Das College - Ruth Ware - E-Book
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Das College E-Book

Ruth Ware

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Beschreibung

Du kennst den Mörder. Aber es ist nicht, wer du denkst. Der raffinierte Thriller in atmosphärischem Oxford-Setting von Spiegel-Bestseller-Autorin Ruth Ware! Eine verschworene Clique in Oxford. Ein abscheuliches Verbrechen. Ein unschuldig Verurteilter? Vor zehn Jahren hat Hannah die Leiche ihrer Freundin April gefunden. Es war das Ende ihrer sorglosen Zeit als Studentin in Oxford und das Ende ihres unbeschwerten Lebens. Damals schien klar, wer April ermordete. Aber jetzt kommen Hannah furchtbare Zweifel: Hat ihre Aussage einen Unschuldigen hinter Gitter gebracht? Sie muss die Wahrheit herausfinden. Auch wenn dabei ihr eigenes Leben in Gefahr gerät. »Unglaublich fesselnder Schreibstil, düster spannend mit erstaunlichen Wendungen. Top!« Mainhatten Kurier Von Ruth Ware sind bei dtv außerdem folgende spannende Thriller erschienen:  Woman in Cabin 10 Hinter diesen Türen Wie tief ist deine Schuld Im dunklen, dunklen Wald Der Tod der Mrs Westaway Das Chalet Das College Zero Days

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Über das Buch

Vor zehn Jahren gehörte Hannah zu einer verschworenen Clique, die in Oxford studierte und alles gemeinsam machte: Will, Hugh, Ryan, Emily, Hannah und vor allem April, der Mittelpunkt der Gruppe, ein schönes, verwöhntes, intelligentes Mädchen. Ihre Neigung, anderen ziemlich böse Streiche zu spielen, war berüchtigt. Und eines Abends war sie tot. Hannah fand April ermordet auf. Aufgrund ihrer Aussage wurde ein Verdächtiger verurteilt.

Inzwischen sind zehn Jahre vergangen. Und es gibt Gerüchte, dass es sich um einen Justizirrtum gehandelt haben könnte. Von Zweifeln und Schuldgefühlen gequält, beschließt Hannah, die Wahrheit herauszufinden. Sie trifft sich mit den alten Freunden, fährt nach Oxford, spricht mit den damaligen Professoren. Und sie entdeckt tatsächlich Hinweise darauf, dass jemand anders als der Verurteilte den Mord begangen haben könnte. Jemand, den sie gut kannte …

 

Von Ruth Ware sind im dtv außerdem erschienen:

Im dunklen, dunklen Wald

Woman in Cabin 10

Wie tief ist deine Schuld

Der Tod der Mrs Westaway

Hinter diesen Türen

Das Chalet

Ruth Ware

Das College

In der Nacht kommt der Tod

Thriller

Deutsch von Susanne Goga-Klinkenberg

 

 

 

Für Meriel,

die beste Art von bester Freundin

DAVOR

Danach war es die Tür, an die sie sich erinnern sollte. Sie stand offen, sagte sie immer wieder zur Polizei. Ich hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmt.

Sie hätte jeden einzelnen Schritt aufzählen können, den sie von der Bar zurück zur Wohnung gegangen waren: wie der Kies beim Überqueren des Old Quad unter ihren Füßen geknirscht hatte, wie sie unter dem Cherwell Arch hindurchgegangen waren und die verbotene Abkürzung durch den dunklen Fellows’ Garden genommen hatten, leichtfüßig auf dem taufeuchten Rasen. In Oxford brauchte man keine Schilder, die das Betreten des Rasens untersagten; die Grünfläche war seit mehr als zweihundert Jahren den Dons und Fellows vorbehalten, ohne dass man die Studierenden darauf hinweisen musste.

Vorbei an der Unterkunft des Masters und um den New Quad herum (fast vierhundert Jahre alt, aber immer noch hundert Jahre jünger als der Old Quad).

Dann Treppe VII mit den ausgetretenen steinernen Stufen hoch bis in den vierten Stock, wo sie und April auf der linken Seite des Treppenabsatzes wohnten, gegenüber den Räumen von Dr. Myers.

Dr. Myers’ Tür war wie üblich geschlossen. Aber die andere Tür, ihre Tür, stand offen. Es war das Letzte, woran sie sich erinnerte. Sie hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmte.

Aber sie hatte sich nichts dabei gedacht.

 

Was dann geschehen war, wusste sie nur, weil die anderen es ihr erzählt hatten. Ihre Schreie. Hugh, der hinter ihr die Treppe heraufgerannt kam, zwei Stufen auf einmal nehmend. Aprils schlaffer Körper, der auf den Fotos, die man ihr danach gezeigt hatte, geradezu theatralisch auf dem Kaminvorleger ausgebreitet lag.

Sie selbst konnte sich nicht an den Anblick erinnern. Es war, als hätte sich ihr Gehirn abgeschaltet, wie ein Speicherfehler im Computer: Datei beschädigt – und keine noch so geduldige Befragung durch die Polizei hatte die Erinnerung an diesen Moment zurückbringen können.

Nur manchmal, mitten in der Nacht, wacht sie auf und hat ein Bild vor Augen, ein Bild, das sich von den körnigen Polaroids des Polizeifotografen mit den sorgfältigen Spurenmarkierungen und dem grellen Scheinwerferlicht unterscheidet. Auf diesem Bild ist das Licht gedämpft, und Aprils Wangen sind noch vom letzten Hauch des Lebens gerötet. Und sie sieht sich selbst, wie sie durchs gemeinsame Wohnzimmer rennt, über den Teppich stolpert und neben Aprils Leiche auf die Knie fällt, und dann hört sie die Schreie.

Sie weiß nie, ob das Bild Erinnerung oder Albtraum ist – oder eine Mischung von beidem.

Aber wie immer auch die Wahrheit aussieht, April ist nicht mehr da.

DANACH

»Siebzehn Pfund, achtundneunzig Pence«, sagt Hannah. Die Frau, die vor ihr steht, schiebt geistesabwesend die Kreditkarte über die Ladentheke. Gleichzeitig versucht sie, ihre Vierjährige davon abzuhalten, mit den Radiergummis in der Schreibwarenabteilung zu spielen.

Hannah hält die Karte an das Gerät, bis es piept, und reicht die Bücher mit der Quittung über die Theke. ›Der Grüffelo‹, ›Das neue Baby‹ und ›There’s a House Inside My Mummy‹. Bruder oder Schwester unterwegs? Sie schaut zu dem kleinen Mädchen, das mit den Schreibwaren spielt, und lächelt verschwörerisch. Das Mädchen hält inne und lächelt dann zurück. Hannah würde gern nach ihrem Namen fragen, doch das ginge womöglich zu weit.

Stattdessen wendet sie sich wieder an die Kundin.

»Brauchen Sie eine Tüte? Wir haben auch diese tollen Stofftaschen für zwei Pfund.« Sie deutet auf die Segeltuchtaschen hinter dem Tresen, die mit dem hübschen Tall-Tales-Logo bedruckt sind – ein wackliger Bücherstapel, der den Namen des Ladens bildet.

»Nein, danke«, sagt die Frau knapp, stopft die Bücher in die Umhängetasche und zieht ihre Tochter an der Hand aus dem Laden. Ein Radiergummi in Pinguinform fällt dabei auf den Boden. »Lass das«, hört Hannah sie sagen, als sie durch die viktorianische Glastür gehen und die Ladenglocke erklingt. »Für heute reicht es mir mit dir.«

Hannah sieht, wie die Mutter das kleine Mädchen weinend hinter sich herzieht, und ihre Hand wandert zu ihrem Bauch. Schon die Form ist beruhigend – hart und rund und seltsam fremd, als hätte sie einen Fußball verschluckt.

Die Bücher in der Ratgeberabteilung für werdende Eltern arbeiten gern mit Lebensmittel-Metaphern. Eine Erdnuss. Eine Pflaume. Eine Zitrone. Das ist ja wie ›Die kleine Raupe Nimmersatt‹ für Erwachsene, hatte Will verwundert gesagt, als er das Kapitel über das erste Schwangerschaftstrimester las. Diese Woche ist es eine Mango, wenn sie sich recht entsinnt. Oder vielleicht ein Granatapfel. Als sie in der sechzehnten Woche war, hatte Will ihr aus Spaß eine halbierte Avocado samt Löffel ans Bett gebracht, um den Meilenstein zu feiern. Hannah hatte nur daraufgestarrt und die Morgenübelkeit gespürt, die eigentlich vorbei sein sollte, den Teller weggeschoben und war zum Klo gerannt.

»Es tut mir leid«, hatte sie danach zu Will gesagt. »Es war eine liebe Idee – ich musste nur –«

Sie konnte nicht zu Ende sprechen. Schon beim Gedanken daran wurde ihr übel. Es war nicht nur das weiche, ölige Gefühl auf der Zunge, sondern etwas anderes, das tiefer saß. Die Vorstellung, ihr eigenes Baby zu essen.

»Kaffee?« Robyns Stimme reißt sie aus ihren Gedanken. Hannah dreht sich zu ihrer Kollegin, die am anderen Ende der Theke steht.

»Wie bitte?«

»Ich sagte, willst du einen Kaffee? Oder geht’s immer noch nicht?«

»Nein, nein, geht wieder, ich will es nur nicht übertreiben. Vielleicht einen koffeinfreien, wenn das okay ist?«

Robyn nickt und verschwindet im »Personalraum«, einem besseren Wandschrank. Fast im selben Moment vibriert Hannahs Handy in der Gesäßtasche ihrer Jeans.

Bei der Arbeit stellt sie es lautlos. Cathy, die Besitzerin von Tall Tales, ist nett, und man darf durchaus mal aufs Handy schauen, aber es lenkt ab, wenn es beim Vorlesen oder im Kundengespräch klingelt.

Der Laden ist gerade leer, also holt sie es heraus, um zu sehen, wer anruft.

Ihre Mutter.

Hannah runzelt die Stirn. Das ist ungewöhnlich. Jill ruft nicht einfach so an – normalerweise telefonieren sie einmal in der Woche, meist am Sonntagmorgen, wenn ihre Mutter vom Schwimmen im See zurückkommt. Jill ruft selten unter der Woche an und nie während der Arbeit.

»Hannah«, sagt ihre Mutter ohne Vorrede. »Kannst du sprechen?«

»Ich bin bei der Arbeit, wenn Kundschaft kommt, muss ich Schluss machen, aber jetzt gerade geht es. Ist was passiert?«

»Ja. Nein, ich meine …«

Ihre Mutter hält inne. Hannah spürt, wie die Angst sich anschleicht. Ihre tüchtige, selbstsichere Mutter, die nie um Worte verlegen ist – was kann da passiert sein?

»Geht es dir gut? Du bist doch nicht etwa … krank?«

»Nein!« Ein kurzes, erleichtertes Lachen begleitet die Antwort, doch sie spürt noch immer die merkwürdige Anspannung dahinter. »Nein, ganz und gar nicht. Es ist nur … ich nehme an, du hast keine Nachrichten gesehen?«

»Wieso denn? Ich war den ganzen Tag bei der Arbeit.«

»Ich meine die Nachrichten über … John Neville.«

Hannahs Magen fällt ins Bodenlose.

Die Übelkeit hatte sich in den letzten Wochen allmählich gelegt. Jetzt ist sie mit einem Mal wieder da. Sie presst die Hand vor den Mund, atmet schwer durch die Nase und umklammert mit der freien Hand die Ladentheke, als könnte sie ihr Halt bieten.

»Es tut mir leid«, sagt ihre Mutter in die Stille hinein. »Ich wollte dich nicht bei der Arbeit überfallen, aber die Meldung tauchte in meinen Google Alerts auf, und ich hatte Angst, jemand aus Pelham könnte dich anrufen oder dass die ›Mail‹ bei dir zu Hause auf der Matte steht. Ich dachte …« Hannah hört, wie ihre Mutter schluckt. »Ich dachte, es wäre besser, wenn du es von mir erfährst.«

»Was?« Hannah beißt die Zähne aufeinander, als könnte sie damit die Übelkeit stoppen, und schluckt das Wasser herunter, das sich plötzlich hinter ihren Zähnen sammelt. »Was soll ich von dir erfahren?«

»Dass er tot ist.«

»Oh.« Ein seltsames Gefühl. Eine Welle der Erleichterung, danach Leere. »Wie?«

»Herzinfarkt im Gefängnis.« Jills Stimme klingt sanft, als wollte sie die Nachricht abschwächen.

»Oh«, sagt Hannah noch einmal und tastet sich zu dem Hocker hinter der Theke, auf dem sie sitzen und Bücher etikettieren, wenn wenig los ist. Sie legt die Hand auf den Bauch, als wollte sie sich vor einem Schlag schützen, der sie bereits getroffen hat. Die Worte kommen nicht. Sie kann sich nur wiederholen. »Oh.«

»Alles gut mit dir?«

»Ja. Sicher.« Hannahs Stimme klingt seltsam flach und als käme sie von weit her. »Warum sollte es mir nicht gut gehen?«

»Na ja …« Ihre Mutter wählt die Worte mit Bedacht. »Es ist eine große Sache. Ein Meilenstein.«

Ein Meilenstein. Vielleicht liegt es daran, dass sie eben noch an das Gespräch mit Will gedacht hat und ihre Mutter jetzt dieses Wort ausspricht, aber plötzlich geht nichts mehr. Sie kämpft gegen den Drang an, zu schluchzen, wegzulaufen, mitten in ihrer Schicht den Laden zu verlassen.

»Es tut mir leid«, murmelt sie ins Telefon. »Es tut mir wirklich leid, Mum, ich muss –«

Ihr fällt nichts ein.

»Ich habe Kundschaft«, stößt sie schließlich hervor.

Sie legt auf. Dann umfängt sie die Stille der leeren Buchhandlung.

DAVOR

Die Parkplätze in der Pelham Street waren überfüllt. Darum hielt Hannahs Mutter auf einer doppelten gelben Linie in der High Street und versprach, nachzukommen, sobald sie das Auto woanders geparkt hatte.

Als Hannah mit dem größeren Koffer dastand und zusah, wie der verbeulte Mini davonfuhr, überkam sie ein seltsames Gefühl – als hätte sie beim Aussteigen ihre alte Identität abgestreift und würde der Welt als eine schärfer konturierte, frischere, weniger abgenutzte Version ihrer selbst entgegentreten – eine Version, die vor lauter Neuheit förmlich prickelte. Als sie sich umdrehte und zu dem Wappen über dem gemeißelten Steinbogen hinaufsah, spürte sie, wie der kühle Oktoberwind ihr Haar anhob und über ihren Nacken strich, und die berauschende Mischung aus Nervosität und Aufregung ließ sie erzittern.

Das war er also. Der Gipfel all ihrer Hoffnungen, Träume und sorgfältig ausgearbeiteten Strategien. Eines der ältesten und prestigeträchtigsten Colleges in einem der ältesten und prestigeträchtigsten Bildungszentren der Welt – das berühmte Pelham College der Universität Oxford. Ihr neues Zuhause für die kommenden drei Jahre.

Die gewaltige Eichentür stand offen, anders als an dem Tag, an dem sie zum Vorstellungsgespräch hier gewesen war. Damals hatte sie an das mittelalterliche vergitterte Türchen in der Tür klopfen und warten müssen, bis der Pförtner hindurchspähte, wie eine Figur aus einem Monty-Python-Film. Sie zog ihren Koffer durch den Kreuzgang, vorbei an der Pförtnerloge, und steuerte auf einen Faltpavillon im Hof zu, wo ältere Studierende Informationsmappen verteilten und den Neuen den Weg erklärten.

»Hi«, sagte Hannah. »Ich heiße Hannah Jones. Kannst du mir erklären, wo ich hinmuss?«

»Na klar!«, sagte das Mädchen am Stand mit einem Strahlen im Gesicht. Sie hatte langes, glänzend blondes Haar, und ihr Akzent war klar wie geschliffenes Glas. »Willkommen in Pelham! Also, du musst dir erst mal deine Schlüssel und die Angaben zur Unterkunft in der Pförtnerloge abholen.« Sie deutete zum Eingang, von wo Hannah gerade gekommen war. »Hast du schon deine Bod Card? Die brauchst du für so ziemlich alles, vom Bezahlen des Essens bis hin zum Ausleihen von Büchern aus der Bibliothek.«

»Nein, aber ich hab eine beantragt.«

»Gut, dann kannst du sie in Cloisters II abholen, das geht heute jederzeit. Wahrscheinlich willst du erst den Koffer abstellen. Oh, und vergiss nicht den Ersti-Welcome und das Meet and Greet für alle Neuen!« Sie hielt ihr einen Stapel Infoblätter hin. Hannah nahm sie unbeholfen entgegen und klemmte sich das Papier unter den freien Arm.

»Danke«, sagte sie, machte kehrt und rumpelte mit dem Koffer zurück zur Pförtnerloge.

Beim Vorstellungsgespräch war sie nicht in der Loge gewesen – der Pförtner war herausgekommen, um sie einzulassen. Nun stellte sie fest, dass es sich um einen kleinen, holzgetäfelten Raum handelte, der an ein Postamt erinnerte. Zwei Fenster mit Blick auf Innenhof und Kreuzgang, eine Theke und eine Wand mit Fächern, die ordentlich mit Namen beschriftet waren. Bei dem Gedanken, dass eins davon ihres war, überkam sie ein seltsames Gefühl von Zugehörigkeit.

Sie wartete, während der Pförtner sich mit dem Jungen vor ihr oder, besser gesagt, dessen Eltern beschäftigte. Die Mutter des Jungen hatte eine Menge Fragen zu WLAN und Dusche, doch dann war sie schließlich fertig. Hannah rückte zur Theke vor und wünschte sich, ihre Mutter wäre endlich hier. Ihr war, als könnte sie ein bisschen Unterstützung gebrauchen.

»Ähm, hallo«, sagte sie. Ihr Magen flatterte, doch sie versuchte, ruhig zu sprechen. Sie war jetzt erwachsen. Studentin am Pelham College. Es war ihr gutes Recht, hier zu sein, also kein Grund zur Nervosität. »Ich heiße Hannah. Hannah Jones. Können Sie mir sagen, wo ich hinmuss?«

»Hannah Jones …« Der Pförtner war ein rundlicher, lustig wirkender Mann, der mit seinem flauschigen weißen Bart wie ein arbeitsloser Weihnachtsmann aussah. Er setzte seine Brille auf und studierte eine lange Namensliste. »Hannah Jones … Hannah Jones … Ah, da haben wir Sie ja. Sie sind im New Quad, Treppe VII, Zimmer 5. Das ist ein Set. Sehr hübsch.«

Ein Set? Hannah war sich nicht sicher, ob sie wissen musste, was das bedeutete, doch der Pförtner redete weiter, und die Chance für eine Zwischenfrage war dahin.

»Also, Sie gehen dort hindurch.« Er deutete durch das gekuppelte Fenster auf einen hohen Torbogen hinter dem Viereck aus samtigem Gras. »Dann nach links durch den Fellows’ Garden – bloß nicht den Rasen betreten –, vorbei an der Unterkunft des Masters. Treppe VII ist auf der gegenüberliegenden Seite vom New Quad. Hier ist ein Plan. Für Sie gratis, meine Liebe.«

Er klatschte ein glänzendes Faltblatt auf die hölzerne Theke.

»Danke«, sagte Hannah, griff nach dem Plan und steckte ihn in die Hosentasche. Dann fiel ihr etwas ein. »Oh, meine Mutter müsste bald kommen, sie sucht einen Parkplatz. Könnten Sie ihr sagen, wohin ich gegangen bin?«

»Die Mum von Hannah Jones«, sagte der Mann nachdenklich. »Kann ich machen. John«, rief er über die Schulter zu einem Mann, der hinter ihm Post sortierte, »wenn ich in der Mittagspause bin und Hannah Jones’ Mum kommt, schickst du sie nach sieben, fünf, New Quad.«

»Wird gemacht«, sagte der andere Mann, drehte sich um und sah Hannah an. Er war größer und jünger als sein Kollege, mit dunklem Haar und einem Gesicht, das blass und verschwitzt zugleich aussah, obwohl er in keiner Weise körperlich arbeitete. Seine Stimme – hoch und schrill – stand in einem merkwürdigen Missverhältnis zum Rest von ihm, und Hannah hätte beinahe nervös gelacht.

»Danke«, sagte sie und wollte schon gehen. Sie war fast an der Tür, als der zweite Mann ihr etwas nachrief. Seine Stimme war schroff und klang vorwurfsvoll.

»Immer langsam, junge Dame!«

Hannah drehte sich um und spürte, wie ihr Herz schneller schlug, als hätte sie etwas falsch gemacht.

Der Mann kam behäbig hinter der Theke hervor und blieb vor ihr stehen. Er hatte etwas in der Hand, das er ihr entgegenhielt und wie eine Trophäe baumeln ließ.

Ein Schlüsselbund.

»Oh.« Hannah kam sich dumm vor, lachte kurz auf. »Danke.«

Sie streckte die Hand aus, doch der Mann ließ die Schlüssel einen Moment lang nicht los. Er stand einfach nur da, ließ sie über ihrer Handfläche baumeln. Dann löste er den Griff und ließ sie fallen. Hannah steckte sie rasch ein und ging.

 

Die gemalte Ziffer VII stand über dem Treppenaufgang. Hannah schaute auf den Plan und warf einen Blick über die Schulter, um alles in sich aufzunehmen: die makellose rechteckige Rasenfläche, den honigfarbenen Stein, die Bogenfenster. Der Sonnenschein und die weißen Herbstwolken verliehen dem Anblick eine fast unwirkliche Schönheit, und Hannah überkam ein seltsames Gefühl, als wäre sie in eines der Bücher getreten, die in ihrem Koffer lagen – ›Wiedersehen mit Brideshead‹ vielleicht. ›Aufruhr in Oxford‹. ›Der goldene Kompass‹. Eine Bilderbuchwelt.

Mit einem Lächeln auf den Lippen zog sie den Koffer durch den Torbogen zu Treppe VII, doch es war mühsam, ihn die Stufen hinaufzuhieven, und beim ersten Treppenabsatz war ihr Lächeln verschwunden. Beim zweiten war sie verschwitzt, atemlos und das märchenhafte Gefühl verflogen.

4 – H. Clayton stand säuberlich auf einem kleinen Zettel an der linken Tür geschrieben und gegenüber 3 – P. Burnes-Wallace. Die mittlere Tür war einen Spaltbreit offen und gab den Blick auf eine sehr kleine Küche frei, in der zwei Jungen standen. Der eine beugte sich über einen Elektroherd, der andere hielt eine Tasse Tee in der Hand und starrte Hannah an. Sicher war er nur neugierig, aber sein Blick wirkte auf sie etwas feindselig.

»H-hi«, sagte Hannah schüchtern, doch der Junge nickte ihr nur zu und schob sich an ihr vorbei zur Tür mit der Aufschrift P. Burnes-Wallace. Was hatte der Pförtner doch gleich gesagt? Zimmer 5? Also noch eine Etage höher.

Zähneknirschend schleppte Hannah ihren Koffer die letzte Treppe hinauf in den obersten Stock. Zwei Türen einander gegenüber. 6 – Dr. Myers stand an der rechten, die geschlossen war. Die angelehnte Tür war dann wohl ihre eigene.

»Heeey …« Das Mädchen, das auf dem Sofa lümmelte, blickte kaum vom Handy auf, als Hannah eintrat. Sie trug ein kurzes Kleid mit Lochstickerei, ihre langen, gebräunten Beine hingen über die Armlehne, eine Sandale baumelte von den pedikürten Zehen. Sie schien durch eine Foto-App zu scrollen. »Du musst Hannah sein.«

»Die bin … ich?«, sagte Hannah unsicher, wobei sich ihre Stimme am Ende des Satzes fragend hob. Sie sah sich um. Es schien ein Wohnzimmer zu sein, in dem sich das luxuriöseste Gepäck stapelte, das sie je gesehen hatte. Hutschachteln, Kleidersäcke, eine riesige Selfridges-Tüte voller Samtkissen und etwas, das wie ein echter Louis-Vuitton-Schrankkoffer mit einem riesigen Messingschloss aussah. Daneben nahm sich ihr eigenes Gepäck winzig und bescheiden aus. »Wer bist du?«

»April.« Sie legte das Handy weg und stand auf. Sie war mittelgroß und schlank, mit kurz geschnittenem, honigblondem Haar, das sich eng an den Kopf schmiegte, und fein gewölbten Augenbrauen, die ihr einen halb belustigten, halb verächtlichen Ausdruck verliehen. Sie hatte etwas Überirdisches – eine undefinierbare Eigenschaft, die Hannah nicht einordnen konnte. Es kam ihr vor, als hätte sie das Mädchen schon einmal gesehen … oder in einem Film erlebt. Sie besaß jene Art von Schönheit, die andere in den Bann zog und zugleich wehtat. Es war, dachte Hannah, als fiele ein anderes Licht auf sie als auf den übrigen Raum.

»April Clarke-Cliveden«, fügte das Mädchen hilfsbereit hinzu, als Hannah nicht sofort antwortete, und es klang, als müsste ihr der Name etwas sagen.

»Aber ich dachte …«, sagte Hannah, verstummte und drehte sich unsicher zur Tür, um das Namensschild zu überprüfen. Und tatsächlich, da stand: 5 – H. Jones. Und darunter: A. Clarke-Cliveden.

Sie runzelte die Stirn.

»Sind wir … Mitbewohnerinnen?«

Das kam ihr unwahrscheinlich vor. Der Prospekt von Pelham College hob ausdrücklich hervor, dass es so gut wie keine Gemeinschaftsunterkünfte und Zweibettzimmer gab. Natürlich gab es Gemeinschaftsbäder, außer im modernen Flügel, doch es hatte den Eindruck erweckt, als hätten alle ihr eigenes Schlafzimmer.

»Sieht so aus«, sagte April, gähnte wie eine Katze und reckte sich ausgiebig. »Wir teilen uns kein Schlafzimmer – das hätte ich niemals akzeptiert. Nur das Wohnzimmer.« Sie wedelte mit der Hand durch den bescheidenen Raum, als wäre sie die geneigte Gastgeberin und Hannah der Eindringling. Bei dem Gedanken überkam Hannah leiser Ärger, den sie sofort verdrängte. Sie sah sich um. Von Aprils Gepäckstapel einmal abgesehen, war die Einrichtung spärlich und nüchtern – ein reichlich abgenutztes Sofa, Couchtisch, Sideboard –, aber sauber und hell und mit einem wunderschönen gemauerten Kamin. »Schön, wenn man einen Ort zum Abhängen hat, oder? Dein Zimmer ist da drüben.« Sie nickte zu einer Tür rechts vom Fenster. »Ich fürchte, ich habe mir das größere ausgesucht. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, du weißt schon.«

Sie zwinkerte ihr zu und enthüllte ein tiefes, weiches Grübchen.

»Alles gut«, sagte Hannah. Es hatte keinen Sinn zu widersprechen. Wie es aussah, hatte das Mädchen bereits ausgepackt. Also zog sie den Koffer zu der Tür, die April ihr gezeigt hatte.

Sie hatte ein kleines, eher schäbiges Zimmer erwartet, doch es war größer als ihr Zimmer daheim, hatte ebenfalls einen Kamin und ein bleiverglastes Bogenfenster, durch das ein rautenförmiges Lichtmuster auf die polierten Eichendielen fiel.

»Wow, das ist ziemlich cool«, rief sie aus und hätte sich gleich darauf am liebsten getreten, weil sie so unverhohlen beeindruckt klang.

Doch sie konnte es sich im Stillen eingestehen: Es war ziemlich cool. Wie viele Studenten hatte dieser Raum in den letzten vierhundert Jahren gesehen? Waren Peers und Politiker aus ihnen geworden, Nobelpreisträger und Schriftsteller? Es war schwindelerregend, als blickte man durchs falsche Ende eines Teleskops und sähe ganz am Ende sich selbst, unendlich klein.

»Ja, es ist ganz okay«, meinte April. Sie lehnte im Türrahmen, eine Hand in die Hüfte gestützt. Im schwachen Abendlicht, das durch den dünnen Stoff ihres weißen Kleides drang, ihre Silhouette betonte und ihr kurzes Haar in einen weißen Heiligenschein verwandelte, sah sie aus wie auf einem Filmplakat.

»Wie ist deins?«, fragte Hannah, und April zuckte mit den Schultern.

»So ähnlich. Willst du mal sehen?«

»Klar.«

Hannah stellte ihren Koffer ab und folgte April zur Tür gegenüber.

Es war tatsächlich etwas größer, und nur das metallene Bettgestell und der Kamin erinnerten an ihr eigenes Zimmer. Die übrigen Möbelstücke waren völlig anders – von den Kelimteppichen über den schicken ergonomischen Schreibtischstuhl bis hin zum prall gepolsterten Zweiersofa in der Ecke.

Ein großer, stämmiger Mann im Anzug räumte gerade Kleidung in einen hohen Schrank. Er sah nicht auf, als sie hereinkamen.

»Hallo«, sagte Hannah höflich, wie es sich gegenüber Eltern gehörte. »Sie müssen Aprils Vater sein. Ich bin Hannah.«

April bekam einen Lachanfall. »Du machst wohl Witze. Das ist Harry. Er arbeitet für meine Eltern.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte der Mann über die Schulter, schloss die letzte Schublade und drehte sich um. »Ich glaube, das war’s, April. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«

»Nein, alles in Ordnung. Danke, Harry.«

»Ich nehme die Kartons mit. Soll ich den Koffer stehenlassen?«

»Nein, lieber nicht, den kann ich hier nirgendwo unterbringen.«

»Sicher«, sagte Harry. »Viel Spaß. Auf der Fensterbank liegt ein kleines Abschiedsgeschenk von Ihrem Vater. Hat mich gefreut, Hannah«, sagte er, griff nach einem Stapel leerer Taschen und Kartons neben der Tür und verschwand.

April zog die Schuhe aus, warf sich aufs frisch gemachte Bett und ließ sich tief in die weiche Daunendecke sinken. »Das ist es also. Das echte Leben.«

»Das echte Leben«, wiederholte Hannah. Aber das stimmte nicht. Sie hatte sich noch nie so unwirklich gefühlt wie in diesem jahrhundertealten Zentrum des Lernens, umgeben von Aprils kostspieligen, schönen Dingen, in der Nase den seltsam schweren Duft eines teuren Parfüms. Sie fragte sich, was ihre Mutter – die vermutlich immer noch auf der Suche nach einem Parkplatz durch Oxford kreiste – von alldem halten würde.

»Ich sehe mal nach, was er mir hinterlassen hat«, sagte April. »Die Schachtel ist nicht von Tiffany, schon mal ein schlechter Anfang.«

Sie schwang die Beine aus dem Bett und trat an die steinerne Fensterbank, auf der ein großer Geschenkkarton stand. Aus einem Spalt lugte eine Karte hervor.

»›Auf einen guten Beginn in Oxford. In Liebe, Daddy.‹ Immerhin hat er selbst unterschrieben. Anders als bei meiner Geburtstagskarte, das war die Handschrift seiner Sekretärin.«

Sie bohrte die Nägel in den Deckel, klappte ihn auf und fing an zu lachen.

»Oh Gott, immer wenn ich glaube, dass er kaum meinen zweiten Vornamen kennt, beweist er mir das Gegenteil.« Sie hielt eine Flasche Champagner und zwei Gläser in die Höhe. »Einen Drink, Hannah Jones?«

»Ähm, klar«, sagte Hannah. Eigentlich mochte sie keinen Champagner. Sie hatte ihn nur auf Hochzeiten und dem fünfzigsten Geburtstag ihrer Mutter getrunken und immer Kopfschmerzen davon bekommen. Doch einen so perfekten Moment wollte sie sich keinesfalls entgehen lassen. Möglich, dass Hannah aus Dodsworth keinen Champagner mochte. Aber Hannah aus dem Pelham College war anders.

Sie sah zu, wie April geübt den Korken knallen ließ und einschenkte.

»Na ja, nicht gekühlt, aber immerhin Dom Pérignon«, sagte April und reichte ihr ein Glas. »Worauf wollen wir trinken? Wie wäre es mit … auf Oxford.«

»Auf Oxford«, wiederholte sie, stieß mit April an und setzte das Glas an die Lippen. Der warme, perlende Champagner schäumte in ihrem Mund, die Bläschen breiteten sich auf ihrer Zunge aus, der Alkohol kitzelte sie in Nase und Rachen. Sie fühlte sich ein wenig schwindlig – ob das nun am Champagner lag oder dem verpassten Mittagessen oder einfach … an dem hier, konnte sie nicht sagen. »Und auf Pelham.«

»Und auf uns«, sagte April. Sie warf den Kopf zurück und leerte das Glas in vier langen Zügen. Dann schenkte sie nach, sah Hannah an und zeigte ein breites, verruchtes Lächeln, das tiefe, betörende Grübchen in ihre weichen Wangen zeichnete. »Ja, auf uns, Hannah Jones. Ich glaube, wir werden hier eine ziemlich großartige Zeit verbringen.«

DANACH

Als Hannah das Handy weglegt, umhüllt sie die Stille des Ladens wie ein Kokon. Sie würde es Cathy nie sagen, aber genau wegen dieser Zeiten arbeitet sie bei Tall Tales – nicht wegen des samstäglichen Kundenandrangs oder des Touristenansturms im August während des Festivals, sondern wegen der ruhigen Momente mitten in der Woche, in denen sie – nicht wirklich allein ist, denn in einem Raum mit tausend Büchern ist man nie allein. Aber in denen sie allein mit den Büchern ist.

Christie. Die Brontës. Sayers. Mitford. Dickens. Das sind die Menschen, die ihr durch die Jahre nach Aprils Tod geholfen haben. Dank ihnen ist sie den bohrenden Blicken und dem Mitgefühl der anderen entflohen, der Unberechenbarkeit des Internets, dem Grauen einer Realität, in der die beste Freundin sterben und an jeder Ecke Reporter oder neugierige Fremde lauern konnten – in eine Welt, in der alles geregelt war. Sicher, in einem Roman konnte auf Seite 207 etwas Schlimmes passieren. Aber es würde immer auf Seite 207 passieren, und man konnte es beim Lesen des Buches kommen sehen, auf die Anzeichen achten, sich vorbereiten.

Jetzt lauscht sie dem Edinburgher Regen, der sanft gegen das Erkerfenster hinter ihr prasselt, dem Knarren der alten Dielen, als die Heizungsrohre warm werden. Sie spürt das stille Mitgefühl der Bücher. Sie verspürt den Drang, eines in die Hand zu nehmen – vielleicht eines ihrer Lieblingsbücher, das sie praktisch auswendig kennt –, sich auf einen der Sitzsäcke in der Kinderabteilung sinken zu lassen und die Welt auszusperren.

Aber das geht nicht. Sie arbeitet. Und ist außerdem nicht allein. Nicht wirklich. Robyn bahnt sich ihren Weg durchs Labyrinth der kleinen viktorianischen Räume, aus denen Tall Tales besteht und die mit Bücher- und Wühltischen vollgestellt sind.

»Piep, piep! Robyn Grant, Teelady par excellence, im Anmarsch«, sagt sie, als sie in den vorderen Verkaufsraum tritt. Sie stellt die beiden Tassen so schwungvoll auf die Theke, dass die heiße braune Flüssigkeit gefährlich nah an den Kartenständer schwappt. »Die mit dem Löffel ist deine. Bist du –« Sie sieht Hannah an und hält inne, liest offenbar etwas in ihrem Gesicht. »Hey, alles gut mit dir? Du siehst irgendwie seltsam aus.«

Hannahs Herz zieht sich zusammen. Ist es so deutlich zu erkennen?

»Ich – ich bin mir nicht sicher«, sagt sie langsam. »Es gibt schwierige Neuigkeiten.«

»Oh mein Gott.« Robyns Hand wandert zu ihrem Hals, ihre Augen zucken unwillkürlich zu Hannahs Bauch und wieder zu ihrem Gesicht. »Nicht –«

»Nein!«, sagt Hannah schnell. Sie versucht zu lächeln, obwohl es sich falsch und steif anfühlt. »Nicht so was – nur Familienkram.«

Näher kann sie der Wahrheit spontan nicht kommen, bereut die Worte aber, sowie sie ihren Mund verlassen haben. John Neville gehört nicht zur Familie. Sie will ihn oder die Erinnerung an ihn nicht in der Nähe ihrer Familie haben.

»Musst du los?«, fragt Robyn, schaut auf die Uhr und dann in den leeren Laden. »Es ist fast fünf. Ich bezweifle, dass es jetzt noch einen Ansturm gibt. Ich kann mich um alles kümmern.«

»Nein«, sagt Hannah reflexartig. Sie sollte nicht gehen – eigentlich hat sich nichts verändert. Doch der Gedanke, hier zu stehen und die Kunden anzulächeln, als wäre nichts geschehen, während die Erinnerungen in ihr hochkochen und sie aufwühlen …

»Geh«, sagt Robyn entschlossen. »Ehrlich, geh einfach. Ich erkläre es Cathy, wenn sie kommt, sie wird nichts dagegen haben.«

»Meinst du wirklich?«, fragt Hannah, und Robyn nickt. Sie steht auf, nimmt ihr Handy, Schuldgefühle und Dankbarkeit durchfluten sie. Manchmal findet sie Robyn nervig – ihre unermüdliche Pfadfinderinnen-Munterkeit, ihre Angewohnheit, zu allen Kunden »Nein, ich wünsche Ihnen einen schönen Tag« zu sagen. Jetzt aber wirkt ihre zuverlässige, unerschütterliche Freundlichkeit ungemein tröstlich.

»Vielen Dank, Robyn. Ich revanchiere mich, versprochen.«

»Hey, nicht nötig«, sagt Robyn. Sie lächelt, doch Hannah sieht die Sorge dahinter und spürt Robyns Blick, als sie langsam zum Personalraum geht, um ihre Sachen zu holen.

 

Als sie den Laden verlässt, hat es aufgehört zu regnen, und der feuchte, klare Herbstnachmittag erinnert sie so sehr an ihren ersten Tag in Pelham, dass sich die Vergangenheit einen Moment lang geradezu unerträglich real anfühlt. Als sie an der Ampel stehen bleibt und auf das grüne Männchen wartet, überkommt sie ein seltsames Gefühl – als könnte April jeden Moment lässig durch die Menge schlendern, ihr träges, spöttisches Lächeln auf den Lippen, die tiefen Grübchen in den Wangen. Hannah muss sich an einem Laternenpfahl abstützen, so real, so nah erscheint die Vergangenheit. Sie spürt die unstillbare Sehnsucht, dass es wahr sein möge – dass das große blonde Mädchen, das mit dem Licht im Rücken durch die Menge eilt, April ist – strahlend, schön, lebendig. Wie würde Hannah sie begrüßen? Würde sie sie umarmen? Ihr eine Ohrfeige geben? Weinen?

Sie weiß es nicht. Vielleicht alles zugleich.

Sie drängt sich durch die Touristenmassen zur Haltestelle der Nummer 24 nach Stockbridge, kann es kaum erwarten, nach Hause zu kommen, Abendessen zu machen, ihre müden Füße hochzulegen und Schrott-TV zu schauen.

Doch als sie sich der Haltestelle nähert und ihre Schritte nicht langsamer werden, wird ihr klar, dass sie nicht stehen bleiben wird, dass der Gedanke, zwanzig Minuten in einem stickigen Bus im stockenden Stadtverkehr zu verbringen, sie abschreckt. Sie muss laufen. Nur das Pflaster unter ihren Füßen wird ihr helfen, das Unbehagen zu vertreiben und ihre Gedanken zu ordnen, bevor sie Will gegenübertritt. Und was erwartet sie schon zu Hause außer einer leeren Wohnung und dem Laptop, der mit Google lockt?

Sie wird sich zunächst auf eine Abfrage beschränken, um das, was sie gehört hat, Wirklichkeit werden zu lassen. Dass das Kind in ihrem Bauch Wirklichkeit ist, konnte sie auch erst glauben, nachdem sie die Bilder auf dem Monitor gesehen und das seltsame, unterirdische Rauschen und Echo seines Herzens gehört hatte.

Im Schatten der Burg bleibt sie in einem Hauseingang stehen und holt das Handy heraus. Sie öffnet ein Inkognito-Tab und gibt John Neville BBC News in die Google-Suchleiste ein. Sie hat gelernt, niemals nur seinen Namen zu tippen – dann erscheinen Links zu Seiten voller ekelhafter Bilder, wilder Spekulationen und verleumderischer Aussagen über sie und Will, gegen die sie sich nicht wehren kann, weil es ihr an der Zeit und den Mitteln fehlt.

Bei der BBC kann man immerhin darauf vertrauen, dass sie sich weitgehend an die Fakten hält. Und da ist es – das erste Ergebnis.

EILMELDUNG: PELHAM-COLLEGE-MÖRDER JOHN NEVILLE

STIRBT IM GEFÄNGNIS

Der Schock ist wie Eiswasser auf ihrer Haut, aber sie wappnet sich und klickt auf den Artikel.

John Neville, besser bekannt als der Pelham-Würger, ist im Alter von 63 Jahren in Haft gestorben, wie die Gefängnisbehörden heute bestätigten.

Neville, der 2012 wegen des Mordes an der Studentin April Clarke-Cliveden verurteilt wurde, starb heute in den frühen Morgenstunden. Ein Sprecher des Gefängnisses teilte mit, er habe einen schweren Herzinfarkt erlitten und sei bei seiner Einlieferung ins Mersey Hospital für tot erklärt worden.

Nevilles Anwalt Clive Merritt sagte, sein Mandant sei gerade dabei gewesen, erneut in Berufung zu gehen. »Noch auf dem Weg ins Grab hat er seine Unschuld beteuert«, sagte Merritt der BBC. »Es ist eine kolossale Ungerechtigkeit, dass seine Chance, die Aufhebung des Urteils gegen ihn zu erwirken, mit ihm gestorben ist.«

Die Familie Clarke-Cliveden war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

Hannahs Hände zittern. Sie hat so lange nicht gezielt nach Neville gesucht, dass sie vergessen hatte, wie es sich anfühlt, mit seinem Namen, den Erinnerungen an April und vor allem den Bildern konfrontiert zu werden. Es gibt nur wenige Fotos von Neville – das meistverwendete stammt aus seinem Collegeausweis. Wie auf einem Fahndungsfoto starrt er dem Betrachter mit verstörend direktem Blick entgegen. Sein Gesicht zu sehen ist erschütternd genug, doch was Hannah wirklich hasst, sind die Fotos von April – verführerische Social-Media-Schnappschüsse, auf denen sie lässig in Stechkähnen lümmelte und sich an Studenten schmiegte, deren Gesichter verpixelt sind, um eine Privatsphäre zu schützen, die man ihr längst entrissen hat.

Am schlimmsten aber sind die Fotos ihrer Leiche.

Diese Bilder sollten eigentlich nicht öffentlich sein, sind es aber doch. Im Internet kann man alles finden, und bevor Hannah gelernt hat, die Suche rechtzeitig zu stoppen und Inkognito-Tabs zu verwenden, hatte der Google-Algorithmus sie als jemanden erkannt, der sich für den Pelham-Würger interessierte, und ihr mit widerlicher Regelmäßigkeit Clickbait-Artikel zu ebendiesem Thema angezeigt.

Ist das hilfreich?, fragte ihr Handy. Nachdem sie oft genug und mit voller Wucht auf Nicht interessiert getippt hatte, war die Botschaft schließlich angekommen, und die Links wurden nicht mehr angezeigt. Doch ab und an rutscht noch einer durch, und dann schaut sie aufs Handy und sieht April, die sie mit diesem klaren Blick anlächelt, der ihr auch nach zehn Jahren noch einen Stich ins Herz versetzt. Dann und wann spürt jemand sie auf, eine unerbetene Mail erscheint in ihrem Posteingang. Sind Sie die Hannah Jones, die in den Mord an April Clarke-Cliveden verwickelt war? Ich schreibe einen Bericht / eine Seminararbeit / ein psychologisches Profil / einen Artikel über John Nevilles Berufung.

Zuerst hatte sie wütend geantwortet und Wörter wie morbide und vulgär benutzt. Nachdem sie gemerkt hatte, dass die Leute es daraufhin erst recht versuchten und ihre Mails anschließend zitierten, hatte sie ihre Taktik geändert. Nein. Mein Name ist Hannah de Chastaigne. Ich kann Ihnen nicht helfen.

Doch auch das war ein Fehler gewesen. Nicht nur, dass sie sich vorkam, als würde sie April verraten. Wer bei der Recherche bis zu ihrer Mailadresse vorgedrungen war, wusste genau, dass sie die Gesuchte war. Sie wussten, wer Will war und wer sie war, und dass sie bei der Heirat Wills Namen angenommen hatte, half auch nicht, ihre Spuren zu verwischen.

»Warum ignorierst du sie nicht einfach?«, hatte Will verblüfft gefragt. »Das mache ich auch.«

Natürlich hatte er recht. Inzwischen antwortet sie nicht mehr, kann sich aber nicht dazu durchringen, die Mails zu löschen. Sie liegen in einem speziellen Ordner tief in ihrem Posteingang vergraben. Er heißt einfach nur Anfragen. Und eines Tages, nimmt sie sich immer wieder vor, eines Tages, wenn alles vorbei ist, wird sie ihn löschen.

Doch der Tag ist nie gekommen.

Jetzt fragt sie sich, ob er jemals kommen wird.

Sie will gerade das Display sperren, als ihr das Foto auffällt, das zum Artikel gehört. Es zeigt nicht April, sondern Neville, und sie hat es nie zuvor gesehen. Es ist nicht sein Ausweisgesicht mit der markanten Nase, das sie so gut kennt, und auch nicht der Paparazzi-Schnappschuss, auf dem er den Reportern vor dem Gericht zwei Finger entgegenstreckt. Nein, dieses Foto muss viel später entstanden sein, bei einer der Berufungsverhandlungen. Er sieht alt und gebrechlich aus. Er hat abgenommen und wirkt völlig anders als die hochgewachsene Gestalt aus Hannahs Erinnerung. Kaum zu glauben, dass es sich um dieselbe Person handelt. Die Gefängniskleidung hängt schlaff an dem hageren Körper herab, und er starrt wie ein Gejagter in die Kamera, saugt den Betrachter förmlich in seinen Albtraum hinein.

»Verzeihung.« Die schroffe Stimme kommt von hinten, und Hannah zuckt zusammen, als sie merkt, dass sie mitten in der King’s-Stables-Unterführung stehen geblieben ist. Eine Frau versucht, an ihr vorbeizukommen.

»Tut mir leid«, stammelt sie, schaltet das Handy aus und stopft es in die Tasche, als hätte das Foto auf dem Display es verseucht. »Tut mir leid.«

Die Frau drängt sich kopfschüttelnd vorbei, und Hannah macht sich auf den Heimweg. Doch selbst als sie aus der dunklen Unterführung in die Herbstsonne tritt, spürt sie immer noch seine Augen, den dunklen, gehetzten Blick, der sie um etwas zu bitten scheint – nur weiß sie nicht, um was.

 

Es ist schon ziemlich dunkel, als Hannah endlich in die Stockbridge Mews biegt. Ihre Füße tun weh. Sie sucht in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln und flucht, weil niemand die durchgebrannte Birne über der gemeinsamen Eingangstür ersetzt hat.

Dann endlich ist sie drinnen, geht die Treppe hinauf, schließt die Wohnungstür hinter sich.

Lange steht sie einfach da, den Rücken an die Tür gelehnt, spürt die Stille der Wohnung. Sie ist vor Will zu Hause und froh darüber – froh über diesen Moment, in dem sie einfach nur dastehen und die kühle, ruhige, einladende Atmosphäre ihrer kleinen Wohnung auf sich wirken lassen kann.

Sie sollte den Wasserkocher einschalten, die Schuhe ausziehen, Licht anmachen. Aber sie tut nichts von alledem. Stattdessen geht sie ins Wohnzimmer, lässt sich in einen Sessel fallen, sitzt da und versucht zu verarbeiten, was gerade passiert ist.

Sie sitzt immer noch da, als Wills Motorrad vor der Tür anhält und das kehlige Dröhnen von den Hausmauern in der engen Gasse widerhallt. Er stellt den Motor ab. Kurz darauf hört sie seinen Schlüssel im Schloss und seine Schritte auf der Treppe.

Als er die Wohnungstür öffnet, weiß sie, dass sie aufstehen und etwas sagen sollte, kann es aber nicht. Sie hat einfach nicht die Kraft dazu.

Sie hört, wie er die Tasche abstellt, durch den Flur geht, einen albernen Popsong auf den Lippen, das Licht anknipst – und innehält.

»Hannah?«

Er steht blinzelnd vor ihr und versucht, sich einen Reim darauf zu machen, dass sie allein in der Dunkelheit sitzt.

»Han! Was machst du – ist alles in Ordnung?«

Hannah schluckt und versucht, die richtigen Worte zu finden, bringt aber nur ein gebrochenes »Nein« heraus.

Wills Gesicht verändert sich. Er fällt vor ihr auf die Knie, sein Gesicht ist plötzlich verängstigt, seine Hände liegen auf ihren, halten sie fest.

»Han, es ist nicht – es ist doch – nichts passiert? Ist es das Baby?«

»Nein!« Diesmal kommt ihre Antwort schnell, denn sie versteht plötzlich seine Sorge. »Oh Gott, nein, es hat nichts damit zu tun.« Sie schluckt und zwingt sich, die Worte auszusprechen. »Will – es ist – es geht um John Neville. Er ist tot.«

Es klingt ungewollt brutal – noch härter als aus dem Mund ihrer Mutter –, aber Hannah ist zu erschüttert, um die Nachricht gefälliger zu formulieren.

Will sagt nichts und lässt die Hände sinken. Für einen kurzen Moment wirkt er ungeschützt und verletzlich, dann gewinnt er die Fassung wieder. Er steht auf, tritt ans Erkerfenster und blickt hinaus auf die dunkle Gasse. Hannah kann sein Gesicht nur im Profil sehen, blass im Kontrast zu den dunklen Haaren und dem Schwarz hinter der Scheibe.

In Momenten wie diesen kann sie ihn schwer einschätzen – er teilt seine Freude immer großzügig, doch wenn er Schmerz oder Angst empfindet, hält er seine Gefühle zurück, als könnte er es nicht ertragen, anderen gegenüber Schwäche zu zeigen – wohl das Erbe seines Vaters, der beim Militär war, und eines Internats, in dem Gefühle etwas für Weicheier und Heulsusen gewesen waren. Hätte er sich vorhin nicht für einen Sekundenbruchteil zu erkennen gegeben, hätte sie genauso gut annehmen können, er habe sie gar nicht gehört. Sie ist sich nicht sicher, was sich hinter seinem Schweigen, hinter der höflichen, neutralen Maske verbirgt.

»Will?«, sagt sie schließlich. »Sag was.«

Er dreht sich um und sieht sie an, als wäre er sehr weit weg gewesen.

»Gut.«

Es ist nur ein Wort, aber es liegt ein brutaler Ton in seiner Stimme, den sie bei ihm noch nie gehört hat und der sie schockiert.

»Und, was gibt es zum Abendessen?«

DAVOR

»Oh. Mein. Gott.« Aprils Stimme klang theatralisch gedehnt und erinnerte verdächtig an Janice aus ›Friends‹, dachte Hannah, als sie ihr durch den schmalen Gang zwischen den Tischen hindurch folgte. Hannah betrat zum ersten Mal als Pelham-Studentin die Große Halle. Sie schaute sich staunend und aufgeregt um, betrachtete die alten Deckenbalken hoch über ihr und die dunklen, eichengetäfelten Wände, die mit den Ölporträts früherer Master geschmückt waren. All das hätte überwältigend sein können, doch mit April an ihrer Seite, die sich über die begrenzte Speisenauswahl und die schlechte Akustik beklagte, war es schwer, eingeschüchtert zu sein. April stellte ihr Tablett auf einen der polierten Tische und stemmte die Hände in die Hüften. »Will de Chastaigne, ich fass es nicht.«

Der Junge auf der langen Eichenbank drehte sich um. Das dunkle Haar fiel ihm in die Augen, und Hannah spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. Das Wasserglas auf ihrem Tablett rutschte einen Zentimeter nach links, und sie rückte es hastig zurecht.

»April!« Er stand auf, schwang ein langes Bein lässig über die Bank. Was folgte, war halb Umarmung, halb Wangenkuss und so weit entfernt von allem, was Hannah aus Dodsworth kannte, dass sie ebenso gut auf einem anderen Planeten hätte sein können. »Schön, dich zu sehen! Ich hatte keine Ahnung, dass du herkommst.«

»Tja, so ist Liv. Erzählt nie was! Wie geht es ihr? Ich habe sie seit den Prüfungen nicht gesehen.«

»Oh …« Das sonnengebräunte Gesicht des Jungen färbte sich rot. »Wir, na ja, wir haben uns getrennt. Meine Schuld, wenn ich ehrlich bin. Tut mir leid.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, schnurrte April. Sie fuhr dem Jungen mit der Hand über den Arm und drückte seinen Bizeps auf eine Weise, die gerade noch scherzhaft zu nennen war. »Noch ein Mann, der zu haben ist, kann nicht schaden.«

Hannah trat hinter ihr von einem Fuß auf den anderen. Das Tablett wurde allmählich schwer, ihre Arme taten weh. April musste die Bewegung bemerkt haben, denn sie drehte sich um und zuckte leicht theatralisch zusammen, als hätte sie sich jetzt erst an Hannahs Gegenwart erinnert.

»Gott, wo sind meine Manieren geblieben? Will, das ist Hannah Jones, meine Mitbewohnerin. Sie studiert englische Literatur. Wir haben eine Suite, ob du’s glaubst oder nicht, und ich ahne, dass in diesem Semester alle Partys bei uns stattfinden werden. Hannah, das ist Will de Chastaigne. Ich bin mit seiner Ex zur Schule gegangen. Unsere Internate waren … wie würdest du es nennen?« Sie drehte sich wieder zu Will. »Verschwistert?«

»So in etwa.« Ein Lächeln kräuselte die gebräunte Haut neben Wills Mund. Hannah ertappte sich, wie sie zu ihm hinaufstarrte. Er hatte klare braune Augen, dunkle Brauen und offenbar mehr als einmal die Nase gebrochen. Hannahs Mund war trocken, sie schluckte und überlegte, was sie sagen sollte, doch Will füllte das Schweigen für sie aus. »Ich war in Carne – nur Jungs. Also haben sie Treffen mit Aprils Schule arrangiert, damit wir nicht auf die Uni gehen, ohne einer echten Frau begegnet zu sein.«

»Diese Gefahr bestand bei dir ja nicht, Darling«, sagte April. Sie nahm einen Schluck von der Schokomilch auf ihrem Tablett und glitt ungefragt neben Will auf die Bank.

»Eigentlich habe ich den Platz freigehalten«, sagte er beiläufig, als würde er nicht erwarten, dass sie sich bewegte. Hannah, die immer noch stand, zögerte. Gegenüber war ein Platz frei – aber nur einer. Vielleicht wollte Will ihn für seinen Freund. Sie sah April fragend an, doch die tippte auf ihrem Handy.

Hannah biss sich auf die Lippe und wollte sich abwenden, als Will sagte: »Hey, bleib hier, wir rücken zusammen.«

Wieder schlug ihr Herz einen Purzelbaum. Sie lächelte und versuchte, nicht jämmerlich dankbar auszusehen, als Will seine Tasche auf den Boden stellte und seinen Nachbarn anstieß, damit er Platz machte.

»Setz dich da hin.« Er deutete auf den Platz gegenüber. »Hugh kann sich neben mich und April quetschen.«

»Hast du Hugh gesagt?« April hob den Kopf. Sie hatte einen merkwürdigen Gesichtsausdruck, überrascht, sogar erfreut, aber auch ein bisschen boshaft. Hannah wurde nicht ganz schlau daraus. »Doch nicht etwa … Hugh Bland?«

»Doch, genau der. Wusstest du nicht, dass er sich hier beworben hat?«

»Ich wusste, dass er sich in Oxford bewerben wollte, hatte aber keine Ahnung, dass er sich für Pelham entschieden hat.« April legte ihr Handy weg. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als ein großer, blasser Junge mit dicker Stephen-Hawking-Brille an den Tisch trat. »Sieh an, sieh an … wenn man vom Teufel spricht.«

»April«, sagte der Junge und stolperte plötzlich über seine eigenen Füße, worauf ihm das Tablett entglitt und die Pasta auf dem Boden landete.

Einen Moment lang herrschte Totenstille, alle Köpfe drehten sich um, und dann sagte jemand: »Los, die Show ist vorbei, Leute. Weitergehen.«

Hugh lachte, obwohl es ihm sichtlich peinlich war, und verbeugte sich befangen. Sein Gesicht war scharlachrot, als er die Coladose aufhob und die verstreuten Tortellini aufsammelte.

»Tut mir leid. Bin so ein Trottel.« Seine Stimme klang gedämpft, aber ganz klar nach dem, was Hannahs Klassenkameraden als klassischen Posh Boy bezeichnet hätten. »Tut mir so leid. Gott sei Dank sind sie richtig herum gelandet. Größtenteils.«

Mit glühenden Wangen ließ er sich mit dem ramponierten Pastateller auf den Platz neben Will fallen und griff zur Gabel.

»Iss das nicht, du Idiot«, sagte April ein wenig verächtlich, stand auf und winkte in Richtung Essensausgabe. »Hey, wir brauchen hier mal Hilfe. Und noch einen Teller Tortellini!«

Alle sahen schweigend zu, wie ein Mitarbeiter mit einem Ersatzteller und einem Tuch herüberkam, um die verschüttete Soße aufzuwischen.

»Es tut mir so leid«, sagte Hugh schon wieder, diesmal zu dem Mitarbeiter, der nur nickte und wegging. Hugh sah unglücklich aus, und Hannah hatte plötzlich unendliches Mitleid mit ihm.

»Ihr kennt euch alle?«, fragte sie April und Will, um das Thema zu wechseln. April nickte lächelnd, aber es war Will, der antwortete.

»Hugh und ich kennen uns schon ewig – wir waren zusammen auf der Prep School, und nichts verbindet mehr als eine beschissene Prep School, stimmt’s, Hugh?«

»Stimmt«, sagte er. Die Röte wich aus seinen Wangen, und er beugte sich über das Essen, als wollte er die Blicke der anderen meiden.

»Hugh Bland«, sagte er zu Hannah. »Medizin.«

»Hugh und ich sind sehr gut befreundet«, schnurrte April, streckte die Hand aus und kniff Hugh in die Wange, worauf sich erneut flammende Röte auf seinem Gesicht breitmachte, diesmal bis zu den Ohren. Die Stille war kaum zu ertragen.

»Und was ist mit dir?«, fragte April den Jungen, der neben Hannah saß und gesagt hatte, die Show sei vorbei. Er war breit und stämmig, wirkte südeuropäisch und trug ein Fußballtrikot von Sheffield Wednesday.

»Das ist Ryan Coates«, sagte Will. »Er studiert Wirtschaftswissenschaften, genau wie ich.«

»Tag auch«, sagte Ryan und grinste. Sein Akzent war pures Sheffield, und nach all den vornehmen südenglischen Stimmen klang er geradezu aggressiv nördlich. Hannah spürte eine plötzliche Verbindung, obwohl Dodsworth ganz im Süden lag. Aber hier war jemand, der so normal war wie sie – der nicht aus dem begüterten Privatschulmilieu stammte, das für Will und April selbstverständlich zu sein schien.

»Wir wohnen alle im selben Stock in Cloade’s«, sagte Will.

Cloade’s war der große, moderne Flügel hinten im New Quad, in dem die meisten Erstsemester untergebracht waren. Es war ein eckiger, brutalistischer Betonbau, doch die Zimmer hatten alle ein eigenes Bad und eine Heizung, die ihren Namen verdiente. Trotzdem war Hannah insgeheim dankbar, dass man ihr und April ein malerisches Zimmer im alten Stil zugeteilt hatte. Denn war sie nicht genau dafür nach Oxford gekommen? Sie wollte auf den Spuren von vierhundert Jahren Gelehrsamkeit wandeln – nicht auf den Teppichböden der letzten Jahrzehnte.

»Ich habe durch die Wand gehört, wie er Stone Roses gespielt hat.« Ryan deutete mit der Gabel auf Will. »Ich bin rübergegangen, um Hallo zu sagen, und es stellte sich heraus, dass wir dasselbe studieren. Und er hat mich mit diesem Kerl bekanntgemacht.« Er nickte zu Hugh.

»Will und ich waren zusammen in der Schule«, sagte Hugh und wurde wieder rot. »Oh, warte, das hat Will ja schon erzählt. Tut mir leid. Bin so ein Vollpfosten.«

»Hör nicht auf ihn«, sagte Will mit einem freundschaftlichen Rippenstoß. »Hugh war der Schlaueste in unserem Jahrgang.«

Ryan sprach trotz Tortellini im Mund, seine Miene wirkte belustigt. »Na, wenn das kein Zufall ist. Ich war der Schlaueste in meinem Jahrgang. Sieht aus, als hätten wir was gemeinsam.«

»Wir waren alle die Schlauesten in unserem Jahrgang«, meldete sich das Mädchen neben Ryan. Ihre Stimme war tief, sie klang ziemlich schroff und ungeduldig. »Geht es nicht darum? Sind wir nicht genau deshalb hier?«

»Und wer bist du?«, fragte Ryan und musterte sie von oben bis unten. Sie hatte langes dunkles Haar, ein ernstes, pferdeähnliches Gesicht und trug eine schwarze rechteckige Brille. Sie schaute Ryan ohne Scheu in die Augen, obwohl er sie so unverhohlen taxierte.

»Emily Lippman.« Das Mädchen schob sich eine Gabel Pasta in den Mund, kaute bedächtig und schluckte. »Mathematik. Du kannst mich Emily Lippman nennen.«

»Ich mag dich, Emily Lippman«, sagte Ryan mit breitem Grinsen, und sie zog eine Augenbraue hoch.

»Was soll ich dazu sagen?«

»Was immer du willst. Nichts, wenn du nicht willst.« Er grinste immer noch. Emily verdrehte die Augen.

»Wie dem auch sei«, sagte April träge, »es ist nicht wahr.«

»Was ist nicht wahr?«, fragte Hugh.

»Dass ich die Schlaueste in unserem Jahrgang war. Das war ich definitiv nicht.«

»Wie bist du dann hier reingekommen?«, wollte Emily wissen. Es sollte grob klingen, tat es aus ihrem Mund aber nicht. Nur sehr direkt.

»Dank meines angeborenen Charmes, nehme ich an«, sagte April und lächelte, wobei die tiefen, weichen Grübchen in ihre goldenen Wangen traten. »Oder weil mein Vater Geld hat.«

Langes Schweigen, als wüsste niemand so recht, wie es gemeint war. Dann stieß Ryan ein kurzes, bellendes Lachen aus, als hätte April einen Witz erzählt.

»Schön für dich«, sagte Emily. »Also beides.« Sie schob sich den letzten Bissen Pasta in den Mund und stand auf. »Was zum Teufel muss eine Frau hier tun, um einen Drink zu bekommen?«

»Wir könnten in diesen Common Room gehen«, sagte Ryan und erhob sich ebenfalls. Hannah sah, dass er viel größer war, als sie gedacht hatte. »Wie heißt der doch gleich, JCB?«

»JCR«, sagte April. Ihre Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, das, wie Hannah allmählich erkannte, typisch April war – verführerisch und verrucht zugleich. »Junior Common Room, was du wüsstest, wenn du das Handbuch gelesen hättest. Und es gibt auch eine Bar neben der Großen Halle. Aber was soll’s. Wir sind ja keine Commons. Und wer braucht schon eine Bar, wenn man eine absolut prächtige Suite und einen Kühlschrank voller Champagner hat?«

Sie schob ihren noch vollen Teller Tortellini zur Seite, blickte in die Runde und zog einen Zimmerschlüssel aus der Tasche. Sie ließ ihn am Finger baumeln und hob dabei eine feine dunkle Augenbraue.

»Hab ich recht?«

DANACH

Die Vergangenheit steht zwischen ihnen, als Will das Abendessen zubereitet, Auberginen und Chorizo in einer Stille schneidet, die durch das Geplapper des Radio-4-Moderators noch bedrückender wirkt. Hannah überlegt vergeblich, was sie sagen soll, und zieht sich schließlich ins Wohnzimmer zurück, holt den Laptop heraus und öffnet das Mailprogramm.

Nach dem Anruf ihrer Mutter hat sie panisch die Gmail-App vom Handy gelöscht, weil sie auf dem Heimweg nicht von Benachrichtigungstönen belästigt werden wollte. Sie fürchtet sich vor dem, was sie erwartet, weiß aber, dass es noch schlimmer wäre, sich dem nicht zu stellen. Sie wird im Bett liegen, sich fragen, was in ihrem Posteingang lauert, und irgendwann das Handy einschalten. Und was immer sie dann vorfindet – eine neue Enthüllung, eine verlockende Spur oder wieder einen Manipulationsversuch, um sie zu einer Antwort zu bewegen –, wird ihren Puls zum Rasen bringen und das Adrenalin in die Höhe treiben und jeden Gedanken an Schlaf in weite Ferne rücken. Während ihr übel ist vor Angst, wird sie die ganze Nacht wach liegen und in krankhafter Panik Aprils Namen googeln.

Sie weiß, so wird es laufen, denn sie hat es schon einmal erlebt. In den ersten Monaten und Jahren nach Aprils Tod erhielt sie täglich eine wahre Flut zudringlicher Kommentare und Anfragen. Die landesweite Besessenheit, die Aprils Tod ausgelöst hatte, empfand sie als schockierend und verletzend.

Nach dem Prozess waren die Mails weniger geworden, am Ende kam nur noch sporadisch die ein oder andere. Es war ihr und Will gelungen, im Alltagsleben unterzutauchen und sich mit beruhigend langweiligen Details wie Buchhaltungskursen, Hauskauf, Geldsorgen und was sonst noch dazugehört, abzulenken.

Seit sie den Festnetzanschluss gekündigt haben und Hannah eine neue Handynummer hat, wird sie nur selten und fast nie telefonisch kontaktiert. Es kommt aber noch vor: sobald John Nevilles Name in der Presse auftaucht, Nevilles Rechtsbeistand Berufung einlegt oder jemand ein Buch veröffentlicht oder einen neuen Podcast startet. Und sie hat lange gebraucht, um zu lernen, dass Vermeidung hier nicht die richtige Strategie ist.

Nein, es ist besser, es jetzt hinter sich zu bringen, damit sie sich beruhigt hat, wenn sie schlafen geht.

Zu ihrer Überraschung und Erleichterung hat sie nur drei ungelesene Mails. Eine ist von ihrer Mutter, von heute Nachmittag, Betreff Ruf mich an. Die hatte sie vor dem Telefonat geschrieben, also löscht Hannah sie.

Die zweite ist eine Mahnung der Bibliothek, die sie als ungelesen markiert.

Die dritte kommt von einer ihr unbekannten Mailadresse und hat den Betreff Eine Frage.

Ihr Herzschlag beschleunigt sich, noch bevor sie die Mail angeklickt hat, und der erste Satz bestätigt ihre Befürchtungen.

Liebe Hannah, wir sind uns noch nie begegnet, daher erlauben Sie mir, mich vorzustellen. Mein Name ist Geraint Williams, und ich bin Reporter bei der Daily –

Das reicht. Mehr braucht sie nicht zu lesen. Sie nimmt die Brille ab, lässt das Display vor ihren Augen verschwimmen, klickt auf »Im Ordner Anfragen ablegen« und sieht zu, wie die Mail verschwindet.

Danach sitzt sie da, die Brille in der einen und das Handy in der anderen Hand, und starrt auf den leeren Bildschirm. Ihre Finger sind plötzlich eiskalt, und sie zieht den Pullover über die Hände, um sie zu wärmen. Sie spürt, wie ihr Puls unangenehm schnell und flach wird, und fragt sich seltsam distanziert, was der Stress wohl für das Baby bedeuten mag. Sie sind sehr zäh. Die Stimme ihrer Mutter erklingt in ihrem Kopf, stark und beruhigend. Frauen bekommen Kinder mitten in Kriegsgebieten, Herrgott noch mal.

»Alles in Ordnung?«

Die Stimme kommt von hinten, und Hannah zuckt zusammen, noch bevor sie Wills Gegenwart registriert. Er quetscht sich neben ihr in den Sessel, legt die Arme um sie, und sie rutscht auf seinen Schoß.

»Es tut mir leid«, sagt er leise. »Ich wollte nicht so steif sein. Ich musste es – nur verarbeiten.«

Sie lehnt sich an seine Brust und spürt, wie sich die Muskeln in seinen Armen anspannen, als er sich an sie schmiegt. Seine Stärke und sein Gewicht haben etwas unglaublich Beruhigendes, auch wenn es völlig irrational ist. Es sollte keine Rolle spielen, dass Will größer, breiter und stärker ist als sie – sie hatte John Neville schon vor dem Anruf ihrer Mutter nicht mehr als körperliche Bedrohung wahrgenommen –, doch irgendwie spielt es eine Rolle, und seine physische Präsenz ist tröstlicher als alle beruhigenden Worte.

Sie rollt sich auf seinem Schoß zusammen, die Stirn an seiner Brust, spürt seinen Atem auf ihrem Scheitel und seine Wärme, die ihre immer noch halb erfrorenen Finger wärmt. Dann sagt er, als könnte er Gedanken lesen: »Gott, deine Hände sind wie Eis. Komm her.«

Er nimmt sie und schiebt sie entschlossen unter sein Hemd, schaudert kurz, als ihre kalten Finger die warme, nackte Haut über seinen Rippen berühren, entspannt sich aber, als das erste Frösteln nachlässt.

»Wie kannst du nur immer so heiß sein?«, fragt sie mit einem zittrigen Lachen, und er legt das Kinn auf ihren Kopf und streicht ihr über das Haar.

»Das weiß ich nicht. Vielleicht verdanke ich es den Jahren mit der miesen Zentralheizung in Carne. Oh, Liebes, es tut mir wirklich leid, dass das jetzt passieren musste. Ich weiß, wie schwer es für dich ist.«

Sie nickt, drückt die Stirn an sein Schlüsselbein und starrt in die warme Dunkelheit zwischen ihren Körpern.

Er weiß es. Vielleicht ist er der einzige Mensch, der es wirklich weiß, der den komplizierten Strudel der Gefühle versteht, den Nevilles Tod in ihr ausgelöst hat.

Denn oberflächlich betrachtet sollte dies eine gute Nachricht sein. John Neville ist weg – für immer. Und auf lange Sicht ist das wohl gut so. Kurzfristig wird es jedoch großes Interesse erregen und die hart erkämpfte Illusion von Normalität zerstören, ausgerechnet jetzt. Sie und Will sollten sich auf das neue Leben konzentrieren, das sie in die Welt bringen, statt an das andere zu denken, dessen Auslöschung sie erleben mussten. Sie erinnert sich an die Tage und Monate nach Aprils Tod, an das gleißende Scheinwerferlicht, das die Medien auf sie richteten, an das Gefühl, dass etwas Furchtbares geschehen war. Sie hatte sich einfach nur im Schatten verstecken und hin und her wiegen wollen, um das Gesehene zu verarbeiten. Doch wo immer sie Zuflucht gesucht hatte, der Lichtkegel spürte sie gnadenlos auf. Ms. Jones, einen kurzen Kommentar, bitte! Hannah, können wir ein Interview haben? Nur fünf Minuten, versprochen.

Zehn lange Jahre, seit dem Prozess, hat sie sich vor dem Scheinwerferlicht versteckt. Seit zehn Jahren ist Aprils Tod das Erste, woran sie beim Aufwachen, und das Letzte, woran sie beim Einschlafen denkt. Und sie weiß, dass es Will genauso geht. Ihre Beziehung stand immer im Schatten der Erinnerung an April. Aber in den letzten Monaten, mit dem Baby und allem anderen, hat sie sich erlaubt … nicht zu vergessen, das könnte sie niemals. Aber es schien, als wäre Aprils Tod nicht mehr das bestimmende Element in ihrem Leben. Und obwohl sie und Will nie darüber gesprochen haben, ist sie sich ziemlich sicher, dass es ihm ähnlich gegangen ist.

Doch jetzt, nach Nevilles Tod und angesichts des unvermeidlichen Medienrummels, werden sie erneut die Handynummern ändern und ständig ihren Posteingang überprüfen müssen. Hannah wird sich dabei ertappen, wie sie zweimal hinschaut, wenn Kunden in die Buchhandlung kommen. Bei Carter and Price, der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, in der Will Juniorpartner ist, wird man der neuen Empfangschefin sagen, was passiert ist, und sie anweisen, kritisch nachzufragen, bevor sie Anrufe durchstellt und Termine vereinbart.

Auch für Will war es schwer. In mancher Hinsicht noch schwerer, obwohl er das nie zugeben würde. Aber es ist kein Zufall, dass er ihr nach Schottland gefolgt ist. In ein Land mit eigenem Rechtssystem und eigenen Zeitungen, an einen Ort, der so weit wie irgend möglich von Oxford entfernt ist, wenn man nicht gleich das Vereinigte Königreich verlassen will. Sie erinnert sich, wie er an jenem grauen Septembertag vor acht Jahren in die Buchhandlung gekommen war. Sie half gerade einem Kunden bei der Auswahl eines Geburtstagsgeschenks und diskutierte über die Vorzüge des neuen Michael Palin gegenüber dem neuesten Bill Bryson. Ein Geräusch oder eine Bewegung hinter ihr hatte sie veranlasst, sich umzudrehen, und da war er.

Im ersten Moment war sie sprachlos gewesen. Sie hatte einfach nur dagestanden, während der Kunde fröhlich über Rick Stein plapperte – und ihr Herz hatte vor Freude ganz heftig geschlagen.

Drei Monate später waren sie zusammengezogen.

Zwei Jahre später hatten sie geheiratet.

Es ist seltsam – Will ist das Beste, was ihr je passiert ist, und doch sind es die schlimmsten Ereignisse ihres Lebens, die sie miteinander verbinden. Das sollte eigentlich nicht funktionieren. Tut es aber. Ohne ihn hätte sie das nicht überlebt, das weiß sie.

Sie hebt den Kopf, sieht ihm ins Gesicht und streicht ihm mit den Fingern über die Wange, will seine eigenen Gefühle hinter der Sorge um sie erkennen.

»Geht es dir gut?«

»Es geht mir gut«, sagt er reflexartig und dann: »Ich meine – nicht wirklich gut.« Er kämpft, das kann sie sehen. Es war immer ein Streitpunkt in ihrer Beziehung: seine Neigung, sich abzukapseln und zu tun, als wäre alles in Ordnung, wenn er kurz vor dem Zusammenbruch steht. Je schlechter es läuft, je mehr Stress bei der Arbeit, je mehr Geldsorgen er hat, desto weniger sagt er. Rede mit mir!