Schwalben - Ira Ebner - E-Book

Schwalben E-Book

Ira Ebner

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Beschreibung

Kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs: Die Deutschbaltin Fee Quint und der estnische Fischer Kalju Kask wollen trotz aller Standesunterschiede heiraten. Als im Herbst 1939 das Land von sowjetischen Truppen besetzt wird, werden die Zukunftspläne des jungen Paares jäh zerrissen. Während Fee als Lazarettschwester nach Frankreich geschickt wird, flieht Kalju mit einem versprengten Rest seiner Truppe nach Finnland. In der Gegenwart verschlägt es Fees Enkelin Meret beruflich nach Estland. Sie gab ihrer Oma das Versprechen, Kaljus Schicksal aufzuklären. Dabei schließt sie nicht nur selbst Freundschaft mit einem Esten, sondern entdeckt auch, dass ihre Wurzeln in diesem Land noch tiefer liegen als sie erwartet hatte.

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Seitenzahl: 615

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Schwalben
Impressum
Dramatis Personae
1. Teil
1. Der Kompass mit den drei Löwen
2. Sonntag heißt Pühapäev
3. Die Suche nach der Farnblüte
4. Kalju
5. Zwei Brüder
6. Merets Held
7. Neujahrsbesuch
8. Eisschmelze
9. Eine Welt vor dem Fall
10. Versinkende Türme
2. Teil
1. Türme unter den Wolken
2. Beutestücke
3. Meret spielt nicht mit
4. Nacht in Tallinn
5. Westwärts
6. Grüße
7. Die alte Kaisa
8. V
3. Teil
1. Doppelte Spiele
2. Brennender Schnee
3. Die Heimkehr
4. Die zerbrochene Fee
5. Ein Vergnügen allerseits
6. Im Nebel
8. Jumalaga – Nur Gott verzeiht
9. Der längste Winter
10. Das Leben ist eine Blume
Liebe Leserinnen und Leser,

Ira Ebner

Schwalben

Roman

Impressum

Bibliografische Informatiton durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-160-3

E-Book-ISBN: 978-3-96752-660-8

Copyright (2020) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung und Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung folgender Bilder

Shutterstock-Nummer: 1712845906, 561575545, 312353768

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Orte, mit Ausnahme der realen, sowie alle Figuren des Romans sind frei erfunden und haben keinerlei Ähnlichkeit mit bereits verstorbenen, oder noch lebenden Persönlichkeiten. Die Autorin möchte darauf hinweisen, dass es sich mit »Schwalben« lediglich um einen Roman, also ein Produkt der persönlichen Fantasie handelt, der sich an historischen Hintergründen festmacht. .

Dramatis Personae

Familie Quint

Otto Zahnarzt in Janeda

Gertrudseine Frau

Gerosein Sohn

Feeseine Tochter

Aasa Dienstmädchen

Familie Kask

Andres Fischer in Janeda

Kadriseine Frau

Toomas seine Söhne

Kalju

In München

Meret Weiss Fees Enkelin

Edgar Weiss Fees Sohn

Cordula seine Frau

Achim Hahn Merets Chef

Christian Heldt Merets Verehrer

In Tallinn

Raivo Tamm Mitarbeiter der Firma Blue Sky

Siim sein Bruder, Firmengründer

Milvi Hunt Projektentwicklerin

Kaisa Vähi Eine Bäuerin

Imre ihr Sohn

Mein Dank geht an alle, die mich bei der Entstehung von »Schwalben« unterstützt und ermutigt haben, diesen Roman zu schreiben. Insbesondere möchte ich mich bei meiner Freundin Kaie für ihre Mithilfe bedanken, Estland und die Esten lebensnah und authentisch meinen Lesern näherzubringen.

1. Teil

1. Der Kompass mit den drei Löwen

München, Dezember 2012

Jedes Mal ließ der Geruch im Hausflur Meret sich fragen, was die Bewohner gekocht oder gebacken hatten. Es war ein Gemisch an verschiedenen Gerüchen, Putzmittel, verkochtes Gemüse, angebratene Butter und wohl auch Lebkuchen, wie sie vermutete. Obwohl sie unten am Eingang ihre Stiefel auf den Borsten der Fußmatte abgestreift hatte, hinterließ sie schmutziggraue Spuren von Schneematsch auf den Bodenfliesen. Sie bemerkte die südosteuropäisch aussehende Hausmeisterfrau mit ihrem Putzwagen in der Mitte des Flurs. Meret verlagerte ihr Gewicht auf von den Absätzen auf die Fußspitzen und stakste über die Fliesen, um der freundlich grüßenden Frau weniger Arbeit zu bereiten.

»Ah, egal«, sagte diese in rumänischem Akzent, wobei ihre dunklen Augen freundlich leuchteten. »Wetter nicht schön heute. Gestern viel Schnee, heute wieder warm. Immer putzen. Immer Dreck. Und, besuchen Oma?«

»Ja«, antwortete Meret.

»Oma gute Enkeltochter«, sagte die Frau, tauchte den Lappen erneut in den Eimer.

Als sie sich bückte, streifte sie ein Bündel Sonnenstrahlen, brachte das Rotgold ihrer Halskette zum Funkeln. Meret erinnerte sich, dass ihr die Amama, die Großmutter, ein Paar Ohrringe aus solchem Gold zur Konfirmation geschenkt hatte. Sie hatte sie so gut wie nie getragen, weil sie ihr zu östlich aussahen und seitdem in dieser genauso schrulligen, alten Juwelierschachtel geblieben waren. Pärnu (Pernau), stand eingraviert auf dem Schildchen aus Stanniol, irgendein vergessener Ort, der heute wahrscheinlich ganz anders hieß. Sie läutete an der Wohnungstüre der Amama, horchte hinein. Meistens antwortete ihr die Amama, bevor sie erstaunlich flink den Schlüssel zweimal umdrehte und ihr öffnete. Dieses Mal antwortete sie ihr nicht.

»Oma nix daheim?« Die Hausmeisterfrau nahm den Wischer wieder auf, mit dem sie über Türnische der gegenüberliegenden Wohnung fuhr.

Der Arbeitstag steckte Meret in jeder Faser ihres Körpers. Ihr Chef hatte angekündigt, nächste Woche solle sie mit ihm zu dem Softwareentwickler nach Estland fliegen, den die Firma kaufen wollte. Allmählich solle beginnen, die Präsentationen vorzubereiten, blabla. Aber heute war Freitag und sie hatte um vier ausgestempelt. Sie stempelte auch ihr schlechtes Gewissen aus, denn sie war ohnehin mehr in der Firma als zu Hause. Inzwischen war der Schneematsch an ihren Sohlen längst getrocknet und mit dem Streusalz verkrustet, als sie am Rand an den nassen Flächen vorbei die Treppen hinauf eilte.

An der Wohnungstür hing ein Kranz aus künstlichem Tannengrün, in dessen Mitte ein goldener Engel mit Trompete schwebte. Meret klingelte. Da sie unangemeldet kam, würde die Amama durch den Türspion spähen, bevor sich der Schlüssel zweimal im Schloss drehte. Seitdem sie allein lebte, wiederholte sie bei jedem von Merets Besuchen, sei sie vorsichtiger geworden. In der offenen Tür stand die Amama, Fee Weiß. Der grauweiße kinnlange Haarschnitt hob sich, als sie zu Meret aufsah. Fees Lächeln zeigte tausende kleiner Falten, doch ihre blauen Augen leuchteten wie die eines Mädchens, das sich freute. Sie trug eine violette Bluse mit dezentem Muster und eine passende Strickjacke. Eine ihrer Perlenbroschen aus den satten Fünfzigerjahren zierte sie. Wie immer duftete sie nach Shalimar, ihrem Lieblingsduft.

»Meret, kommst du mich besuchen?«, wandte sie sich an ihre Enkelin. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mir etwas Schöneres angezogen. Und du siehst wie immer hübsch aus. Eine richtige Dame.« Ihre zerbrechlich wirkenden Finger drehten den Schlüssel entschlossen zweimal um. »Entschuldige, dass ich nicht aufgeräumt habe«, sagte sie und meine damit die Saftflasche und das Glas, sowie die Süddeutsche, die sie in vollem Umfang auf dem Esstisch ausgebreitet hatte. Eilig schichtete sie die Doppelseiten zusammen, legte die Zeitung beiseite.

»Nimm einfach drüben am kleinen Tisch Platz«, forderte sie Meret auf, richtete einen der schildpattfarbenen Kämme, mit dem sie die Seitenpartien ihrer Haare zurücksteckte. »Ich koche uns Kaffee.«

»Kann ich dir irgendwie helfen, Amama?«, bot sich Meret an.

»Nein, nein«, antwortete Fee fest. »Das schaffe ich noch.«

Meret setzte sich auf den Polstersessel, der aus der Nachkriegswohnungseinrichtung stammte. Wie immer blickte sie unter die Platte des Beistelltischs. Amamas Krimskrams lag in kleinen Fächern. Ein Fingerhut mit einem Hummel-Motiv, eine kleine rötliche Katze aus Muranoglas, eine funkelnde Strassbrosche, eine Swarovski-Eule und dieses runde Gehäuse aus angelaufenem Silber.

In der Mitte befand sich das Relief eines Wappens mit drei Löwen, das eine Druckstelle hatte, weil dieses Gehäuse, eine Uhr oder was auch immer, vielleicht einmal heruntergefallen war. Meret hielt es für irgendein Erbstück und die drei Löwen für ein Familienwappen, da ihre Ururgroßeltern einst im Osten ein Haus besessen hatten. Amama Fee konservierte diese Herkunft mit alten Landkarten von Estland und Stichen von Reval, oder vielmehr Tallinn.

Sie hatte die Farben und Bilder aus ihren Erinnerungen in bunten Bildern gemalt. Kiefern, Birken, Seen, Felder mit Kornblumen, Holzhäuser und eine Bucht fanden sich in zwei Bildern wieder. Eines gefiel Meret besonders. Es zeigte zwei Kinder, einen blonden Jungen und ein Mädchen mit langen braunen Zöpfen, die unter einem Apfelbaum saßen und Karten spielten. Aber auch ein Dutzend Bleistiftzeichnungen aus dem Krieg, von Frankreich, deutschen Soldaten in Russland und einem Hauptmann der Wehrmacht, einem sehr attraktiven und stattlichen Mann. Fritz von Sollau, Januar 1942, hatte Fee darunter geschrieben. Aber auch einen anderen, nicht minder ansehnlichen Mann hatte sie verewigt, seine vornehmen nordischen Gesichtszüge plastisch ausschraffiert. Nach dem Tod des Großvaters waren diese Bilder wie aus dem Nichts aufgetaucht. Und Meret rätseln und Geschichten und Schicksale erahnen lassen.

»Du, Amama«, rief Meret in Richtung Küche, wo der Wasserkocher zu brodeln begann. »Ich fliege nächste Woche nach Estland.«

»Was, nach Estland?«, rief Fee überrascht aus. Ihre Bewegung, als sie den Löffel mit dem Instantcappucino in der Hand hielt, erstarrte.

*

Estland, es klang wie das Versprechen tief aus der Vergangenheit. Sie hatte bleiben wollen. Sie hatte gehen müssen. Über ihr breitete sich die Leere einer sternenlosen Nacht aus, unter ihr schaukelten die schwarzen Wogen der Ostsee. Sie stand mit ihren Füßen im Wasser, das eine Welle in das Boot geschwappt hatte. Nässe drang durch ihre Stiefel. Und wenn sie untergingen, sie und die anderen an Bord, lieber wollte sie sterben, als ohne ihn leben. Sie fühlte diesen Schmerz wie einen Phantomschmerz, wie einen kariösen Zahn, der längst gerissen war. Trotzdem war er da, zerrte genauso an ihrem alten Herzen, wie er es an ihrem jungen Herzen getan hatte.

Die Glut warf ein Spiel aus Licht und Schatten auf die niedrige Decke. Die weiß getünchte Holzbohlenwand trat bei Nacht als graue Fläche aus der Dunkelheit. Kaljus Hand strich Fees Rücken hinab. Unwillkürlich zuckte sie unter dem angenehmen Schauer zusammen, spürte die Wärme und den feuchten Schweiß in der Vertiefung seiner Brust. Im schwachen Flackern der Glutnester schimmerten seine blonden Haare kupferfarben. Sie schloss die Augen, schob den Gedanken wieder von sich, dass er bald wieder in die Wälder aufbrach und sie mit der ungewissen Sorge zurückblieb. Oder dass sie Estland und ihn verlassen sollte, so wie er es ihr nahegelegt hatte. Sie hoffte, dass diese Frage ausblieb. Seine Finger fuhren durch die Strähne, die über ihr Ohr gefallen war, strichen sie zurück. Anscheinend hatte er für eine Weile seinen Frieden wiedergefunden.

Plötzlich krachte etwas dumpf vor dem Haus. Kalju fuhr hoch. Fee riss die Augen auf. Hastig suchte sie ihre Wäsche zusammen, befestigte mit zitternden Fingern die Strümpfe an den Haltern und stieg in die groben Arbeitshosen. Er fasste nach seiner Walther, stolperte zur Hintertür, schob den Riegel weg, riss sie auf und zielte in die Nacht. Fee schob ihre Füße in die Stiefel, suchte hinter seinem Rücken Schutz. Sein Atem ging leise, aber schnell, wie sie an den kleinen Wölkchen erkannte. Die Haare an seinen Unterarmen standen auf wie die Rückenhaare eines erregten Hundes. Er senkte die Hand wieder, der Lauf der Walther zeigte auf den Boden. Niemand war auf dem Hinterhof zu sehen, nur die schwarzen Schatten der Blechfässer mit dem Traktorendiesel, die sich hier stapelten.

Fee beruhigte sich selbst, dass die Hunde des Dorfes schwiegen. Dafür lag ein Haufen schwerer, wässriger Schnee auf den Holzstufen. Kalju verriegelte die Tür und wandte sich ihr zu. Da war wieder dieses unstete Flackern in seinen eisblauen Augen, die überall Verrat und Tod sahen. Er knöpfte das Hemd zu und auch die stolze, wenn auch abgetragene Jacke der Omakaitse, sicherte die Walther, bevor er sie einsteckte. Er nahm ihr Kinn in die Hände. Sie spürte seinen Atem auf ihren Lippen.

»Es war nur der Schnee«, sagte er. Für einen kurzen Moment zeigte ein Lachen seine Zähne. Das Lächeln verlosch, und er fuhr ernst fort: »Je länger man im Untergrund ist, umso mehr jagen einen die Geister. Fee, nun?«

Sie schluckte. Er erwartete ihre Entscheidung. Sie hätte ihn besser kennen sollen. Er stellte ihr die Frage. Er war immer zuverlässig gewesen, und auch jetzt sollte sie sich auf ihn verlassen.

»Was willst du von mir hören?«, entgegnete sie ihm diese leere Gegenfrage, um Zeit zu gewinnen. Aber sie wusste längst, dass er zu schlau war, um sich auf Ausweichmanöver einzulassen.

»Ich will von dir wissen, ob du bereit bist für die Überfahrt«, antwortete er. »Ob du die nötigsten Dinge gepackt hast. Kaisa wird dich an die Bucht bringen.«

»Kaisa«, sagte sie scharf, sah ihm in die Augen. »Was ist mit dir und Kaisa?«

Er umfasste ihre Hände, sein Blick wich kurz ab. Er sollte wissen, dass auch sie zu schlau war, um sich mit beschwichtigenden Floskeln abzufinden.

»Was soll mit Kaisa sein?« Seine Blicke drangen tiefer in ihre Augen. »Du weißt, dass ich dich nie gezwungen habe, mir zu gehorchen. Aber dieses eine Mal bitte ich dich, mir zu gehorchen. In Estland ist kein normales Leben mehr möglich. Wir kämpfen gegen die Roten, verstecken uns in den Wäldern, und der nächste Tag kann für jeden von uns das Ende bedeuten. Du setzt dein Leben aufs Spiel, wenn du hierbleibst. Toomas hat dich einmal davonkommen lassen. Er wird es kein zweites Mal tun. Nein, Fee, ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass sie dich noch einmal mitnehmen.«

»Ich habe dich nicht verraten, Kalju«, bekräftigte sie.

Er ließ ihre Hände los, hob die Pelerine von der Stuhllehne auf. Er suchte nach etwas in der Jackentasche und umklammerte es. »Nein«, sagte er entschieden, trat zur Tür.

Fee folgte ihm, sah zu ihm auf.

»Auch wenn mir mein Bruder Straffreiheit anbietet, wenn ich auf seine Seite wechsle«, fuhr er fort. »Ich tue es nicht.«

Sie blinzelte die Tränen fort, was ihm sichtlich nahe ging.

Die Spitze seines Zeigefingers strich unter ihr Kinn. »Wenn Gott will, sehen wir uns als freie Menschen wieder«, sagte er. »Sieh zu, dass du nach Finnland kommst, und von dort aus kehrst du nach Deutschland zurück. Versprich es mir.« Er zog ihre Hand zu sich und legte etwas Rundes hinein. »Behalt den Kompass, damit du deinen Weg nie aus den Augen verlierst«, beschwor er sie. »Steck ihn ein und verrat niemandem, wer ihn dir geschenkt hat. Bis wir uns wiedersehen. Bis ich dich in ein freies Estland nach Hause hole.« Lange Sekunden verfingen sich ihre Blicke mit dem Schweigen, dann küsste er sie, als wollte er sie erlösen.

Im schwachen Licht betrachtete sie den eingedrückten Deckel. Die drei estnischen Löwen der untergegangenen Republik lächelten ihr entgegen. Schnell versenkte sie ihn in der Hosentasche. Er schob den Riegel beiseite, trat in den Schneematsch auf den Stufen. Unter seiner Jacke fasste er nach dem Griff der Walther, blickte dabei nach allen Seiten. Fee begleitete ihn zu den Blechfässern, weiter zum Zaun. Hinter dem Wassergraben erhob sich verschwommen das Dickicht, das zu der dunklen Masse des Waldes zusammenfloss. Offensichtlich verstand Kalju die Bitte, die in ihren Augen lag. Er breitete seine Arme aus, die in der Pelerine wie die Schwingen einer Krähe wirkten, und umschloss sie. Sie umfasste seine starken Schultern, spürte die drahtigen Bartstoppeln seines Kinns an ihrer Wange. Noch einmal nahm sie seine Wärme auf. Langsam, aber entschlossen löste er sich von ihr, hob die Hand zu einem Abschiedsgruß und setzte mit einem Sprung über den Wassergraben.

»Amama, kann ich dir helfen?«, fragte Meret. Ihre Stimme klang so nah, dass Fee erschrak.

Sie stellte die eben aufgegossenen Tassen auf das flache Silbertablett, ein Souvenir aus Tunesien, wo sie vor zwanzig Jahren mit ihrem Mann den Urlaub verbracht hatte. Sie schichtete einige selbst gebackene Plätzchen in eine apfelförmige Glasschale. Schnell zog sie ihre Hände zurück, damit Meret nicht merkte, wie sie zitterte. »Sei so gut«, antwortete sie verlegen.

Ihre Enkelin nahm das Tablett am Rand und las Fees Blick. Um von ihrer Unsicherheit abzulenken, studierte sie Merets Augen. In dem tiefen Blau lag ein Glänzen. Wie ihr einst machte man Meret bestimmt Komplimente für die ungewöhnliche Farbe und die leicht schräge Form. Der Schleier einer aufkommenden Träne legte sich auf Fees Blick. Sie schniefte, tat so, als kämpfte sie gegen eine Erkältung an.

»Du denkst an das Estland deiner Jugend zurück, nicht wahr?« Meret ahnte sehr wohl, dass sich die Erinnerungen wie Flutwellen auftürmten, drohend, sich über ihr zusammenzuschlagen und sie fortzureißen.

Hin und wieder hatte sie von Estland erzählt. Jahrzehnte konnten eine schützende Distanz aufbauen. Fee hatte von den großen, tiefen Wäldern geschwärmt, den kristallklaren Seen mit Worten ein Glitzern in der Mittsommersonne verliehen. In ihren Tagträumen waren die Sommernächte hell und die Winter streng und schneereich, die Apfelblüte wogte ein weißes Meer über lieblichen Hügeln. Beeren und Pilze gediehen dort, wie sie es in Deutschland längst nicht mehr oder gar nicht gab, Elche trotteten über Lichtungen und Schwalben segelten durch blaue Augustabende. So wie auf ihren Bildern.

Meret stellte das Tablett auf den Tisch.

Allmählich fand Fee ihre Fassung wieder. Sie hielt sich im Türrahmen fest und ging langsam ins Wohnzimmer. »Du fährst nach Estland, hast du gesagt?«

»Ja, von meiner Firma aus«, antwortete Meret, ließ die Zuckerkörner vom Löffel in den Instantschaum rieseln. »Ich soll meinen Chef begleiten. Wir arbeiten mit einer Softwarefirma zusammen, die bald zu unserem Unternehmen gehören wird. In Sachen Softwareentwicklung soll Estland das führende Land sein. Kann ich glauben, wenn man an Skype denkt. Das ist erstaunlich für ein kleines osteuropäisches Land.«

Fee lehnte sich gegen das Sideboard. Fotos aus vergangenen Jahrzehnten reihten sich in den mehr oder weniger kräftigen Farben ihrer Zeit aneinander. Ein Familienfoto, sie in einem Kostüm mit Blumenmuster, ihr Mann Georg mit Paisleykrawatte, und die beiden Kinder als Heranwachsende. Zehn Jahre später ein älter gewordenes Ehepaar vor Dahlienstauden in dem von einem Jägerzaun eingefassten Vorgarten.

»Als ob deine Amama wüsste, was Software und Skype ist«, entgegnete Fee mit einem spöttischen Blinzeln.

Doch mit einem Mal verlosch das Heitere. Die Flut der Vergangenheit überschwemmte ihre Gedanken, riss ihre Gefühle mit sich wie leichtes Treibgut. Langsam zog sie die Schublade auf, versuchte, sich nichts davon anmerken zu lassen. Sie fasste den Knauf der Schublade wie einen heißen Topfdeckel an. Meret knabberte an einem mit rosa Punschguss überzogenen Plätzchen. Mehr als sechzig Jahre Lüge fühlte sich für Fee in zehn Sekunden unerträglich an. Mit aufeinandergepressten Lippen starrte sie auf die Fotoalben, die sie nach Jahrzehnten geordnet hatte. Am Boden die aus den Fünfzigerjahren, eingebunden in grobes Leinen, darin die Familie wie Statisten aus den alten Technicolorfilmen. Fee wartete, dass die Melodie von Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt aus den Fotos heraus erklang.

Nein, du hast es mit Gero geschworen, gebot eine innere Stimme Fee Einhalt. Ihre Zunge von Worten belegt, die ihr Gewissen befreien, diese Last wie alle Felsen dieser Welt von ihrem Herzen schütteln wollten. Aber sie hatte ihrem Bruder geschworen, niemals über die Einzelheiten des Krieges zu sprechen. Damals, als Adenauer mit Chruschtschow ausgehandelt hatte, dass die letzten deutschen Kriegsgefangenen aus den Lagern entlassen und nach Hause geschickt wurden.

Fee stand an den Gleisen des Münchner Hauptbahnhofs, umfasste mit ihren behandschuhten Fingern den Griff ihrer Handtasche. Unter dem Stoff ihrer Handschuhe schwitzte sie vor Aufregung. Schnaubend rollte der Zug ein, die Dampflokomotive der Bundesbahn stieß eine Rußwolke aus. Mit einem Blick über die Schulter gab Fee ihrem Mann und den Kindern zu verstehen, dass sie hier an der Stelle warten sollten, und ging auf den Bahnsteig zu. Eine Traube von Menschen, Frauen, Müttern und heranwachsenden Kindern wartete bereits. Sie ging an ihnen vorbei und stellte fest, dass das angespannte Warten alle vereinte. Ein Waggon nach dem anderen schob sich vorbei. Schließlich kam der Zug mit quietschenden Rädern zum Stehen. Der Pulk der Wartenden drängte an die auffliegenden Waggontüren, Fee quetschte sich zwischen Schultern und Ellenbogen durch.

Umarmungen, Tränen, Wiedersehensfreude mit fremden und doch über die Jahre vermissten Männern, die noch immer die abgetragenen Wehrmachtsuniformen trugen. Aus dem Waggon stieg ein weiterer Mann. Fee erkannte ihn auf den ersten Blick als ihren Bruder Gero. Mit energischen Schritten strebte sie auf ihn zu, dabei streifte sie den weiten Glockenrock einer jungen Frau, dessen Karos zurückschwangen.

Auf Geros Gesicht leuchtete ein erleichtertes Lächeln. Der zweite und genauere Blick auf ihn erschreckte Fee. Ihm fehlte ein Augenlid. Er war so dünn, dass er die stattliche Erscheinung von damals, gar sein überhebliches Auftreten verloren hatte. Falten durchfurchten seine Stirn und seine Wangen. Weder sie, noch er widmeten einander eine überschwängliche Umarmung.

»Hier hinten stehen mein Mann Georg und meine beiden Kinder«, sagte sie.

»Du hast also in Deutschland eine Familie gegründet«, entgegnete er.

»Hm«, antwortete sie. »Ich war nach dem Krieg noch einmal in Estland. Es ist schlimm dort. Ich war im Widerstand, Kalju auch. Die Russen haben alles kaputt gemacht. Unsere Heimat ist für immer verloren.«

Obwohl sie nicht viel mehr erzählte, schien er zu verstehen. Er machte sich wohl seinen eigenen Reim daraus. Still klagte sie ihn an: Wie konntest du das jemals für gut heißen?

»Hör zu, Fee«, sagte er, hielt sie an, um beschwörend ihre Hand zu nehmen. »Der Krieg ist vorbei. Was wir im Krieg erlebt haben, bleibt auch dort. Gib mir deinen Schwur, dass du nie darüber redest. Was weiß dein Mann?«

»Nicht mehr, als er wissen muss.«

Sie zögerte, ob sie wirklich schwören sollte. München war kein Trümmerfeld mehr, überall in den Kramerläden hingen Schinken, Wurstketten, thronten rosige Schweineköpfe in den Auslagen, die Geschäfte waren voller schöner Dinge wie Kleider, Hüte, Plattenspieler, Fernsehgeräte. Georg war stolz auf seinen geranienroten VW Käfer mit den hellgrauen Ledersitzen. Jeder war satt und zufrieden, die Wirtschaft wuchs. Das war Grund genug, nach vorne zu blicken und endlich den Krieg zu vergessen.

»In Ordnung, du hast mein Wort«, versprach Fee, durchquerte zielstrebig die Halle. Sie sah in die Gesichter ihrer beiden Kinder. Und in die Augen ihres Mannes, der den Hut für Gero abnahm.

Georg, der Mann, mit dem Fee eine Zweckgemeinschaft während einer Fahrt ins Irgendwohin geschlossen hatte, wusste nicht viel. Er hatte ohnehin nicht viel gefragt und war auch nicht sehr gesprächig gewesen.

Endlich kam der Zug auf dem Abstellgleis zum Stehen. Räder quietschten auf den Schienen, die Lokomotive dampfte ein Schnauben aus. Die Puffer des letzten Waggons stießen gegen den Prellbock, gaben ihm noch einen leichten Schubs zurück. Fee kroch unter der Holzbank in die Dunkelheit des Abteils. Sie lauschte noch den Stimmen der Bahnarbeiter nach, die sich entfernten. Sie streifte den Staub und den Schmutz von ihrem Mantel. Überhaupt, der Dreck und der Schweiß der mit Flüchtlingen überfüllten Züge. Und nun war sie in Friedland gelandet.

Hier gab es ein Durchgangslager für alle Heimatlosen aus dem Osten. Deren Strom riss auch nach Kriegsende nicht ab. Ein weiterer Strom aus der SBZ ergoss sich in dieses Lager. Sie hatte gehört, dass auch die Heimkehrer aus Russland hier angespült wurden. Obwohl sie an Gero dachte, dass sie ihn vielleicht hier wiederfände, zog sie das Lager nicht an. Die Enge der Baracken, die Läuse, der Hunger, und die unterschiedlichsten Charaktere und Mentalitäten schreckten sie ab.

Noch eine Nacht darüber schlafen. Im Lager gab es aber immerhin das Rote Kreuz. Vielleicht traf sie tatsächlich Gero wieder, und dann war sie nicht mehr alleine. Oder sie konnte eine Suchmeldung nach ihm aufgeben. Sie sah aus dem Fenster in die von einer schwachen Laterne erhellte Nacht. Friedland. Ein weiterer Zug stand auf dem Gleis nebenan. Sonst schluckten die Stille und die mondlose Nacht sämtliche Geräusche. Fee streckte sich auf der Holzbank aus und deckte sich mit dem Mantel zu. Das Bündel mit den wenigen Dingen, die sie notdürftig bei ihrer Ankunft in Lübeck erhalten hatte, diente ihr als Kopfkissen. Sie lag hart, aber vor Erschöpfung fielen ihr bald die Augen zu. Aus dem leicht geöffneten Fenster wirbelte kühle Luft zu ihr herab. Sie mochte schlafen, aber ihre Sinne waren immer bereit. Bei den Waldbrüdern hatten sich diese Sinne geschärft, die auch im Schlaf das geringste Knacken eines Astes wahrnahmen und sie aufweckten.

Schritte. Jemand blieb stehen, um sich umzusehen. Fee fuhr auf, blinzelte, und war mit einem Mal hellwach. Ein Fuß schlurfte über den Boden. Zaghaft, überlegend. Sie richtete sich auf, warf sich den Mantel um und spähte über die Rückenlehne. Im hinteren Teil des Abteils stand ein ehemaliger Landser, die Kappe auf dem Kopf, und in abgetragener Montur. Er nahm den Rucksack von seiner Schulter, legte ihn auf einer anderen Bank ab. Obwohl Fee flach atmete, bemerkte er sie bereits. Er sah sie an. Unrasiert, hohlwangig, und doch noch kräftig genug.

»Hallo?«, rief der Landser in ihre Richtung.

Sie schnappte das Bündel ihrer Habseligkeiten, rannte in die andere Richtung. Er folgte ihr. Sie flüchtete auf die Plattform, sprang auf das Gleisbett. Unter ihren Schuhen rollte der Schotter. Links neben ihr die Metallwände der Waggons des anderen Zuges. Vor ihr das schwach blinkende rote Licht des Signals. Hinter ihr knirschte der Schotter.

»Warten Sie!«, schrie ihr der Landser hinterher. »Laufen Sie doch nicht weg! Ich tue Ihnen bestimmt nichts!«

Sie hörte aus seiner Stimme ein rollendes R und den weichen Akzent des Südens. Konnte sie ihm vertrauen? Sie hielt an und wandte den Kopf zurück in seine Richtung. »Kann ich mir da sicher sein?«

Er war stehengeblieben und breitete seine Arme aus, als wollte er seine Worte nochmals beteuern. »Ja, Sie können sich sicher sein«, versprach er. »Sehen Sie, hier bin ich. Ich bleibe stehen.«

Fee senkte den Kopf, entschied sich innerhalb einer Sekunde. »Also gut«, sagte sie, drehte sich um. »Ich muss Ihnen wohl oder übel vertrauen.«

»Wenn Sie die Nacht nicht draußen verbringen wollen.« Bedeutungsvoll blickte er in den Himmel.

Einzelne Sterne flimmerten schwach. Es war klar, damit aber auch kalt. Obwohl der Mai gerade erst begonnen hatte.

»Es kann noch sehr frisch werden, vielleicht auch frieren«, fuhr er fort. »Der Winter hatte uns lang im Griff. Er wollte nicht mehr enden.«

Seine Worte, die Art wie er sprach, bekamen plötzlich etwas Warmes, Vertrautes. Fee ging langsam auf den Landser zu. Ihre Augen erfassten ihn noch einmal. Groß, aber er wirkte größer, weil er ziemlich mager war, die Haare unter seiner Kappe schienen dunkel zu sein, und er hatte diesen gewissen Zug um den Mund, der verriet, wie viel er selbst eingesteckt hatte. Alles gesehen, stand in seinem Gesicht geschrieben. Er kletterte auf die Plattform des Waggons zurück und reichte ihr die Hand, damit sie sich leichter tat.

»Ich schlafe hier vorne«, sagte er. »Wenn es Ihnen lieber ist, gehe ich ein Abteil weiter.«

»Ist schon gut«, entgegnete sie.

Er blieb neben ihr stehen, als sie sich dieselbe Holzbank von vorhin aussuchte. »Wie ist Ihr Name?«, fragte er. »Und woher kommen Sie?«

Fee schnaubte, als sie sich ihr Lager erneut herrichtete: »Fee Kask, Estland.«

»Georg Weiß, München«, stellte er sich vor. »Ich komme aus der russischen Kriegsgefangenschaft. Eigentlich will ich nach München zurück, aber ich brauche Papiere. Rüber in die amerikanische Zone, wenn Sie verstehen?«

»Hmhm«, nickte sie.

»Also werde ich mich wohl im Lager melden müssen«, sagte er. »Es zieht Sie auch nicht sonderlich ins Lager, stimmt’s?«

»Das kann man sagen«, gab sie ihm Recht. »Ich sollte, weil ich meinen Bruder suche. Er ist in Stalingrad in Kriegsgefangenschaft geraten. Ich weiß nicht, entweder ist er noch dort, oder sie haben ihn doch entlassen. Aber Sie haben eben gesagt, dass Sie auch aus Russland gekommen sind. Mein Bruder heißt Gero Quint. Haben Sie den Namen irgendwo gehört?«

Georg kniff die Augen zusammen, als versuchte er sich zu erinnern. Er schüttelte den Kopf. »Leider nie gehört. Stellen Sie einen Suchantrag im Lager.«

»Mache ich«, entgegnete Fee. »Vielleicht bleibe ich gleich dort. Wohin sollte ich auch? Aber mit der Frage bin ich nicht allein.«

»Ich kann Sie nach München mitnehmen«, bot er ihr an. »Nur, wenn Sie wollen. Alles liegt in Trümmern. Jede helfende Hand wird gebraucht.«

»Ich werde es mir überlegen«, sagte sie, bettete ihren Kopf wieder auf das Bündel. »Das Leben ist eine Blume.«

»Bitte?«, stutzte Georg.

»Das sagt man in Estland«, erklärte sie und ertappte sich, wie sie trotzig lachte. »Wenn etwas ganz Scheiße ist, ist das Leben eine Blume. Gute Nacht, Herr Weiß.«

Er wünschte ihr ebenfalls eine gute Nacht und schlurfte nach hinten zur letzten Bank, wo er sein Nachtquartier aufschlug. Fee hatte einen Beschützer gefunden, an den sie sich hängte und dem sie nach München folgte.

»Wie du weißt, bin ich in Estland geboren und aufgewachsen«, wandte sich Fee an Meret, beugte sich auf die Höhe der offenen Schublade herab. »In Janeda, einem Dorf an der Ostsee. Meine Eltern hatten ein Haus. Als der Krieg ausbrach, mussten wir unsere Heimat verlassen und alles aufgeben. Wir mussten ins Reich übersiedeln, wie es hieß. Einige Tage später standen die Russen mit ihren Panzern und Soldaten in Estland. Das waren schlimme Zeiten, die Russen gingen grausam mit den eigenen Leuten und mit den Esten um – wie erst mit uns? Nun, Meret.« Sie schob die Alben beiseite, so dass sie sich wie Fächer aufschichteten. Ihre Fingernägel schabten über das Holz, als sie nach etwas griff, was zuunterst lag. Sie hielt etwas vor ihrem Körper wie einen Schatz, den es zu beschützen galt.

Fee ließ sich nieder Sessel, zog das Fach unter der Glasplatte des Tisches heraus. Die Zeit des Schweigens war vorbei. Gero lebte nicht mehr. Sie schnaubte, als unterdrückte sie einen Seufzer, der der Tiefe ihres Herzens entsprang. Dann nahm sie das verbeulte Gehäuse heraus. Ihre dünnen, nachgezeichneten Brauen kräuselten sich, als sie Meret einen tiefen Blick zuwarf. »Kannst du vielleicht jemanden für mich ausfindig machen?«, bat Fee, jedes einzelne Wort kam schüchtern aus ihr heraus, und der Frage folgte ein weiterer schwerer Seufzer. »Seitdem ich Estland ein zweites Mal verlassen musste, habe ich nichts mehr von ihm erfahren. Ob er noch lebt, oder was überhaupt mit ihm geschehen ist. Wenn du überhaupt nach Janeda kommst. Das liegt schon ein Stück von Tallinn weg.«

Sie streckte die Hand, die ein dickeres Papier bedeckte, zur Tischmitte aus. Gebannt hielt Meret den Atem an, als Fees Finger eine alte Schwarzweißfotografie freigaben. Wie ein Schiffchen schaukelte die aufgerollte Fotografie auf der Glasplatte. Damals hatte sie zu viel Wasser abbekommen, der Fleck zwischen den beiden Menschen hatte einen dunklen Rand gebildet.

Meret nahm das Bild auf. Ihr Blick verriet, dass sie in der jungen Frau mit den Wasserwellen, die die linke Seite ihres Gesichts einrahmten, Fee wiedererkannte. Sie trug genau die Ohrringe, die sie ihr geschenkt hatte. Ein hochgeschlagener Tüllschleier bauschte sich über dem Hütchen, sie trug ein bedrucktes Kleid aus schimmerndem Taft und strahlte vor Glück.

Der Mann neben ihr versuchte ein Lächeln, das seine hohen Wangenknochen anhob und die leicht schrägen Augen in Mandeln verwandelte. Er war, den Grauschattierungen nach zu schließen, blond, und dennoch hatte er etwas Fremdländisches. Auch die Uniform wirkte heute wie aus einem Historienfilm entsprungen, der kaum auf wahren Gegebenheiten beruhte. Meret konnte sie ihrem rätselnden Gesichtsausdruck nach zu schließen keinem Staat zuordnen, der damals eine Rolle gespielt hatte. Dunkel und mit unbekannten Zeichen, vielleicht war er Schauspieler an einem Theater gewesen. Jedenfalls war er der andere mit Bleistift gezeichnete Mann.

Das weiße Licht einer fernen, tiefstehenden Sonne lag auf seinen Haaren. Seine Brauen zogen sich wie die geraden Schwingen eines Kranichs über die schmalen, asiatischen Augen. In seinem Blick lag eine ernste Entschlossenheit, die auch das Letzte auf sich nahm. Alles kehrte zurück, die Wucht der Jahre und das Ausmaß des Verlusts ließ Fee keuchend zusammensinken. Erschrocken sah Meret auf. Fee bemerkte, dass ihre Enkelin sie mit stummen Fragen anschaute, wischte sich verschämt mit dem Handrücken den Ansatz einer Träne von der Wange.

»Das war meine Kriegstrauung«, erklärte sie, ihre Stimme gewann die gewohnte Resolutheit zurück. »Mein Mann Kalju Kask.«

Tausende Einzelstücke von Bildern, Farben, Gerüchen, Gefühlen, Worten im weichen estnischen Singsang prasselten auf Fee ein. Sie stemmte sich noch einmal gegen sie, doch sie unterlag. Sie begruben sie mit der Urgewalt eines Tsunamis. Meret staunte mit offenem Mund. So viele Fragen mussten ihr mit einem Wimpernschlag durch den Kopf rennen. Ungläubig betrachtete sie noch einmal das Bild eines Paares, auf dem der Schatten des Krieges lag.

War das tatsächlich die Amama, die das würdevolle Leben einer älteren Dame geführt hatte, so wie sie von ihr immer geglaubt hatte? Die außer gegen sich selbst Schach zu spielen oder eine Patience zu legen nichts Außergewöhnliches machte? Wenn sie hin und wieder von ihrem Estland erzählte, hatte sie Kalju niemals erwähnt. Ihre Biografie ähnelte sich derer anderer Frauen ihrer Generation. Krieg, Vertreibung, neue Heimat Westdeutschland, Begegnung mit einem der unzähligen Heimkehrer, Heirat, Familie, arbeiten für das Wirtschaftswunder und sich im bescheidenen Wohlstand einrichten.

Vom Krieg redete ihre Generation nicht mehr, nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Fee schluckte einen Weinanfall herunter und beschwor Meret: »Du bist die erste und einzige, der ich davon erzähle. Inzwischen bist du alt genug. Nicht einmal dein Vater und Tante Gerti wissen davon. Auch mit dem Opa habe ich nie darüber gesprochen. Da wäre etwas losgewesen.« Ihr entkam ein entrücktes Lachen. »Als ich ihn kennengelernt hatte, hatte ich ihm erzählt, mein Mann sei nicht mehr aus dem Krieg zurückgekehrt. Wer weiß, ob es stimmt? Vom Kompass wusste der Schorsch nur, dass ich ihn noch aus der alten Heimat hatte.«

»Amama?«, wandte Meret ungläubig und zugleich überrascht ein.

»Sag jetzt nichts«, entgegnete Fee, legte das Gehäuse mit den drei Löwen auf die Glasplatte. »Das hat mir Kalju zum Abschied geschenkt. Sein Kompass. Er hatte während des Krieges in der Omakaitse, der estnischen Heimwehr gedient. Die waren im Krieg mit den Deutschen verbündet. Und haben gehofft, wir würden ihnen gegen die Russen helfen.« Kurz widmete sie sich einem der Stiche des alten Reval, kniff die Augen zusammen und sog lange und tief die Luft ein. »Dabei ist mein, sein Estland in Schutt und Asche untergegangen und war von den Russen besetzt, als hätte es niemals existiert. Und ich habe ihn auch noch verraten und aufgegeben, weil ich mich auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs eingerichtet habe. Aber er wollte nicht, dass ich bleibe. Hatte vielleicht gehofft, er würde es auch rüber schaffen in den Westen.« Fee stand auf, ging zum Fenster. Auf einem kahlen Ast stoben muntere Blaumeisten herum, pickten an der Rinde. »Nein. So wie ich Kalju kannte, wäre der nie abgehauen. Der war einer, der für seine Ideale in den Tod geht. Nach dem Krieg hat er aus dem Untergrund gegen die Russen gekämpft. Er und die anderen Metsavennad, Waldbrüder, hatten sich in den Wäldern versteckt und ich war einige Zeit mit ihnen dabei. Dann bekam ich einen gefälschten sowjetischen Pass und arbeitete auf einer Kolchose.« Langsam drehte sie sich um. »Ah, Meret, ich glaube, die ganze Geschichte erspare ich dir. Du denkst, ich bin eine verrückte Alte? Und die Geschichte würde dich zu sehr anstrengen. Such nur nach Kalju Kask. Ich will wissen, ob er noch lebt. Dann habe ich endlich Gewissheit.«

Meret drehte den aufgeklappten Kompass. Die Nadel schlug aus und deutete immer wieder, in welcher Position sie ihn auch immer hielt, nach Norden. Fee nippte endlich an ihrem Cappuccino. Mit einem verlegen Lächeln, das zugleich alles, was vorhin aus ihr herausgesprudelt war, wegzuwischen versuchte, bemerkte sie halblaut, dass sie schon so vergesslich sei und keinen Zucker genommen habe.

»Nein, Amama, bitte erzähl die Geschichte!«, bat Meret. »Sie interessiert mich durchaus. Wie soll ich sonst nach Kalju suchen?«

»Aber nur, wenn du mir versprichst, dass du deinem Vater gegenüber nichts erwähnst«, entgegnete Fee. »Der erfährt sie schon noch. Warum ich sie euch verschweige? Vielleicht solltest du mehr über die Zeit wissen. Wir waren ein romantisches Liebespaar, so wie im Film, und wir hatten Träume und Pläne. Eine Trennung hatten wir schon hinter uns. Der Krieg hat unsere Träume und Pläne zunichte gemacht, und es tat danach zu weh.«

Erneut schluckte sie die Tränen mit dem dünnen Cappuccino herunter. Sie hielt inne, schloss die Augen und setzte an, ihre Geschichte zu erzählen. Meret stützte ihr Kinn in die Hände und wartete.

2. Sonntag heißt Pühapäev

Janeda, Estland, Juni 1938

Die Stimmen hoben zur letzten Wiederholung des Refrains des Liedes an, füllten das karge Innere der Dorfkirche, und auch der Pastor in seiner bodenlangen schwarzen Robe sang kräftig mit. Der Gesang, die Frömmigkeit, das alles schien in den Stimmlagen, die die Orgel auf der Empore begleitete, tief und rein mitzuschwingen. Fee stand mit Gero und ihren Eltern in der Reihe. Immer wieder schweiften ihre Aufmerksamkeit und ihre Blicke über den Mittelgang hinweg zu der Bankreihe, wo die Fischerfamilie Kask saß.

Durch das milchige Glas der Spitzfenster sickerte das weiche Licht der Vormittagssonne und ließ die bunten Farben der Streifen auf Kadri Kasks Rock aufleuchten. Ihre Brust hob sich unter der engen schwarzen Samtjacke, als sie den Ton hielt, mit dem das Lied verhallte. Andres, ihr Mann strich mit der Rechten über den Rockschoß, als er sich bedächtig setzte. Fee fiel auf, dass der ältere der beiden Brüder, Toomas, dieses Mal fehlte. Sie spürte die Hitze in ihren Wangen aufwallen, als sich Kalju nach ihr umwandte und ein Grinsen in der Ernsthaftigkeit der Sonntagsmesse gerade so unterdrückte. Ertappt. Verlegen senkte sie den Kopf, als sie sich neben Gero setzte.

Kalju war vom Militärdienst zurück. Anfang der Woche war Fee mit ihrer Mutter unten in Janeda, um im Dorfladen etwas zu besorgen, als sie den neuen Kutter in den Hafen einlaufen sah. Am Bug stand ein hochgewachsener junger Mann, der Wind wehte ihm die Haare aus der Stirn und er strahlte mit der Sonne um die Wette. Er winkte ihr zur Begrüßung zu, rief ihren Namen. Sie lief an die Steineinfassung der Mole und winkte zurück.

»Mutter, geh doch schon einmal voran«, bat sie. »Du musst nicht auf mich warten. Ich komme gleich nach. Ich möchte nur Kalju begrüßen.«

Gertrud Quint wandte sich ab, zog die Mundwinkel hoch. Sie trug ihren Korb vor dem Rockschoß und verschwand im bunt verglasten Windfang des Dorfladens. Fee hörte die kleine Glocke schellen.

Der grün-weiß gestrichene Kutter lief ein, der Wind spielte mit der kleinen estnischen Flagge am Heck. Mit dem Tau in der Hand sprang Kalju auf die Mole, befestigte den Kutter an einem Poller, ging auf Fee zu. »Was sagst du zum neuen Kutter meines Vaters?«, fragte er. »Die vergangenen Jahre waren ertragreich genug für ihn.«

»Das freut mich für euch«, entgegnete sie.

Diese Augen zogen sie plötzlich in ihren Bann. Die schöne, leicht schräge Form, und diese Farbe. Helles Blau mit einem silbernen Schimmer. Unbeholfen rang sie nach Worten und ihr fiel nichts anderes ein als: »Dein Militärdienst ist vorbei?«

»Hmhm«, nickte er, während er sein Zigarettenetui aus der Tasche seines gelben Ölzeugs nahm.

Er fragte sie mit einem Blick, ob er ihr auch eine anbieten dürfe, dann schien ihm einzufallen, dass er anstelle eines Kameraden eine junge Dame vor sich hatte. Und für die schickte sich das Rauchen in der Öffentlichkeit nicht.

»Du hast dich gemacht, Fee Quint«, bemerkte er.

»Und du dich erst«, entkam ihr unbedacht, was sie empfand.

Innerhalb der beiden Jahre hatte er die weicheren Gesichtszüge eines Heranwachsenden abgelegt. Seine Schultern waren zwar schmal, aber sie hingen nicht mehr so schmächtig herab wie zuvor. Auf seinen Lippen war der ernste Zug geblieben. Er war also wieder zurück und sie hatte bemerkt, dass sie etwas empfand, was sie nie für möglich gehalten hatte. Nicht für ihn, einen Jungen aus dem Dorf, der früh hatte anpacken müssen, und der kaum bei den Spielen ihrer Kindheit dabei gewesen war. Sie, die Saks, die Deutsche, tollte damals mit den estnischen Mädchen und Jungen auf den Wiesen hinter den nah an die Erde gebauten Holzhäusern des Dorfes herum. Sie saß mit Kalju und Toomas unter dem Apfelbaum seines Gartens und spielte Karten. Gemeinsam jagten sie in der Dämmerung der hellen Sommerabende Fledermäuse, bis die Eltern sie alle nach Hause riefen. Doch immer war etwas zwischen ihr und den estnischen Kindern gelegen, eine unsichtbare Grenze, die zwei Welten trennte, obwohl sie sich fließend in ihrer Sprache unterhielt.

Diese Grenze verlief unterhalb der Anhöhe, die vom Meer aufstieg, sich unter einer Lindenallee hinaufwand zu den Mauern eines Landhauses mit dorischen Säulen. Der Familiensitz der Quints. Sie waren keine Barone, wie die Esten die Deutschen auch nannten, lediglich Nachfahren von Ordensrittern, die den Boden des Neulands im Osten bestellt hatten. Der Großvater hatte die Felder und den Wald verwaltet, bis der junge estnische Staat ihn enteignet hatte. Inzwischen bestellten estnische Bauern die Ländereien mit ihren Pflügen, hier grasten Kühe und Ziegen, dort schnatterten die Gänse.

Der Familie waren nur noch einige Räume in einem viel zu großen, viel zu kalten Haus geblieben. Der Vater war Zahnarzt und hatte seine Praxis im Erdgeschoss, die Mutter ließ den Haushalt vom Dienstmädchen Aasa führen; der Bruder war gerade zu den Semesterferien aus Dorpat, jetzt Tartu, angereist, und Fee wartete auf ihre Heirat, die sie einem behüteten Leben in ein anderes übertreten ließ.

»Setz dich!«, Gero zupfte an Fees Rock.

Schnell nahm sie in der Kirchenbank Platz, versank noch mehr in ihrer eigenen Verlegenheit. Der Pastor segnete seine Gemeinde mit Worten, hob den Arm und zeichnete ein Kreuzzeichen in die Luft. Fee klappte das Gesangsbuch zu, legte es neben sich auf die Bank. Noch ein verstohlener Blick auf Kalju. Ein Bündel Sonnenstrahlen traf seinen Hinterkopf, verwandelte seine Haare in fließendes Gold. Hastig bekreuzigte sich Fee. Ihr Vater nahm gerade die Hand des Mannes hinter sich an, um einander Frieden zu wünschen. Gero drückte ihr die Hand, doch sie spürte, dass er nicht mit dem Herzen dabei war. Rechts von ihr saß niemand. Sie rutschte zum Ende der Bank und auch Andres Kask kam ihr entgegen. Ein aufgeregtes Zittern durchfuhr sie bis in den kleinen Finger, als sie dem kräftigen Mann mittleren Alters die Hand reichte.

»Friede sei mit Ihnen«, murmelte sie auf Estnisch.

»Friede sei mit dir«, entgegnete er.

Ein nachdrückliches Lächeln, das mit seinem Innersten übereinstimmte, zeichnete in seinem wettergegerbten Gesicht hunderte kleine Fältchen ein. Diese unglaublich hellen Augen standen im Gegensatz zu der von See und Wind gebräunten Haut. Sein Händedruck war fest, und als er bemerkte, dass er die schmale Hand einer jungen Frau umfasste, lockerte er ihn wieder. Hinter seiner Schulter beobachtete Kalju die Geste mit wachen Augen, diesen unglaublich hellen Augen. Wie der Blitz bei einem Seegewitter, oder wie der Himmel der nahen Mittsommernacht.

Fee glitt in die Bank zurück, presste den Stoff ihres Kleides unter die Kniekehlen, als sollte die Anspannung aus ihr weichen. Otto Quint, ihr Vater nahm den Hut, nickte der Mutter zu und erhob sich. Schuhe scharrten über die Grabplatten im Kirchenboden, Holz gab leise ächzend nach, als einer nach dem anderen aufstand. Die bunten Röcke der Frauen schwangen über die Steinfliesen und die grauen Grabplatten mit ihren verblassten lateinischen Inschriften. Dieses Mal suchte Fee nicht im Hinausgehen nach ihrem Urgroßvater, den Attribute wie liberalis, graciosus und pius würdigten, sondern sie bewegte sich anders. Aufrecht, mit kleinen Schritten, die Gobelintasche vor dem Schoß. Sie drückte den Rücken durch, damit sie noch ein wenig anmutiger die Kirche verließ. Graciosa. Cum magna gracia.

Die Sonne flutete von ihrem höchsten Stand auf den Platz vor der Kirche. Sie trocknete den Morast, den der Regen von Anfang der Woche hinterlassen hatte, zu einer steinharten Fläche. Ein Pferd wieherte. Ungeduldig klapperte sein Huf. Das Pferd vor dem Leiterwagen einer Bauernfamilie erwiderte ein lautes Schnauben, verscheuchte mit schlagendem Schweif die plagenden Fliegen. Zwischen den regungslosen Birken und den Holzhäusern auf der anderen Seite des Platzes staute sich die Schwüle, der Wind schlief über dem Meer. Fee blieb stehen, reichte dem Pastor zum Abschied die Hand. Er wandte sich ihrem Vater zu, um mit ihm einige Worte zu wechseln. Der Pastor unterbrach die Unterhaltung jedes Mal kurz, als er diesen oder jenen aus der Gemeinde verabschiedete. Auch Kalju wünschte dem Pastor einen schönen Sonntag. Der Blick, den er Fee zuwarf, lud sie ein, mit ihm einen Schritt auf den Platz zu gehen. Fragend und bittend zugleich sah sie ihre Mutter an, doch die registrierte sie nicht. Also folgte sie Kalju.

»Ich vermisse Toomas«, sagte Fee, ertrug sein Schweigen nicht länger.

»Er wollte heute nicht mitkommen«, erklärte er knapp, ließ ihr an der engen Windung der Stufen den Vortritt. Aber er hatte wohl nicht vor, sich großartig über seinen Bruder auszulassen, sondern fragte beiläufig: »Sehen wir uns auf dem Mittsommerfest?«

Nicht einmal die Hitze der Mittagssonne nahm sie noch wahr. Sie hielt nur die Hand über die Brauen, damit sie sein Gesicht im fließenden Licht klarer erkennen konnte. Nie zuvor war ihr aufgefallen, dass er eine so vornehme Nase hatte. Anders als die der Söhne deutscher Familien, nicht so groß und adlerartig, sondern schmaler, gerader. Er machte sie verlegen, so wie er sie ansah. Während er ihre Antwort erwartete, studierte er ihre Züge, den Bogen ihrer Lippen, auf denen der Rest Pomade feucht glänzte. Sie atmete schneller, was die Knöpfe ihres Seidenjäckchens spannte.

»Ja«, antwortete sie.

Ein erleichtertes Lächeln hob seine Wangenknochen an. Anstelle zu bekunden, wie sehr er sich freue, sagte er nur: »Hästi – gut.« In der Weise wie er dieses hästi betonte, schwang die Freude über ihre Zusage mit. Er blickte nach oben in den Himmel, dann auf sie. Seine Hand berührte leicht ihre Schulter. »Ist dir nicht zu heiß in der Sonne?«, fragte er. »Du solltest besser in den Schatten der Birke hier gehen, bevor dir schwindlig wird.«

Sie verstand, was er mit der Berührung meinte. Sie suchte den Schutz der tief herabschwingenden Äste der großen Birke neben der Kirche. Schweigend standen sie einander gegenüber, gleichzeitig fielen unzählige unausgesprochene Worte. Wie du dich in den beiden Jahren verändert hast, sprach sie zu ihm, gar nicht mehr der Junge, und siehst ganz anders aus.

Und du, Fee, bist leibhaftig schöner als ich dich in Erinnerung hatte, erwiderte der Schwung seiner Wimpern. Ich würde umfallen, wenn du mich fragst, ob wir miteinander gehen, sagte ihr verlegenes Abschweifen zu dem in der Sonne silbern schimmernden Birkenblatt, ob es wahr ist?

Die ganze Zeit über habe ich mich auf ein Wiedersehen mit dir gefreut und wenn du wüsstest, wie verlegen du mich an der Mole gemacht hast, gestand er, strich sich über das Kinn und entdeckte verschämt einige Bartstoppeln, die er bei der Rasur wohl ausgelassen hatte. Dank meines Vaters hatte ich einen Grund, zu dir zu kommen, und so lange das Meer Wasser hat, wird es genügend Gründe geben. Sieh morgen wieder vorbei, ja?

Ihr Blick kehrte zu ihm zurück, von unten nach oben. Ich will mit dir an Mittsommer tanzen.

Er stellte sich aufrecht hin, die Brust nach vorne und wusste doch nicht wohin mit seinen Händen. War ich mutig, sie zu fragen, beglückwünschte er sich seinem Grinsen nach zu schließen selbst.

Hinter Fee setzten sich langsam die Hufe der Pferde in Bewegung. Der hohle Klang hallte gleichmäßig über den Platz, wurde leiser, je weiter er sich die Droschken und Leiterwagen auf der Straße entfernten.

»Deine Eltern wollen nach Hause fahren«, bemerkte Kalju.

Sie wandte sich um, sah ihren Vater zum Einspänner vorangehen. Er blickte in die andere Richtung, hielt seinen Hut noch in der Hand, während er jemandem zum Abschied zunickte. Fee spürte die verwunderten Augen ihrer Mutter auf sich, und auch das fragende Stirnrunzeln ihres Bruders. Der Schatten fiel in den Schmiss auf Geros Wange, zeichnete ihn tiefer.

»Du hast Recht«, sagte sie. »Ich muss gehen. Nägemist, wir sehen uns.«

Erwartungsvoll hielt sie inne, was Kalju tun würde. Er verabschiedete sich, ging auf die beiden Männer zu, nahm sein Zigarettenetui und steckte sich eine Papirossa zwischen die Lippen. Fee stieg auf das Trittbrett hinten am Wagen, kletterte zu ihrer Mutter auf den Sitz. Ihr Vater nahm die Peitsche, trieb den Grauschimmel an. Mit einem Ruck fuhr der Einspänner los, eine kleine Staubwolke stieg unter den Rädern auf, die über die Rücken der Findlinge in der ausgetrockneten Erde rumpelten. Sie neigte den Kopf, sah verstohlen auf Kalju in der Gruppe der Männer zurück.

*

Fee machte eine Pause, um ihren Cappuccino auszutrinken, der sich bereits lauwarm an die Wand der Tasse anlegte. Meret entging nicht, dass ihre Augen strahlten. Sie befand sich wieder in der Zeit, von deren Erinnerung sie zehrte, wenn sie allein für sich war.

»Waren deine Eltern dagegen, dass du in Kalju verliebt warst?«, fragte sie.

»Ich wurde relativ frei erzogen«, antwortete Fee, fuhr mit der Hand durch die Luft, als zerstob sie das Gerede von damals noch einmal zur Belanglosigkeit. Nachdenklich kräuselte sie ihre Brauen, setzte die Tasse ab. »Von ihnen kamen die üblichen Sprüche, ich sei keine Estin und warum ich mir keinen Deutschen suche«, erklärte sie. »Natürlich waren sie nicht begeistert davon. Kalju stammte nur aus einer Fischerfamilie. Sie hätten ihn eher akzeptiert, wenn sein Vater Akademiker gewesen wäre. Vielmehr war mein Bruder, der, sagen wir, gewisse Vorbehalte hatte. Leider – leider war er ein Nazi. Obwohl Kalju wohl alle Attribute des nordischen Ideals in sich vereint hätte, groß und blond. Gero war aber anderer Ansicht, denn er dachte wie die Barone über die Esten gedacht hatten. Dass sie die Felder der Landgüter bestellen, die Bäume in den Wäldern fällen und die Trutzmauern der Ordensburgen bauen sollten, aber niemals lesen, schreiben oder frei denken durften.«

Meret schauderte bei der Erinnerung an Onkel Gero. Ein Auge war ohne Lid, wie bei einer Schlange. Bei größeren Familienfeiern war er stets dabei gewesen. Zuletzt beim achtzigsten Geburtstag der Amama, und einige Monate darauf war er gestorben. Sie hatte gespürt, dass die Höflichkeit, die die beiden gealterten Geschwister einander entgegengebracht hatten, immer von einer unterschwelligen Spannung bestimmt war. Die Amama hatte ihr erklärt, dass Onkel Gero in Stalingrad und danach in Gefangenschaft war.

»Wie Leibeigene also?«, fragte Meret.

»Genau so«, stimmte ihr Fee zu. »Wohin Gero seine Füße auch setzte, glaubte er, wie einer der Ordensritter aufzutreten, die Estland unterworfen hatten. Dann kam noch der damalige Zeitgeist dazu. In Tartu war er in einer Schlagenden Verbindung, und die deutschen Burschen tickten alle so, und noch mehr, wenn sie besoffen waren. Es ist schwer, einen solchen Bruder zu lieben. Man muss, ob man will oder nicht.«

*

Endlich streifte ein Lufthauch über die Wiese, brachte die Köpfe der Margeriten und die blauen Becher der Glockenblumen zum Schwingen. Fee atmete auf, legte die gelbe Reclamausgabe von Schillers Räubern umgedreht neben sich. Sie hielt den Rock ihres Kleides fest. Der Schatten des Apfelbaums spendete angenehme Kühle. Es blieb gleichgültig, was sie las, sie verlor die Handlung und vergaß die Namen. In ihr wirkten die stummen Momente unter der Birke nach. Hatte Kalju sie nicht auf diese besondere Weise angesehen? Sie zwinkerte der Sonnenscheibe entgegen, die im dunklen Schleier einer Wolke verschwand.

»Schwester, ich glaube, du brauchst eine Abkühlung«, hörte sie Geros Stimme von der Veranda her.

Er kam auf sie zu, in beiden Händen trug er die Gläser mit hellrotem Sirupwasser. Fee nahm das Glas aus Hand ihres Bruders an. Gero setzte sich neben sie. »Sieht nach Gewitter aus«, bemerkte er.

Sie reckte ihren Hals, blickte über die Kuppe der Anhöhe auf das Meer hinab. »Vielleicht vertreibt der Wind die Wolken?«, vermutete sie schulterzuckend.

»Ja, vielleicht«, sagte er, rieb sich verlegen die Nasenspitze. »Was gab es zwischen dir und dem Fischer zu besprechen?«

Vor Verlegenheit errötete sie. Die Frage ihres Bruders traf sie unvermittelt. »Kalju wollte wissen, ob wir zur Mittsommerfeier kommen«, antwortete sie. »Und ich habe Ja gesagt.«

Abfällig schüttelte Gero den Kopf, riss einen Grashalm ab. »Schwesterherz, das wird nichts«, sagte er. »Du kannst auf die Mittsommerfeier gehen. Aber mit den Esten haben wir nichts zu schaffen. Die waren immer unter sich und wir auch.«

»Wir sind Estländer«, widersprach Fee. »Wenn ich dich erinnern darf, du hast früher auch mit Kalju und Toomas gespielt. Ihr habt eure Stöcke wie Schwerter gekreuzt, seid über die Äcker gelaufen und ... «

»Moment!«, wandte er ein, hob abwehrend die Hand. »Damals waren wir Kinder und wussten nichts. Nichts von der Geschichte des anderen. Wir sind immer noch Deutsche, und denen überlegen. Ich sollte dir einen meiner Kommilitonen vorstellen. Er würde dir gefallen.«

»Nein, spar dir die Mühe«, lehnte sie ab, nahm das Buch wieder auf. »Verschone mich mit deinen Germanen.«

»Du kennst den, den ich meine, noch gar nicht«, sagte er. »Ich will nur das Beste für dich. Du musst stolz auf deine Rasse sein.«

»Hör auf, Gero, ich mag diesen Unsinn nicht hören!«

In einem Zug leerte er sein Glas, schielte dabei beleidigt zu ihr herüber. Inzwischen lag der Garten im Schatten der aufziehenden Gewitterwolken. Der Wipfel der Linde schwankte, das Rauschen ihrer Blätter vereinte sich mit dem entfernt grollenden Donner. Gleichzeitig warfen Fee und Gero einen beunruhigten Blick in den grauschwarzen Himmel. Hastig stand sie auf, legte die Decke zusammen.

»Es hat sich eben nicht verzogen, sondern es kommt genau auf uns zu«, stellte er mit einem überlegenen Grinsen fest.

»Darum gehe ich auch ins Haus«, sagte sie, lief quer über die Wiese zu dem mit feinem Schotter bedeckten Weg.

Die ersten Regentropfen fielen herab, platzten auf den Blättern der Linde. Fee fühlte sie auf ihren Haaren und an ihren bloßen Füßen. Aasa, die estnische Haushälterin, sammelte eilig die Kissen von den Terrassenstühlen ein, klemmte die Tischdecke unter die Achsel. Mit einem dumpfen Schlag fiel die Verandatür zu und sie mühte sich mit einem Finger ab, den Griff aufzuziehen. Als sie Fee und Gero hinter sich bemerkte, stemmte Aasa die Tür mit ihrem Rücken. Prasselnd entlud sich ein Regenschauer auf der Glasüberdachung der Veranda, auf dem Vordach und gegen die Fensterscheiben. Ein greller Blitz zerteilte den schwarzen Himmel, Sekunden später antwortete ein dumpfer Donnerschlag, der die Fensterscheiben wackeln und die Gläser im Büffet zittern ließ. Fee atmete auf. Sie dankte dem Gewitter, dass es diese unangenehme Diskussion mit ihrem Bruder unterbrochen hatte, und eine wohltuende Abkühlung brachte.

Die Geräusche aus der Küche weckten Fee am Montagmorgen. Als fände sie sich noch nicht so ganz im Hier und Jetzt zurecht, tastete sie nach dem Federkissen. Ihre Finger strichen zwischen die Rüschen. Die Morgensonne warf die Äste des Apfelbaums als sanfte Schatten auf die Kommode und den Toilettentisch. Sie hob den Kopf, richtete sich langsam auf und streckte ihren Oberkörper. An der Fensterscheibe hingen noch feine Tröpfchen, die in der Frische des neuen Morgens geblieben waren, und sie freute sich, dass die Sonne hellgelb leuchtend über den Wolkenresten aufstieg.

Im Wipfel des Apfelbaums gurrte eine Wildtaube. Fees erster klarer Gedanke galt Kalju. Er ist längst draußen auf dem Meer, mitten in der Nacht muss er ja aufgestanden sein, überlegte sie, setzte die Füße auf den kleinen Floralteppich neben dem Bett. Von unten drang das Klappern von Besteck auf Porzellan. Sie hörte die gedämpften Stimmen ihres Vaters und ihres Bruders. Ihr Denken unternahm einen erneuten Anlauf. Sie beschloss, zu der Zeit, wenn die Boote in den Hafen einliefen, dort zu sein. Kalju würde es nicht als unangenehm empfinden, wenn er sie auf der Mole stehen sah.

Unten im Wohnzimmer tickte die Standuhr mit ihrem hin und her schwingenden Pendel. Tempus fugit – die Zeit vergeht. Fees nun geordnete Haare verdeckten den Spruch auf dem Ziffernblatt, als sie sich im weichen Samt des Stuhls niederließ. Aasa servierte ihr frischen Kaffee in der Meissener Kanne, tauschte ein zurückhaltendes, aber warmes Lächeln mit Fee.

»Bei allem Respekt, Vater, aber Deutschland braucht den Völkerbund nicht. Wir stehen als eine große Macht mitten in Europa da«, nahm Gero die Diskussion wieder auf, die sie oben lediglich als unverständliches Grummeln wahrgenommen hatte. »Ganz im Gegenteil, der Völkerbund wird es uns danken, dass wir als Schutzwall dem Bolschewismus entgegenstehen. Siehst du es denn nicht auch so? Wir leben am Rand von Stalins Reich, und kommt es dir nicht auch bedrohlich vor?«

Otto schlug die Zeitung um und fuhr über seinen gewachsten Schnauzbart. »Mein lieber Sohn, Gero, unsere Familie lebt seit vierhundert Jahren in Estland.«

Gertrud Quint und Fee warfen einander einen Blick zu, der dieser alltäglichen Debatten überdrüssig war.

»Mich beeindruckt dieser Stalin in keinster Weise, so wie mich dein Hitler in keinster Weise beeindruckt, oder gar überzeugt«, fuhr Otto fort. »Ich halte die Isolation, in die er Deutschland treibt, für gefährlich. Mach nicht den Fehler und halte dich den anderen überlegen. Keiner der Quints hat sich jemand anderem überlegen gefühlt. Ich sage dir eines, was die Russen mit ihrem Bolschewismus ausprobieren, wird vielleicht noch zwanzig Jahre gut gehen. Und so lange werden wir, hoffentlich, auch keine unangenehmen Überraschungen mit unseren Nachbarn erleben.«

»Österreich hat sich bereits vor einem Vierteljahr dem Deutschen Reich angeschlossen«, entgegnete Gero mit wütend glühenden Augen. »So ist es auch richtig. Eine große Nation geht in der noch größeren auf. Überall wo Deutsche leben, ist das Deutsche Reich. Auch wir sollten unter dem Schutz des Führers stehen.«

Energisch schmierte Fee die Butter auf die Brotscheibe, die sie in der Handfläche hielt. Erst der mahnende Blick ihrer Mutter erinnerte sie daran, dass dies nicht den Manieren eines erzogenen Fräuleins entsprach. Sie legte die Scheibe auf dem Tellerrand ab, schüttelte den Kopf. »Vor wem oder was soll uns denn dein Führer beschützen?«, fuhr sie Gero von der Seite an.

»Hast du mir nicht zugehört?«, blaffte er zurück. »Vor den Bolschewisten und vor dem Judentum. Genau aus dieser Bedrohung heraus hat sich Österreich uns angeschlossen.«

»Dafür werden in Deutschland seit Jahren Menschen weggesperrt und in Lager gebracht«, entgegnete sie entschieden. »Das kannst du nicht gutheißen, oder?«

Aasas schmale Hand griff nach dem benutzten Teller und Besteck des Doktors. Getrud senkte verschämt die Lider, tupfte die Lippen an der Baumwollserviette ab. »Allmählich wird die Unterhaltung peinlich, Gero.« Sie strich über Fees Handrücken und sah Aasa an. »Wir werden uns nach dem Frühstück um den Garten kümmern«, wandte sie sich an die beiden, wechselte ins Estnische. »Wollen wir nachsehen, was das Unwetter und der Regen von vergangener Nacht angerichtet haben.«

Otto faltete die Zeitung zusammen, stand auf. »Ich werde mich jetzt um meine Patienten kümmern«, sagte er, wobei ein Blick die Standuhr streifte. Dann sah er auf Gero herab und legte ihm nahe: »Komm mit in die Praxis. Dann lernst du etwas dazu.«

Irgendwann sollte, so plante es der Vater, Gero die Praxis führen. So wie er das Handwerk und die Wissenschaft von seinem eigenen Vater übernommen hatte. Gero stützte die Hand auf die Tischplatte, schob den Stuhl zurück. Dabei vernichtete er Fee mit Blicken. Obwohl sie erschauerte, hielt ihm stand. Er wandte sich ab, folgte dem Vater, die Tür schlug in den Rahmen. Erschüttert stellte sie fest, dass sie ihren eigenen Bruder nicht wiedererkannte. Sie hielt inne, dann fasste sie den Mut, sich ihrer Mutter anzuvertrauen: »Woher hat er nur diese Ansichten? So haben wir doch nie gesprochen.«

Getrud schüttelte den Kopf, wobei die Perlen an ihren Ohrhängern zitterten. »Ich fürchte, das Gift der nationalsozialistischen Denke ist bereits in die Universität durchgedrungen.«

Mit dem Tablett vor dem Schoß lehnte Aasa an der Bücherwand, nachdenklich betrachtete sie Fee und ihre Mutter.

»Falsche Freunde«, seufzte Gertrud. »Ich hoffe, er kommt wieder zur Vernunft.« Sie rückte zur Seite, und Aasa kam, um abzuräumen.

Die aufsteigende Sonne leuchtete das Profil ihrer feinen Nase aus. Ein hintersinniges Lächeln lag auf ihren vollen Lippen, während sie Teller und Tassen aufeinanderstellte. Gertrud legte die zusammengenestelte Serviette auf den Tisch und erhob sich. »Gehen wir jetzt in den Garten«, sagte sie. »Aasa, kommen Sie nach, wenn Sie so weit sind.«

Glitzernd lag die Bucht in der Nachmittagssonne. Föhren und Kiefern fassten sie ein und das Meer umspielte ihre Ufer. Fee schob ihr Fahrrad zum Eisentor, stellte es ab, drückte den Flügel auf. Sie hatte ihrer Mutter gesagt, sie brauche noch eine Fadenrolle und Knöpfe im Kurzwarenladen, um ihr Kleid fertig zu nähen. Dass sie die Rückkehr der Fischer erwartete, hatte sie nicht erwähnt.

Die Reifen holperten über die Steinchen im Weg, der leicht bergab nach Janeda führte. Eine Schar Spatzen badete in einer Pfütze. Die munteren kleinen Vögel plusterten sich auf und verspritzten feine Tröpfchen, während sie hinein hüpften und ihre Bäuche ins Regenwasser tauchten. Sie stoben auseinander, als Fee vorbeifuhr und ließen sich im niedrigen Gebüsch am Wegesrand nieder. Der süße Duft der Lindenblüten begleitete sie. Sie freute sich daran, denn das war der Geruch des jungen Sommers.

An der Kreuzung hielt Fee für ein rumpelndes Fuhrwerk an. Der Bauer, der mit seinem Sohn auf dem Bock saß, hob für sie den Hut, sie erwiderte den Gruß mit einem Nicken. Telegrafenmasten säumten die Straße ins Dorf, am Fuß des Hügels standen die ersten gelbgetünchten Häuser auf. Hinter einem Holzzaun bellte ein Hund und lief hinter den rohen Latten her. Fee wich den herabgefallenen kleinen Äpfeln aus, die unter den ausfächernden Ästen eines Baumes auf der Straße lagen. Einige der harten grünen Äpfel lagen plattgewalzt zwischen den Steinen und der aufgeweichten Erde.

Vor dem Kurzwarenladen lehnte sie das Fahrrad gegen den Stamm einer Birke. Der schlanke Baum warf mit dem Wind die Schatten seines leuchtend grünen Geästs über den Boden. Als sie die Tür aufschob, in deren Glas die neuesten Schnittmuster klebten, sog sie den Geruch auf, den die Stoffballen im kleinen Verkaufsraum verbreiteten. In Janeda war die Auswahl bescheidener als in Pernau oder Reval. Während der Verkäufer hinter dem Tresen nach zweierlei Knöpfen suchte, die Fees Beschreibungen entsprachen, warf sie durch das Fenster ungeduldige wie aufgeregte Blicke auf den Ausschnitt des Hafens.

»Und dann hätte ich noch diese Ausführung, Fräulein Quint«, sagte der Verkäufer bedächtig. Sein Kopf verschwand unter dem Tresen.

Sachte trommelte Fee mit den Fingernägeln auf das Holz. Bevor sie einwenden konnte, dass sie sich bereits für die ersten Knöpfe entschieden habe, stellte der Verkäufer eine graue Pappschachtel vor ihr hin.

»Das sind Einzelstücke«, erklärte er. »Vielleicht haben Sie Glück und finden gerade noch so viele, wie Sie benötigen. Der goldene hier wäre recht hübsch.«