Die Kohleprinzessin - Ira Ebner - E-Book

Die Kohleprinzessin E-Book

Ira Ebner

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Beschreibung

Wenn Menschlichkeit zu Kälte wird, Recht zu Unrecht und der Staat zum Feind … Als im Frühjahr 1984 die britische Regierung die landesweite Schließung der Kohlebergwerke bekannt gibt, ruft die Gewerkschaft zum Streik auf. Auch die Kumpels der »Umbrage«-Zeche in Nordengland legen die Arbeit nieder und folgen ihrem Anführer James Thornton, genannt Red Jim. Doch in seinen eigenen Reihen gibt es Verrat und Abtrünnige, die seinen Kampf für die Bergleute erschweren. Zum Glück ist ihm die eigensinnige Hester Simmons mehr als nur eine Verbündete in der gemeinsamen Sache. Denn mit der Journalistin Phyllis Bundle und dem Wirtschaftsboss Alan Delaney hat James einflussreiche Feinde. Bald kommt es zu Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht und der Streik wird zu einem langandauernden Konflikt, der das Land spaltet und den nur eine Seite gewinnen kann. Ein packender und aufwühlender Roman über Menschen, die zum Äußersten gehen. »Die Kohleprinzessin« dürfte niemanden unberührt lassen.

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Seitenzahl: 437

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Die Kohleprinzessin
Impressum
Dramatis Personae
Playlist
1. Wintergärten und Winterpaläste
2. Von der Kette gelassen
3. Puppentheater
4. Prinzessin Kohle
5. Unbedachtes Flüstern
6. Ausnahmezustand
7. Blaue Flecken
8. Das Wartespiel
9. Der Wert eines Versprechens
10. Cassandra
11. Maggies Kanarienvögel
12. Ein Staatsstreich
Anhang

Ira Ebner

Die Kohleprinzessin

Roman

Impressum

Bibliografische Informatiton durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-156-6

E-Book-ISBN: 978-3-96752-656-1

Copyright (2020) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung und Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung folgender Bilder

Shutterstock-Nummer: 1635223921, 511754524

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Am Anfang stand die Gier.

Ein wildes Feuer in vergifteten Herzen,

das fraß und verschlang.

Außer Kontrolle

verbrannte es die Erde.

Am Anfang stand die Gier.

Dramatis Personae

Hester Simmons, Tochter des Bergmanns Nigel Simmons und fleißiges Mädchen für Alles der hiesigen Gewerkschaft mit Vorliebe für Rosen und markige Worte

James Thornton, wegen seiner Haarfarbe und seiner Leidenschaft für die Working Class auch Red Jim genannter Gewerkschafter aus Sherthorpe

Caitlin, seine Frau, deren Föhnwelle mit den Haaren auf ihren Zähnen mithalten kann

Natasha und Kieran, ihre Kinder, begeistert von der Fußballmannschaft Nottingham Magpies

Marc Scarfold und Jack Archer, James‘ Stellvertreter

Richard Ellsworth, Leiter der Umbrage-Zeche mit einer unangenehmen Aufgabe und harter Verhandlungspartner

Phyllis Bundle, niemals müde werdende Journalistin aus London und Inbegriff des Yuppies

Alan »Daddy« Delaney, Phyllis‘ Mentor mit vielen Beziehungen zu vielen wichtigen Menschen in Großbritannien

Christopher Hall, Falklandveteran, Autohändler und Söldner

Constable Anthony Lyndon, Ortspolizist und Bad Cop

Playlist

Relax (Don’t Do It)

Frankie Goes to Hollywood

Sweet Dreams

Eurhythmics

When The Doves Cry

Prince

Only You

The Flying Pickets

Sunglasses At Night

Corey Hart

Do They Know it’s Christmas?

Band Aid

We Belong

Pat Benatar

I Know Him So Well

Barbara Dickson & Elaine Paige

This Is Not America

David Bowie & Pat Metheny

1. Wintergärten und Winterpaläste

Sherthorpe, Grafschaft Nottinghamshire

März 1984

Unter Tage. James Thornton setzte den Helm auf, blickte zu den Gutachtern aus London herüber. Experten auf beiden Seiten. Der Ingenieur der Mine und er, dessen Vorgänger. Inzwischen war James Thornton Sekretär der hiesigen NUM.

Als das Gitter des Käfigs beiseiteglitt, ließen die Männer in Schutzanzügen und mit Klemmbrettern einander den Vortritt. Die anerzogene Höflichkeit bedeckte kaum das gegenseitige Misstrauen. James misstraute den Gutachtern aus London. Er kannte die Umbrage-Zeche. Siegehörte zu den Zechen, die geschlossen werden sollten.

Der Käfig sank tiefer hinab. Der Ingenieur fasste sich an den Hals. James atmete ein und hielt die Luft an. Er drückte den Ordner mit den Folien an sich. Langsam setzte der Käfig auf dem Grund auf, das Gitter öffnete sich.

»Hier entlang«, wies der Ingenieur den Männern den Weg.

Unter Tage herrschte heiße Luft. Sie drang unter James‘ Overall, unter seinem Helm begann er zu schwitzen. Maschinenlärm. Die Grubenbahn stand bereit. Mit dem Gesicht zu den Stollenwänden setzte er sich in einen der Waggons. Der Ingenieur nahm neben ihm Platz, legte sein Schreibbrett auf den Schoß und fuhr mit der Hand unter den Rand seines Helms. Stoisch warteten die Gutachter auf die Abfahrt. Das Dieselaggregat der Bahn sprang an. Sie rumpelte in den Schacht hinein.

Flutlicht und Maschinenlärm. Kumpels schwitzten und schufteten unter Tage. Kohlenstaub legte sich auf Lippen und Augenlidern ab. In der Bahn herrschte Schweigen. James blickte nach oben, wo Streben die Stollendecken abstützten. Er blickte zur Seite, wo die Wetterstollen mündeten. Die Gutachter aus London schauten in dieselbe Richtung. Kabelstränge. Licht. Der Ingenieur machte sich Notizen. James brauchte die Daten nicht. Sie standen auf einem Blatt Papier, das in einer Folie im Ordner lag. Die Gutachter schrieben fleißig. Wieder hallte der Lärm von Maschinen, die sich tief ins Gestein frästen. Ein Zug mit Loren stand neben der Wand. Die Bahn hielt an. Schwarze Brocken fielen auf Fließbänder. Männer in fleckigen Arbeitsanzügen arbeiteten an der Maschine, die das Schwarz aus der Erde schaufelte. Kohle. Erneut sahen die Gutachter einander nickend an, und der eine zeigte mit dem Ende seines Kugelschreibers an die Decken.

»Sicherheit?«

»Ja.«

Ein Haken. Die Schächte, die Kabel, die Wetterstollen. Alles in Ordnung. Der Ingenieur notierte wieder. So ist es richtig, bedeutete ihm James. An den Kumpels vorbei. Kohlenstaub setzte sich auf James‘ Wangen ab. Einer der Kumpels an der Lore schaute ihn beunruhigt an. Gerüchte drangen ein wie Wasser. Gerüchte vermischten sich wie Gase.

Die Umbrage soll auch dicht machen, hab ich gehört.

»Wir haben nichts zu beanstanden«, sagte der Gutachter zu James und zum Ingenieur.

»Es gibt auch nichts zu beanstanden«, entgegnete James. »Die Mine ist sicher.«Er ließ den Gutachtern den Vortritt im Waggon, gab ein Zeichen für die Abfahrt.

»Wie sieht es mit dem Vorkommen aus?«, fragte er Gutachter.

»Das Flöz ist noch lange nicht erschöpft«, antwortete James. »Erst vor zwei Jahren wurden Bohrungen durchgeführt. Ich gebe Ihnen die Kopie des Protokolls.«

»Vielen Dank«, sagte der Gutachter. »Wir werden es berücksichtigen.«

Oben regnete es. Der weite englische Himmel zeigte sich grau. An diesem kalten Märztag war die Luft bitter wie immer. Tausend Schlote, Kohleöfen und das Bergwerk atmeten gleichzeitig aus.

Es tut mir leid, Jim, aber ich habe meine Vorgaben vom NCB. Ich kann nichts dagegen tun. Ich muss die Umbragedicht machen. Sie steht auf der Liste. Ich verliere auch meinen Arbeitsplatz.

Hatte Richard Ellsworth gesagt. Die Worte des Zechenleiters klangen in James‘ Ohren nach.

Die Kumpels verlieren ihre Jobs. Sei ehrlich, Dick, dein NCB bietet dir doch einen anderen Posten an.

Ellsworth‘ Kopfschütteln. Es überzeugte nicht.

Die Umbrageist noch lange nicht erschöpft. Es gibt keinen Grund, sie zu schließen.

Dann sollen das die Gutachter feststellen.

Ich bestehe darauf.

Auf dem Parkplatz vor der Zechenverwaltung stiegen die Gutachter in ihre Autos. James verabschiedete sich. Mit einem Taschentuch wischte er den Kohlenstaub von den Wangen. Der Förderturm und die Kohlenwäscherei verschwammen im Regen. Die Abraumhalden türmten sich zu glänzenden schwarzen Bergen.

Gerüchte waren wie giftiges Gasgemisch. Gerüchte waren wie sprudelndes Wasser aus einem Leck.

Trotz des Regens ging er die kurze Strecke zu seinem Büro im Miners‘ Welfare Club in der High Street.

Das Deckenlicht erhellte den engen Flur mit den Schachbrettfliesen, der zum Versammlungsraum führte. James nahm die Treppe hinauf und betrat das Büro. Hester sah von ihrem Schreibtisch auf. Hinter ihr standen russische Puppen auf dem Fensterbrett. Die Erinnerung von James‘ Delegationsreise nach Minsk. Lange her.

Er legte den Ordner auf die Kante, hängte seinen Mantel an der Garderobe auf. Fragend blickte sie auf den Ordner. An der Wand hingen die Banner der Zeche und des Ortsverbands. NUM Sherthorpe – United We Stand.

»Alles ist vorschriftsgemäß und die Sicherheitsstandards sind erfüllt«, sagte James. »Die Umbrageist noch lange nicht erschöpft. Der Besuch der Gutachter aus London war nur reine Formalität. Das spüre ich, Hester, das spüre ich. Sie reden so viel von Zechenschließungen, und sie werden es genauso machen wie mit der Stahlindustrie.«

»Sie wollen auch die Umbrage dichtmachen?«, fragte sie.

»So sieht es aus«, antwortete er.

Hester legte das Kinn in die Hand. Ihre grünen Augen verloren jede Wärme. Das Aus der Umbrage würde ihren Vater und ihren Bruder betreffen. Beide waren Bergmänner. Die Schließung würde ganz Sherthorpe betreffen, den ganzen Norden, überall, wo Zechen standen.

»Das nehmen wir nicht hin«, sagte James. Seine grauen Augen funkelten. »Es wird Streiks geben. In den Kohlegebieten und im ganzen Land. So lange, bis die Regierung das Ende von Zechen wie die UmbrageoderCortonwood drüben in South Yorkshire zurücknimmt. Wir akzeptieren nur die Schließung wegen erschöpfter Flöze oder Sicherheitsrisiken. Das ist weder hier, noch in den meisten anderen Zechen der Fall.«

»Cortonwood«, griff Hester auf. »Ist es Zufall, dass Arthur dort wohnt?«

James schob die Brille zurück, nahm den Ordner wieder in die Hand. Damit stellte er sich vor Hester. »Es gibt keine Zufälle«, entgegnete er.

Er nahm einen leichten Rosenduft auf, der von ihr ausging. Rosen im kalten Frühling. Ihr Lippenstift war über den Tag verblasst.

»Ich möchte, dass du folgendes schreibst«, sagte er, ging auf und ab. »Wir sprechen es in der heutigen Versammlung ab.« Sich räuspernd diktierte er: »Nach der heutigen Begehung der Umbrage-Zeche in Sherthorpe, Nottinghamshire, sind die Gutachter des NCB aus London, sowie der Ingenieur der Umbrage-Zeche zu dem Ergebnis gekommen, dass die Sicherheitsstandards erfüllt sind und die Kohleförderung für mindestens sieben bis zehn Jahre gesichert ist. Aus Sicht der NUM besteht damit kein Grund für eine Schließung. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Umbrage-Zeche vierhundert Männern Arbeit gewährleistet, das ist mehr als drei Viertel der erwerbsfähigen Männer im Ort. Anliegend sende ich Ihnen die Kopien der Expertisen aus dem Jahr 1982 zu.«

Hesters Finger glitten über die Tastatur. Die Schreibmaschine ratterte. Ihre Hoffnung hielt sich an jedem Wort fest, hing an James‘ Unterschrift und vervielfältigte sich mit jeder Kopie.

*

Grafschaft Wessex, zur gleichen Zeit

Eiserne Torflügel öffneten sich, Phyllis Bundle fuhr durch. Nasser Kies knirschte unter den Reifen. Im Garten zeigten sich grüne Buchshecken zwischen den Stümpfen der Rosenstämme und leeren Bäumen, in denen Mistelknäuel wucherten. Phyllis hielt vor dem herrschaftlichen Haus an. Mit dem Schirm lief ihr der Butler entgegen, öffnete die Fahrertür. Sie stieg aus, ließ den Mantel auf dem Rücksitz liegen.

In der Eingangshalle bedeckten Teppiche das Parkett, eine üppige Palme stand am Stufenabsatz. Gedämpftes Tageslicht sickerte durch das Glasfenster im Treppenhaus. Phyllis hörte Schritte.

»Große, komm zu Daddy!«, rief Alan Delaney.

Er kam mit ausgebreiteten Armen auf Phyllis zu, umschloss sie. Seine ergrauten Haare lichteten sich, darum trug er sie zurückgekämmt. »Du siehst blendend aus. Geht es dir gut?«

»Sehr gut sogar«, antwortete sie, lächelte. »Ich bin jetzt die neue Chefredakteurin.«

»Wenn das kein Grund zur Freude ist«, sagte Delaney. »Nun komm. Der Tee steht bereit.«

Er führte Phyllis in den Wintergarten. Inmitten der Palmen, der Orchideen und Bromelien bot sich der Ausblick auf einen verregneten Märztag, einen blassen Rasen und kahle Büsche. Der Wintergarten war gut geheizt. Phyllis öffnete die Knöpfe ihres Blazers, schlug die Beine übereinander. Sie streifte ihr Laura Ashley-Kleid glatt. Es spannte über ihren Oberschenkeln. Daddy Delaney verdankte sie alles, was sie heute war.

»Du wirst gleich viel Arbeit bekommen«, sagte er, schenkte ihr Tee ein. »Wie es aussieht, werden die Bergarbeiter streiken. Ihre Gewerkschaft stellt Forderungen, die meines Erachtens unverschämt sind. Ich hoffe, die Regierung wird sich nicht auf das Spiel der Gewerkschaft einlassen.«

Phyllis schüttelte den Kopf. Ihre hellblonden Haare blitzten wie Metall.

»Das Proletariat eben«, fügte Daddy Delaney hinzu.

»Ja, das Proletariat«, wiederholte sie.

Sie hasste ihren Vater, den Stahlarbeiter aus Sheffield, für ihr Aussehen. Er hatte ihr die große und robuste Statur und die runde Nase vererbt. Er hatte sein Geld für ihr Studium aufgewendet. Daddy Delaney hatte sie unter seine Fittiche genommen und gefördert.

»Bist du dir bewusst, welche Macht du bekommen hast?«, fragte er. »Denk daran, dass von Anfang an keine Sympathien für die Bergleute und die Gewerkschaft aufkommen dürfen. Unser Land erholt sich gerade von einer Rezession und der Kurs geht nach vorne. Nicht zurück. Natürlich verlangen derartige Sparmaßnahmen gewisse Opfer, die zu geben sind.« Geräuschvoll rührte er Zucker in den Tee. »Die Gewerkschaften knirschen mit den Zähnen und erklären der Regierung den Krieg. Es sind Linke, die irgendwelchen Utopien nachjagen. Würde man die Industrien weiter in staatlicher Hand lassen, oder nach mehr Staat verlangen, hätten wir bald den Kommunismus.« Er lachte auf, faltete die Hände vor dem Mund. »Die britischen Bergarbeiter sind gut bezahlt«, fuhr er fort. »Sie werden sich eventuell auf einige Abschläge einstellen müssen, und mancher wird wohl auch seinen Arbeitsplatz verlieren. Das bleibt bei Umstrukturierungen nicht aus. Die Gewerkschaften schüren nur Unruhe und Verunsicherung. Wenn du mir helfen willst?«

Phyllis blickte auf. Als witterte sie eine Spur, streckte sie ihre Nase nach oben. Die richtige Spur. »In wie fern, Daddy?«, fragte sie.

»Du könntest für mich schreiben und den Leuten draußen erklären, wer diese Gewerkschaftsführer sind und welche Ideen sie haben. Keine Zeitung ist heutzutage unabhängig. Das Volk glaubt, was es hört, sieht und liest.«

Phyllis entgegnete: »Die Gewerkschaften sind fortschrittsfeindlich. Sie haben ein Überstundenverbot für Bergarbeiter erlassen. Dabei haben die Bergarbeiter satte Lohnerhöhungen bekommen.«

»Wenn du das so in einem Leitartikel schreiben würdest, wäre ich dir sehr verbunden«, sagte Delaney.

»Gewiss«, versicherte sie.

»Der Kohlebergbau hatte in Großbritannien immer eine Sonderstellung«, sagte er, stellte die Tasse ab. »Den vorherigen Regierungen war kein Preis zu hoch, um ihn zu stützen. Um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, bedarf es Sparmaßnahmen. Es ist logisch, dass die Regierung die Subventionen streicht und nach der Stahlindustrie auch den Bergbau privatisiert. Die Gewerkschaft erpresst mit Androhung von Massenstreiks. Ich hoffe, unsere Regierung erstickt das bereits im Ansatz.«

Er erhob sich, trat hinter sie, legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Wir sehen uns nächste Woche im Country Club«, sagte er. »Bis dahin hoffe ich, von dir zu lesen. Ich werde nun wichtige Gentlemen empfangen.«

Phyllis stellte die Tasse auf den Unterteller. Sie stand auf. Delaney begleitete sie zur Tür. Ihre Haare wippten über dem Kragen ihres Jacketts. Ihre hohen Absätze klackerten auf den Stufen, ließen sie größer und imposanter erscheinen. Ihre Knochen wirkten so stark wie die eines Pferds. Schlachtrösser waren das, was man jetzt brauchte. Und sie war eines der Zähesten.

Phyllis wunderte sich über das Polizeiauto, das hinter ihrem Wagen parkte. Zwei ranghohe Polizisten stiegen aus. Einer grüßte sie. Sie öffnete die Autotür, setzte sich ans Steuer und drehte sich noch einmal um. Alan Delaney verschwand mit den Polizisten im Haus.

*

Sherthorpe

Die Straßenlaternen leuchteten durch Regen und das Licht löste sich in der Dunkelheit auf. Kalter Rauch hing über dem Tisch, um den das Exekutivkomitee saß. Die Diskussion erschöpfte sich. Hester führte das Protokoll.

Der Ortsvorsitzende Thornton, seine Stellvertreter und das Exekutivkomitee beraten sich über die Bestreikung der Umbrage.

»Wozu sollen wir uns South Yorkshire anschließen?«, fragte Marc Scarfold, während er James ansah.

Hesters Handgelenk schmerzte. James kratzte sich am Hals. Ermüdet legte sie den Stift ab, drückte die Finger gegeneinander.

»Uns betreffen die Zechenschließungen nicht so sehr«, fuhr Scarfold fort. »Ich bezweifle, dass sich in Notts eine Mehrheit findet, die den Streik unterstützt.«

»Die Umbragewird geschlossen«, wiederholte James.

»Ja«, sagte Scarfold. »Vielleicht bekommst du die Kumpels der Umbrage auf deine Seite. Aber nicht den ganzen Bezirk.«

»Es geht mir um die Umbrage«, sagte James. »Beinahe jede Familie im Ort lebt von ihr. Mein Vater war Bergmann, ich bin selbst unter Tage gefahren. Du arbeitest dort, du auch. Also. Wir beliefern die Kraftwerke, wir heizen ihre Wohnungen.«

»Geht es dir um die Zeche, oder um die alten Zeiten?«, fragte Scarfold, schob sich eine neue Zigarette zwischen die grinsenden Lippen.

»Ums Prinzip«, antwortete James. »Die Lady hat die Stahlindustrie abgewickelt und jetzt sind wir dran. Auch wenn die Schließungen Notts nicht in dem Maß betreffen wie South Yorkshire, weil hier noch genügend Kohle in der Erde liegt, weil unser Kohlegebiet noch ziemlich neu ist, geht es um den Erhalt von Arbeitsplätzen.« Eindringlich sah er Scarfold in die Augen. »Es geht darum, Einheit zu demonstrieren. Die Gewerkschaft ist mächtig. Ein Generalstreik wird der Lady die Grenzen zeigen. Sie wird nachgeben, ganz sicher.«

»Ganz sicher!«, rief Scarfold.

Der Ortsvorsitzende Thornton und sein Stellvertreter Marc Scarfold sind sich in der Frage, ob sich die Belegschaft der Umbrageam Streik beteiligen soll, uneins. Thornton legt dar, dass die Gewerkschaft Einheit zeigen müsse.

Hester sah auf, fing James‘ Blick ein.

»Die Gewerkschaft hat schon einmal einen Premierminister zum Rücktritt gebracht«, sagte er. »Wollen wir sie loswerden, oder nicht? Besser, wir werden sie los.«

»Ganz deiner Meinung, Jamie«, sagte Scarfold. »Meine Unterstützung hättest du. Verschaff dir zuerst eine Mehrheit.«

Als fragte er sie, was sie an seiner Stelle täte, sah James noch einmal zu Hester. Sie hob die Schultern, die Hände, und auf ihren Lippen lag mach es. Seine Bestätigung.

»Stimmen wir ab«, beschloss er. »Genossen? Wer ist dafür, dass wir uns den streikenden Zechen anschließen?«

Er streckte seinen Arm in die Höhe. Hester genauso. Scarfold enthielt sich, Jack Archer stimmte zu.

»Mehrheit dafür«, sagte James. »Danke, Genossen.«

Hester schrieb: Das Exekutivkomitee der NUM Sherthorpe beschließt mit einer Enthaltung, zum Streik der Belegschaft der Umbrage-Zeche aufzurufen.

Später, als Scarfold und Archer gingen, legte Hester das Protokoll auf den Tisch. James gab Hester den Schlüssel für die Streikkasse. Gemeinsam zählten sie das Geld. Sie zählten noch einmal nach und kamen zum selben Ergebnis.

»Geh ruhig nach Hause«, sagte James, nickte zur Wanduhr.

Es war halb zehn. Draußen regnete es noch immer. Sie reichte ihm die losen Blätter.

»Du bist ein gutes Mädchen. Mach für heute Feierabend.«

*

In der Küche des engen Reihenhauses der Zechensiedlung Primrose Street putzte Lorraine Simmons den Lauch für die Füllung der Pies. In Sherthorpe, Nottinghamshire, in einer abschüssigen engen Straße, die wie die Nachbarstraßen nach Blumen benannt war. Lorraine war eine rundliche Frau Mitte vierzig, die sich jeden Monat die Dauerwelle neu legen ließ. Im Schatten der Fördertürme, der Halde und zwischen der Methodistenkirche und dem Fußballfeld. Wo Blumen im frühen Jahr höchstens in den kleinen Gärten der engen Reihenhäuser wuchsen.

In der Ecke der Küche lag eine Tesco-Plastiktüte. Sie lag bereits seit einigen Tagen dort.

Hester stand neben Lorraine, rollte den Teig aus. Mehlstaub setzte sich in den Falten ihrer Schürze ab. Lorraine warf Hester einen Blick zu, wie ihn eine besorgte Mutter einer erwachsenen Tochter zuwarf, die noch immer zu Hause wohnte und ihr bisher keinen vernünftigen Mann vorgestellt hatte. Lorraine bezweifelte, dass Hester das in naher Zukunft tat, denn ihr Lebensinhalt schien sich auf ihre Arbeit im Miners‘ Welfare Club zu begrenzen. Und auf ihre Bücher, den Miner und die News at Ten. Hester fettete die Formen mit Butter ein, legte sie mit Teig aus.

Ungeduldig spähte Lorraine aus dem Fenster. Endlich fuhr Michaels Auto vor. Sie schob das Brett, auf dem sich die Lauchscheiben kringelten, zu Hester, wusch eilig ihre Hände.

Michael stieg mit seiner Frau Cynthia und deren Sohn Ben aus. Lorraine schien die Vereinbarung zwischen ihm und Hester vielversprechend, dass er sie zu einer Party mitnahm.

»Nigel!«, rief Lorraine ins Wohnzimmer, wo ihr Mann mit dem Daily Mirror auf dem Bauch eingeschlafen war.

Sie öffnete die Tür. In offener Lederjacke stand Michael neben seiner Frau im Flur. Er trug ein neues Nottingham-Forest-Trikot. Im Wohnzimmer bewegte sich Nigel von der Couch. Mit müdem Gesicht begrüßte er die drei, strich sich über den akkurat gestutzten Schnauzbart. Die Hand in den ewig schmerzenden Rücken gestemmt hielt er sich im Türrahmen fest.

»Es tut mir leid, ich bin vorhin eingenickt«, entschuldigte er sich. »Komm zu mir, Ben, mein Schatz.«

»Du spürst die Jahrzehnte unter Tage, Dad«, sagte Michael.

»Nicht mehr lange, dann lassen sie mich hoffentlich früher in Rente gehen«, entgegnete Nigel.

In der Küche ging er an Hester vorbei zum Kühlschrank, nahm das Bier heraus.

»Hey, Hessie«, begrüßte Michael sie.

»Hi, Mike«, entgegnete sie, ein Grinsen hob ihre Wangen.

»Sind wir zu früh dran?«, fragte er. »Du bist noch beim Zubereiten.«

»Ist gleich fertig«, sagte sie, wandte sich lächelnd um.

Sie schnitt den Teigdeckel mit dem Kitchen Devil so zu, dass er Wellen über den Rand warf. Dem kleinen Ben, dessen Taufpatin sie damals vor drei Jahren gewesen war, zwinkerte sie liebevoll zu.»Hi«, sagte sie. »Du bleibst heute Nacht bei Granny, nicht wahr? Da freust du dich. Du bist ein großer Junge.«

Nigel bedeutete Michael und Cynthia, sich an den Tisch zu setzen. Er öffnete die Bierdosen. Während er den beiden das Bier in Pintgläser schenkte, zog er es vor, aus der Büchse zu trinken.

»Nimm ein Glas!«, fuhr ihn Lorraine an, holte ihm eines aus dem Schrank.

»Wie es aussieht, musst du die nächste Zeit nicht mehr arbeiten«, sagte Michael. »Ich komme gerade von der Tagschicht. Unten ist es fast totenstill. Seitdem Ellsworth bekannt gegeben hat, dass die Umbrageschließt, arbeitet jeder vor sich hin. Das Einzige, worüber sie sprechen ist, ob wir uns dem Streik anschließen.«

Er sah zu Hester, die die Pies in den Ofen schob. Dabei fiel ihr Blick auf ihn zurück.

»Was sagt Red Jim?«, fragte er.

»Er …«, begann sie, legte die Schürze ab. »Er erkennt die Schließung natürlich nicht an. Wir werden streiken. Es wird noch eine große Versammlung geben, und die wird beschließen, ob …«

»Schon klar«, unterbrach sie ihr Vater.

»Könnt ihr vielleicht über etwas anderes reden, als nur über den Streik und die Gewerkschaft?«, fragte Lorraine. »Cynthia langweilt sich nur.«

Kopfschüttelnd meinte Cynthia: »Lasst es gut sein.«

Die Party fand bei Raymond Harvey statt, einem von Michaels Freunden. Zur Begrüßung gab es kühles Ale in Dosen und kräftige Drinks. Auf dem Plattenteller drehte sich Relax. Raymond spielte mit Christopher Hall eine Partie Billard. Mit der Queue in der Hand kam Raymond auf Michael zu.

»Kannst du meinen beiden Omas einen Begrüßungsdrink spendieren, Ray?«, sagte Michael.

»Sicher«, antwortete Raymond, legte die Queue auf den Billardtisch und holte zwei Dosen Ale aus dem Eiseimer, die er Hester und Cynthia reichte. Dann öffnete er eine für Michael und sich.

»Wartest du auf das nächste Weihnachten?«, rief Christopher vom Billardtisch.

Der Sohn des Gebrauchtwagenhändlers Mort Hall. Im Jahr zuvor war er auf den Falklands gewesen.

»Nimm dir doch noch ein Ale, Chris, bevor du hier stänkerst«, entgegnete Raymond.

Christopher kam um den Billardtisch herum auf die anderen zu, stemmte die Arme in die Seiten und fischte sich ebenfalls eine Dose aus dem Eimer. Er grinste Hester an. »Wo zum Teufel seid ihr gewesen?«, wandte er sich an Michael, kniff Hester in den Oberarm.

Sie lachte über den Scherz, den sich Christopher erlaubte.

»Daheim«, antwortete Michael. »Und was ist das für eine Art, in Gegenwart meiner Frauen zu sprechen?«

»Aber echt!«, sagte Hester. »Pass ein bisschen auf deine Redeweise auf.«

Relax, don’t do it, when you want to go to it.

»Deine Omas, Mike!«, sagte Christopher, schnippte gegen das Nottingham-Forest-Logo auf Michaels Trikot. »Gewinnt Forest den Pokal, was glaubst du?«

»Wenn es mit der Meisterschaft dieses Jahr nicht hinhaut«, antwortete Michael schulterzuckend.

But shoot it in the right direction.

Christopher drückte ihm und Hester nacheinander die Queues in die Hände. »Was glaubt ihr, was mit schieß es in die richtige Richtung gemeint ist?«, grinste er.

Hihihi, hahaha. Hester lachte: »Das sag ich nicht. Ich bin wie die BBC.«

»Und die spielt das Lied genau deswegen nicht mehr«, sagte Raymond. »Jetzt lass sie zufrieden. Spielst du auch mit?«

Cynthia winkte ab, lehnte sich mit ihrem Ale an einen Tisch.

»Wetten wir, dass dich Hes schlägt?«, bot Raymond Christopher an.

»Um wieviel?«, fragte der.

»Um einen Zwanziger?«, schlug Raymond vor.

»In Ordnung«, sagte Christopher.

Raymond ordnete die Kugeln neu. Christopher nahm die Wette an. Er zog einen Zwanzigpfundschein aus der Geldbörse, ließ ihn auf den Billardtisch segeln.

Sweet dreams are made of this.

Irgendwann kurz vor Mitternacht legte sich Hester auf eine abgewetzte Couch. Das Ale und der Gin Tonic waren ihr zu Kopf gestiegen. Sie spürte, wie sich das Polster unter ihr hob und senkte. Mit einer verschwitzten Hand krallte sie sich im Leder fest, starrte an die Wand, bis der Schwindel wieder nachließ. Christophers Gesicht beugte sich über sie. Er roch nach Whisky.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Aus unmittelbarer Nähe betrachtete Hester sein Gesicht. Die Sommersprossen in seinem dunkleren Teint, die braunen Haare, die grünen Augen. Sie drängte sich selbst, sich zu verlieben.

»Tolles Spiel vorhin, trotz allem«, murmelte sie, sprach dabei jedes einzelne Wort langsam aus.Sie wollte nicht klingen, als hätte sie einen Drink zu viel genommen. »Ich möchte nach Hause«, sagte sie, stützte die Hand auf die Couchlehne und stemmte sich auf ihre Beine.

Sie suchte Michael. Bevor sie ihn mit seiner Frau in einer Ecke entdeckte, spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Hester drehte sich um und Christopher stand hinter ihr.

»Wenn du nichts dagegen hast, fahr ich dich nach Hause«, bot er sich an.

»Ich sag Mike Bescheid«, überlegte sie.

»Lass ihn«, sagte Christopher. »Er wird schon erfahren, dass du sicher nach Hause gekommen bist.«

Der Gastgeber rief Christopher etwas nach. Als Hester auf die nasse Straße trat, umfasste sie ihren Mantelkragen. Die Bogenlampe spiegelte sich auf dem Asphalt.

Christopher schloss den Aston Martin auf. »Bitte«, sagte er zu Hester.

Sie setzte sich, schlug den Mantelsaum um ihre Knie. Er startete den Motor. Sherthorpe wirkte um diese Zeit wie verlassen. Eine Katze sprang im Scheinwerferlicht den Bordstein hinauf, brachte sich auf einer Mülltonne in Sicherheit.

»Du hättest keine zwanzig Pfund auf mich wetten sollen«, sagte Hester.

Schweigend grinste Christopher.

»Zwanzig Pfund sind eine Menge Geld«, sagte sie.

»Na und?«, entgegnete er. »Das war es mir wert zu verlieren.«

Die Straße wand sich die Victoria Street hinauf, dann kamen die mit den Blumennamen. Auf den Eingangsstufen der Reihenhäuser standen die leeren Milchflaschen für den nächsten Morgen.

»Hast du für morgen schon Pläne?«, fragte Christopher.

»Nein«, antwortete Hester, fasste in der Handtasche nach ihrer Geldbörse.

»Wie wäre es, wenn ich dich morgen Nachmittag abhole und wir machen einen kleinen Ausflug in die Stadt?«, schlug er vor. »Ich kann auch ein anderes Auto besorgen.«

Sie nahm die zwanzig Pfund heraus. »Der Aston Martin ist völlig in Ordnung«, sagte sie. »Hier hast du deinen Einsatz zurück.«

»Wozu?«, fragte er, hielt den Schein zwischen den Fingern.

Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, sagte: »Hier wohne ich. Und steck dein Geld wieder ein. Ich brauch es nicht.«

Er hielt an. Er beugte sich über sie, um ihr die Tür zu öffnen und küsste sie. Sie wand sich heraus, bevor er sie zu fassen bekam und stand schon auf dem Stufenabsatz.

»Deine Redeweise«, scherzte sie. »Komm morgen vorbei.«

Leise, um die Eltern nicht zu wecken, betrat Hester den Flur. Sie zog die Küchentür hinter sich zu, trank ein Glas Wasser.

Der Regen hatte aufgehört. Am nächsten Morgen wischte Hester mit dem Finger über den Fenstersims. Sie fuhr die Maserung des Holzes unter dem Lack nach. Zwischen den Wolken strahlte der blaue Himmel. In der winzigen Gartenparzelle wucherten kahle Brombeerranken die Mauer entlang.

Mit dem Morgen kehrte die Klarheit in Hesters Denken zurück. Sie fragte sich, was am Vorabend in sie gefahren war, Christopher zu küssen. Wie konnte sie glauben, dass sie in diesen Angeber verliebt war? Nüchtern und klar nahm Hester die Stufen nach unten und kochte Kaffee.

Lorraine setzte sich auf den Hocker, putzte ihre Schuhe. So wie immer, wenn sie zur Kirche ging. So, dass eine Joanne Bailes nicht hinter ihrem Rücken redete, wie sie stets befürchtete und sich darüber aufregte. »Bist du gestern gut heimgekommen?«, fragte sie.

Hester kannte dieses Funkeln in ihren Augen.

Ich weiß genau über dich Bescheid.

»Ja«, antwortete sie.

»Mit Christopher Hall?«, entgegnete Lorraine. »Frag nicht. Ich weiß genau über dich Bescheid.«

»Mam«, schnaubte Hester. »Er will mich heute Nachmittag sehen.«

»Wo ist das Problem?«, fragte Lorraine, prüfte im Sonnenlicht den Glanz des Leders. »Das ist ein durchaus vorzeigbarer Mann. Wenn er dir ernsthafte Aufmerksamkeit schenkt, ist das schon einmal gut. Aber wenn du dich ihm gegenüber so benimmst, wie du dich vielleicht den anderen Freunden gegenüber benommen hast, könnte er der letzte sein.«

Ich will nur das Beste für dich. Ich will nur, dass du glücklich bist.

»Du tust so, als wäre ich Vierzig und unvermittelbar«, entgegnete Hester. »Ich glaube nicht, dass du dich gefreut hättest, wenn ich mit Sechzehn schwanger geworden wäre. So wie Fiona und Amy. Die mussten die Schule abbrechen und heiraten. Weißt du noch? Ich mag meinen Job. Ich gib ihn nicht auf, um den Dreck von jemand anderem aufzuräumen.«

»Ihr jungen Frauen seid einfach nur egoistisch und macht es den Männern ziemlich schwer«, sagte Lorraine.

»Ich bin nicht egoistisch, Mam«, widersprach Hester. »Ich bin eine Frau der Achtzigerjahre. Und du hast auch mit Siebzehn geheiratet. Das muss ich nicht nachmachen.«

»Halt deine vorlaute Klappe!«, rief Lorraine. »Du hast keinen Respekt.«

Hester bückte sich und hob die Tesco-Tüte auf. »Traditionen, scheiß auf die Traditionen«, murmelte sie. »Durfte Dads Tradition nicht weiterführen. Frauen dürfen nicht im Bergwerk arbeiten, sagt er.«

Lange her. Nach der Schule war Hester immer zur Umbragegegangen, um auf den Vater zu warten. Jeden Tag hatte sie in die kohlegeschwärzten Gesichter der Kumpels gesehen, um seines zu erkennen. Sie erinnerte sich an diese Männer, die müde, aber stolz durch das Zechentor gegangen waren. Der Vater hatte sich gefreut, Hester zu sehen, Hand in Hand waren sie nach Hause zurückgekehrt.

»Später werde ich das gleiche machen wie du«, hatte sie ihm gesagt.

»Aber Hessie, das geht nicht«, hatte er ihr erwidert. »Frauen dürfen nicht im Bergwerk arbeiten. Du wirst einen Bergmann heiraten.«

Hester hatte ihren Bruder beneidet, als er in der Umbrageangefangen hatte.

»Du brauchst nicht eifersüchtig auf meinen dreckigen Job im Dunkeln sein, Hessie«, hatte er ihr gesagt. »Sei froh, dass du nicht da runter kriechen musst. Du darfst die Sonne sehen.«

Ein dreckiger, gefährlicher Job. Einer, den alle machten. Der Ururgroßvater, der Urgroßvater, der Großvater, der Vater und der Bruder hielten dieses Land mit dem schwarzen Blut am Leben. Und hatten, jeder zu seiner Zeit, erbitterte Schlachten mit Polizei und Armee geführt, damit König Kohle weiterregierte. Für immer und ewig.

Hester kämpfte jetzt auch. Alles hatte sich so gefügt, dass sie für die Umbragekämpfen konnte. Sie rollte die Tüte zusammen, warf sie in den Mülleimer.

*

In einem anderen, engen Reihenhaus an der Victoria Road prallte ein Fußball gegen die Wand des Treppenhauses, hüpfte Stufe für Stufe hinunter und rollte vor James‘ Füße.

»Du sollst nicht im Haus damit spielen«, rief er.

Kieran folgte seinem Ball, hob ihn auf und presste ihn an sich. »Spielst du dann draußen mit mir, Dad?«, fragte er.

Caitlin saß im Wohnzimmer und blätterte in der House and Garden. Ihr Blick schweifte aus dem Fenster auf die Terrasse. Sie träumte wieder davon, dass ihr Mann endlich mit dem Anbau begann. Sie träumte von ihrem eigenen Wintergarten, von einer Glaskuppel und von sorgfältig arrangierten Pflanzen in Töpfen, Gießkannen und Tischen und Flechtstühlen. So wie sie die House and Garden auf Hochglanz abbildete. Sie sah sich im Wohnzimmer um, zwischen den Silberkannen aus dem Antiquariat auf dem Kaminsims, der Unordnung aus dem Socialist Worker und den Notizen ihres Mannes, dem Plastikpferd ihrer Tochter und der Legoruine ihres Sohnes. Hier sah es nicht aus wie in der House and Garden. Sondern wie in einem engen Reihenhaus in einer engen Straße, die nach Bäumen benannt war, und das im Schatten der Methodistenkirche und der Fördertürme lag. Im Schatten einer Welt, in der sie nie angekommen war.

»Es tut mir leid, ich muss weg«, vertröstete James Kieran. »Später.«

»Wohin musst du schon wieder?«, fragte Caitlin.

»Ins Deerhound«, antwortete James, zog sich die Jacke über.

»Um diese Zeit gehst du ins Deerhound!«, rief sie, rollte mit ihren großen Augen.

»Ich muss mich bei den Kumpels blicken lassen«, sagte er. »Und dann in die anderen Orte fahren, um zu sehen, wie die Stimmung dort ist.«

»Immer deine verdammte Gewerkschaft und deine verdammten Kumpels!«, schimpfte Caitlin. »Was willst du dort? Machen sie die Zeche jetzt dicht? Lass es doch sein. Sieh zu, dass du wieder eine Stelle als Ingenieur bekommst, die sie dir wirklich bezahlen. Was bringt dir das Ganze?«

»Ich kann die Kumpels nicht im Stich lassen«, erklärte er. Das verstehst du nicht, Cait. Dir geht es wie immer nur ums verdammte Geld. Meine Ehre verkaufe ich für kein Geld. Und meine Kumpels verkaufe ich auch nicht.

»Aber uns!«, warf sie ihm hinterher, als er aus der Tür ging.

Kieran drückte den Ball mit der einen Hand an sich, mit der anderen winkte er James nach.

*

Christopher fuhr mit einem fünfzehn Jahre alten Triumph vor. Hester setzte sich auf den Beifahrersitz.

»Fährst du den Fuhrpark deines Vaters aus?«, fragte sie.

»Kann man so sagen«, antwortete er.

Er rückte zu ihr, drängte ihr einen Kuss auf. So sehr sie sich bemühte, etwas zu empfinden, fühlte es sich wie eine leere Geste an.

»Ich glaube, den behalte ich«, sagte er und fuhr los.

Sherthorpe verschwand im Rückspiegel. Christopher bog auf die Forest Road ab und nahm das kurze Stück auf dem M1. Links und rechts davon erstreckten sich Waldstücke. Bei dem Tempo, das er dem alten Triumph abverlangte, flogen sie vorbei.

Hester blickte aus dem Fenster, erfasste einen Kleinbus der Polizei, der in einer Seitenbucht stand. Beklommen hielt sie sich am Türgriff fest. Ihre Handflächen schwitzten. Als Christopher den M1 bei der nächsten Ausfahrt verließ, fluchte er und bremste ab,

Die Brücke führte über den Trent. Grauer Himmel spiegelte sich auf grauem, unruhigem Wasser. Die Stadt spiegelte sich mit dem Himmel.

In einem Teehaus gab es Scones mit selbstgemachter Lemon Curd. Christopher fasste nach Hesters Hand, er erzählte ihr aus seinem Leben, was sie höflich nickend aufnahm. Sein Lebenslauf klang wie der eines verwöhnten Jungen, dem alles zu gelingen schien, was er sich vornahm. Halbherzig erwiderte sie, es sei interessant, dass er in der Rugbymannschaft des Colleges gewesen sei, und auch, was er über Falkland erzählte. Falkland hatte seinen glatten Lebenslauf abrupt zerschnitten und ihn verändert. Hester wartete auf die Veränderung in sich.

*

Das Deerhound an der High Street in Sherthorpe barst vor der Anzahl an Kumpels. Der Wirt betätigte den Zapfhahn, füllte noch ein Glas. Einige hatten ihre Frauen und Freundinnen mitgebracht. Die Alten mit ihren Cord- und Tweedkappen verbrachten ihren Austrag in der Ecke. Sie nippten an ihren Pints und sagten, das sei wie in früheren Zeiten. Sie hielten James am Ärmel fest, sprachen von seinem Vater und von den ruhmreichen Schlachten. Sechsundzwanzig, Zweiundsiebzig, Vierundsiebzig.

Am Tresen stehend schob James die Jacke beiseite. Ihm zog der Geruch von abgestandenem Ale und Zigarettenrauch in die Nase, während er sich im Pub umsah. Michael Simmons stützte seinen Kopf in die Hand, neben ihm saß sein Vater.

»Die Umbragewird geschlossen«, wiederholte James, spickte auf seine Handfläche. »Das steht fest. Aber wir werden die Schließung verhindern!«

»Wir streiken!«, erhoben sich ein Dutzend Stimmen auf einmal.

Die Schreie wurden lauter, gefolgt von Beifall. Dartpfeile hämmerten in die Scheibe.

»Richtig, wir streiken!«, erwiderte James, blickte in alle Ecken des Schankraums, wo die Kumpels saßen oder standen. »Wenn ihr für den Streik seid, kommt morgen in den Welfare Club.«

Sie jubelten und applaudierten. James schob die Brille zurecht.

Nigel stand auf. »Ich bin ganz eurer Meinung«, warf er ein. »Nur weiß ich nicht, ob mir der Streik noch etwas bringt. Ich sollte in den Ruhestand gehen. Einige von euch stehen auch kurz davor.«

»Letztendlich liegt die Entscheidung bei dir«, sagte James. »Nigel, hör zu. Wenn du streikst, ist das ehrenhafter, als zum Amt zu gehen. Du hast dein Leben lang unter Tage gearbeitet, du weißt, was es bedeutet, für deine Rechte zu kämpfen. Ich weiß, dass du Zweiundsiebizig und Vierundsiebzig dabei warst. Und, wir waren erfolgreich.«

»Also gut, du hast mich überzeugt«, erwiderte Nigel.

James hob das Glas: »Diesmal wird’s wieder wie Vierundsiebzig. Auf unseren Sieg!«

Auf unseren Sieg!

James wartete, bis Ruhe einkehrte, dann sagte er: »Wir müssen die Kumpels in der Gegend überzeugen. Wenn wir jetzt losfahren, schaffen wir es zum Schichtwechsel. Wer kommt mit?«

Viele. Er gab das Zeichen zum Aufbruch. Halbvolle Pints blieben stehen, Kleingeld klimperte auf den Tresen. Jacken und Mäntel wurden übergezogen. Nigel blieb sitzen, während Michael aufstand. Er suchte nach Raymond, aber der war verschwunden.

»Fährst du mit?«, fragte ihn James vor dem Pub.

Michael nickte. Er setzte sich neben einen anderen Kumpel auf den Rücksitz von James‘ Escort.

»Auf geht‘s!«

Einer hielt sich zwischen Toiletten und Spielautomaten versteckt. Raymond. Die Zweifel machten seine Füße kalt.

Durch das Zechentor bewegte sich ein Strom von Bergmännern. Die einen gingen zur Schicht, die anderen nach Hause.

»Schließt ihr euch uns an?«, fragte James.

»Nein, Genosse Thornton«, antwortete ein Kumpel, dessen Gesicht noch sauber war. »Sie lassen die Zeche leben. Die ist zu klein, um überhaupt geschlossen zu werden.«

»Trotzdem. Wir müssen doch zusammenhalten.«

»Schon. Aber –«

»Aber?«

»Wenn keine Kumpels entlassen werden, gibt es nichts zu protestieren«, erklärte der Kumpel, wandte sich zum Gehen. »Tut mir leid. Du wirst in Notts nicht viele finden, die mitmachen, Genosse.

Nur mit Mühe verbarg James seine Enttäuschung, schüttelte den Kopf. Ich scheiß auf dein Genosse!

Erwartungsvoll richteten die Männer aus Sherthorpe ihre Augen auf ihn. Die Frühschicht zog aus dem Tor, die Mittelschicht in das Tor.

»Scabs!«, begann jemand zu schreien.

»Scabs! Scabs! Scabs!«, wiederholte ein Dutzend Stimmen.

»Lasst gut sein!«, gebot James.

Sie hörten nicht auf, bis der letzte der Kumpels zur Arbeit, oder nach Hause gegangen war. James erinnerte sich an ein altes Lied. Vom Blackleg Miner, dem Streikbrecher. Er vernahm seine eigene Stimme im Kopf.

It’s in the evening after dark,

When the blackleg miner creeps to work,

With his moleskin pants and dirty shirt,

There goes the blackleg miner!

Abends nach Einbruch der Dunkelheit

Schleicht sich der Streikbrecher zur Arbeit

Mit seinen Hosen wie Maulwuffell und seinem schmutzigen Hemd

da geht der Streikbrecher!

»Und, was jetzt, Jim?«, fragte Michael.

Ratlos zuckte James die Schultern. Dann trat er vor seine Leute, sagte: »Hier ist leider nichts zu holen. Wir werden noch zeigen, wie entschlossen Notts wirklich ist!«

Weiter ging es durchs Revier, durch Zechendörfer wie Sherthorpe. Dort war die Stimmung etwas besser, und James glaubte an seine Sache.

*

Als sie mit Christopher an den Schaufenstern vorbeispazierte, duldete Hester die Hand um sich herum. Die Nachmittagsprogramme flimmerten auf neuen Bildschirmen in allen Größen. Ein kleiner Supermarkt warb mit Sonderangeboten, nebenan trugen Schaufensterpuppen hübsche Sommerkleider. Von irgendwoher wehte der Geruch von Frittiertem. Hester sah ihr eigenes Spiegelbild. Auf den ersten Blick wirkte sie so normal wie alle anderen Frauen in ihrem Alter. Wo war ihr Makel? In ihrem Kopf? Sah man ihn?

In ihrer Welt galten eigene Regeln und Gesetze, das wusste Hester. Eine Frau, die ihren Kopf zum Denken gebrauchte, galt als Laune der Natur. Sie brach mit den Traditionen. Sie war Tochter und Schwester eines Bergmanns, sollte am besten einen Bergmann heiraten und künftige Bergmänner gebären. Allein ihr Makel war, dass sie die letzten beiden Erwartungen nicht erfüllt hatte.

Christopher führte Hester zum Schloss. Der Wind drehte auf, als die Sonne hinter einer dunklen Wolke verschwand, wurde es kalt.

»Da wären wir«, sagte Hester vor Robin Hoods Statue.

»Schön«, entgegnete Christopher.

Er schaute sich um, strebte auf eine Sitzbank zu. Hester sah, dass er einen Flachmann aus der Jackentasche zog. Er hielt ihn ihr hin. Sie roch den Whisky, lehnte ab. Er trank einen Schluck davon, schielte auf ihren Busen. Während sie ihn von der Seite betrachtete, dachte sie nur daran, dass er derjenige sein könnte, der einen unsichtbaren Makel an ihr tilgte. Den Makel eines wachen, hellen Geistes. Vielleicht war es normal, am Nachmittag im Park Whisky zu trinken.

*

Die News at Night begannen und vermeldeten keine Einigung. James lehnte sich ins Sofa, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Caitlin plapperte belangloses Zeug. Er strengte sich an, zu verstehen, wofür er morgen vor die Kumpels trat.

»Was meinst du dazu?«, riss sie ihn heraus.

»Was?«, entgegnete er.

»Was habe ich gerade gesagt?«, fragte sie gereizt.

»Caitlin, ich sehe mir die Nachrichten an«, sagte er, stand auf und drehte lauter. »Es ist wichtig.«

»Ach, du!«, beklagte sie sich und stand auf.

»Morgen geht‘s los«, sagte er.

»Warum triffst du dich nicht mit deinen Kumpels im Pub und redest über die guten alten Zeiten?«, fragte sie, verließ das Wohnzimmer.

James atmete auf. Der Bericht endete und der nächste widmete sich der Außenpolitik. Er holte seine Aktentasche aus dem Flur, nahm Stift und Notizblock heraus. Er knipste die Lampe auf dem Fensterbrett an. Der Kugelschreiber in seiner Hand warf einen langen Schatten auf das Papier. Seinen Gedanken fügte er einen weiteren hinzu.

Der Wetterbericht sagte für Montag Regen und Kälte voraus. Morgen wird es ungemütlich.

2. Von der Kette gelassen

Über London kroch der Morgen nasskalt herauf. Die Kuppel von St. Paul’s und die Türme des Big Ben und Westminster Abbey verschwammen im Sprühregen. So, als weigerte sich der Tag, überhaupt zu beginnen und mit dem Tempo der Stadt mitzuhalten.

»Die Bergleute streiken!«, schrie der Zeitungsverkäufer unten auf der Straße. »Die Bergleute streiken!«

Phyllis schaltete das Licht aus, sperrte die Wohnungstür ab und ging über das leere Treppenhaus nach draußen in den Nieselregen. Der Zeitungsverkäufer verkündete noch immer den Streik der Bergleute. Sie kaufte ihm eine Ausgabe des Konkurrenzblatts ab. Als sie in ihren Wagen stieg, faltete sie die Titelseite auf. Das grobe Raster des Schwarzweißbilds zeigte die Gesichter von Arbeitern vor den Toren ihrer Zechen. Cortonwood, Yorkshire. Sie erpressten den Staat und durften nicht gewinnen. Jetzt landesweit. Nur keine Sympathien aufkommen lassen.

Sie warf die Zeitung auf den Rücksitz, startete den Motor und stieß von der stillen Seitengasse in den Morgenverkehr. Vorbei an schwarzen Taxis und roten Bussen. Blaue Anzugträger eilten mit Schirmen in der Hand und Zeitungen unter den Ellenbogen in das Pantheon der Börse. Die Themse schlug trübe Wellen gegen Brückenpfeiler und Bootswände.

Vor dem Gebäude des Daily Messenger fand Phyllis einen Parkplatz zwischen einem Ford und einem Austin. Sie stieß die Schwingtür auf, ging wortlos an der Rezeption vorbei.

Die Empfangsdame lief mit einem Stapel Regionalzeitungen hinter Phyllis her. »Für Sie, Miss Bundle! Die Tageszeitungen aus dem Norden.«

»Danke«, murmelte Phyllis, nahm die Zeitungen, drückte den Fahrstuhlknopf.

Während sie wartete, überflog sie die Schlagzeilen der ersten eingetroffenen Regionalausgaben. Sherthorpe, Nottinghamshire. Sie stieg aus dem Lift, folgte dem Teppich auf dem Flur zur Tür des Konferenzraums und trat ein. Ihre Reporter und Fotografen saßen um das Hufeisen des Tischs herum und verstummten.

»Guten Morgen, Ladies und Gentlemen«, rief sie der Runde entgegen und lachte. Sie lachte, um zu zeigen, sie war wach, es war früh, und sie voller Tatendrang. Sie verlangte den anderen ab, den gleichen Tatendrang an den Tag zu legen. »Unsere Schlagzeile ist aktuell, Landesweiter Streik der Bergleute«, sagte sie, hielt die Ausgabe des Daily Messenger hoch. »Ich bin stolz auf dich, John.« Phyllis sah auf den Mann, der ihr schräg gegenübersaß. John Barlowe, ihr bester Mann. »Yorkshire, Lancashire, Lincolnshire, Northumberland, Derbyshire, Kent, Nottinghamshire, Schottland und Wales«, fuhr sie fort, während sie Ausgabe für Ausgabe aufeinanderlegte. »Das ist das gesamte britische Kohlerevier. Wobei einige Gebiete etwas wankelmütig sind. Je mehr es sind, umso besser. Um es auf den Punkt zu bringen, die Gewerkschaft und ihr Vorsitzender Scargill dürfen auf keinen Fall gelobt werden. Nicht in meiner Zeitung. Haben wir uns verstanden?«

Einstimmiges Nicken.

»Kein Lob, keine Heldentaten, das ist das Erste«, sagte sie, schaute erneut in die Runde, in die einzelnen Gesichter. »Ich will die Schwächen derer sehen, die lauthals der Regierung – und damit unserem Land – den Krieg erklären«, legte sie fest. »Sie haben ihre Schwächen, denn allein mit starken Worten gewinnt man nicht. Ich meine nicht nur King Arthur Scargill. Er hat seine feste Rolle und seinen Text. Das, was wir ihm geben. Ich meine seine Leute vor Ort. Diese selbstherrlichen Anführer der Gewerkschaft sind in Wirklichkeit kleine Sekretäre, meistens selbst Bergmänner, die einen großen Tag in ihrem kleinen Leben brauchen. Wir werden sie vorführen und dem ganzen Land zeigen, was das für Leute sind. Und drittens, ich bekomme aus jedem Ort einen ausführlichen Polizeibericht. Jede Ausschreitung wird erwähnt.« Ihre Hand schlug auf den Tisch. Die Reporter fuhren zusammen. »Verdammt, es ist schon spät!«, rief Phyllis. »Worauf wartet ihr noch? Fahrt in den Norden und holt sie euch. Ich will Geschichten, ich will Hintergründe. Los!«

Nachdem Phyllis sie alle ausgesandt hatte, um ihr Lebensläufe, kommunistische Fantasien und den zerstörerischen, ungebildeten Geist der Arbeiterklasse zu liefern, schloss sie die Bürotür hinter sich. Von ihrem Fenster aus sah sie das Spiegelbild gläserner Türme auf der Themse. Sie schaukelten auf und ab, die Wellen zerteilten sie und fügten sie wieder zusammen.

Phyllis las ihren eigenen Leitartikel, schwarz auf weiß, und andere lasen ihn in diesem Augenblick auch.

*

Sherthorpe

James hauchte die Gläser seiner Brille an, putzte sie mit dem Taschentuch. An der Wand hing das Bild, er im Anzug, die junge Frau in den Rüschen eines Brautkleids. Heute hatte sie ihm das Rührei absichtlich versalzen.

Vor dem Spiegel prüfte er den Sitz seiner Krawatte. Sie passte zum Anzug. Seine Gedanken liefen klar, er richtete sie ganz auf seinen Tag im Miners‘ Welfare Club. Der Seitenscheitel saß akkurat. Er saß auch noch am Abend. Mit blauer Tinte hatte James seine Stichworte in die Handfläche geschrieben. Rückzug des Staats aus dem britischen Kohlebergbau. Entfesselter Markt.

»Kieran, träum nicht, sondern mach dich für die Schule fertig!«, drang Caitlins Stimme aus der Küche. »Natasha, worauf wartest du?«

Genossen, die Regierung geht mit uns um, friss oder stirb. Wir werden aufstehen und zeigen, wie mächtig wir sind.

»Wo hast du deine Mütze?«

»Hier.«

»Jetzt macht euch auf den Weg.«

Natasha und Kieran schlurften an James vorbei. Das Gewicht der Schultasche drückte Kierans Rücken durch. Er blickte auf, James sah in das schmale, blasse Gesicht seines Sohnes. Seine Tochter gab ein unwilliges Schnauben von sich.

»Bis später«, sagte er.

»Bis später«, murmelte Kieran.

»Tasha?«, verlangte James.

Sie schloss die Haustür hinter sich. Caitlin räumte den Küchentisch ab, stapelte die Teller in der Spüle, fegte die Brösel mit der Hand zusammen. Ihre dunklen Locken fielen ihr ins Gesicht.

James nahm seine Tasche, verabschiedete sich von ihr. Sie hob den Kopf, strich die Haare zurück, sah ihn an. Er nickte ihr zu.

Er war entschlossen, denn die Rede rechtfertigte den Aufruf zum Streik. Sie saß. Er hatte gehört, dass Pickets aus Yorkshire kamen. Unterstützer. Anfeuerer. Trotzdem spürte er seine eigene Unruhe.

Wir werden alles tun und dagegen kämpfen, dass sich der Staat aus dem britischen Kohlebergbau zurückzieht. Sie schließt die Zechen und steigert die Profite. Menschen sind keine verfügbare Masse, die nach den Regeln eines entfesselten Marktes hin- und hergeschoben wird.

Sollte Caitlin sein Nicken als Ersatz für Worte werten, er hatte es eilig, zu einer dieser Versammlungen zu gehen.

»Du könntest dich endlich um den Wintergarten kümmern«, sagte sie.

»Es regnet«, entgegnete James.

Ihm entkam ein Lachen, mit dem er ihre unangebrachte Bemerkung abstrafte. Sie verstand ihn nicht einmal jetzt.

»Eben deshalb«, sagte Caitlin. »Genau aus diesem Grund brauchen wir einen Wintergarten. Wann wirst du dich also darum kümmern?«

»Der Winter ist gerade vorbei, und bis zum nächsten musst du dich noch gedulden«, sagte er, warf durch die angelehnte Tür einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Ich habe andere Sorgen. Lass uns in Ruhe darüber reden, ja?«

Sie verstand ihn wirklich nicht.

»Würden sie dir nur deine Überstunden als Gewerkschaftssekretär zahlen!«, mokierte sie sich.

»Was weißt du schon?«, wies er sie zurück. »Wünsch mir lieber Erfolg, oder sonst etwas.«

Er hielt die Klinke umfasst, als wartete er, dass Caitlin tatsächlich einen Wunsch nach gutem Gelingen, oder etwas Ähnliches über die Lippen brachte. Von ihr kam nichts. Er verließ das Haus, schloss leise die Tür, damit sie ihm nicht vorwarf, er sei beleidigt, und ging zu seinem blauen Escort. Die Nachbarin holte die Milch und die Zeitung herein, ein knapper Gruß. Es regnete, die Tropfen fielen scharf auf das Autodach.

Vor dem Miners‘ Welfare Club in der High Street versammelte sich die Menge von Hunderten von Kumpels. Hester schrieb mit, was James mit dem Komitee besprach. Er saß an einem Tisch, aus zweien zusammengestellt, und rauchte.

»Gehen wir raus und sagen ihnen, dass es ab jetzt ernst wird«, wandte er sich an Scarfold und Archer. Er warf einen Blick auf Hester, die vor dem Fenster saß. Die schweren grünen Vorhänge schirmten das Tageslicht ab. »Das musst du nicht mehr mitschreiben«, wies er sie an.

Sie legte den Stift auf den Block, verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Hinter ihr schlossen die Vorhänge nicht ab. Das vom Regen gedämpfte Tageslicht schimmerte auf ihren braunen Haaren.

»Die Männer da draußen erwarten von uns eine Ansage«, fuhr James fort. »Sie haben die Arbeit niedergelegt. Aus Yorkshire sind Pickets gekommen. Die streiken schon seit zwei Tagen und fahren von Zeche zu Zeche.«

»In Yorkshire sind sie radikaler als bei uns«, bemerkte Archer.

»Jamie, glaubst du jetzt an deine Mehrheit?«, fragte Scarfold.

James drückte die Zigarette aus, antwortete: »Ja.«

Er stand auf. Sein Blick fiel durch den Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen. Kleinbusse der Fernsehsender parkten vor dem Club. Die Kameraleute warteten. Der Wind bauschte Mäntel. Cortonwood auch in Notts, forderten Plakate, Erhaltet die Umbrage!

Nervöse Polizisten hielten sich abseits der Menge. Constable Anthony Lyndon verschränkte die Arme. Ein Polizeibus sicherte die Seitenstraße. Hester bemerkte den Bus und die Polizisten. James richtete sein Jackett. Er sah jedem ins Gesicht, nickte. Er gab das Zeichen und ging voran.

Die Tür des Clubs öffnete sich. Als das Komitee heraustrat, James in der Mitte, begann die Menge zu jubeln und zu applaudieren. Hester stand ganz links neben Jack Archer. Mit einer Hand hielt sie sich die Haare zurück. Sie hörte die Wolfslaute und die Pfiffe zwischen den Zähnen einiger Kumpels. So war es immer, wenn sie einer heimkehrenden oder einfahrenden Schicht begegnete. Sie trug es mit Fassung, daran hatte sie sich längst gewöhnt, und sah es den Pickets aus Yorkshire nach. Die Fernsehleute beeilten sich, ihre Kameras und Mikrofone anzustellen. Zoom auf James.

»Genossen, wir haben entschieden, uns den Komitees in Yorkshire und Derbyshire anzuschließen«, wandte er sich an die Menge, wie auch an die Reporter.

Er spickte auf die Notizen in seiner Handfläche und fuhr fort: »Bis heute gab es kein Zugeständnis seitens des NCB, was die Erhaltung der Umbragebetrifft und die Garantie der Arbeitsplätze. Die Belegschaft ist in den Streik getreten. Wir stehen hinter den streikenden Bergleuten und wir stehen hinter den Forderungen des Vorsitzenden. Wenn uns die Regierung den Krieg erklärt, soll sie ihn bekommen! Englands Bergleute weichen nicht zurück!«

Applaus unterbrach ihn. Am lautesten applaudierten ihn die Kumpels aus Yorkshire. Scarfold gab sich unbeeindruckt. Archer und Hester nickten.

»Die Regierung hat vor, zwanzigtausend von euch zu entlassen«, warf James in die Menge. »Steht auf, wehrt euch dagegen, dann wird es euch nicht ergehen wie British Steel! Es sind die wilden Regeln des Neoliberalismus, die euch auf die Straße setzen. Es sind nicht die Regeln eines geordneten Staats – « Der Wind löste eine zimtbraune Strähne aus dem Scheitel. »Dieser neu geordnete Staat, willkürlich neu geordnet, will keine Gewerkschaften«, setzte er an. »Er will auch keine Arbeiterklasse, und vor allem keine vereinte und starke. Uns droht ein Staatsstreich, ausgeführt von Thatcher, Tebbit und Mac Gregor. Es geht um euch, Genossen. Streikt, wenn ihr nicht zwanzigtausend sein wollt!« Erneut Applaus. Die Pickets aus Yorkshire feuerten ihn an. »Kommt und stimmt ab!«, rief James.

Nervöse Polizisten verschränkten die Arme, während sich der Miners‘ Welfare Club füllte. Constable Lyndon sah den Bergmännern nach. Er merkte sich das eine oder andere Gesicht.

Im Saal herrschte das gleiche Gedränge wie am Vortag im Pub. Michael schaffte es, in einer der vorderen Reihen Plätze zu finden. Hester spürte, dass ihr seine Blicke galten. Sie sah auf die aneinandergestellten Tische neben sich.

James schaute in die Gesichter. Gesichter mit tiefen Falten und Bartstoppeln auf den Wangen, mit gestutzten Oberlippenbärten und gut rasierte. Junge Gesichter, unsichere und zweifelnde, genauso wie Gesichter voller Entschlossenheit. Hesters Gesicht. Sie legte ihr Kinn auf den hochgeschlossenen Kragen ihrer Bluse, verschränkte die Arme. James zog das Mikrofon zu sich. Die Stille wurde unerträglich. Alle erwarteten von ihm, dass er sprach.

»Das Komitee ist zu dem Entschluss gekommen, den Streik offiziell zu unterstützen«, begann er. »Genossen, die Regierung geht mit uns um, friss oder stirb. Wir werden aufstehen und zeigen, wie mächtig wir sind. Wir werden alles tun und dagegen kämpfen, dass sich der Staat aus dem britischen Kohlebergbau zurückzieht. Menschen sind keine verfügbare Masse, die nach den Regeln eines entfesselten Marktes hin- und hergeschoben wird.«

Beifall.

»Der Streik ist Klassenkampf«, fuhr er fort. »Es geht darum, ob uns die Regierung wie immer klein halten will. Wenn wir Bergleute den Anfang machen, werden andere Gewerkschaften folgen. Jedes einzelne Rad der Produktion wird in diesem Land stillstehen. Genau das wird die Antwort auf die rigiden Einschnitte im Sozialsystem und auf die Privatisierungen sein. Wie ich sagte, Menschen sind nicht der Spielball der wilden Marktwirtschaft.« Suchend blickte er Hester an. Auf ihren Lippen leuchtete zaghaft ein Lächeln, so, als blinzelte die Sonne zwischen den Wolken hindurch. »Die Räder der Produktion werden von Menschen wie euch in Schwung gehalten. Wenn sie nicht mehr laufen, wird die Premierministerin genauso im Dunkeln sitzen, und sie wird jäh erwachen. Von unserer Kohle hängt alles ab. Sie ist das Blut, das durch die Lebensader unseres Landes fließt. Kein Kraftwerk produziert Strom ohne Kohle. Keine Heizung wärmt ohne Kohle. Maggie wird mit uns reden müssen, und sie wird uns unsere Arbeitsplätze erhalten müssen.«

James erhielt seinen Beifall. Der fiel nicht so aus, wie er es sich wünschte. Er stieß auf Schweigen und Bedenken. Scarfold. Archer und Hester nickten. Sie applaudierte ihm.