu den unauffälligen Schönheiten des Briefwechsels gehört auch, wie Bachmann über die ihr von Böll zugeschickten Bücher schreibt. Es sind Lektüre-Erzählungen, welche eine dem Alltag zugewandte Literatur würdigen. Sein Buch, schreibt sie ihm ungeniert am 29. November 1954, finde sie »um vieles besser als alles vorher«, wobei sie die Anschaulichkeit ihrer literaturkritischen Erklärungen durch Bilder verstärkt, die sie aus dem Alltag oder aus Kindheitserlebnissen gewinnt: »So als hätten Sie in der Sprache die Schlüssel zu ein paar Zimmern gefunden und die Zimmer aufgesperrt, die Sie noch nicht kannten.« Es stimme nicht, was sie zuerst über die »Wiederholungen« geschrieben habe, korrigiert sie sich, denn sie habe dann entdeckt, dass die Wiederholungen »wie eine Art von Untugend aus Freude am Entdeckten« sind. »Wenn man zum erstenmal einen Pfiff fertig bringt, dann möchte man gern noch ein paarmal pfeifen und nicht erst wieder, wenn man's braucht« (Brief 33).

Solche freundschaftlichen Lektüreberichte zu lesen, macht Freude, weil sie kritisch und anschaulich wirken, indem sie das Erzählen im gelebten Alltag verankern. Einmal zaubert Bachmann als liebevolle Hommage an Böll auch ein katholisches Brimborium in ihre Besprechung hinein: »Dein Insel-Buch« – »die Geschichte« – »ist sehr schön, und ich habe als Lesezeichen ein kleines Bild drin, das mir ein verschmuddelter Mönch in einer Bar gegeben hat mit einem Goldrand und einem Strahlenherz« (Brief 77). Einer kritischen Auseinandersetzung mit Bölls oft idealisiertem Irland-Bild entzieht sie sich aber geschickt, indem sie zu seinem ›Irischen Tagebuch‹ anmerkt: »ich glaube, ich möchte Irland nie sehen, weil Irland immer dieses Buch für mich sein wird.« (Brief 79)

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III

Bevor der Briefwechsel im Dezember 1952 begann, hatte Bachmann in der österreichischen Kulturzeitschrift Wort und Wahrheit (August 1952) ihre Rezension einiger damals vorliegender Kriegserzählungen von Heinrich Böll veröffentlicht. Sie tritt dort als souveräne Instanz auf, während sie sich in den Briefen weitgehend der Kritik enthält. Böll hat vielleicht in seinem ersten, nicht überlieferten Brief auf Bachmanns Rezension geantwortet, in der sie vor allem auf seine Erzählung Der Zug war pünktlich eingeht. Sie äußert sich wertschätzend und zeigt sich beeindruckt von der einfachen Schönheit seines Erzählens, doch tritt sie dem Autor mit analytischer Klarheit gegenüber: »Bölls Bücher sind keine Kriegsbücher, denn der Krieg ist ihm nur Anlaß zur Prüfung des Menschen; sie sind unpolitisch, denn die historische Zeit ist reduziert auf die Zeit des einzelnen.« (KS, S. 14)

Eine andere Besprechung zu Bölls Erzählung Der Zug war pünktlich hat sie nach dem zweiten Absatz abgebrochen. Dieses kritische Bruchstück könnte als Begleitschreiben zum gesamten Briefwechsel dienen. Im zweiten Absatz schreibt sie nämlich über den Autor als Person: Böll habe sich »ein starkes, keineswegs außerordentliches Herz bewahrt«, das manchmal »unauffällig zu argumentieren anfängt, mit den unzulänglichen Waffen des Herzens: dem Vergeben, dem Mitleid, der Tapferkeit und einem Versuch zur Liebe« (KS, S. 13).

Möglich, dass ihr diese Sätze zu persönlich erschienen sind und sie deshalb die Rezension abbrach. Der darauffolgende freundschaftliche Briefwechsel war ein besser geeigneter Platz für die »Waffen des Herzens«.

In den Briefen kommt sogar ein »Versuch zur Liebe« vor. Dieser beginnt mit einer Ansichtskarte vom 6. Mai 1954 und 11wird in mehreren Briefen fortgesponnen. Renate Langer hat die von Böll verschlüsselte Liebesgeschichte diskret lesbar gemacht, indem sie keine Interpretation vorgibt, sondern die Texte so zusammenstellt, dass dabei auch Bachmanns traurige Ironie nicht verlorengeht. Nachdem fast alle Mitglieder der Gruppe 47, die an der Tagung im Mai 1954 teilgenommen haben, abgereist sind, denkt sie an einen, der vielleicht auf das Abreisen vergessen hat. In einem Brief Bachmanns an Hans Werner Richter vom 30. Mai 1954 steht der Satz: »und manchmal hab ich noch das Gefühl, wenn ich durch die Strassen gehe, es könnte einer auftauchen, der's vergessen hat.« (AKB)

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Briefe

151.Ingeborg Bachmann an Heinrich Böll, Wien, 12. Dezember 1952

Ingeborg Bachmann

Wien III. Gottfried Kellergasse 13

Wien, den 12. Dezember 1952.

Lieber Heinrich,

Ihr Brief hat mir soviel Freude gemacht, und jetzt kam aus Frankfurt »Nicht nur zur Weihnachtszeit« als Nichtnur-Weihnachtsgeschenk. Vielen, vielen Dank!

Herr Ribbeck hat die Tendenz, einem nicht aus dem Kopf zu gehen, und woher wissen Sie überhaupt, dass es den Club nicht gibt? Die Leute wollen sich eben an etwas festhalten können. Wir ja auch, aber es ist eben wenig da, nur das bisschen Freundlichkeit zwischen Köln und Wien und dem Havelland. Und das müssen wir pflegen.

Lesenswertes gibt es – ausgenommen Wort und Wahrheit – in Österreich wirklich nichts. Nun weiss ich nicht, ob Sie diese Zeitschrift in Deutschland bekommen. Ich will sie Ihnen gerne schicken, wenn sie Sie interessiert.

Ich glaube, Sie sollten es nicht zu schwer nehmen, dass Sie jetzt für Geld schreiben müssen. Ich werde mich nur an Ihren Roman halten. Und kommen Sie doch nach Wien! Aber nicht zu spät, denn Ilse und ich haben die Absicht, im Frühling nach Deutschland zu übersiedeln; es wird immer schwieriger, hier zu leben. Eigentlich hätten wir jeden Tag ein Heublumenbad nötig. Ich schreibe, vor Nervosität und Müdigkeit, fast überhaupt nichts mehr.

Im Augenblick bin ich auch literaturmüde, sehr sogar, aber es kann sein, dass ich Sie trotzdem eines Tags bitte, mir etwas zu schicken.

16Es ist gut zu wissen, dass es Sie gibt.

Ihre

Ingeborg Bachmann

HAStK 1326/A4015/97 / Ts., 1 Bl., Format 26,5 ‌× ‌20,3 cm / hs. korr. u. erg.

 Gottfried Kellergasse 13] Bachmann wohnte seit März 1949 als Untermieterin bei ihrer Freundin und Förderin Elisabeth »Bobbie« Liebl, vorm. Löcker, geb. Euler (1906-1961), im 3. Wiener Gemeindebezirk (vgl. McVeigh 2016, S. 63; IB/IA, S. 154).

 Ihr Brief … Freude gemacht] Mit derselben Formulierung beginnt auch Bachmanns erster Briefentwurf an den Komponisten Hans Werner Henze: »Ihr Brief hat mir soviel Freude gemacht!« (1953, IB/HWH, S. 13) Bölls erster Brief ist nicht überliefert.

 »Nicht nur zur Weihnachtszeit«] Die Satire las Böll auf Schloss Berlepsch beim Herbsttreffen der Gruppe 47, an dem auch Bachmann teilnahm (31. Oktober bis 2. November 1952). Noch im selben Jahr erschien der Text in der von Alfred Andersch herausgegebenen Buchreihe ›studio frankfurt‹ in der Frankfurter Verlagsanstalt (vgl. KA 6, S. 695). Ein Rezensionsexemplar ließ Böll an Bachmann »für [den Sender] Rot-Weiss-Rot« schicken (Heinrich Böll an Walter M. Guggenheimer, 1. Dezember 1952, HAStK). Möglicherweise handelt es sich um das Exemplar in Bachmanns Nachlassbibliothek.

 Herr Ribbeck … Club … Havelland] In der Kurzgeschichte Ein Pfirsichbaum im Garten stand, die auf ironische Weise die Wirkmöglichkeit von Literatur reflektiert, bezieht Böll sich auf Theodor Fontanes Ballade Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland (Fontane, Gedichte I, S. 229f.). Der Ich-Erzähler gehört dem fiktiven Bund der Ribbeckianer an, die Fontanes Gedicht an Obstbaumbesitzer verschicken, um diese zu mehr Freigebigkeit zu motivieren. Die Geschichte erschien erstmals am 27. Oktober 1952 in Frankfurt am Main (Ich bin Ribbeckianer. In: Die Neue Zeitung. Vgl. KA 6, S. 171-174, 659).

266 Köln] Seit 1946 wohnte Böll mit seiner Familie sowie Vater Viktor, Schwester Mechthild und Bruder Alois mit Frau Maria und deren sechs Kindern im Kölner Stadtteil Bayenthal, Schillerstraße 99. In seinen Notizen von einer Reise nach Ostberlin schreibt er 1952, »daß ich mit meiner Frau und drei Kindern auf zwei Zimmern hause, in einem Hause, wo die Wände in den Fluren noch nicht verputzt sind, die Fenster und Türen undicht, in einer zugigen Bude, die der Bundesrepublik gehört« (Besuch auf einer Insel, KA 6, S. 49). Zum Schreiben zog er sich in ein Mansardenzimmer zurück.

 Wort und Wahrheit] Die österr. Zeitschrift für Religion und Kultur, so ihr Untertitel, wurde 1946 von den kath. Priestern Karl Strobl (1908-1984) und Otto Mauer (1907-1973) gegründet. Sie bot auch Autoren und Autorinnen, die der Kirche fernstanden, eine Publikationsmöglichkeit. Bachmann rezensierte für Wort und Wahrheit Bölls Erzählung Der Zug war pünktlich, seinen Roman Wo warst du, Adam? und seinen Erzählungsband Wanderer, kommst du nach Spa… (August 1952, S. 623f.; vgl. KS, S. 13-15). Das aktuelle Dezemberheft 1952 enthielt ihre Kritik der Romane Sackgassen von Thea Sternheim und Ein Schwert zwischen uns von Horst Lange (S. 944f.). Im Jännerheft 1953 erschienen ihre Gedichte Die große Fracht und Herbstmanöver sowie ihre Rezension des Lyrikbandes Der himmlische Zecher von Alfred Mombert (Kosmische Ekstasen, S. 61). Vermutlich kam es bald danach zu einem Zerwürfnis, da Bachmann nichts mehr in Wort und Wahrheit publizierte. Siehe Brief 5.

 für Geld schreiben müssen] Siehe Nachwort, S. 228-230.

 Ihren Roman] Bölls erster Roman, Wo warst du, Adam?, war 1951 im Verlag Middelhauve, Opladen, erschienen.

 Ilse] Die österr. Schriftstellerin Ilse Aichinger (1921-2016), damals mit Bachmann eng befreundet, las 1951 erstmals vor der Gruppe 47 und erhielt auf der Tagung in Niendorf im Mai 1952 für die Spiegelgeschichte den Preis der Gruppe (vgl. IB/IA, S. 163).

 nach Deutschland zu übersiedeln] Über »die Entfremdung zwischen mir und der Stadt« Wien und den Wunsch, »nicht mehr hier [zu] bleiben«, schrieb Bachmann schon im Juli 1952 an Paul Celan (IB/PC, S. 52). Aus dem Vorhaben mit der Freundin wurde nichts. Aichinger heiratete am 24. Juni 1953 den dt. Schriftsteller Günter Eich 267(1907-1972), den sie bei der Gruppe 47 kennengelernt hatte, und zog zu ihm ins bayr. Geisenhausen. Bachmann ließ sich 1954 in Italien nieder, siehe Stellenkommentar zu ISCHIA in Brief 8.

 Heublumenbad] Bachmann könnte eine frühe Fassung der vermutlich erst im April 1953 vollendeten Erzählung Die Waage der Baleks gekannt haben, die erstmals am 17. Mai 1953 im SDR gesendet und am 13. Juni 1953 in der FAZ gedruckt werden wird. Böll fiktionalisiert in ihr Kindheitserinnerungen seiner im böhmischen Plzeň (Pilsen) geborenen Frau Annemarie, geb. Čech (1910-2004), siehe auch Brief 113 und Nachwort, S. 251.

 gut zu wissen, dass es Sie gibt] Eine ähnliche Formulierung wird Bachmann in ihrem ersten Brief an Max Frisch gebrauchen: »Ich bin froh, schon lange, daß es Sie gibt« (9. Juni 1958, IB/MF, S. 9).

2.Heinrich Böll an Ingeborg Bachmann, Köln, 28. Dezember 1952

Heinrich Böll

Köln-Bayenthal

Schillerstr. 99

den 28. ‌12. ‌52.

Liebe Inge,

ganz kurz nur meinen Dank für Ihren Brief – und einen kleinen Tip für Sie und Ilse: schicken Sie einmal etwas an Herrn Werner Honig NWDR Köln, Wallrafplatz – ich werde Anfang des Jahres diesen guten Herrn dann darauf vorbereiten – oder schicken Sie besser mir einige Gedichte (auch Ilse soll mir Abschriften ihrer Geschichten schicken). Leider hören wir von Paul Celan nichts – wir könnten vielleicht etwas für ihn tun.

Ich schufte wie ein Irrer, fühle mich immer mehr Zauberlehrling-like – dabei weiss ich, dass ich von Natur faul bin und der Musse sehr zugetan. Noch etwas: ein Freund von mir macht hier im Ruhrgebiet eine Kurzgeschichtenagentur auf. Wenn Sie etwas haben, schicken Sie es mir: für finanzielle Fairness garantiere ich: üblicher Satz: 30-40 ‌% für die Agentur.

Trotz »nicht nur zur weihnachtszeit« war Weihnachten friedlich und schön, ich kam endlich einmal dazu, mit meinen Kindern zu spielen und spazieren zu gehen – ich hoffe, dass 17ich im Sommer eine neue Wohnung habe und Zeit, fast ausschliesslich mit meinen Kindern zu spielen.

»Wort und Wahrheit« gibt es hier – ich bekomme es. Also herzlichen Dank für Ihr Angebot. Schreiben Sie mir bitte, wenn Sie etwas brauchen aus Teutonien – – hier ist es kalt und nass, richtiges Wetter, um die Literatur zu schwänzen und ins Kino zu gehen

herzliche Grüsse an Ilse, Milo und alle

Ihr

Heinrich Böll 

Es ist gut, daß Sie und Ilse nach Deutschland kommen: ich freue mich sehr darüber. Dann werden wir uns auch öfter sehen und miteinander reden können. Und Sie kommen einmal nach Köln!

LIT 423/B668/3 / Ts., 1 Bl., Format DIN A5 / hs. korr. u. erg.

 Werner Honig NWDR Köln] Der Radiojournalist (1922-2006) war Literaturredakteur beim NWDR in Köln. Am 27. Oktober 1952 hatte er die Erzählung Ein Pfirsichbaum im Garten stand abgelehnt und um »Weihnachtsgeschichten« gebeten, worauf ihm Böll die Kurzgeschichte Krippenfeier schickte, die von einem einsamen Mann am Heiligen Abend handelt (vgl. KA 6, S. 9-13, 658). Auch diese nahm Honig nicht an: »Ich wünschte, wir könnten sie senden. Ich glaube aber, sie ist ein wenig zu hart. Unsere Hörer sind doch im siebenten Nachkriegsjahr (leider oder Gottseidank?) schon wieder so bürgerlich geworden, daß man ihnen literarische Schläge dieser Art nicht gut zumuten kann.« (5. November 1952, zit. nach HB/EAK, S. 418f.) Trotzdem bat Böll später auch seine Agentur ›Ruhr-Story‹, Geschichten an Honig zu schicken (vgl. ebd., S. 378).

 Paul Celan] Auf Vorschlag Milo Dors und Bachmanns war Celan (1920-1970) zur Tagung der Gruppe 47 vom 23. bis 25. Mai 1952 in 268Niendorf an der Ostsee eingeladen worden. Er hatte dort u. ‌a. die Todesfuge gelesen und war mit beleidigenden, zum Teil antisemitischen Reaktionen konfrontiert worden (vgl. Richter 2012, S. 158). Danach nahm er an keiner Gruppentagung mehr teil. Der Auftritt war für ihn dennoch ein Erfolg, da er zu Hörfunkaufnahmen eingeladen wurde und einen Vertrag mit der DVA abschließen konnte. Zur Liebesbeziehung zwischen Bachmann und Celan, die 1948 in Wien begonnen hatte, vgl. den Briefwechsel Herzzeit (IB/PC).

 etwas für ihn tun] Durch Bölls Vermittlung wird Celan für den Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch zwei Kriminalromane von Georges Simenon übersetzen: Hier irrt Maigret und Maigret und die schrecklichen Kinder erscheinen beide 1955 (vgl. PC/RF, S. 490).

 Zauberlehrling-like] Für die selbstverschuldete Entfesselung einer unkontrollierbaren Dynamik wurde ein Zitat aus Goethes Ballade Der Zauberlehrling sprichwörtlich: »Die ich rief die Geister / Werd ich nun nicht los« (GMA 4.1, S. 877).

 ein Freund … Kurzgeschichtenagentur] Bölls Freund Ernst-Adolf »Ada« Kunz (1923-1981), der unter dem Pseudonym Philipp Wiebe auch als Autor tätig war, gründete mit seiner Frau Gunhild, geb. Haack (1930-2008), in Gelsenkirchen die Literatur-Agentur ›Ruhr-Story‹, die von Jänner 1953 an Kurzgeschichten zum Abdruck an Zeitungen vermittelte und dafür einen Teil des Honorars erhielt. Böll war ihr wichtigster Autor, doch sie vertrat z. ‌B. auch Irmgard Keun, Milo Dor, Siegfried Lenz und Wolfdietrich Schnurre. Den Namen der Agentur hatte Böll vorgeschlagen (vgl. HB/EAK, S. 293, 318). Auch Aichinger dürfte durch Böll von ihr erfahren haben. Sie gab die Adresse wiederum an Bachmann weiter (vgl. IB/IA, S. 104).

 Trotz »nicht nur zur weihnachtszeit«] In Bölls satirischer Erzählung feiert eine Familie das ganze Jahr hindurch jeden Abend Weihnachten, um einen Zusammenbruch der psychisch labilen Mutter zu verhindern (vgl. KA 6, S. 204-230).

 meinen Kindern] Die drei Söhne Raimund (1947-1982), René (*1948) und Vincent (*1950), siehe S. 473.

 Teutonien] Scherzhaft abwertend für Deutschland, nach dem ger269manischen Stamm der Teutonen, von denen sich das Wort »deutsch« herleitet. In der Literatur wird das Wort in Julius von Voß' utopischem Bildungsroman Ini. Ein Roman aus dem ein und zwanzigsten Jahrhundert (1810) als Synonym für Deutschland verwendet. Böll gebraucht das Adjektiv »teutonisch« in Zusammenhang mit einer Diskussion über Ernst Jünger auf einer Tagung in Paris 1953: »Temperamente prallten aufeinander, fast schien es teutonisch zu werden« (Rendezvous in Paris, KA 7, S. 38), und zur Beschreibung »teutonischer Trunksitten«, die den frz. Teilnehmern einer Tagung fremd waren (Die Unschuldigen und die Bewußten, KA 9, S. 77).

 Milo] Milo Dor (1923-2005), eigtl. Milutin Doroslovac, wurde im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter aus Serbien nach Österreich verschleppt, blieb nach 1945 in Wien und wurde Schriftsteller und Journalist. Wie Böll nahm er in Bad Dürkheim vom 4. bis 7. Mai 1951 erstmals an einer Tagung der Gruppe 47 teil. Im ersten Wahlgang für den Preis der Gruppe erhielt Dor die meisten Stimmen. Er kam mit dem zweitgereihten Böll in die Stichwahl, die dieser für die Erzählung Die schwarzen Schafe mit nur einer Stimme Vorsprung gewann (vgl. Dor, Auf dem falschen Dampfer, S. 133). Böll »kam, las und siegte«, schrieb Hans Werner Richter im Rückblick (1986, S. 64). Von den tausend Mark Preisgeld schickte Böll 900 an seine Familie, den Rest lieh er Dor; vgl. Bölls Gedicht Für Hans Werner Richter (und Toni natürlich) (KA 21, S. 331f.). Böll war von Dors autofiktionalem Debütroman Tote auf Urlaub begeistert. Ein Exemplar befindet sich neben etlichen anderen Werken Dors in seiner Nachlassbibliothek. Im Hörspiel Mönch und Räuber (1953) dürfte der mildtätige Räuber und Bänkelsänger Milutin auf Dor verweisen: Er ist der Mensch, der dem Mönch Eugen »auf dieser Erde am ähnlichsten ist« (KA 7, S. 170). In einer von Bachmann verfassten Folge der Radiofamilie ist Dor als reales Vorbild des Mihailowitsch zu erkennen: Der serb. Tito-Partisan wurde als Zwangsarbeiter nach Wien verschleppt und schlägt sich in der Nachkriegszeit als Schleichhändler und Hausierer durch (vgl. RF, S. 149-151, 158, 387). Einige Romane verfasste Dor gemeinsam mit Reinhard Federmann (1923-1976), der wie Bachmann beim Sender Rot-Weiß-Rot arbeitete, ebenfalls an Treffen der Gruppe 47 teilnahm und mit Böll korrespondierte.

3.Ingeborg Bachmann an Heinrich Böll, Wien, 5. Februar 1953

Wien, den 5. Februar 1953.

Lieber Heinrich,

jetzt sind schon wieder Wochen vergangen seit Ihrem Brief. So vielen Dank für Ihren Tip und überhaupt. Ilse meint, Sie hätten ihre Geschichten, und ich meine, ich lege Ihnen am besten ein Dutzend von meiner lyrischen Ware bei, für den guten Herrn in Köln.

Diesen Brief lasse ich jetzt noch zwei Tage liegen, denn dann kann ich ihn gleich in Frankfurt aufgeben – dort bin ich nächste Woche für ein paar Tage. Es ist alles recht plötzlich gekommen, sonst hätte ich Ihnen früher geschrieben und Sie auch 18gefragt, ob Sie nicht zufällig auch in dieser Gegend sind. Nach Frankfurt fahre ich jetzt in Hinblick auf den Frühling, und wenn alles gut geht, bin ich wirklich ab Ostern in Deutschland. Köln soll ja an einer der Hauptverkehrsstrecken liegen. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich eines Tages an Ihre Türe klopfe. (Aber ich schreibe natürlich zuvor, wie sichs gehört.) Und mit Kindern spielen kann ich sehr gut.

Vor der Literatur als Beruf fürchte ich mich sehr. Meine Ahnungen finde ich auch in Ihrem Brief bestätigt – weil Sie schreiben, dass Sie wie ein Irrer schuften. Aber probieren möchte ich es trotzdem.

Von Paul Celan weiss ich wenig. Er hat Ende Dezember geheiratet und wohnt nach wie vor in Paris, 31, rue des Ecoles. Hingegen hat er mir ein paar neue, sehr schöne Gedichte geschickt. Und dass seine Gedichte bei der DVA jetzt erschienen sind, werden Sie ja schon wissen.

Lieber Heinrich, sonst kann ich Ihnen gar nichts erzählen; nur dass ich insgeheim ein bisschen aufgeregt wie vor einem neuen »Lebensabschnitt« – ich meine dieses Weggehen von Wien – und daher recht gemütskrank und unfähig zu allem bin.

Wenn Sie die Zeit fänden, mir wieder ein paar Zeilen zu schreiben, wäre ich sehr froh. In Wien tendiert man so leicht dazu, sich verlassen und verloren vorzukommen. Und ich schreibe Ihnen selbstverständlich bald über das Wann und Wo der nächsten Zeit.

Herzlichst

Ihre

Ingeborg Bachmann

270HAStK 1326/A4016/77 / Ts., 1 Bl., Format 26,7 ‌× ‌20,5 cm / hs. korr. u. erg.

 lyrischen Ware] Die beigelegten Gedichte sind nicht erhalten. Vermutlich hat Böll sie wunschgemäß weitergegeben.

 Herrn in Köln] Ernst-Adolf Kunz von der Agentur ›Ruhr-Story‹, siehe Stellenkommentar 16,25-26 zu Brief 2.

 Frankfurt … nächste Woche] Am 12. Februar 1953 hatte Bachmann Tonaufnahmen beim HR (vgl. IB/HWH, S. 435). In ihren autobiographischen Aufzeichnungen schrieb sie am selben Tag: »Die Reise beschäftigt mich, einfach die Auseinandersetzung mit dem Fahrplan, den Entfernungen, und die pathologische Angst vor der Ortsveränderung steckt mir schon wieder in allen Knochen. Frankfurt wird unvorstellbar.« (SC, S. 48)

 mit Kindern spielen] Bachmann hatte eine enge Beziehung zu ihrem 13 Jahre jüngeren Bruder Heinz. Auch mit den Kindern von Freundinnen, Freunden und Bekannten ging sie sehr einfühlsam um. »Die Kinder liebten sie sehr […], sie war nicht einfach eine spielende Tante, sondern sie nahm die Kinder ungeheuer ernst«, erinnerte sich Reinhard Baumgart (zit. nach RF, S. 369; vgl. IB/IA, S. 101).

 Literatur als Beruf ‌] Siehe Bölls Antwort in Brief 4 und Nachwort, S. 228-232.

 Celan … geheiratet] Celan heiratete am 23. Dezember 1952 die frz. Künstlerin Gisèle Lestrange (1927-1991).

 Gedichte geschickt] Vermutlich am 15. August 1952 hatte Bachmann Celan um Gedichte gebeten: »Die ›Furche‹ und der Sender [Rot-Weiß-Rot] brauchen sie dringend!« (IB/PC, S. 53) Celans Antwortbrief ist nicht überliefert.

DVA] Celans Lyrikband Mohn und Gedächtnis erschien in der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart im Dezember 1952 zunächst in kleiner Auflage als Weihnachtsgabe für Freunde des Verlags und in größerer Auflage im Jänner 1953 (vgl. IB/PC, S. 271).

271 Wien … verlassen und verloren] Celan war nicht der erste Geliebte Bachmanns, der mit einer anderen Frau eine feste Verbindung einging. Im Juli 1951 hatte der österr. Schriftsteller Hans Weigel, der vier Jahre lang mit Bachmann liiert war, für sie völlig überraschend die Schauspielerin Elvira Hofer geheiratet (vgl. Rétif, Ingeborg Bachmann, S. 82f.).

194.Heinrich Böll an Ingeborg Bachmann, Köln, 23. [Februar] 1953

Köln, den 23. ‌3. ‌53.

Liebe Inge,

inzwischen bin ich viel unterwegs gewesen, ermattet nach Hause zurückgekehrt und nur für einige Tage zwischen neuem Start hier. Dann aber werde ich den ganzen März hier bleiben und gedenke im April nach Spanien zu fahren, weil sich eine günstige Gelegenheit bietet. Im Mai fahre ich nach Paris, und möchte Paul Celan dort besuchen.

Die Literatur als Beruf ist insofern fürchterlich, weil man auf die Dauer die Lust am Lesen verliert, weil man lesen muss. Ich mache viel Besprechungen, mache auch hier bei Kiepenheuer den Gelegenheitslektor, muss ausserdem meine eigenen Manuskripte immer wieder lesen: es ist wirklich nicht so schön, wie es aussehen mag, doch glaube ich, dass man mit der Zeit eine Art finden kann, doch mit Freude zu lesen; auch die Übersicht über die immense Fülle von Büchern, die geschrieben werden, macht mir keinen Mut, selbst noch einige dazu zu schreiben.

Ich hoffe sehr, dass Sie den Mut finden, überzusiedeln, obwohl ich natürlich verstehe, wie schwer es sein kann, Wien zu verlassen, besonders Wien. Sie werden's natürlich vermissen, sehr vermissen, und die westdeutsche Prosperitätskulisse wird Sie erschrecken – – aber vielleicht ist es auch damit bald zu Ende. Wenn Sie herkommen nach Köln, werden Sie eine ruhige und schöne Stadt finden, nach deren Trümmern sich meine Kinder während eines Aufenthalts in England so sehr gesehnt haben, dass sie bei der Rückkehr nach hier, als der Zug durch die Trümmerkulisse einfuhr, ausriefen: »Endlich – die Trümmer!«

20Wir werden uns freuen, wenn Sie herkommen, und im Herbst hoffe ich eine neue und grössere Wohnung zu haben – Köln ist wirklich grösser als es aussieht, es fahren täglich mehr als 600 Züge hier durch – aber sehr selten einmal steigt jemand aus, mich zu besuchen. Sehen Sie die Landkarte nach – nach Paris ist nicht so weit wie nach Stuttgart – und nach Brüssel näher als nach Frankfurt.

Ich freue mich, wieder von Ihnen zu hören und grüsse Sie und alle dort herzlichst

Ihr

Heinrich Böll

LIT 423/B668/4 / Ts., 1 Bl., Format DIN A5 / hs. korr. u. erg.

 23. ‌3. ‌53. … viel unterwegs] Die Datierung dürfte ein Versehen sein, da Böll in dem Brief ankündigt, »den ganzen März hier bleiben« zu wollen. Ein starkes Indiz dafür ist ein Brief ähnlichen Inhalts vom 22. Februar 1953 an Ernst-Adolf Kunz: »Ich habe Dienstag noch eine Lesung in Wuppertal, dann einige Tage frei, und muss dann am 1. März die verschobene Reise nach Frankfurt, Heidelberg, Baden-Baden machen, von der ich so am 10. zurück sein werde. Dann bin ich den ganzen März hier« (HB/EAK, S. 323). Vom 19. bis 21. Februar hatte er an der vom NWDR in Hamburg organisierten Tagung über ›Die aktuellen Probleme der deutschen Dramatik‹ teilgenommen (vgl. Böll/Schäfer 1997, S. 47).

 im April nach Spanien] Es gibt keinen Hinweis auf die Verwirklichung dieses Plans.

 Mai … Paris … Celan] Vom 17. bis 22. Mai 1953 war Böll in Paris. Auf Einladung der Zeitschrift Documents nahm er vom 18. bis 21. Mai gemeinsam mit deutschsprachigen Kollegen, darunter Andersch, Dor und Paul Schallück, an einem Kongress mit frz. Schriftstellern, Verlegern und Germanisten teil und berichtete darüber unter dem Titel Rendezvous in Paris (FAZ, 20. Juni 1953; vgl. KA 7, S. 35-39, 423). Er traf dort auch Celan. Anschließend besuchte er die Tagung der Gruppe 47 in Mainz (siehe Stellenkommentar 21,2 zu Brief 5): »ich komme eben völlig erschöpft von Paris und Mainz (acht Tage hintereinander Tagungen) zurück«, schrieb er am 26. Mai an Kunz (HB/EAK, S. 339).

272 Besprechungen] Vgl. die damals nur zum Teil veröffentlichten Rezensionen in KA 6 und 7.

 Kiepenheuer … Gelegenheitslektor] »Ich schufte ununterbrochen«, schrieb Böll auch an Kunz (29. März 1953, HB/EAK, S. 333). Sein Briefnachlass enthält eine Honorarnote vom 17. Juni 1955 für Verlagsgutachten zu eingegangenen Manuskripten u. ‌a. von Reinhard Federmann und Manès Sperber, eine Übersetzung von Kay Cicellis und die Bearbeitung des aus dem Poln. übersetzten Buchs Verführtes Denken von Czesław Miłosz (HAStK). »Im Verlag selbst konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen, dass ein künftiger Nobelpreisträger für Literatur (1972) für ein Honorar von 400 DM das Werk eines anderen künftigen Nobelpreisträgers (1980) satzfertig machte«, merkt Boge dazu an (2009, S. 205).

 westdeutsche Prosperitätskulisse … Trümmerkulisse] In Essays und Interviews kritisierte Böll immer wieder den raschen Wiederaufbau in der Bundesrepublik und die damit einhergehende Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Köln zählte im Zweiten Weltkrieg zu den meistbombardierten deutschen Städten, die Innenstadt wurde fast völlig zerstört. Im Essay Selbstkritik (1956) bezeichnet Böll, der als ein Hauptrepräsentant der sog. »Trümmerliteratur« gilt, den Staub der Ruinen, »diesen Puder der Vernichtung«, ironisch als »jenes Stimulans, ohne das ich einfach nicht arbeiten kann« (KA 10, S. 42). Im Gespräch mit dem Maler und Musiker Wolfgang Niedecken erklärte er noch 1985, er habe sich nicht nur im Köln der Zwischenkriegszeit, sondern auch in der zerbombten Stadt wohlgefühlt, »trotz der Trümmer, trotz der Schwierigkeiten […]. Aber das wiederaufgebaute dynamische Köln […], das passt nun überhaupt nicht. […] Und ich hätte vorgeschlagen, dass man ein Viertel in Köln wenigstens ruiniert gelassen hätte. Nicht nur aus romantischen Gründen, auch zur Erinnerung an eine zerstörte Stadt.« (KA 26, S. 433f.)

 Aufenthalts in England] Annemarie Böll fuhr mit den zwei Kleinkindern Raimund und René im September 1949 für drei Wochen auf Besuch zu einer in England lebenden irischen Freundin, die sie 1935/36 kennengelernt hatte, als sie in Upton Hall bei Liverpool als Hilfslehrerin tätig war. Böll schrieb damals an Kunz: »Die beiden Bengels […] kommen eher nach England als ihr Vater!« (HB/EAK, S. 217; vgl. Kühn 2006, S. 379f., 452).

273 »Endlich – die Trümmer!«] Vgl. Bölls spätes Köln-Gedicht Versunken die Stadt: »Unsere zerstörte Heimat / wurde unseren Kindern / als Zerstörung Heimat / [… ] / was rief einer unserer Söhne / heimkehrend aus dem lieblichen Surrey: / Endlich, endlich wieder Trümmer« (1984, KA 23, S. 201). Im Essay Hülchrather Straße Nr. 7 schrieb er 1972: »immerhin hatten unsere Kinder noch so unersetzliche, künstlich schwer zu erstellende Spielplätze wie die Trümmer« (KA 18, S. 79).

 Paris … Stuttgart … Brüssel … Frankfurt] Köln ist von Paris knapp 500, von Stuttgart ca. 370, von Brüssel und Frankfurt jeweils ca. 200 Bahn- bzw. Straßenkilometer entfernt.

5.Ingeborg Bachmann an Heinrich Böll, Klagenfurt, 21. April 1953

Klagenfurt, den 21. April 1953.

Henselstr. 26

Lieber Heinrich,

Ihren Brief von Ende März habe ich mit nach Kärnten genommen, auch Ihren neuen Roman, den ich vor zwei, drei Wochen vom Verlag bekam.

Das ist ein so wunderbares Buch. Es hat mein Herz berührt! Mehr möchte ich gar nicht sagen und ich hoffe, Sie verstehen es. Es hat wirklich mein Herz berührt.

Belohnen Sie sich mit einer schönen Reise nach Spanien und nach Paris – jetzt sind Sie wahrscheinlich grade unterwegs, während die Wellen der Kritik hoch gehen. Ja, das wollte ich Ihnen auch sagen: ich weiss leider nicht, ob und wo ich den Roman besprechen kann, da ich im Winter mit »Wort 21und Wahrheit« einen Zusammenstoss hatte. Das erzähle ich Ihnen am besten in Mainz. (Sie kommen doch?)

Ich bin seit ein paar Tagen in Kärnten, um einen längeren Urlaub zu konsumieren, bei meinen Eltern, und das tut mir sehr gut. Ich sitze wieder an dem Tisch, an dem ich meine Schulaufgaben gemacht habe, und das ist eine ganze, versunkene Welt, in die man nicht mehr zurückkann. Mein kleiner Bruder beobachtet mich misstrauisch, weil ich oft den ganzen Tag an einer Seite herumschreibe, und nach einigem Hin und Her enden unsre Gespräche meist in einer liebevollen Boxerei, bei der er es aus Fairness manchmal zu einem Unentschieden kommen lässt. (Er ist dreizehn Jahre alt und weiss eine ganze Menge. Wenn er gross ist, will er mich heiraten.)

Ob ich von Mainz aus nach Köln komme? Ich hab insgeheim vor, nach der Tagung auf ein paar Tage nach Paris zu fahren. Dort hab ich einmal ein halbes Jahr gelebt, nicht wie ein Tourist, sondern wirklich, und ich weiss nicht, warum ich eines Tages zurückfuhr. Am 4. Juni muss ich wieder in die Büromühle nach Wien zurück. Aber daran will ich gar nicht denken. Und das Uebersiedeln habe ich vorläufig auf den Herbst verschoben. Ich muss doch erst abwarten, wie sich die Verdienstmöglichkeiten in Deutschland entwickeln.

Was Sie von der Prosperitätskulisse schreiben – da hab ich schon einiges bemerkt und es hat mich schon erschreckt; aber wenn man aus Veranlagung wenig anpassungsfähig ist, dürfte einem nicht allzuviel passieren. Dass man über der Jagd ums liebe Geld sein Gewissen nicht zu verlieren braucht, dafür sind Sie mir mit Ihrem Roman der schönste Beweis.

Ich freue mich auf das Wiedersehen!

Ihre

Ingeborg Bachmann

HAStK 1326/A4017/85 / Ts., 1 Bl., Format 26,5 ‌× ‌20,5 cm / hs. korr. u. erg.

 Ende März] Zur Datierung siehe Stellenkommentar 19,4-6 zu Brief 4.

 neuen Roman] Ende März 1953 war Bölls Roman Und sagte kein einziges Wort im Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.

 mein Herz berührt] Bachmann greift mit dieser Formulierung ein zentrales Motiv des Romans auf: Fred gesteht seiner Ehefrau Käte, dass eine junge Frau in einer Imbissstube sein »Herz berührte«; im Folgenden wird die Formulierung über zehn Mal wiederholt, bis Fred gegen Ende des Romans auf der Straße wieder eine Frau sieht, deren Anblick sein »Herz berührte«: Es ist Käte (KA 6, S. 449f., 455, 468).

 Kritik] Nicht nur die Kritiken waren überwiegend positiv, das Buch wurde auch Bölls erster großer Publikumserfolg. Die Erstauflage war nach zwei Monaten verkauft. Karl Korn hob in der FAZ das Exemplarische hervor: »Das Leiden der Menschen dieses Buches ist das Leiden der Menschen dieser Zeit« (Eine Ehe in dieser Zeit, 4. April 1953). Walter Jens urteilte: »Böll schreibt präzise, klug und anschaulich. Seine Stärke sind Beobachtungen. Mit wenigen Sätzen fängt 274er die Atmosphäre ein.« (»… und sagte kein einziges Wort«. Ein Nachkriegsautor setzt sich durch – Heinrich Böll schrieb den Roman einer zerrütteten Ehe. In: Welt am Sonntag, 18. Mai 1953, zit. nach KA 6, S. 816, 821)

 Winter … »Wort und Wahrheit« … Zusammenstoss] Zu Bachmanns einziger Böll-Rezension siehe Stellenkommentar 15,18 zu Brief 1.

 Mainz] Vom 22. bis 24. Mai 1953 fand dort die Frühjahrstagung der Gruppe 47 statt. Bachmann wurde für Gedichte, die später in Die gestundete Zeit eingingen, mit dem Preis der Gruppe ausgezeichnet (vgl. GZ, S. 209): »Aus Österreich war […] eine hübsche junge Frau erschienen, die, wie man am zweiten Tag feststellte, Gedichte mitgebracht hatte, deren starker Faszination sich kaum einer entziehen konnte.« (Horst Mönnich: Lobst du meinen Goethe, lob ich deinen Lessing! In: Sonntagsblatt, Hamburg, 7. Juli 1953, zit. nach Lettau 1967, S. 85)

8 Bruder] Heinz Bachmann (*1939).

 Paris … halbes Jahr] Bachmann lebte von Mitte Oktober bis Mitte Dezember 1950 und von Ende Februar bis Anfang März 1951 in Paris. Dazwischen hielt sie sich mehrere Wochen lang in England auf. Nach der Mainzer Tagung fuhr sie nicht nach Paris.

 Büromühle] Ihre Freundin und Mentorin Elisabeth »Bobbie« Liebl hatte Bachmann im März 1951 eine Stelle im Sekretariat der News and Features Section des Amerikanischen Nachrichtendienstes (AND) verschafft. Im September 1951 wechselte sie ins Script Department des von der amerik. Besatzungsbehörde finanzierten Senders Rot-Weiß-Rot (vgl. McVeigh 2016, S. 74f.; IB/IA, S. 154).

226.Ingeborg Bachmann an Annemarie und Heinrich Böll, Wien, 3. Juli 1953

Wien III, den 3. Juli 1953.

Gottfried Kellergasse 13

Liebe Frau Böll, lieber Heinrich,

eben kehrte ich aus dem Krankenhaus zurück und fand hier das liebe Bild! Vielen Dank, dass Sie sich so lieb eingestellt haben und auch gar nicht böse sind, weil ich noch nicht geschrieben habe!

Wenn ich an Deutschland zurückdenke, dann kommt mir Ihr Haus wirklich wie eine Oase vor, und wenn ich darf, will ich gern wiederkommen.

Nach Köln war es eher wirr, erst in Frankfurt, dann in Hamburg und zuletzt in München. Aber in Hamburg hat sich etwas für mich so Erfreuliches ereignet, das ich Herrn Schnabel zu danken habe: ich kann am 1. August nach Italien fahren und dort leben und schreiben. Mir kommts noch immer wie ein Wunder vor, denn hier in Wien komme ich einfach zu nichts neben dem Büro. Dann verliere ich auch im August mein Zimmer – das wusste ich damals noch nicht – und so tendiert die ganze Situation hier zur Auflösung. Dazu kommt, dass Ilse jetzt nicht mehr hier ist, und ich merke, dass es nicht die Städte, sondern die Menschen sind, die einen festhalten.

Ja, so werde ich also bis zum Herbst (Ende Oktober) unter Palmen leben und dann nach Deutschland kommen und ein Manuskript abliefern; auch nehme ich an, dass dann grade die Herbsttagung fällig ist, und vielleicht können Sie mir dort helfen, nachzudenken, was mit mir weiter geschehen soll.

Dieser Brief wird Ihnen wahrscheinlich nachgeschickt werden müssen. Oder sind Sie schon endgültig wieder zurück 23in Köln? Schreiben Sie ein neues Buch? Was machen die drei kleinen Bölls? Steht schon eine Mauer von dem neuen Haus?

Ich hab oft Sehnsucht nach den Trümmern zwischen Köln und Berlin, nach der Sprache, die dort gesprochen wird, und nach ein bisschen weniger Alleinsein. Aber natürlich auch Angst, vor allem vor dem Betrieb und dem ganz andren Lebensstil.

Jetzt suche ich einen schönen Platz für das Bild, und Sie müssen sich denken, dass Sie jetzt mitten in Wien sind, die Fenster sind weit offen, und im Hof steht ein herrlicher Baum; dort gibt es vormittags immer Hausierer mit Papageien oder einen Lumpensammler oder eine alte Frau, die singt: Der liebste Platz, den ich auf Erden habe . ‌. (das mit der Rasenbank am Elterngrab!)

Aber jetzt ist es Abend und weniger komisch und traurig.

Einen schönen Sommer wünsche ich Ihnen, und nochmals vielen Dank für den Tag damals und so viele Grüsse!

Ihre

Ingeborg Bachmann 

Bitte grüßen Sie auch Herrn und Frau Schallück herzlich von mir.

Von Celan habe ich ein neues Gedicht gesehen – das ist wunderschön.

275HAStK 1326/A4019/4 / Ts., 1 Bl., Format 26,8 ‌× ‌20,3 cm / hs. korr. u. erg. / Rundstempel der Alliierten Zensurstelle

Alliierten Zensurstelle] Der Auslands-Postverkehr im Nachkriegsösterreich stand unter der Kontrolle der Alliierten Militärverwaltung. Mitte August 1953 wurde der Beschluss gefasst, die Zensur zu beenden (vgl. IB/HWH, S. 11, 434f.).

 Liebe Frau Böll] Bachmann besuchte Böll in Köln und lernte dort Annemarie Böll kennen.

 aus dem Krankenhaus zurück] In einem am selben Tag verfassten Briefentwurf an Henze schreibt Bachmann, »daß ich jetzt eine Woche versäumt habe, weil ich ins Krankenhaus mußte; aber jetzt ist alles in Ordnung« (IB/HWH, S. 19).

 Bild] Nicht überliefert.

 in Frankfurt] Vermutlich traf sich Bachmann mit Alfred Andersch. Sie nahm sein Angebot an, ihren ersten Gedichtband in der von ihm herausgegebenen Reihe ›studio frankfurt‹ zu veröffentlichen (vgl. Alfred Andersch an Ingeborg Bachmann, 23. und 27. Juni 1953, LIT; GZ, S. 85f.).

 in Hamburg … Schnabel … Manuskript abliefern] Der Schriftsteller und Rundfunkjournalist Ernst Schnabel (1913-1986) war Intendant des NWDR in Hamburg und gehörte der Gruppe 47 an. Auf der Tagung im Mai 1951 las er selbst. Im Mai 1952 besuchte er das Treffen in Niendorf an der Ostsee, wo u. ‌a. Bachmann und Celan erstmals auftraten. Danach lud er beide zu Tonaufnahmen ihrer Gedichte als Gäste des NWDR nach Hamburg ein. In einem postum publizierten, fragmentarischen Essay über ihre erste Teilnahme an einer Tagung der Gruppe 47 beschreibt Bachmann Schnabel, ohne seinen Namen zu nennen: »ein Intendant, aus Hamburg, und auch der war freundlich und nicht wie ein Intendant, 〈der〉 sich ja auch als Schriftsteller entpuppte« (KS, S. 366). Bei ihrem Besuch in Hamburg sagte ihr 276Schnabel »für zwei bis drei Monate Geld vom NWDR« als Vorschuss auf ein noch ungeschriebenes Hörspiel zu, das später den Titel Die Zikaden trug (IB/HWH, S. 19; vgl. GUI, S. 10).

 in München] Vermutlich vom 19. bis 21. Mai zu einem Treffen mit Henze und Tatjana Gsovsky, der Choreographin des Balletts Der Idiot, für das Bachmann den Monolog des Fürsten Myschkin verfasste (vgl. IB/HWH, S. 16; GZ, S. 213-223). Anschließend fuhr Bachmann zur Frühjahrstagung der Gruppe 47 nach Mainz (22. bis 24. Mai 1953).

 1. August … Italien … Herbst (Ende Oktober)] Bachmann war bereits entschlossen, nach Italien zu übersiedeln, erwog damals aber noch verschiedene mögliche Aufenthaltsorte, u. ‌a. Positano, wo sie im Vorjahr gemeinsam mit ihrer Schwester Isolde gewesen war, bevor sie fürs Erste nach Ischia ging (siehe Brief 8).

 Ilse jetzt nicht mehr hier] Zu Aichingers und Eichs Heirat siehe Stellenkommentar 15,25-26 zu Brief 1.

 unter Palmen leben] Vielleicht eine Anspielung auf das Gedicht Herbstmanöver, das den Wunschtraum von der Flucht in den Süden ironisiert (vgl. GZ, S. 27). Bachmanns Gedicht spielt seinerseits vermutlich auf Heines Gedicht Wo? an, in dem ebenfalls von Palmen die Rede ist (siehe Stellenkommentar 73,18-19 zu Brief 39), auf Hofmannsthals Reiselied und vielleicht auch auf Ottiliens Tagebuch in Goethes Wahlverwandtschaften: »Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen« (GMA 9, S. 457). Siehe Nachwort, S. 234f.

 Herbsttagung] Die Gruppe 47 tagte vom 16. bis 18. Oktober 1953 im Schloss Bebenhausen bei Tübingen. Bachmann las aus dem Monolog des Fürsten Myschkin, den sie im Sommer 1953 auf Ischia zu Henzes Ballettpantomime Der Idiot geschrieben hatte (vgl. Henze 1996, S. 155; GZ, S. 213-223). Böll nahm an dieser Tagung nicht teil.

 zurück in Köln] Am 21. Juni hatte Böll eine Lesung in Stuttgart, am 22. in Ulm und am 23. in Baden-Baden. Vom 25. bis 27. Juni war er in Hamburg beim NWDR. Nach Köln zurückgekehrt, schrieb er an Kunz: »Bin nach 2500 KM (innerhalb 8 Tagen) restlos erschöpft und finde hier einen Berg Arbeit vor« (HB/EAK, S. 345).

277 drei kleinen Bölls] Bölls Söhne Raimund, René und Vincent, siehe Stellenkommentar 16,31-32 zu Brief 2.

 neuen Haus] Die räumliche Enge in der Schillerstraße war unerträglich geworden. Am 17. April 1953 schrieb Böll an Kunz: »Hausbau beginnt in den nächsten Wochen!! Wunderbares Grundstück gekauft!« (HB/EAK, S. 336) Baubeginn war im Oktober. Böll erhielt ein Darlehen von seinem Verleger Joseph Caspar Witsch, und seine Schwester Mechthild nahm einen Kredit auf. Trotzdem geriet er in finanzielle Schwierigkeiten. An Andersch schrieb er am 15. November 1954, er sei »beschissen worden« (KA 9, S. 380). Im Frühsommer 1954 übersiedelte er mit Frau, Kindern, Vater Viktor und der unverheirateten Schwester Mechthild in das neue Haus in der Belvederestraße 35 im Kölner Stadtteil Müngersdorf.

 Betrieb] Der »Betrieb« war auch Thema zwischen Bachmann und Aichinger, die sich im Unterschied zu Bachmann weitgehend daraus zurückzog (vgl. IB/IA, S. 318). Siehe auch Stellenkommentar 167,1-2 zu Brief 90 und Nachwort, S. 226.

 liebste Platz … Rasenbank am Elterngrab] Aus dem sentimentalen Lied Die Rasenbank am Elterngrab, das um 1900 entstand und bald sehr populär wurde: »Der liebste Platz, den ich auf Erden hab, / Das ist die Rasenbank am Elterngrab.« Bertolt Brecht zitiert es ironisch in seinem frühen Stück Baal: »Orge sagte mir: / Der liebste Ort, den er auf Erden hab / Sei nicht die Rasenbank am Elterngrab.« (GBA 1, S. 93; vgl. GBA 11, S. 61). Gesungen wird das Lied auch im Film Der Untertan nach dem gleichnamigen Roman von Heinrich Mann (1951, Regie: Wolfgang Staudte). Adorno spielt in Minima Moralia (1951) mit dem Aphorismus »Rasenbank« darauf an (Adorno, Minima Moralia, S. 16).

 Schallück] Der in Köln lebende Schriftsteller Paul Schallück (1922-1976) nahm von 1952 bis 1964 an Treffen der Gruppe 47 teil, wo Bachmann ihm begegnete. Böll lernte ihn schon 1950 in der Kasseler ›Gruppe junger Autoren‹ kennen (vgl. KA 7, S. 669). Gemeinsam mit Böll setzte er sich für den christlich-jüdischen Dialog ein. Mit seiner Frau Ilse Schallück (1926-1978) gehörte er wie das Ehepaar Böll zu den Gründungsmitgliedern von ›Germania Judaica‹, dem »Verein für die Gründung, Förderung und Unterhaltung der Bibliothek für 278die Geschichte des Judentums in Deutschland« (vgl. KA 18, S. 496). Böll widmete Schallück 1954 ein Radiofeature (Paul Schallück. Porträt eines Schriftstellers, KA 7, S. 302-307) und zwei Nachrufe (Jahrgang 1922. Zum Tode Paul Schallücks, 1976, KA 19, S. 266-267; In memoriam Paul Schallück, 1982, KA 22, S. 124-126).

 Celan … neues Gedicht] Nicht ermittelt. Möglicherweise ein Gedicht, das später in den Band Von Schwelle zu Schwelle aufgenommen wurde.

247.Heinrich Böll an Ingeborg Bachmann, [Köln], 7. Juli 1953, Postkarte

den 7. ‌7. ‌53.

Liebe Inge, es freut uns sehr, von Ihrer bevorstehenden, so erfreulichen Veränderung zu hören. Auch mit mir hat Schnabel – ich war kürzlich bei ihm in Hamburg – ein sehr grosszügiges Arrangement getroffen. Ich habe noch eine Woche sehr viel zu tun, bin halbtot vor Überarbeitung, und fahre dann – am 15. – mit meinem ganzen Club hier aufs Land, in die Voreifel, wo wir viel Wald und eine Talsperre mit ruhigem Strandbad in der Nähe haben werden. Ich kann nicht sehr weit wegfahren, weil ich doch ziemlich nahe (als beratender »Lektor«) mit dem Verlag K. ‌u ‌W. liiert bin. Bis zum Frühjahr möchte ich einen neuen Roman schreiben, wenn ich bis dahin nicht vollständig verfeaturt bin. Ich freue mich sehr auf das Treffen im Herbst, und hoffe, dass ich Ihnen dann helfen kann, nachzudenken – wie Sie schreiben. Vielleicht haben Sie Lust, dann wieder herzukommen, und ein wenig auszuschlafen. Wir würden uns sehr freuen. Übrigens sehne ich mich nach einem Platz, der so ruhig ist, wie es die Rasenbank am Elterngrab sein muss; dieses schöne Lied singen kann ich leider nicht.

Viele herzliche Grüsse von uns allen und gute Wünsche für Ihre Arbeit.

Ihr

Heinrich Böll

LIT 423/B668/5 / Ts. / hs. korr. u. erg. / An: »Fräulein / Dr. Ingeborg Bachmann / Wien III / Gottfried Kellergasse 13 /Österreich« / Von: »Heinrich Böll / Köln-Bayenthal / Schillerstr. 99 / Telefon 3 ‌92 ‌70« / Rundstempel der Alliierten Zensurstelle

 Schnabel … Arrangement … verfeaturt] Im Juni bekam Böll vom NWDR-Intendanten Schnabel ab Juli ein monatliches Fixum von 500 Mark zugesichert, was ihn nicht daran hinderte, auch für andere Sender zu arbeiten. Der SDR brachte am 29. Mai 1953 ein Feature über Léon Bloy, Das Heil und die Armut (vgl. KA 7, S. 409), und beauftragte ihn mit einem Porträt-Feature über Wolfgang Hildesheimer, das am 20. Jänner 1954 gesendet wurde (vgl. KA 7, S. 643f.; Hildesheimer 1999, S. 37). Böll war sich bewusst, »welche Rolle in Deutschland der Rundfunk als Auftraggeber und Ernährer der Schriftsteller spielt« (Rendezvous in Paris, KA 7, S. 37). Siehe Nachwort, S. 229f.

 Talsperre] Die Steinbachtalsperre nahe Euskirchen. Der Stausee und seine Umgebung waren ein beliebtes Erholungsgebiet.

 K. u W.] Kiepenheuer & Witsch.

 neuen Roman] Zur Entstehung von Haus ohne Hüter siehe Stellenkommentar 28,4-6 zu Brief 11.

 Treffen im Herbst] Vom 16. bis 18. Oktober 1953 tagte die Gruppe 47 in Bebenhausen bei Tübingen. Böll war nicht anwesend.

258.Heinrich Böll an Ingeborg Bachmann, Kirchheim bei Euskirchen, 9. September 1953, Postkarte

9. ‌9. ‌53

Liebe Inge, wir hocken hier seit 2 Monaten auf den ersten Eifelhängen, werden auch den dritten Monat noch hier bleiben, möglicherweise den ganzen Winter. Es ist zwar nicht weit von Köln entfernt, doch weit genug, um Ruhe zu garantieren, und die Kinder sind vollkommen glücklich. Auch wir fühlen uns wohl und möchten nicht mehr weg. Ich arbeite ein wenig, und beobachte, während Sie in Italien sind, daß Ihr Name hier und da in Zeitschriften auftaucht. »Fern« in Köln brummelt das Unheil in Gestalt eines »Hausbesitzers«, wir aber gehen spazieren, schwimmen und spielen mit den Kindern und genießen die Realität eines merkwürdigen Wartens, hinter dessen Sinn wir hier erst kamen: »Die Zeit arbeiten lassen«. Die Zeit arbeitet wirklich, arbeitet genau und richtig und wir geben ihr eine Chance. Ich hoffe sehr, wir sehen uns im Herbst »irgendwo«. Wann kehren Sie zurück? Vielleicht reicht es noch zu einem Besuch hier in dem reizenden, stillen Dorf? Oder doch in Köln, wo wir für Schlaf garantieren!

Wir alle grüßen Sie herzlich und freuen uns, daß Sie dort unten glücklich sind.

Heinrich Böll und Frau und Kinder.

279LIT 423/B668/6 / Ms. / An: »Fräulein / Inge Bachmann / SAN FRANCESCO DI PAOLA / CASA ELVIRA CASTALDI / FORIO D' ISCHIA (NAPOLI) / Italien« / Von: »Böll, z. Zt Kirchheim / b. Euskirchen / Steinbachstr. 177 a« / Ankunftsstempel: »FORIO ISCHIA 12. ‌09. ‌53«

ISCHIA] Ein Brief, in welchem Bachmann Böll ihre neue Adresse mitteilt, wurde nicht aufgefunden. Henze, den sie im Oktober 1952 bei der Tagung der Gruppe 47 auf Burg Berlepsch kennengelernt hatte, war Ende Mai nach San Francesco di Paola bei Forio gezogen. Anfang August folgte Bachmann seiner Einladung: »Ich holte sie am Hafen ab und brachte sie zu dem kleinen Sarazenenhaus, das ich ihr bei mir nebenan gemietet hatte.« (Henze 1996, S. 154; vgl. SC, S. 49-54) Anfang Oktober kehrte sie kurz nach Wien zurück und meldete sich von ihrer Adresse in der Gottfried-Keller-Gasse ab. Anfang 1954 übersiedelte sie nach Rom.

 Kirchheim] Das Dorf ist ein Teil der Gemeinde Euskirchen und liegt am Nordrand der Eifel, ca. 40 km südwestl. von Köln. Die Familie Böll reiste am 15. Juli an und wollte zunächst »mindestens bis 1. 9.« bleiben, verlängerte aber ihren Aufenthalt bis zum 29. Oktober (HB/EAK, S. 352). An das Ehepaar Kunz schrieb Böll am 22. Juli: »Hier ist es herrlich: ruhig und schön, wir haben viel Platz und zum Strandbad etwa 20 Minuten schönen Spazierweg.« (Ebd., vgl. S. 350, 373; KA 8, S. 305) Er fuhr in dieser Zeit mehrmals nach Köln und einmal zu einer Lesung nach Düsseldorf. Ende September flog er nach Berlin.

 Ihr Name … Zeitschriften] Gedichte von Bachmann erschienen 1953 u. ‌a. in den Zeitschriften Wort und Wahrheit (Jänner 1953: Die große Fracht, Herbstmanöver), Frankfurter Hefte (Juli 1953: Im Gewitter der Rosen, Nachtflug, Große Landschaft bei Wien) sowie – einen Monat nach Bölls Brief – im Merkur (Oktober 1953: Fall ab, Herz, Reigen, Psalm; vgl. GZ, S. 149).

 Unheil in Gestalt eines »Hausbesitzers«] Böll spielt vermutlich auf 280den geplanten Hausbau und seine eigene künftige Rolle an. Am 14. September schrieb er an Kunz: »Unsere Bauerei hat angefangen, gestern war die Ausschachtung beendet. Nun muß nur noch die Kreditfrage ›durchgehetzt‹ werden. […] Hätte ich doch nie angefangen, mir mit dem Geld eine Wohnung gekauft und Schluss.« (HB/EAK, S. 367)

 »irgendwo«] Böll nahm am Herbsttreffen der Gruppe 47 in Bebenhausen nicht teil (vgl. Hildesheimer 1999, S. 44f.).

269.Heinrich Böll an Ingeborg Bachmann, Köln, 17. Dezember 1953, Kunstpostkarte

17. ‌12. ‌53

Liebe Inge, entzückt von Ihnen zu hören, lege ich Ihnen, wenn Sie nach Rom kommen, ans Herz, möglicherweise irgendwo an der Küste nach einem kleinen Häuschen Ausschau zu halten, wo ich im Herbst mit Weib und Kindern hausen könnte. Aber wir sehen uns dann wohl in Rom und können darüber sprechen. Hier wird's kalt und sehr »unwirtlich«. Wir alle grüßen Sie sehr herzlich und freuen uns, Sie wiederzusehen. Ihr

Heinrich Böll

LIT 423/B668/7 / Ms. / An: »Fräulein / Dr. Ingeborg Bachmann / Klagenfurt / Henselstr. 26 / Österreich« / Von: »Böll, Köln, Schillerstr. 99«

Kunstpostkarte: »Ernst Weiers, Goldfische«

Klagenfurt / Henselstr. 26] Anschrift des Reihenhauses, in welchem Bachmann von 1933 an ihre Kindheit und Jugend verbrachte, vgl. die Erzählung Jugend in einer österreichischen Stadt (DJ, S. 18). Ihre Familie lebte weiterhin dort. Seit 2025 befindet sich in diesem Haus das Ingeborg Bachmann Museum.

 wir sehen uns … in Rom] Böll bezieht sich vermutlich auf das Frühjahrstreffen der Gruppe 47, das vom 29. April bis zum 2. Mai 1954 in San Felice Circeo nahe Rom stattfand, siehe Stellenkommentar 27,30 zu Brief 11.

10.Ingeborg Bachmann an Heinrich Böll, Rom, 31. Jänner 1954, Postkarte

Rom, den 31. ‌I. ‌54.

Lieber Heinrich,

herzlichen Dank für die Kärnten-Karte! Ich fände es wunderbar, wenn das mit Italien klappte. Es ist so schön hier – seit drei-vier Wochen bin ich da; es ist nicht immer leicht, die Kälte in den Steinhäusern und die Anfangsschwierigkeiten, aber man verliert den Mut nie ganz, weil Menschen hier sind, sehr warme. Ihr Sommerhäuschen jetzt schon zu finden, ist etwas schwierig, aber ganz leicht, wenn Sie kommen – ich glaube, wir können dann besser drüber reden, ich weiß schon ein paar Orte, die in Frage kommen.

27Zur Arbeit bin ich noch kaum gekommen, aber alles zu seiner Zeit. Rom ist viel zuviel, und die Tage vergehen so rasch. Es ist auch die Frage, wie lang ich|s| finanziell durchhalten kann, auch wenn ich so dürftig wohne wie jetzt, und eben weil ich schlecht wohne, schwer arbeiten kann. Doch bis Anfang Mai bin ich bestimmt hier, und wenn Sie schon vorher etwas wollen, Haus und so, dann schreiben Sie – ja? Und auch sonst wärs schön, einmal von Ihnen zu hören und wie alles geht!

Heute scheint die Sonne ganz ungeheuer, man kann im Freien Kaffee trinken und geht wie auf Wolken. Und meine Grüße gehören Ihnen allen, Ihrer lieben Frau und den kleinen Bölls und dem großen Böll!

Ihre

Ingeborg

HAStK 1326/A4022/59 / Ms. / An: »GERMANIA / Egr. Sign. / HEINRICH BÖLL / KÖLN-BAYENTHAL / Schillerstraße 99« / Von: »I. Bachmann, PRESSO RICCARDI / VIA di RIPETTA 226 / ROMA«

Egr. Sign.] »Egregio Signor«. Ital., »Sehr geehrter Herr«.

Schillerstraße 99] Siehe Stellenkommentar zu Brief 1.

281

 Kärnten-Karte] Brief 9.

 so dürftig wohne] Gustav René Hocke erinnert sich, dass Bachmann »in einem kleinen ungeheizten Zimmer« in der Via di Ripetta »fror und hungerte« (Hocke 2004, S. 386). Mitte März 1954 übersiedelte sie in den Palazzo Ossoli, Piazza della Quercia 1.

 Haus und so] Es lässt sich nicht feststellen, ob vor »Haus« ein Artikel oder ein Gedankenstrich steht, da die Postkarte an dieser Stelle gelocht ist.

11.Heinrich Böll an Ingeborg Bachmann, Köln, 4. Februar 1954

Schillerstr. 99

Köln-Bayenthal

4. ‌2. ‌54

Liebe Inge,

ich habe mich sehr gefreut, heute von Ihnen zu hören und Ihre Adresse zu erfahren: hier war es fast eine Woche lang barbarisch kalt, so um –20° herum, und der Rhein sieht sehr polar aus. Nun wird es milder, und wir atmen alle auf. Es ist eine gute Idee von Richter, Rom zum Treffpunkt zu machen und ich freue mich sehr auf Italien, das ich noch gar nicht kenne. Wenn ich es eben schaffe, komme ich schon vor dem Treffen 28