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Als Arne Steenborg Kanzlerkandidat wird, erklärt er Großbanken, Steuerflüchtlingen und Spekulanten den Krieg. Mit dem Versprechen, für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, zieht er in den Wahlkampf. Seine direkte, manchmal impulsive Art beschert ihm auch in den eigenen Reihen nicht nur Freunde. Mächtige Gegner stellen sich ihm in den Weg, allen voran Albert Morsbach, Vorstandsvorsitzender der größten deutschen Bank. Bald beginnt eine schmutzige Medienkampagne gegen Steenborg und seine Frau Gesa. Der Kandidat gerät in ein Netz aus Intrigen und Manipulationen. Morsbach scheut vor nichts zurück, um ihn zu Fall zu bringen. Welche Rolle spielt die betörende Judith, die als Praktikantin in der Wahlkampfzentrale eingestellt wird? Wer hält am Ende noch zu Steenborg? Wem kann er trauen? Hat er eine Chance im Kampf gegen das Establishment? Ira Ebner ist selbst politisch aktiv und mit dem Geschehen hinter den Kulissen vertraut. Über die Jahre sammelte sie Erfahrungen und erhielt viele Einblicke, die in den Roman eingeflossen sind. Wie in ihren früheren Werken gelingt es der Autorin, mit starken Figuren Stimmungen zu erzeugen und Entwicklungen zu inszenieren, die den Leser im Bann halten. Was sich auftut, ist ein Blick in die Abgründe der menschlichen Psyche und der Politik.
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Seitenzahl: 539
Veröffentlichungsjahr: 2021
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IRA EBNER
DAS DEUTSCHE SPIEL
Roman
Impressum
Bibliografische Informatiton durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://www.d-nb.deabrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-157-3
E-Book-ISBN: 978-3-96752-657-8
Copyright (2020) XOXO Verlag
Umschlaggestaltung und Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag
unter Verwendung folgender Bilder
Shutterstock-Nummer: 419834089, 754101370
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
Lektorat: Carolin Olivares
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149
28237 Bremen
Alle Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Dieses Buch ist ein Roman, ein fiktionales Werk, das seinen eigenen Regeln und seiner eigenen Logik folgt. Das Beschriebene hat sich so nicht in der Realität ereignet. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen waren aber aufgrund der Sache während des Schreibprozesses nicht immer vermeidbar. Sie sind nicht beabsichtigt, aber von der im Grundgesetz geschützten Freiheit der Kunst umfasst.
Playlist
Casta Diva
Maria Callas
Lila Wolken
Marteria, Miss Platnum & Yasha
Video Games
Lana Del Rey
Skyfall
Adele
Killing Me Softly
Roberta Flack
You Must Love Me (Instrumental)
Aus dem Musical Evita
Just Give Me A Reason
Pink feat. Nate Ruess
Blurred Lines
Robin Thicke
Suit & Tie
Justin Timberlake
On A Night Like This
Lady Antebellum
Mad World
Gary Jules & Michael Andrews
New York
»Die Finanzkrise ist keineswegs überwunden, sondern sie schläft nur.« Damit beendete Arne Steenborg seinen Vortrag in fließendem Englisch.
Vor ihm saßen die Damen in Kostümen, die Herren in Anzügen. Der Saal, in den eine der großen amerikanischen Banken zum Vortrag des ehemaligen deutschen Ministers eingeladen hatte, war bis auf den letzten Platz gefüllt. Sie hatten ihm bis hierhin zugehört, dem Mister Chivalry, dem sein Ruf als Retter in der Krise vorausgeeilt war. Er hatte von den Gefahren der Spekulationen und dem Handel mit Schrottpapieren gesprochen, und davon, dass weder Banken noch Börsen aus den Kursabstürzen vor einigen Jahren gelernt hätten. Hier, in New York, dem größten Handelsplatz, vor diesem Publikum, hatte er Zusammenhänge erklärt und begründet, warum Steuern auf Wertpapierhandel und das Trennen von Bankgeschäften nötig seien.
Das Stehen strengte ihn an, aber er kam zum Ende seines Vortrags. Er hielt einen Atemzug lang inne und rückte die Brille zurecht. Im Saal regten sich die ersten Hände, um ihm zu applaudieren. Doch der Beifall käme zu früh.
»Any questions, ladies and gentlemen?«
Arme streckten in die Höhe. Arne rief einen nach dem anderen auf. Einer nach dem anderen erhob sich und stellte seine Frage an den Mann aus Deutschland, der den Kapitalismus so klar und logisch anfocht. Arne antwortete freundlich, aber mit der Flapsigkeit, die ihm in seinen Ministerzeiten als Impertinenz ausgelegt worden war. Als sich niemand mehr meldete, nahm er sein Skript und trat einen Schritt zurück. »Thank you, you’ve been a wonderful audience.«
Applaus. Applaus. Der Beifall dauerte an. Arne verweilte auf dem Podium und trank das Wasserglas leer. Ein Blick ins Publikum, damit sie wussten, dass er sein Kompliment ernst meinte. Doch dann standen sie auf. Standing Ovations. Sie überwältigten ihn. Mit einem Mal vergrößerte sich das Podium. Die Dimensionen schienen sich auszudehnen. Sein Mund weitete sich zu einem Lächeln. »Thank you, thank you!«
New Yorks Lärm stieg aus der Straßenschlucht herauf und drang durch die geöffnete Balkontür. In für sie schwindelnder Höhe. Gesa Steenborg packte die ersten Sachen in den Koffer. Der Flug ging am nächsten Vormittag. Sie legte die Geschenke für Tochter und Sohn zwischen einen Rock und eine Strickjacke. Die Freiheitsstatue, die sie in einem kleinen Laden gekauft hatte, stand auf dem Tisch. Das Nachmittagslicht streifte das Dach des gegenüberliegenden Wolkenkratzers und brach sich im Glas der Vase. Auf der glatten Tischoberfläche schimmerte ein kleiner Regenbogen. Der freundliche Zimmerservice hatte den Raum mit frischen Blumen bedacht.
Ein Klopfen an der Tür. Gesa wandte sich um und öffnete. Arne kam herein.
»Wie war es?«, fragte sie.
»Es gab viel Beifall. Mein Vortrag war bis auf den letzten Platz ausgebucht.« Er zog sein Jackett aus und löste die Krawatte, legte sie zusammen und neben die Vase. Der kleine Regenbogen durchwirkte die graue Seide. »Miss Liberty.« Er nahm die Miniatur, begutachtete sie und sah seine Frau an, als fragte er, ob sie die Figur für ihn gekauft hätte. Oder brachte sie nur jemand anderem ein Souvenir mit, weil man sie darum gebeten hatte?
»Freiheit und ein neues Land mit Wohlstand für alle gehören zu den schönsten Versprechen, die eine Frau geben kann.« An den Tisch gelehnt erwiderte sie seinen Blick.
»Sag nur, du warst auf eigene Faust in der Stadt unterwegs.«
Sie nickte. Er gab ihr die Freiheitsstatue zurück.
»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komme schon zurecht.«
»Es ist heute sehr warm.« Arne suchte ihren Blick. »Wie wäre es mit dem Central Park? Du wolltest dorthin, sollte die Zeit dafür reichen.«
Gesa packte die Freiheitsstatue in ihren Koffer.
Über den Baumwipfeln und den dahinter aufragenden Wolkenkratzern strahlte der Septemberhimmel in tiefem Blau. Nebeneinander gingen Gesa und Arne an den Grünflächen vorbei, wo sich andere Menschen zu einem Nachmittagspicknick trafen. An einem Stand kaufte Gesa eine Tüte Erdnüsse. Er betrachtete die Büsche und die Blumenbeete und die Felsen, die diesem Park etwas immer schon Dagewesenes verliehen. Der See glitzerte in der Sonne.
Arne setzte sich auf eine Bank und erwartete, dass sie dazukam. Gesa setzte sich neben ihn, legte die Papiertüte auf ihrem Schoß ab. Spatzen und Finken flatterten herbei und sprangen im Staub umher.
»So könnte es immer sein«, sagte sie. »So wie die Felsen, die so aussehen, als seien sie ein Teil dieses Parks, dieser Stadt, dieses Tages und darüber hinaus. Es kommt mir so unwirklich vor, dass wir morgen schon wieder nach Deutschland zurückfliegen. Ich denke mir, wir sind hier, und alles andere ist nicht echt.«
»Wir sind hier«, wiederholte er ihre Worte. Er sah auf den See, auf die Spiegelbilder im Wasser, die das Glitzern der Sonne und die Bewegung der Luft brachen. Während er seine Gedanken kommen und wieder ziehen ließ, kaute er auf einer Erdnuss. Nur ein Gedanke blieb, und er schickte ihn nicht fort zu den anderen, nicht zum Glänzen der Sonne und auch nicht zum Wind auf dem Wasser. »Das Sommertheater ist weit weg«, fuhr Arne fort. »Entweder ist es zu Ende, weil andere Themen die Schlagzeilen und den politischen Betrieb in Berlin bestimmen oder es erweist sich als mehr.«
»Du meinst die Kandidatenfrage. Die Presse hat für den Sommer ein Thema gefunden, das unterschwellig und doch permanent in den Zeitungen und Fernsehsendungen auftaucht.«
Zwei Polizisten ritten vorbei und blickten zu ihnen herüber. Die Hufe der Pferde schlugen in langsamem Takt auf. Als sie sich weiterbewegten, wanderten ihre Schatten hinter ihnen her, bis sie unter den ausladenden Ästen einer Buche verschwanden.
»Obwohl der Vorsitzende immer wieder beteuert hat, dass sich die Frage frühestens zur Jahreswende stellen wird«, sagte Arne.
»Angenommen, sie fragen dich, ob du es machst.« Gesa sah ihm tief in die Augen.
Er kannte diesen Blick und wusste, sie würde zusagen, fiele diese Frage jemals an sie. Freiheit und ein neues Land mit Wohlstand für alle gehören zu den schönsten Versprechen, die eine Frau geben kann. Aber die Frage würde nie an sie fallen. Und nicht sie würde dieses Versprechen einlösen, sondern …?
»Der Vorsitzende hat das Vorrecht, dann der Fraktionsvorsitzende«, antwortete er.
»Wenn sie dich fragen, wirst du ablehnen?«, insistierte sie. »Unser Altkanzler hat dich dem Land empfohlen, denn du kannst es.«
Er wandte sich ihr zu. Ihr Blick wurde groß und hungrig. Doch sie schien ihn nicht zu verstehen.
»Mi Deern, mein Mädchen.« So nannte er sie manchmal – damals, einst und dann. »Ich war Finanzminister. Ich bin nur noch Bundestagsabgeordneter. Eigentlich habe ich vom Berliner Zirkus genug. Ich könnte in der Rolle des Elder Statesman bleiben und mit meinen Vorträgen weiter um die Welt reisen. Aber was reden wir über Dinge, die nicht spruchreif sind?«
Der Wind strich über das Wasser und die Sonnenstrahlen ließen es blinken. Über den Bäumen und den dahinter aufstrebenden Wolkenkratzern strahlte ein Septemberhimmel, wie er blauer und friedlicher nicht sein konnte.
I. Die Kunst des Möglichen
Hamburg. Arne Steenborg drückte die Zigarette aus. Der Qualm kringelte zum Fenster. Die Sonne durchdrang den Morgennebel. Auf dem Tellerrand der Klecks Erdbeermarmelade.
»Ich wünsche dir gutes Gelingen«, sagte Gesa.
»Jetzt gibt’s wohl kein Zurück mehr.«, entgegnete er.
»Nein.« Sie strich über die Tischdecke und lächelte versonnen ins Nichts.
Er betrachtete sie. Ihr alter Traum kehrt zurück. Der Traum, an meiner Stelle zu stehen. Sie füllt kein Amt mehr aus. Dennoch hat sie ihre Rolle gefunden und angenommen.
Ihre Hand berührte seine. »Du weißt, mit wem du es aufnimmst«, sagte sie. Ihr Lächeln verwandelte sich in eine ernste, schmale Linie. »Was für ein Chaos, so über Nacht«, fuhr sie fort. »Da ruft dich unser Vorsitzender an und bittet dich, zu kandidieren. Einige in der Partei werden dich nicht unterstützen. Sie werden sagen, du und ihr Programm, das geht nie zusammen. Die Presse wird schreiben, dass dich der Altkanzler der Partei aufgezwungen hat, weil er dich will. Lass dich auf nichts mit denen ein.«
Kopfschüttelnd stand Arne auf. Es war so weit. Heute und kein anderer Tag. Er blickte aus dem Fenster. Auf der Straße, hinter dem Zaun, wartete ein schwarzer A8. Der Fahrer war zeitig gekommen.
Im Flur lag der altersschwache Hund. Hier, wo antikes Silber auf einer Kommode stand, Fotografien neben Gemälden von stolzen Dreimastern hingen – Familienstücke. Arne stieg über den Hund. Vor dem Spiegel band er die Krawatte. Heute rot.
»Du nimmst es mit der Kanzlerin auf«, fuhr Gesa fort. »Sie ist unangefochten Nummer Eins in den Umfragen …«
»Die Menschen haben nicht vergessen, dass ich als Minister ihre Ersparnisse gerettet habe«, erklärte er. »Die Kanzlerin wusste, was sie an mir hatte. Denkst du, ich kneife jetzt? Jetzt, nachdem mein Name längst durchgesickert ist? Und die keinen anderen haben? Es gibt noch das Papier.« Was ging nur in ihrem Kopf vor? »Ich habe keine Zeit, die Debatte weiterzuführen. Ich muss zum Flughafen.«
Als Arne über ihn stieg, um den Mantel zu holen, hob der alte Hund den Kopf. Gesa stand ihm gegenüber, atmete aus. Sie umfasste sein Kinn und gab ihm einen Abschiedskuss. »Ruf mich an, bevor ich‘s aus der Tagesschau erfahre«, bat sie.
Das Schnappen der Tür schnitt ihre Worte ab. Vor dem Haus leuchteten die Astern in prächtigen Farben. Frühes Herbstlaub bedeckte den Gehsteig jenseits des Zauns. Die Häuser in dieser Straße hatten gepflegte Vorgärten mit Kieswegen, Rosenbüschen, Rhododendren und der letzten Blütenpracht des Jahres. In der Hamburger Luft lag entfernter Salzgeruch.
Der Fahrer wartete bereits auf ihn. Wieder einmal lief Lila Wolken im Autoradio. Komm mir nicht mit großen Namen, die du kennst. Der Mann legte den Morgen unter den Sitz, stieg aus und öffnete die Fondtür.
Arne Steenborg, der künftige Kanzlerkandidat der ältesten Partei dieses Landes stieg ein. Er glaubte nicht ans Glück, an Gottes Hand oder an den Zufall. Er glaubte an sein Schicksal. Das Schicksal war alles.
»Sie können das«, wiederholte sich der Altkanzler in Arnes Erinnerung.
Und machte eine Pause. Seine Mentholzigarette qualmte im Aschenbecher aus Bleikristall. Er steckte sich die nächste an, inhalierte den Rauch, blies ihn aus.
Wahrscheinlich überlegt er, ob er seine weiße Königin gegen mich ausspielen soll, dachte Arne. Er kannte ihn gut.
Die knochigen Finger des Altkanzlers umschlossen stattdessen die Haube des weißen Läufers. »Wenn ich der Partei sage, dass Sie der Richtige dafür sind, wird sie es schweigend schlucken. Wenn ich dem Land sage, Sie können das, sind Sie es so gut wie.«
Arne sah voraus, dass der Altkanzler den schwarzen Läufer werfen wollte. Der weiße Ritter und der schwarze Ritter. Arne hatte einen Fehler gemacht. Seine Gedanken waren abgeschweift. Was wäre wenn? – Der Rand des Bretts schnitt dem weißen Läufer den Weg ab. Er konnte seinen Fehler noch einmal gut machen.
»Sie haben die Krise von Deutschland abgewendet.« Rauch quoll aus dem Mund des alten Mannes. »Dank Ihrer besonnenen Reaktion. Kurzarbeit, Investitionen. So etwas vergessen die Menschen nicht. Wer so handelt, kann auch regieren.«
Arne beugte sich vor und stützte das Kinn in die Hände. »Soll ich sagen, dass ich es mache?«, entgegnete er. »Der Vorsitzende hat die erste Option auf die Kanzlerkandidatur, der Fraktionsvorsitzende die zweite.«
»Nein. Wir machen das geschickter.«
Der weiße Ritter lag einen weiteren Zug voraus. Arne griff nach seinen Zigaretten und lehnte sich zurück. Sollte der schwarze Ritter die weiße Königin stürzen … das würde einige geschickte Züge erfordern. Er erwartete nicht, dass die Wahl auf ihn fiel.
Auf der Stadtautobahn zog der Fahrer auf die linke Spur. Arne hielt sein Redemanuskript auf dem Schoß fest – gestern Abend schnell mit Gesa geschrieben. Lärmschutzwände flogen an ihm vorbei. Das flache Land öffnete sich, wo Hamburgs Peripherie ausdünnte. Die Dunstschleier verwandelten sich in von der Sonne beschienene Wolken. Ein Flugzeug stieg auf. Ein klarer, milder Herbsttag breitete sich vor ihm aus.
*
Berlin. Andrea Menzel saß an ihrem Arbeitstisch und unterschrieb die Briefe aus ihrer Postmappe. Sie war die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Mit der linken Hand stützte sie den Saffianledereinband, mit der rechten führte sie die Füllerfeder. Neben ihr auf der Fensterbank reihten sich üppig blühende Orchideen in Blumentöpfen. Vom achten Stock des Kanzleramts reichte der Blick weit über den Tiergarten. Dort verfärbten sich die Baumkronen. Ein Schwarm Nebelkrähen flog darüber hinweg.
Das Läuten ihres Tischapparats unterbrach Andrea. Das Display zeigte ihr die Nummer und den Namen des Anrufers: Mareen Jung, ihre Beraterin. Sie legte den Füller ab und griff nach dem Telefon. »Ja, bitte?«, meldete sie sich.
»Störe ich Sie, Frau Bundeskanzler?«, fragte Mareen.
»Nein. Was gibt es?« Andrea hörte sie am anderen Ende der Verbindung atmen.
Eine endlose Sekunde verstrich, bis Mareen ihr berichtete: »Die SPD hat ihren Kandidaten. Die Pressekonferenz findet heute erst noch statt, aber …«
»Wer ist es?«
»Ihr früherer Finanzminister. Sind Sie überrascht?«
Jetzt schwieg Andrea. Während sie überlegte, schraubte sie die Kappe des Füllers auf und zu. Mit der Linken gelang es ihr nicht so leicht wie mit der Rechten. Die Unbekannte X in ihrer Gleichung begann sich aufzulösen, nachdem die Unbekannte Y weggefallen war.
»Wenig«, antwortete sie. »Dass es Gerhard Engels macht, war unwahrscheinlich. Also blieben nur noch zwei. Mareen, woher wissen Sie, dass er es ist?«
»Ein Journalist des Nachrichtenmagazins Panorama hat mich angerufen.«
Andrea drückte die Kappe fest auf den Füller und umschloss ihn. Sie hielt den Atem an. Arne Steenborg, der ehemalige Minister. Der, dem die Menschen bei seinen Vorträgen an den Lippen hingen. »Wie verlässlich sind diese Informationen?«, fragte sie.
»Absolut verlässlich, Frau Bundeskanzler. Soll ich die Presse über seine Honorare informieren? Er war kürzlich in New York, hat einen Vortrag gehalten. Der Journalist nannte mir die Summe, die ihm gezahlt wurde.«
Andrea überlegte. »Tun Sie das, Mareen«, sagte sie. »Vielen Dank.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, entspannte sich ihre Hand und ließ den Füller los. Er rollte über die Schreibunterlage. Ihre Gedanken klärten sich. Sie nahm den Hörer des Tischapparats wieder ab und wählte die Nummer ihres Stellvertreters, des Stellvertreters an der Spitze der Christlich Demokratischen Union.
*
In ihrem Büro im dritten Stock des Willy-Brandt-Hauses tippte Vera Winter Zahlen in ihren Taschenrechner. In der Kampa. Sie war für das Budget verantwortlich, ihr großer Job, für den sie aus Bayern nach Berlin gekommen war, ihre Berufung. Seit zwanzig Jahren war sie in der Sozialdemokratischen Partei, länger, als sie verheiratet war.
Vera blickte vom Display des Taschenrechners und der Summe auf, die sie verwaltete.
Mathias Meinert, der Leiter der Kampa, lief an ihrer angelehnten Tür vorbei. Er kehrte um und rief: »Alles klar bei dir?«
Sie hörte dieselbe Stimme wie am Vorabend. Am runden Tisch hatte Mathias die Mannschaft eingeschworen. Ein Schweißfleck hatte sich unter dem Hemd auf seiner Brust abgezeichnet. Das Schnippen des Kugelschreibers in der Hand der Generalsekretärin. Ich kann euch jetzt schon verraten, wer der Kandidat wird. Im Vertrauen. Alles, was im Willy-Brandt-Haus geschieht, bleibt im Willy-Brandt-Haus. So war es immer. Arne wird es. Arne Steenborg, hatte er gesagt.
»Ja«, antwortete Vera. »Wir sind aufgestellt.«
»Mit dem Kandidaten oder mit den Finanzen für die Kampagne?«
»Mit beidem. Eine Mehrheit für breite gesellschaftliche Themen finden, nicht wahr?«
»Das ist gut, Vera.«
Drei Stockwerke unter Vera begann die Pressekonferenz. Sie schaute sich um. Das Catering wurde aufgebaut. Sekt und Fingerfood für alle, wenn sie den designierten Kandidaten feierten.
Die Newsticker liefen heiß, als Arne an Willy Brandt in Bronze vorbei aufs Rednerpult vor der purpurfarbenen Wand zuging. Gerhard Engels und Werner Althoff, der Fraktionsvorsitzende, folgten Arne mit Abstand. Blitzlichter und Kameras. Gezückte Stifte und Stille. Auf dem Pult stand ein Glas Wasser. Arne schob die Hände in die Hosentaschen, kniff die Augen zusammen und reckte das Kinn. Er begann, sich an die neue Rolle zu gewöhnen. Ihm wäre die direkte Wahl auf einem Parteitag lieber gewesen. Davon war er ausgegangen. Er wusste, die Presse lauerte darauf, dass er eine Schwäche zeigte. Gerade deshalb zeigte er Entschlossenheit.
Unter den Presseleuten saß Julian Markowski, freier Journalist beim Berliner Morgen. Ein Blick von ihm zu Arne. Sie kannten sich. Julian hatte immer wieder Interviews mit ihm geführt und über ihn geschrieben. Ein kräftiger blauer Punkt wartete auf Julians Notizblock darauf, zum ersten Wort vollendet zu werden.
»Es wird Sie wenig verwundern, dass ich vor Ihnen stehe«, sagte Arne. Lachen. Es kehrte zu ihm zurück und steckte ihn an. Er holte Luft und wurde wieder ernst.
In Gerhards und Werners Gesichtern regte sich kein Muskel. Arne nahm die Hände aus den Hosentaschen und umfasste das Pult. Das Wasser im Glas schlug Wellen, kleine Kreise wurden groß.
»Nach vorheriger Beratung im Parteivorstand wurde ich gebeten, die Kanzlerkandidatur anzunehmen. Ich bewerbe mich, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden. Die Politik dieses Landes muss wieder von Werten und Haltung bestimmt werden, nicht von Alternativlosigkeit. Wir dürfen nicht tatenlos zusehen, wie Banken und die Wirtschaft mit unserer Demokratie und den Errungenschaften unseres Sozialstaats spekulieren und diese aushöhlen.
Zu den Werten, die ich niemals zur Disposition stelle, zählen Solidarität und Gerechtigkeit. Durch unser Land zieht sich eine Kluft zwischen denen, die durch Begünstigungen und Steuerschlupflöcher immer reicher werden, und denen, deren Lohn am Ende des Monats kaum noch zum Leben ausreicht. Diese Kluft will ich überwinden.« Seine Hand fasste in die Luft, als wollte er eine Lücke schließen. »Ich trete an, um den Stillstand zu beenden und ein besseres Land zu schaffen, die Macht der Banken zu brechen und die Umverteilung von oben nach unten umzukehren«, versicherte er. Die Hand ruhte auf dem Pult. »Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie Milliarden verzockt werden, wie auf unseren Staat und unsere Währung spekuliert wird. Nein, ich werde handeln. Ich bin bereit für das Votum, das mir der Parteitag geben möge.«
Arne blickte in den Saal. Tausende Blitzlichter und Applaus. Allmählich freundete er sich damit wieder an. Mit einer Handbewegung dirigierte er die Journalisten. Der letzte Satz klang noch lange in ihm nach. Er spürte, wie durstig er war und trank das Wasser. Gerhard und Werner badeten im Licht und im Beifall. Arne wandte sich vom Pult ab und stellte sich zwischen die beiden. Er nickte Julian zu. Lass uns telefonieren, bedeutete er ihm. Während Arne in den Saal winkte, registrierte er, dass die beiden anderen in die Kameras lächelten.
Das Bild fror fest und wurde Materie.
*
Hamburg. Vor der Fensterfront schob sich ein Containerschiff aus dem Hafen. Die Entfernung machte es kleiner.
Gesa arbeitete als Assistentin für einen Chemiker. Ihr Arbeitsplatz befand sich in seinem Vorzimmer. Gerade tippte sie, wie so oft, Messwerte in eine Excel-Tabelle. Nachweise von Stoffen, die in Lebensmittelproben gefunden wurden. Seitdem sie hier arbeitete – sie wollte immer unabhängig sein und nie in jemandes Schatten stehen – hinterfragte sie das Verhalten einer konsumierenden Masse. Nichts von dem, was die Chemiker in den Lebensmitteln fanden, wollte Gesa zu Hause auf Tellern servieren, noch im Fernsehen sehen, noch zwischen den Zeilen der Tagespresse für selbstverständlich hinnehmen. Sie war immer ein wacher, kritischer Geist gewesen.
Gesa schob das Lineal unter die nächste Zeile der Messwerte. Jede Zahl hinter dem Komma forderte ihre Aufmerksamkeit. Die ließ nach. Gesas Blick fiel auf das Familienbild im Silberrahmen. Im Großraumbüro nebenan lief das Radio. Lana Del Rey sang von Video Games. Gesa maß mit einem Seitenblick die Uhr an der Wand. Bald vervollständigte der große Zeiger die Stunde. Sekunden tickten. Gesas Gedanken weilten bei ihrem Mann in Berlin. Als sie auf ihre Fingernägel starrte, bemerkte sie, dass der Lack am Zeigefinger abgeblättert war.
Mit der Unruhe wuchs das Verlangen nach einer Zigarette. Sie brauchte eine Pause. Die Nachrichten beendeten den schwermütigen Sommer. Der Doktor im Nebenraum hielt gleichzeitig mit ihr inne. Blicke kreuzten sich durch die offene Tür.
»Ihr Mann«, flüsterte er anerkennend.
Sie nickte stumm und lächelte spröde. Nicht, dass es hieß, sie sei zu stolz.
Arnes Stimme klang durch den Äther. Seltsam und vertraut: Ich bewerbe mich, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden.
Ich bin Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, vervollständigte er in ihren Gedanken den Satz.
Das war Arne Steenborg, der designierte Kanzlerkandidat der SPD, tönte es aus dem Radio.
Gesa empfand Stolz. Dieses Gefühl stieg warm in ihr hoch, streichelte ihr Innerstes wie eine weiche Feder. Arne erreichte, was sie nicht erreicht hatte. Sie hielt den Atem an, bevor er ihr wie das Große und Ganze eines Versprechens entwich.
»Ich gehe in den Hof«, richtete sie dem Doktor aus.
»In Ordnung.«
Sie durchquerte das Großraumbüro und stieg die Treppe in den Hof hinunter. Um nicht mit den Absätzen hängen zu bleiben, ging sie vorsichtig. Außerdem drückte der rechte Schuh. Durch die Glastür sah sie, dass die beiden Kolleginnen aus dem Großraumbüro zusammenstanden. Etwas weiter entfernt machten der griechische Labortechniker und der Kerl, der nur Plattdeutsch beherrschte, ihre Raucherpause. Was arbeitete der eigentlich? Irgendetwas im Putzdienst. Gesa wusste, die beiden Kolleginnen tratschten, so wie sie es immer getan hatten. Als sie nach außen trat, bauschte eine Windböe ihren Rock.
»Sollen wir ihr gratulieren?«, hörte sie eine Kollegin in die Runde fragen. Alle schwiegen. Die Blicke wanderten zu ihr und wagten doch nicht, bei ihr zu bleiben.
Ist das wieder ein Hinterhalt?, fragte sie sich im Stillen.
Wenn sie zu nah an der Tür blieb, legten sie ihr das möglicherweise so aus, als bilde sie sich etwas ein. Das ließ sie sich nicht nachsagen, denn sie war immer korrekt. Keine Sekunde zu spät und höflich, wenn auch zurückhaltend. Denn niemand konnte etwas für sein Naturell. Sie ging auf die beiden Frauen zu, eine sah ihr entgegen. Gesa erwiderte ihren Blick, über verschränkte Arme hinweg.
»Kandidiert dein Mann jetzt?«, fragte die andere. »Was machst du, wenn er Kanzler wird? Dann bleibst du wohl nicht hier, oder?«
»Ministergattin warst du ja schon.«
»First Lady würde dir auch stehen.«
Hihihi.
Der Kerl mit dem Plattdeutsch sah in Gesas Richtung und verkniff sich mühevoll ein Grinsen.
»Wir werden sehen«, entgegnete Gesa. Sie rauchte weiter, für sich, zurück an der Tür. Ihren Ärger hüllte sie in blaue Wolken.
Niemand konnte etwas für oder gegen sein Naturell.
*
Oben im Sitzungssaal lagen die Kanapees auf weißen Papierrüschen und silbernen Tabletts. Rotkäppchensekt perlte in Gläsern. Er wurde in der Hand der Generalsekretärin warm. Sie lächelte vielsagend.
»Auf deinen Erfolg«, sagte Gerhard und stieß mit Arne an.
Emporgehobene Gläser klirrten wie helle Glockenschläge aneinander. Werner Althoff, die Generalsekretärin Yeliz Mebrak, Mathias Meinert, die Sekretärinnen und künftigen Wahlkampfstrategen sprachen zusammen mit Vera ein Prosit auf den Kandidaten aus.
Sie beobachtete Arne Steenborg. Zum ersten Mal kam sie ihm nahe. Vera glaubte an die Kraft der Überzeugung. Sie handelte, unterstützte und redete aus Überzeugung. Alles andere war halbherzig und sie verachtete Halbherzigkeiten. Das war der Kandidat, wie er ihren Vorstellungen entsprach. Er war groß und stattlich. Jemand, der aus Überzeugung sprach, handelte und lebte. Dieses alte, lustlos gewordene Land brauchte ihn.
Deutlich nahm Vera die Spannung wahr, die zwischen ihm, dem Vorsitzenden, dem Fraktionsvorsitzenden und der Generalsekretärin in der Luft lag. Sie spürte genauso die Halbherzigkeit der Dreifaltigkeit, die sich gerade auflöste. Diese alte, bissige Partei.
»Auf unseren Erfolg«, entgegnete Arne. Er widmete Yeliz einen warnenden Blick, hielt dann Augenkontakt mit Gerhard und fuhr fort: »Auf den Machtwechsel. In einem Jahr um diese Zeit stehen wir wieder in dieser Runde und trinken darauf.«
Gerhard lachte, tätschelte Arnes Schulter. Dabei schob er den Kopf auf sein mächtiges Doppelkinn zurück.
Das Lachen machte Arnes Augen schmaler. Und du unterstützt mich gefälligst und kümmerst dich um das, wofür du zuständig bist, um die Einheit der Partei.
Vera nahm sich ein Kanapee und legte die Gurkenscheibe auf dem Papier ab, wandte sich dann der weiten Fensterfront zu. Der Dunst war spät über Berlin hochgezogen, der klare Himmel spannte sich über die Stadt. Nur die Hochhäuser, die mit dem Horizont verschmolzen, lagen unter einer Dunstglocke. Aber die gehörte zu Berlin wie der Atem zu einem Körper. Unter ihr rollte der Verkehr über die Wilhelmstraße, Ecke Stresemannstraße. Die Bäume vor dem Willy-Brandt-Haus trugen Herbstlaub. Daneben schwang sich die rote Fahne im Wind auf. Die Luft war immer in Bewegung.
Platten und Gläser wurden zusammengeräumt, die leeren Rotkäppchenflaschen eingesammelt.
»Kann ich dich sprechen?« Damit nahm Arne den Vorsitzenden zur Seite.
»Sicher.«
Arne umfasste Gerhards Schulter und führte ihn in den Flur. »Am besten in deinem Büro«, sagte er. »Ich habe noch keins. Darüber habt ihr euch wohl noch keine Gedanken gemacht.« Arne spürte, dass seine Worte Gerhard ebenso störten wie seine Hand auf dessen Rücken. Er zog sie weg.
Der Einwand blieb zwischen den Wänden des Flurs hängen. Gerhard preschte voraus. Arne hielt mit ihm mit, blieb aber einen Schritt hinter ihm.
»Alles zu seiner Zeit«, sagte Gerhard. Er riss die Tür auf und ging an der Sekretärin vorbei, die sich erschrocken an dem Ordner festhielt, den sie einsortierte. Presseberichte, stand auf dem Rückenschild. Als sie sich wieder fasste, grüßte sie. Die nächste Tür klappte auf und zu.
»Setz dich«, forderte Gerhard und nahm selbst Platz. Während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte, faltete er die Finger unter dem Kinn. »Sprich.«
Arne setzte sich langsam, ohne den Blick vom Vorsitzenden abzuwenden. Dabei verfinsterte sich das Grau seiner Augen. Dieser Ton ärgerte ihn, wenn er ihn auch nicht verwunderte. »Du hast Nerven«, sagte er. »Der andere sagt der Presse gestern, dass er verzichtet. Du rufst mich spätabends an und fragst mich, ob ich’s mache. In Ordnung, sag‘ ich. Ich wollte niemandem etwas wegnehmen, und ich habe mich nicht um diese Kandidatur gerissen. Mir wäre eine ordentliche Nominierung lieber gewesen. Dann hätte ich wenigstens die Mehrheit der Delegierten hinter mir. Ausgemacht war Anfang nächsten Jahres.«
»Es soll noch vor Jahresende ein Parteitag stattfinden. Du wirst nominiert, so wie es die Satzung vorsieht.« Gerhards Hand strich über die Tischkante. »Wir konnten unser Dreigestirn nicht länger wahren. Die Medien haben einen Druck aufgebaut, dem wir nicht mehr standhalten konnten. Das weißt du auch.«
Arne schlug die Beine übereinander und kniff die Augen zusammen. So fixierte er einen Punkt, an dem die Ecken der Wände aneinanderstießen. »Sicher«, sagte er. »Hast du wenigstens einen Plan, wie wir morgen weitermachen? Nein. Es gibt nicht mal ein Programm, stimmt’s?«
Gerhard ließ die Hände auf die Tischplatte sinken. Er schürzte die Lippen. Das hieß, seine Laune drohte zu kippen. Er konnte zum handfesten Zoff ansetzen.
Arne kannte ihn lange und gut genug, um das zu wissen. »Ich habe eins.« Er verbarg sein überlegenes Lächeln nicht. »Zur Bändigung der Finanzmärkte«, fuhr er fort. »Ihr wollt mich, also nehmt mich. Und mein Papier ist die Antwort auf die Krise, ein Stück sozialdemokratischer Lehre. Ich werde es nächste Woche der Fraktion vorstellen.«
Die Laune des Vorsitzenden besserte sich schlagartig. »Dieses Papier würde es nicht geben, wenn du nicht mit dem Gedanken gespielt hättest, vielleicht doch noch Kanzler zu werden. Ist es nicht so?«
Arne setzte einen Gesichtsausdruck auf, von dem jede Regung glitt. Sein Zeigefinger fuhr durch die Luft. »Jetzt seid ihr dran. Mit dem Programm.«
»Das werden die Delegierten auf dem Parteitag absegnen. Bis dahin – ich gebe dir einen freundschaftlichen Rat, Arne – nimm dich ein wenig zusammen, was deine Äußerungen betrifft. Lass dich zu nichts hinreißen, was du später bereust. Oder vielmehr, was wir bereuen.«
Seine Mundwinkel zuckten. Er brauchte keine Belehrungen. »Besser, Dinge nicht zu bereuen, die man sagt, wie man sie meint«, entgegnete er.
Gerhard drehte sich zur Seite. Seine Handfläche klatschte auf einen Papierstapel nieder. Dann wandte er sich wieder Arne zu und schaute ihm unverwandt in die Augen. »Kümmere dich um deine Bankenregulierung«, sagte er. »Ich wünsch dir noch einen schönen Abend.«
»Ich dir ebenso.« Arne stand auf.
*
Alster und Elbe atmeten aus, hauchten Nebel auf Straßen, Häuser, Bäume. Allmählich versickerte das letzte Tageslicht in dichter werdendem Grau. Gesa suchte den Schlüssel in der Handtasche, sperrte auf und betrat das Haus. Ihre Stilettos klapperten auf dem Parkettboden. Der Eingang warf das Echo zurück.
»Mutter?«, rief Eike aus dem Wohnzimmer.
»Ja?«
Gesa hatte jetzt keine Zeit, sich um den erwachsenen Jungen zu kümmern. Unter dem Flurlicht entsperrte sie ihr I-Phone. er alte Hund torkelte ihr aus der Küche entgegen. Sie sah ihn nicht und stolperte über ihn. »Verdammter dämlicher Köter!«, fluchte sie. Im nächsten Moment fiel ihr ein, dass es nutzlos und gemein war, dem Hund einen Vorwurf zu machen. »Entschuldige«, sagte sie und streichelte ihn.
Der Hund stank schlimmer als früher, fand sie. Sein Geruch haftete an ihren Fingern. Er stieg ihr in die Nase, als sie die SMS antippte. Es war nutzlos, dem Hund auch dafür einen Vorwurf zu machen.
»Sei nicht so hart zu ihm«, tadelte Eike. Er kam zu ihr, stand vor ihr, größer als sie, mit ihrer Haarfarbe und ihrer Augenform. Er war einundzwanzig und studierte.
»Hast Recht«, entgegnete sie. Gesa streifte die Stilettos ab. Ihre Ballen schmerzten. Das Leder hatte am Knochen ihres großen Zehs gescheuert. Sie kümmerte sich um die SMS.
Ich bin nominiert und jetzt heißt es: Alle Macht weg von den Banken und zurück an die Politik. Habe die Presse und die Kanzlerin wohl kalt erwischt. Schau es dir in der Tagesschau an.
Mit Verspätung antwortete sie ihm: Es freut mich! Gratuliere! Bist du erleichtert, dass du es hinter dir hast? Ich habe dich im Institut im Radio sprechen gehört. Du warst großartig! Ich bin bei dir.
Der Hund stand neben ihr und sah zu ihr auf. Seufzend legte sie das I-Phone auf den Küchentisch und kippte den Inhalt der Futterdose in den Napf. »Alter«, sagte sie. Dabei wurde ihre Stimme sanfter.
Danke. Erstens, ja. Zweitens, ich habe mein Bestes gegeben. Drittens, das weiß ich doch.
»Hast du Vater geschrieben?«, fragte Eike.
Gesa ließ unter dem Wasserhahn ein Glas volllaufen. »Ja. Du hast die Nachrichten bestimmt gehört. Seine Kandidatur ist jetzt offiziell.«
Sie leerte das Glas in zwei Zügen, während sie auf die Nachricht schielte. Der Zigarettenfilter klemmte zwischen ihren Lippen.
»Darüber bist du wohl sehr glücklich, stimmt’s?«, fragte Eike. »Er hätte sich nicht drauf einlassen sollen. Damit tut er sich keinen Gefallen. Er hat sich blenden lassen.«
»Sehe ich anders.« Die Zigarette bewegte sich auf und ab. Sie steckte sie an.
»Das denke ich mir«, sagte er. »Ihr beide lasst euch zu etwas hinreißen und verkennt die Realität. So beliebt wie die Kanzlerin ist, wird es hart, sie überhaupt zu schlagen.«
Sie schaltete die Herdplatte unter der Pfanne an. Eikes Worte ärgerten sie. »Wie sprichst du mit mir?«
»Um wen geht es? Um dich oder um Vater? Erzähl mir nichts davon, dass du nur das Beste willst.«
Gesa wich seinem Blick aus und nahm das Telefon. »Deck den Tisch, oder mach dich sonst irgendwie nützlich. Oder mach dich gar nicht nützlich und setz dich rüber ins Wohnzimmer. Ich habe keine Lust zu streiten.«
Eike bewegte sich zum Küchenbüffet. Sie trat zur Seite. Er holte das Besteck, es klapperte in seinen Händen. So wie bei ihr, wenn sie sich ärgerte.
Sie sah zur Uhr an der Wand. Noch zwanzig Minuten bis zur Tagesschau. Sie war hungrig und müde.
Einer Regung folgend beschloss sie, Diane, die Tochter, anzurufen.
*
Dominik Breunig schraubte die neue Festplatte in einen Laptop. Es war nach neun, im Hinterzimmer seines Ladens im Wedding brannte noch immer das Licht. Der Kaugummi hatte seinen Geschmack verloren und verursachte einen Krampf in seinem Unterkiefer. Er spuckte ihn in den Abfalleimer. In dem Moment, in dem er innehielt, dachte er an Judith. Wieder einmal. Er entsperrte sein Smartphone und schaute in die WhatsApp. Dass seit dem vorherigen Abend keine neue Nachricht von Judith eingegangen war, beunruhigte ihn. Ihre Seite im Bett in der Hinterhofwohnung blieb seitdem kalt.
Dominik fühlte sich leer, wenn sie ging, nachdem sie wieder einmal in die Wohnung zurückgekehrt war, um zu bleiben. Es brachte ihn um den Verstand, wenn sie ihn nach dem Frühstück küsste und sagte, sie müsse wieder los. Freiheit hatte er gewollt, hatte sie gewollt. Frei zu sein, bedeutete frei zu sein von etwas. Von allem.
Er baute den Laptop zusammen, startete ihn neu, um die Software aufzuspielen. Der Kunde konnte ihn am nächsten Tag abholen.
Das Warten höhlte Dominik aus. Er löschte das Licht und schloss den Laden ab. In der Wohnung gegenüber im Hinterhof erwartete ihn lediglich tote Zeit, bis er vor dem Fernseher einschlief. Also entschied er sich, hinaus auf die Straße zu gehen. Er folgte den Pflastersteinen bis zur U-Bahnstation. Berlin bot viele Möglichkeiten, finsteren Gedanken zu entgehen. Spaß konnte man immer haben. Immer lächelte jemand, sprach Deutsch oder Englisch und legte die Arme um ihn herum.
*
Berlin roch an diesem Abend so schlecht wie immer, nach Benzin, Rauch und dem Fett der Imbissbuden. Der Atem des Frühherbsts mischte sich unter und rang um Vorherrschaft. Auf dem Weg vom Willy-Brandt-Haus zur Wohnung drehte sich Arnes Gespräch mit dem Fahrer um die Kandidatur und das, was die Welt in diesen Tagen bewegte. Ein wenig unverbindliches Fachsimpeln und darüber, welcher Fahrgast höflich und welcher unnahbar war.
»Da gab es nach der letzten Wahl so einige neue, junge Abgeordnete, die sich für die Größten hielten«, erzählte der Fahrer. »Bei manchem ging der Idealismus sehr schnell verloren. Viele von denen reden nicht mal mit einem. So sind sie eben.«
Arne hörte aus den Worten des Fahrers und las aus seinen Gesten, dass er stille Sympathien für ihn hegte. Schließlich hielt der Mercedes vor einem der Stadthäuser in einer der ruhigeren Seitenstraßen.
»Einen schönen Abend noch«, wünschte ihm der Fahrer.
»Danke, Ihnen ebenfalls«, erwiderte Arne und gab ihm eine Zweieuromünze als Trinkgeld.
Die Aktenmappe unter den Arm geklemmt, schloss Arne die Tür auf. Im Treppenhaus ging das Licht an. Er spürte, wie anstrengend dieser Tag gewesen war und gab seiner Erschöpfung nach. Doch lieber der Lift anstelle der Stufen.
Nachdem Arne die Wohnungstür hinter sich zugesperrt hatte, legte er das Jackett ab und löste die rote Krawatte. In den Räumen lastete die Stickigkeit der Tage, an denen er nicht hier gewesen war. Ein vergehender Rest der schwülen Berliner Sommerhitze und der Staub der Großstadt, der selbst durch Fensterritzen drang. Die schwarze Mattscheibe des Fernsehers starrte Arne an. Er brauchte dringend Luft und riss die Balkontür weit auf, damit die kühle Nachtluft das Zimmer flutete. Bäume und Häuser schluckten das Dröhnen des Verkehrs. Berlin war immer wach und immer laut.
Arne holte eine Flasche aus seinem Weinvorrat und entkorkte sie. Das Glas Rotwein nahm er mit einem Romeo y Julieta-Zigarillo auf den Balkon. Der erste Schluck breitete sich warm in ihm aus. Er zog genüsslich an seinem Zigarillo.
Es stand keine Mitgliederbefragung bevor, die ihn zur Disposition gestellt hätte. Über die Kommissionen und Beratergruppen der Partei hatte er sich hinweggesetzt. Die Last der Warteposition und der Dementis war von ihm abgefallen. Es war kein Glück. Es war nur Politik.
Arne lehnte sich über die Balkonbrüstung, schwenkte das Glas und betrachtete die Kegel der Straßenlaternen. Die Rollkoffer von Touristen schrammten auf dem Gehsteig. Über Arne schwebte ein zunehmender Mond. Vom Balkon aus ließ sich das Kanzleramt nicht ausmachen, es lag jedenfalls vor dem Ende des nächtlichen Horizonts. Berlin war wie der Mond. Es gab die strahlende, schöne Seite. Aber auch die düstere, die unsichtbar blieb.
*
Wenngleich die Sozialdemokraten in einer eiligen Kür Arne Steenborg als ihren Kandidaten präsentieren, könnte er der Mann sein, der im kommenden Jahr Kanzlerin Andrea Menzel ablöst. Steenborg nimmt kein Blatt vor den Mund, spricht von Haltung und Werten, die wir ihm gerne abnehmen. Sein Wille, die Hybris der Großbanken zu beenden, ist klar erkennbar. Man erinnere sich an sein Zauberwort, als die Krise Deutschland erreichte: »Eure Ersparnisse sind sicher!« Mit diesem Zauberwort verhinderte er den Ansturm auf die Bankautomaten und den Totalabsturz des DAX. Mit einem weiteren Zauberwort könnte er das Selbstverständnis der Kanzlerin ins Wanken bringen.
Julian Markowski
Das Silber wirkte wie Blei auf Andreas Lidern. Sie stützte die Ellenbogen auf ihren Schreibtisch und faltete die Hände vor der Nase. Für einen Moment gönnte sie ihrem Geist Leerlauf. Hinter ihr verblasste das Morgenrot und ging im Hellblau des frühen Tages auf.
»Das sind Ihre aktuellen Umfragewerte«, erklärte Ronald von Sollau, ihr Berater, und strich über den pomadisierten Scheitel.
Er drückte die Spitze seines Schuhs gegen seinen Knöchel, als er die Beine ausstreckte. Neben ihm saß seine Kollegin, Mareen Jung, Mitte Vierzig, platinblonder Cropschnitt und im schwarzen Hosenanzug. Andrea streckte die Arme aus. Von Sollau reichte ihr die Mappe mit Diagrammen und den zehn beliebtesten Politikern Deutschlands. Er wagte nicht, zu lächeln, denn Andrea war müde und möglicherweise in keiner guten Stimmung.
Sie schlug die Mappe auf.
Von Sollau beugte sich vor. Er war hellwach, aber nervös. »Gestern, nachdem die SPD Ihren Herausforderer präsentiert hat, wurden Bürgerinnen und Bürger telefonisch befragt, wen sie wählen würden«, fuhr er hastig fort und nestelte an seinem Hemdkragen. »Das sind die Ergebnisse, gäbe es eine Direktwahl.«
Als Andrea aufblickte, drückte der Hemdkragen noch mehr auf seinen Kehlkopf. Ihre Pupillen weiteten und verengten sich. Aus den Augenwinkeln nahm von Sollau wahr, dass Mareen auf dem Stuhl vorrutschte und die Hände in den Schoß legte.
Zahlen, Fakten, Werte. Funktionen. Gesetzmäßigkeiten. Freigesetzte Energien. Ursache und Wirkung. Andrea war plötzlich hellwach. Zahlen machten sie nicht nervös, nur Fakten störten sie. Steenborg hatte über Nacht aufgeholt. Er kam ihr nahe. Noch hatte sie einen Vorsprung. Das Volk konnte launisch werden, sobald sich gewisse Energien freisetzten. Genauso, wie Hochwasser und Orkane unberechenbare Faktoren X sein konnten. Bisher war sie die Konstante geblieben. Das wusste sie.
»Hm, hm.«
»Frau Bundeskanzler, das ist die Faktenlage. Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber dieser Mann könnte Ihnen tatsächlich gefährlich werden. Einer der Gründe, warum er als Kanzler geeignet wäre – so die Umfrage – ist sein besonnenes Handeln während der Krise. Nun …«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, beschwichtigte Mareen. »Ein Jahr ist eine lange Zeit, und in diesem Jahr kann sich die Stimmung ändern. Frau Bundeskanzler, Sie haben Verbündete, die Sie einschalten sollten. Denken Sie auch an die Frauen in Deutschland, die sich von Ihnen vertreten fühlen.«
»Warten wir erst einmal ab«, entgegnete Andrea »In einem Jahr kann vieles geschehen.« Sie klappte die Mappe zu. »Weiter! Was haben Sie mir für den EU-Gipfel vorbereitet, Herr von Sollau? Gibt es eine Tagesordnung? Die Zahlen zu Griechenland?«
»Selbstverständlich, Frau Bundeskanzler«, beeilte sich von Sollau zu versichern. Er reichte ihr das Redemanuskript für die bevorstehende Parlamentssitzung. »Damit erklären Sie dem Deutschen Bundestag Ihre Europapolitik. Hier, die Stelle mit dem gemeinsamen Fonds zur Unterstützung von Reformen in den europäischen Partnerländern … Und hier ist die aktuelle Agenda des Gipfeltreffens heute Abend in Brüssel.«
Andrea blätterte die Seiten durch. Sie las, verlor dabei kein Wort. Von Sollau fragte sich, was in ihrem Kopf vorgehen mochte. War sie mit seinen Überarbeitungen an ihrer Rede einverstanden? Stellte sie etwas in Frage? Ihr Schweigen fachte seine Unruhe weiter an. Dabei war nicht sie der Grund, warum sein Blutdruck stieg. Denn sie tat nichts dergleichen, ihn und die Menschen da draußen in Aufruhr zu versetzen. Er fürchtete sich mehr vor Steenborg, als sie es möglicherweise tat. Mit dieser Rede beabsichtigte er, sie gerüstet in die Debatte zu schicken. Ob ihr bewusst war, wer da antrat? Das Gegenteil von ihr. Spielte sie ihre Ruhe nur?
Andrea ließ sich Zeit mit dem Lesen. Von Sollau saß ihr gegenüber und wartete. Er zog die Beine an und spreizte die Fingerspitzen auf den Knien. Er kriegte mit, dass Mareen die Stirn kräuselte und ihn von der Seite musterte. Sein Blick schweifte zur Kanzlerin. Sie atmete ruhig, sah kein einziges Mal auf. Hinter ihr die Fahnen der Bundesrepublik und der Europäischen Union. Neben ihr die Orchideen. Er starrte aus dem Fenster ins Leere und fixierte einen nicht vorhandenen Punkt am Himmel.
Plötzlich hielt Andrea inne. »Danke.« Sie griff nach ihrer Handtasche, die sie am Tischbein abgestellt hatte und verstaute das Briefing darin.
Er las in ihrem Blick, dass sie ihn nun nicht mehr brauchte. Zusammen mit Mareen verließ er das Büro. Im Korridor riss er an seiner Krawatte und schnappte nach Luft. Mareens Schritte hallten vor ihm, denn sie hatte ihn längst überholt.
*
Vor dem Bundestag scharrte der Wind gelbes Herbstlaub über das Pflaster. Journalisten und Kamerateams warteten darauf, dass der Mercedes mit dem Kanzlerkandidaten anhielt. Als die Fondtür aufsprang, reflektierte die Fensterscheibe die Sonnenstrahlen. Arne stieg aus. Gleich eilten die schnellsten Reporter auf ihn zu. Er knipste sein Lächeln an. Selbstbewusst und entschlossen.
»Den Umfragen nach begrüßen die Deutschen Ihre Kandidatur.« Der Satz flog ihm entgegen. »Mit welchem Gefühl treten Sie der Kanzlerin entgegen? Wird es heute den ersten rhetorischen Schlagabtausch mit ihr geben?«
»Für mich ist es selbstverständlich eine wichtige Debatte«, antwortete Arne. »Immerhin geht es um Deutschlands Kurs in Europa. Ich bin anderer Meinung als die Kanzlerin und werde das auch in meiner Rede wieder betonen.«
»Die Kanzlerin zögert eine Entscheidung zur Eurorettung hinaus.« Ein anderer Journalist hielt ihm das Mikrofon entgegen. »Wofür werden Sie plädieren?«
»Ich halte das Zögern der Bundeskanzlerin für gefährlich, für Europa wie auch für unser Land. Es braucht eine klare Vorgabe, in welche Richtung es geht. Deutschland isoliert sich immer mehr in Europa und das ist eine bedenkliche Entwicklung. Die Kanzlerin lässt zu, dass ihr Koalitionspartner unsolidarisch mit Griechenland umgeht. Keiner ihrer Vorgänger hätte das durchgehen lassen. Sie ist eine Getriebene, keine Regierende.« Arne machte eine kurze Pause. »Man kann den südeuropäischen Ländern keinen Austeritätszwang auferlegen, als sei man noch in den Dreißigerjahren. Not zerstört Demokratie, Hunger frisst gesellschaftliche Stabilität – und das gilt für krisengeschüttelte Länder. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen. Nach der Debatte können Sie in meinem Büro das Redemanuskript anfordern.«
Das Spalier der Mikrofone und Kameras senkte sich. Arne stieg die Stufen hinauf. Er grinste noch immer, als er den Wachmann grüßte. Das Beste behielt er für sich, das Papier, das seine Mitarbeiter gerade noch Korrektur lasen.
Als Block saßen Arne Steenborg, Gerhard Engels und Werner Althoff in der Abgeordnetenbank. Kanzlerin Andrea Menzel hielt eine staatstragende Rede. Ihr Duktus leierte dahin. Wie immer. Die Kameras befanden sich auf Position, fingen ihre Handbewegung ein, als sie das Blatt umschlug und auf den linken Stapel legte. Ihnen entging nicht, wie sich Arne an der Nase rieb. Gleich war er an der Reihe.
Über dem Plenum, in einem der Sitze, lehnte Julian Markowski auf der Brüstung. Der erste Schlagabtausch nach der Nominierung.
Sekunden nach dem letzten Satz, mit dem die Kanzlerin ihre Erklärung abschloss, applaudierten ihr die Abgeordneten der Koalition. Lächelnd lehnte sich Arne zurück und nahm sein Manuskript. Er wartete, bis sein Name fiel. Dann stand er auf.
»Was wollen Sie eigentlich?«, keifte ihm der Wirtschaftsminister entgegen und erhob sich halb aus der Koalitionsbank.
Ohne sich umzudrehen, schritt Arne aufs Rednerpult zu. Seine Mundwinkel zuckten. Die bekam er unter Kontrolle.
»Herr Minister, darf ich Sie um Ruhe bitten?«, mahnte der Bundestagspräsident.
Stille. Arne stand am Mikrofon. Ein Saaldiener in schwarzer Livrée stellte es ihm ein, einige Zentimeter höher als für die Kanzlerin. Ein anderer Saaldiener brachte ihm in weißen Handschuhen ein Glas Wasser. Arne konnte die Anspannung im Plenum spüren. Er wusste, dass Andrea Menzel den Atem anhielt. Gerhard verschränkte die Arme über dem Bauch und sank in seinen Sessel. Der Fraktionsvorsitzende steckte sein Telefon ein. Auf den Kameralinsen lag Anspannung. Er liebte es, mit den Journalisten zu spielen, wenn sie darauf warteten, dass Arne Steenborg herausließ, wofür er bekannt war – sich seinen Launen hingab.
Er begann. Zuerst ruhig, dann wurde sein Ton so scharf wie der erhobene Zeigefinger. Er führte weiter, was er vorhin den Journalisten angedeutet hatte.
*
In einem Penthouse in Frankfurt, auf Augenhöhe mit den Türmen aus Stahl und Glas, lief die Debatte live über einen Flachbildschirm.
Albert Morsbach zog die Vorhänge beiseite und ließ die Vormittagssonne hereinscheinen. Judith erwachte und öffnete die Augen. Sie drehte sich vom Bauch auf die Seite und bedeckte ihren nackten Körper mit einer täuschend echt aussehenden Felldecke.
»Sie sind ein Wendehals!«, zerrte die Stimme aus dem Fernseher in ihrem Ohr und katapultierte sie in eine unwirkliche, fremde Welt. »Was hat Sie dazu gebracht, wieder einmal Ihre Meinung um hundertachtzig Grad zu ändern? War nicht der Austritt Griechenlands vom Tisch?«
Als sich Judith aufrichtete, sah sie Albert Morsbach als Umriss vor dem Fernseher stehen. Die Sonne blendete zu sehr und der Mann sprach zu laut. Sie strich ihre langen blonden Haare aus dem Gesicht und nestelte zwischen den Laken und am Boden nach ihrer Unterwäsche. Sobald die Auswirkung ihres Rauschs nachließ, begann sie sich zu entsinnen, wer der Mann im Fernsehen war. Arne Steenborg, der Kandidat. Erwähnte jemand seinen Namen in Alberts Gegenwart, schlug dessen Laune plötzlich um und ein gequälter Gesichtsausdruck beherrschte seine Mimik.
»Er weiß nicht, dass Kanzler sein keine Nebenbeschäftigung ist«, sagte Albert und trank etwas. »Guten Morgen, Prinzessin.«
»Was ärgerst du dich?«, fragte Judith. »Das ist nur dein Störtebeker, wie du ihn nennst.« Sie schälte sich aus der Felldecke, stand auf und tappte barfuß durchs Zimmer. Hinter ihm stehend hauchte sie in seinen Nacken. Sie wusste, dass sie für einen Moment die düsteren Gefühle betäubte, die in ihm brodelten. Seine Gedanken klarten wieder auf.
»Dieser Störtebeker hat mich gedemütigt, als er noch Minister war«, erinnerte er Judith. »Er hat meine Bank verstaatlicht. Vergiss das nicht.«
»Feindschaft bis in alle Ewigkeit.« Ihre Hand wanderte seine Brust und seinen Bauch hinunter, schob sich in seinen Hosenbund.
»Judith …« Er wandte sich um, umfasste ihre Schultern. Judith machte wieder diese großen, braunen Kulleraugen.
»Wenn er das will, ja«, sagte er und wandte sich ab. »Judith, mach dich fertig. Es wird Zeit.«
Sie nahm die Fernbedienung vom Glastisch und schaltete den Fernseher aus.
Der schwarze Mercedes mit Judith und Albert Morsbach auf dem Rücksitz hielt vor dem Hauptbahnhof an.
»Ich rufe dich an«, sagte er. »Es braucht ein skrupelloses Herz für diesen Job. Also lächle.«
Judith stieg aus und beugte sich noch einmal zu ihm in den Fond. »Verlass dich auf mich.«
Der Chauffeur reichte ihr den kleinen silbernen Rollkoffer. Sie zog ihn hinter sich her und verschwand in der Wartehalle.
Albert sah ihr nach, strich über sein glatt rasiertes Kinn. Er atmete durch und befahl dem Chauffeur: »Bringen Sie mich in mein Büro.«
Hinter Judith fielen die Schatten zusammen, als sie die Straße überquerte und auf Dominiks Laden im Wedding zuging. Sie erkannte durchs Fenster, dass er Kundschaft hatte. Im Laden verbreiteten die Lampen fahles Gegenlicht an einem sonnigen Nachmittag. Judith winkte ihm durch die Scheibe zu und bog in den Hinterhof ab.
Er hatte die Wohnung aufgeräumt und das Bett sah frisch bezogen aus. Judith versenkte ihre Wäsche im Korb und duschte sich. Danach setzte sie sich aufs Sofa, schaltete den Fernseher an und kämmte sich die nassen Haare.
Mit einem Laptop betrat Dominik das Wohnzimmer. »Auch wieder da?«, begrüßte er sie und küsste flüchtig ihre Wange.
»Wie du siehst«, antwortete Judith. »Seit wann nimmst du deine Arbeit mit in die Wohnung? Und seit wann schließt du vorzeitig den Laden?«
»Seitdem du mir nicht mehr schreibst, wo du bist.« Er klappte den Laptop auf und versuchte, ihn zu starten. Der Bildschirm blieb schwarz.
»Zwischen uns ist doch klar, dass wir uns nicht in die Beziehungen des anderen einmischen«, erinnerte sie ihn. »Ich hatte eine sehr wichtige Verhandlung über einen neuen Job hier in Berlin.«
Der Laptop lief. Dominik zog die Brauen zusammen, als er das leise Surren vernahm, ein Zeichen, dass er Zugriff auf die Festplatte des Besitzers hatte.
Judith strich über seine Schulter und legte ihr Kinn darauf. Sie spähte auf die Dateien, Downloads und Fotos, die Dominik öffnete. Ein Garten, eine Frau, zwei Kinder im Planschbecken und ein Golden Retriever. Das durchschnittliche Leben in einem Reihenhaus einer durchschnittlichen Familie. Judith waren die Menschen auf den Bildern so fremd wie der Wunsch nach dieser Art von Leben. Feste Bindungen störten nur, kamen Fesseln gleich. »Sieh mal«, sagte sie.
»Ja, die ist ganz schön fett.«
»Wie spießig. Wir haben schon ganz andere Fotos gefunden.« Judith lachte.
»Bleibst du jetzt für länger?«
»Ich bleibe, so lange ich mit diesem neuen Job beschäftigt bin«, antwortete sie und klappte den Laptop zu. »Mehr musst du nicht wissen.«
Vom Leben anderer Menschen hatte sie genug gesehen. Für den Moment.
*
Staatskarossen fuhren vor dem Brüsseler Ratsgebäude vor. Autotüren schlugen auf. Ein Blitzlichtgewitter entlud sich. Andrea stieg aus, prüfte, ob der Knopf ihres Jacketts geschlossen war und lächelte für die Fernsehkameras.
»Meine europäischen Amtskollegen und ich werden uns heute über ein weiteres Rettungspaket für Griechenland beraten«, sprach sie in die Mikrofone. »Europa befindet sich in einer sehr ernsten Lage.«
Andrea ging weiter, grüßte die Journalisten und behielt ihr Lächeln. Sie verströmte Zuversicht und vermittelte die Gewissheit, dass sich alle Probleme auf eine unaufgeregte Weise regeln ließen. Ihre Hände blieben ruhig an ihrem Körper, als sie dem Ratspräsidenten gegenübertrat.
II. Geister rufen
An diesem Freitag war die letzte Namentliche Abstimmung durch und die Sitzung beendet. Die Bänke leerten sich, Abgeordnete standen in Knäueln zusammen. Hosen wurden hochgezogen, Knöpfe an Jacketts geschlossen, Röcke glattgestrichen und Taschen gepackt.
Gerhard begleitete Arne aus dem Plenarsaal. Reporter standen wieder bereit.
»Die erwarten ein Statement von mir.« Arne linste auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr. Die Manschette seines Hemds verdeckte sie zur Hälfte.
»Wir sehen uns später im WBH«, sagte Gerhard, während er an der Traube Journalisten vorbeiging, mit einem Nicken hierhin und dorthin grüßte.
»Dass Sie heute für die Offenlegung sämtlicher Nebeneinkünfte von Abgeordneten des Deutschen Bundestags gestimmt haben, widerspricht nicht Ihren Tätigkeiten?«, fragte eine Reporterin. Ihr Mikrofon schnellte vor.
Eine von der eiligen Sorte, fand Arne. »Keinesfalls«, antwortete er. »Ich habe meine Nebeneinkünfte immer transparent gemacht, schon bevor dieser Beschluss gefasst wurde.«
Er gab hier und dort sein Statement auf sich wiederholende Fragen. Es gelang ihm, einigen von ihnen zu entkommen und weiteren auszuweichen. Die Reporter hinter sich lassend, lief er die Treppen hinunter, trug sich in der Liste aus und verließ das Reichstagsgebäude. Dieses vorbildliche Land – Deutschland, hier bin ich!
Wolken legten sich über die Sonne, als Arne den Platz zum Paul-Löbe-Haus überquerte. Hinter ihm fielen keine Schatten, denn Wolken warfen selten Schatten.
Über die Sicherheitsschleuse betrat er das Paul-Löbe-Haus. Eine Putzfrau saugte im Atrium. Er ging an ihr vorbei zum Aufzug. Der senkte sich in der Glasröhre herab. Arne stieg ein und drückte den Knopf der Etage, in der sich sein Büro befand. Es ging aufwärts. Heute reizte es ihn, ins Atrium hinunter zu sehen. Er dachte an seine Frau, die den Blick nach Unten nicht aushielt. Die Fallhöhe war zu groß. Er schaute zur Seite, durch die große Glasfront. Die Spree führte unruhige Wellen, die das Spiegelbild des Kanzleramts brachen. Ein Ausflugsboot pflügte sich an den Betonmauern vorbei. Der Aufzug hielt an und Arne stieg aus.
In seinem Büro sortierte die Mitarbeiterin Mails nach ihrer Wichtigkeit. Als Arne hereinkam, stand sie auf und reichte ihm die Eingangsmappe.
»Ist darin etwas Aufregendes?«, fragte er.
»Du hast einige Anfragen wegen deiner Nominierung und deiner Einkünfte«, antwortete sie, »und die Notiz, dass Herr Markowski angerufen hat. Er bittet dich um Rückruf, um ein Treffen zu vereinbaren.«
»Das erledige ich unterwegs.« In seinem Büro packte er die Unterlagen ein, die er sich für das Wochenende nach Hause mitnehmen wollte.
Der Büroleiter beendete sein Telefonat und eilte Arne hinterher. »Wir sind mit den Korrekturen deines Papiers durch«, sagte er und reichte ihm einen USB-Stick. »Hier sind sie drauf.«
»Danke. Ruft mir einen Wagen und sagt, dass ich in fünf Minuten unten bin.« Arne steckte den USB-Stick zu prall gefüllten Mappen und Zeitschriften in den Aktenkoffer. »Das wär’s für diese Woche«, sagte er und sah zu den Modellschiffen auf den Regalen.
Ihm kam es so vor, als beobachtete ihn jemand. Er drehte sich um und ging zum Fenster. Auf der gegenüberliegenden Seite, über den Innenhof hinweg, ließ sich in die Büros anderer Abgeordneter blicken. Einer bevorzugte es, die Jalousien unten zu lassen. Den meinte Arne nicht. Aus den Fenstern eine Etage höher war er beobachtet worden. Er erkannte einen Kollegen aus der Union, der mit seiner Mitarbeiterin eine intensive Unterhaltung führte. Wie hatte der eigentlich heute abgestimmt?
»Nein«, sagte Arne leise. Kopfschüttelnd lachte er über sich selbst, nahm den Aktenkoffer und legte den silbernen Kugelschreiber neben die Tastatur. »Ich wünsche euch ein schönes Wochenende«, verabschiedete er sich von seinen Mitarbeitern.
*
Der Hund blieb auf der Wiese stehen. Draußen vor der Stadt, wo sich das Dach des Gehöfts an den Horizont schmiegte. Gesa bemerkte, dass er ihr dieses Mal nicht folgte. Vielleicht hatte er einen Maulwurf aufgespürt, so wie in seinen jungen Jahren. Sie blieb stehen und drehte sich nach ihm um. Der Hund buddelte nicht nach Maulwurfshügeln in der holsteinischen Erde. Zwischen verwilderten Obstbäumen, die wurmstichige Früchte trugen, wirkte er verloren, als wüsste er nicht mehr, wohin mit sich in dieser Welt. Gesa rief ihn. Er verharrte am Fleck. Sie wurde ungeduldig, denn es war an der Zeit, nach Hause zu fahren. Außerdem dämmerte bald der Abend, das ging Ende September schnell.
Sie pfiff, doch er kam nicht. Der Hund wurde ihr unheimlich. »Du wirst immer wirrer«, sagte sie.
Mit großen Schritten eilte sie über die Wiese. Feuchtigkeit stieg aus dem Boden. Eine herbstmüde Wespe taumelte über eine herabgefallene Zwetschge, fand noch die Kraft, aufzufliegen. Der Hund schien Gesa zu wittern. Langsam bewegte er sich auf sie zu.
Sie fasste ihn am Halsband und zog ihn auf den Feldweg. »Ich glaube, du siehst schlecht. Und hören tust du auch nicht mehr so gut. Jetzt komm. Ins Auto.« Bevor sie den Motor startete, prüfte sie im Spiegel ihre Frisur und presste die Lippen zusammen. Noch haftete die Farbe, wenn sie auch verblasst war. Ihre Ticks.
In den Wolken lärmte es. Gesa blickte nach oben. Eine Wildgansschar flog in ihrer V-Formation über sie hinweg. Sie hing dem Zug der Vögel nach, bis der Himmel und die Wolken ihn schließlich verschluckten.
»Die Gänse des Bauern werden auch aufgeregt schnattern. Ob du das überhaupt mitbekommst?«
Es war wirklich an der Zeit, nach Hause zu fahren, den Hund zu füttern, zu kochen und zu warten. Arne würde den letzten Flug von Berlin nach Hamburg nehmen. Wann er auch immer zurück sein mochte … Sie war das Warten gewöhnt und auch daran, dass sich das Wochenende an Terminen in seinem Wahlkreis festmachte. Jetzt umso mehr. Anrufe würden die gemeinsamen Stunden dazwischen zerreißen. Sie nahm es hin.
*
Auf dem Sofa sitzend aktualisierte Judith den Facebook-Status von Tinka Bell in der Geheimen Gruppe und postete ein neues Profilbild. Ein Auge. Blau. Eine silberne Träne floss unter einem schwarzen Wimpernkranz.
Tinka langweilt sich.
Aus der Gruppe kamen gleich die Antworten: Es gibt immer einen Status, auf den du reagieren kannst und Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft warten auf deine Kommentare.
Judith durchforstete die Seiten, die sie gelikt hatte. Schauspieler und Serienstars, Politiker und Autoren. Das Leben der anderen war sehr spannend. Sie suchte nach Arne Steenborgs Seite. Und gab ihm ein Like.
*
Am Sonntag hatte Arne bis acht geschlafen. Die Vormittagsveranstaltung im Ortsverein war auf halb elf angesetzt. Gesa würde ihn begleiten. Sie legte ihre Perlen zum weinroten Kostüm an.
Als die Türglocke läutete, öffnete Gesa. Wenig überrascht sah sie sich einem Polizeiwachtmeister und einem großen Bundespolizisten in Zivil gegenüber. Der Fahrer wartete ebenfalls in der Einfahrt. Hinter den Gardinen des Hauses gegenüber bewegte sich jemand. Auf dem Fenster, das sich gerade schloss, spiegelte sich das Grau des Herbsthimmels. Arne trat jetzt zu Gesa, stand hinter ihr.
»Guten Morgen, Herr Steenborg«, grüßte der Wachtmeister. »Frau Steenborg. Haben Sie einen Augenblick Zeit, damit wir über die Sicherheitsvorkehrungen für Sie als öffentliche Person sprechen können?«
»Selbstverständlich«, antwortete Arne. »Kommen Sie herein.«
Öffentliche Person, klang es in Gesa nach. Als gäben wir mit einem Mal unser eigenes Leben auf. Sie folgte ihrem Mann, dem Wachtmeister und dem Personenschützer. Um den Nussholztisch herum nahmen sie Platz. Der Wachtmeister legte seine Mütze auf die Tischplatte.
Was folgte, kannte Gesa bereits. Mit einem Seitenblick bemerkte sie, dass der Bundespolizist drahtig und gut trainiert war. Falls erforderlich, wäre er schnell und wendig. Der Wachtmeister redete über die Sicherheit des Hauses und darüber, dass sich immer ein Streifenwagen in der Nähe befinden würde. Auch das kannte Gesa aus Arnes Zeit als Minister. An Polizei, Sicherheit und Leibwächter musste sie sich wieder gewöhnen.
»Vielen Dank für das Gespräch, Frau Steenborg, Herr Steenborg«, sagte der Wachtmeister und nahm seine Mütze in die Hand.
Gesa begleitete ihn zur Tür. Arne nahm das Jackett von der Garderobe. Heute vor dem Ortsverein brauchte er keine Krawatte. Er und Gesa gingen mit dem Personenschützer hinaus. Der setzte sich auf den Beifahrersitz des A8.
Arne ließ Gesa zuerst in den Fond einsteigen. »Führ dein Leben ganz normal weiter«, sagte er. »Im Gegensatz zu mir kannst du das.«
Diane kam zur Veranstaltung dazu. Aufmerksam nahm sie die Satzfetzen auf, hörte, was gesenkte Stimmen erzählten und spürte die Stimmung. Die Erwartungen an der Basis waren groß, als Arne den Saal betrat. Der Applaus gehörte ihm, aber auch die Zweifel. Die einen Genossen feierten ihn bereits als ihren Kanzler. Die anderen meinten, er gehe nicht mit der Linie konform.
»Die Kanzlerin hat auf dem Gipfel in Brüssel herumlaviert, ob Griechenland einen Schuldenschnitt bekommen soll und so lange Nein gesagt, bis daraus ein Ja wurde. So geht das nicht!« Damit eröffnete Arne seine Rede.
Zustimmender Beifall. Diane beobachtete, wie ihre Mutter den Kopf zur Seite legte. Sie klatschte mit und kreuzte die Hände wieder auf dem Schoß.
»Sie wartet wie immer ab, bis es zu spät ist. Ich sage, Abwarten ist die schlechteste Option, Genossinnen und Genossen. Griechenland müssen die Schulden erlassen werden, damit sich seine Wirtschaft wieder erholt. Danach muss das unmenschliche Spardiktat beendet werden.
Ich werde diese Politik des Kaputtsparens von Staaten und des Spekulierens auf Volkswirtschaften beenden. Eine ganze Branche versteht sich darauf, egal, ob letztendlich Menschen und ihre Arbeitsplätze und Existenzen hinter den Zahlen stehen. Mit was ist das zu rechtfertigen? Was steckt dahinter? Nur das kalte Kalkül des Kapitalismus. Und die Menschen sind seine Beute.
Lasst mich noch einige Worte zur Offenlegung sämtlicher Nebeneinkünfte von Abgeordneten sagen. Ich habe dafür gestimmt und das mit gutem Gewissen. Wer sich dagegen gewehrt hat, waren die üblichen Verdächtigen. Diejenigen, die in Aufsichtsratsposten sitzen und diese so lange freihalten, bis sie irgendwann mal abgewählt werden. Um deren Auskommen müssen wir uns doch nicht sorgen, nicht wahr? Die wollen ihre Geheimnisse behalten. Ich habe erst gar keine.«
Die einen applaudierten ihm erneut. Die anderen blieben sparsam. Der Beifall bestätigte ihn. Diane kannte ihren Vater gut. Jetzt hielt er inne, um den Zuspruch aufzunehmen wie den Atem. Auf seinen Lippen lag der Anflug eines Lächelns. Als er sich zu ihr setzte, legte Gesa die Hand auf seine Schulter. Du warst gut, schien ihr Wimpernschlag zu bestätigen.
Diane setzte das Glas ab, nachdem sie ihre Cola ausgetrunken hatte. Sie kaute dabei auf der Unterlippe und hing einem Gedanken nach. Er betraf sie und er betraf den Vater.