Das Ding drehn - Hans Schefczyk - E-Book

Das Ding drehn E-Book

Hans Schefczyk

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  • Herausgeber: Transit
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

IKEA Toulouse. Jeden ersten Samstag im Monat sollte in jeder Stadt, in der ein früheres Mitglied der Zellen lebte, jemand zwischen 12 und 13 Uhr im IKEA-Restaurant warten und Zeitung lesen. Wer versprengt war, wer Unterstützung brauchte, der konnte dort Hilfe finden. Jetzt, wo einer von ihnen in Barcelona aufgeflogen war, blieb nur Toulouse. Mitglieder einer militanten Zelle – mehrere Frauen und Männer, einige versteckt im Ausland, andere in Deutschland lebend – müssen sich ein neues Ziel setzen. Sie brauchen Geld, um zu überleben. Nach der Auflösung ihrer Organisation wollen sie mit einem letzten Coup ihre Existenz sichern. Dieser höchst politische und aktuelle Krimi spielt in Barcelona, Toulouse, Lissabon, Köln und Paris. Es geht nicht nur um Geld. Es geht auch um Moral, um Prinzipien, um »intelligente« Kriminalität und unbeugsame Konsequenz – mit einem sehr überraschenden Finale: Scheitern und Happy End zugleich.

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EPUB

Seitenzahl: 326

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© 2017 by :TRANSIT BuchverlagPostfach 121111 | 10605 Berlinwww.transit-verlag.de

Umschlagabbildung, unter Verwendungeines Fotos von Robert Wheatley, Biking,und Layout: Gudrun FröbaeISBN 978-3-88747-346-4

Hans Schefczyk

DAS DING DREHN

»Was ihr den Geist der Zeiten heißt,Das ist im Grund der Herren eigner Geist,In dem die Zeiten sich bespiegeln.«Goethe, Faust

Inhalt

Das Ding Drehn

EIN MANN SPÄHTE VERSTOHLEN um die Hausecke der Carrer del Doctor Dou in Barcelona und hoffte, dass er sich getäuscht hatte. Denn sonst hatte er soeben alles verloren: seine Arbeit, seine Wohnung, seine Freundin, seinen Namen, alles. Der Mann war dreiundfünfzig Jahre alt, doch tiefe Furchen um seinen Mund und die faltigen Tränensäcke ließen ihn zehn Jahre älter aussehen, und weitere zehn Jahre älter noch fühlte er sich in diesem Augenblick.

Er kam von einem Konzert Lluís Llachs, wo er mit Lara Rotwein aus Plastikbechern getrunken hatte. Im Taxi hatte sie beschwipst L’estaca angestimmt, bis erst der Fahrer und schließlich auch er eingefallen waren. »Segur que tomba, tomba tomba«, immer wieder nur den Refrain:

»Ich drücke hier, und du ziehst weg.

So kriegen wir den Pfahl vom Fleck,

werden ihn fällen, fällen, fällen,

werfen ihn morsch und faul zum Dreck.«

Lara ließ sich vor ihrer Wohnung absetzen. Sie tröstete ihn mit einer Verabredung zum Essen am folgenden Abend und mit einem langen Abschiedskuss, den der Taxifahrer wohlwollend im Rückspiegel beobachtete. Dann schwebte sie hoch in ihre Wohnung.

»Warten Sie bitte eine Sekunde«, wies er den Fahrer an. Und tatsächlich kam Lara noch ans Fenster. Winkte und warf ihm eine Kusshand zu.

Als das Taxi in die Carrer del Doctor Dou einbog, fiel ihm ein weißer Transporter auf, der vor einem mit Graffiti besprühten Rolltor parkte. Seine Wohnung lag im dritten Stock des Altbaus gegenüber. An Sommerabenden stand er oft auf dem schmalen Balkon an die gusseiserne Balustrade gelehnt und stimmte sich mit einem Glas Porto auf den Feierabend ein. Das Rolltor war dann hochgezogen, die Glastüren des Schnellrestaurants standen offen und vom Grill wehte ein Geruch aus altem Fett und frischem Curry zu ihm hinauf, den er lieben gelernt hatte – der Geruch seiner neuen Heimat.

Es war die Ladezone des Bistro Marrakesh, auf der der Lieferwagen parkte. Morgen früh wird er abgeschleppt, dachte er, und dann sah er – oder glaubte gesehen zu haben, ganz sicher war er nicht – wie der Transporter für einen kurzen Moment eine Art Knicks machte, indem der linke hintere Stoßdämpfer eine Handbreit nach unten federte, als sei im Laderaum jemand kurz aufgestanden.

»Fahren Sie weiter!«, herrschte er den Taxifahrer an, bedauerte sogleich seinen Ton und sagte dann ruhig mit seiner sonoren Stimme: »Nächste Straße rechts, bitte!« Dort stieg er aus und ging zurück zur Ecke, von wo aus er den Transporter beobachtete, der still und unbewegt im Halteverbot stand. Aber er hatte sich bewegt! Oder nicht?

Zum Glück hatte er abstehende Ohren. Und eine kleine Lücke zwischen den Vorderzähnen. Sonst hätte Ronja ihm die Brieftasche mit der Post geschickt. Sonst wäre er ihr zu perfekt gewesen. Mit seinen Augen in dem satten Blau der Trikots, in denen italienische Nationalmannschaften ihre Spiele bestreiten. Mit seinem tiefschwarzen, dichten, gewellten Haar, das er lang trug und nach hinten gebürstet (womit er die Segelohren verdeckte). Mit seinem spitzbübischen Lächeln. Mit seiner auf Ronjas Geschmack zugeschnittenen Größe. Groß. Über eins achtzig. Aber nicht zu groß für den Meter vierundsechzig, auf den sie kam, wenn sie Absätze trug (was sie immer tat, außer ausgerechnet jetzt!). Er wäre ihr einfach zu hübsch gewesen, zu glatt. Deshalb hätte sie ihm die Brieftasche mit der Post geschickt und ihn nie kennengelernt. Ihn nicht und sein Zahnlückenlächeln nicht, mit dem er ihr jetzt die Treppe hoch entgegenstürmte, und das sein Gesicht strahlen ließ und ihm eine zugleich jungenhafte und leicht ordinäre Anmutung gab. Er war, dachte sie, der perfekte Liebhaber, um Erik zu vergessen.

Und beim Blick in den Spiegel nicht an Nele zu denken.

Sie lehnte am Türrahmen, noch in Arbeitskleidung: Jeans, weites Sweatshirt, kein BH, obwohl das längst aus der Mode war. Sogar Hausschuhe hatte sie an. Er kam pünktlicher als erwartet. – Das hätte ich mir wirklich denken können. Das hat man ihm in den sieben Jahren beigebracht.

Sie schickte ihm ein Lächeln die Treppe hinunter, die er nun, so angespornt, in nähmaschinenschnellen Skippings heraufraste. Oben hätte ihn der Schwung fast umgerissen, aber sie fing ihn auf. Sie lagen sich lachend in den Armen. Ronja stellte sich auf die Zehenspitzen, er beugte seinen Kopf hinunter, und noch im Treppenhaus küssten sie sich.

Sie hob ihren rechten Fuß und schlappte mit dem Pantoffel. »Ich bin noch nicht angezogen«, entschuldigte sie ihre Aufmachung, als stünde sie nackt vor ihm. »Ich bin mit dem Musikvideo noch nicht durch.«

Ohne ihn dabei loszulassen, schob sie ihn an den Schultern etwas von sich fort und begutachtete ihn von oben bis unten: seine nackten, schlanken Füße in Slippern, die s.Oliver-Jeans, das weit geschnittene Hemd in changierendem Bordeauxrot, drei Knöpfe offen. »Sehr schön, gefällt mir«, sagte sie und knöpfte den untersten zu. Er griff irritiert an seinen Kragen.

Sie lächelte. Ihr gefiel, diesen Dreitagebartkerl verunsichert zu sehen. Das hätte sie bei einem Mann wie ihm nicht erwartet. Eher überschäumendes Selbstbewusstsein. Aufbrausen. Reden statt Zuhören. Dominanz. Sturheit. Verschlossenheit. Aggressivität. Aber nein! Er sah aus wie ein GQ-Modell mit seinem dunklen Teint, den hageren, gleichmäßigen Gesichtszügen und der drahtigen Figur. Doch er war zurückhaltend, aufmerksam, fast ein wenig schüchtern.

Sie nahm ihn an die Hand und zog ihn in die Wohnung, in ihr Wohnzimmer, das zugleich ihr Arbeitszimmer war. Auf drei Monitoren flimmerten Standbilder eines Sängers mit Filzhut. »Du musst dich noch etwas gedulden, nur noch drei Schnitte, tut mir leid. Ging nicht schneller. Musikclips sind vertrackt.«

»Ich habe was für dich.« Er gab ihr einen verschlossenen Geschenkumschlag. Sie fand darin zwei Karten für ein Spiel des 1.FC Köln.

»Statt Blumen«, sagte er. »Ich dachte, da du dauernd drüber redest, willst du vielleicht auch mal ins Stadion. Haupttribüne Ost, bei den feinen Leuten.«

Lachfalten wie Sonnenstrahlen, dachte Ronja und sagte: »Eigentlich bin ich eine Frau für die Südkurve! Aber ich freue mich trotzdem, danke!«

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn lange. Danach fragte sie: »Für wen ist die zweite Karte? Kommst du mit?«

»Ich zum Fußball?! Nee, lass mal. Außerdem kann ich an dem Wochenende nicht. Da musst du einen deiner vielen anderen Lover mitnehmen.« Er sah sie prüfend an.

Versteckte Fragen kommentierte sie grundsätzlich nie. Ungerührt sagte sie: »Sehr großmütig. Trotzdem: Du sollst nicht so teure Geschenke machen.«

»Das Geld habe ich doch von dir.«

»Aber es war deins.«

Als habe jemand auf eine Stopptaste gedrückt, so leer und starr lag die Straße vor ihm. Kein Mensch, keine Katze, keine Maus. Nichts bewegte sich. Kein Fenster, das schlug. Kein Laternenlicht flackerte. Kein Blatt Papier, das ein Windstoß über den Bürgersteig wehte. Auch der Lieferwagen parkte heimtückisch still.

Er fragte sich, ohne den Blick von der Straße zu wenden, wie sie ihm auf die Spur gekommen sein konnten. Waren gefälschte Papiere aufgefallen? Hatte ihn ein deutscher Tourist erkannt? Ein Urlauber, der sich an das rot umrandete Fahndungsplakat mit seinem Passbild erinnerte, dem er längst nicht mehr ähnelte? Irgendjemand, der auf einem Sit-in vor fünfundzwanzig Jahren einmal neben ihm gesessen hatte und sich jetzt 50 000 Mark Belohnung verdienen wollte? Der ihm auf der Straße begegnet war und der noch seinen Namen wusste? Wolfgang Morlock. Er erinnerte sich selbst kaum noch daran, so lange hatte er ihn nicht benutzt.

Solange er diese Fragen nicht beantworten konnte, durfte er zu keinem seiner spanischen Freunde Kontakt aufnehmen, auch nicht zu Lara. Er durfte nicht einmal die Verabredung morgen Abend absagen. Lara würde sich Sorgen machen, dachte er. Sie würde herumtelefonieren, ob einer ihrer Freunde ihn gesehen hätte. Jeden, den sie anriefe, würde die spanische Polizei als potentiellen Kontakt observieren. Hatte er irgendeinen Bekannten, dem er sich anvertrauen konnte und der mit Sicherheit nicht unter Beobachtung stand? Er zermarterte sich den Kopf, doch es fiel ihm niemand ein.

Die Ruhe der letzten Jahre hatte ihn in Sicherheit gewiegt. Er hatte nicht vorgesorgt. Er hatte keine Anlaufstelle, kein Notquartier, keine Papiere, nichts. Wobei … vielleicht hatte der Schweizer Personalausweis ja die zehn Jahre in dem Erddepot an der Ronda del Dalt überstanden.

So hatten sie sich kennengelernt: Er hatte in der Bahn ihr gegenübergesessen, in eine Stadt-Revue vertieft, weshalb er den Ausstieg verpasste. Er war aufgestürzt, zum Ausgang gerannt und aus der Bahn gesprungen. Sein Portemonnaie blieb auf dem Sitz. Ronja griff es sich, schlug mit der flachen Hand ans Fenster, gestikulierte wild und winkte mit der Geldbörse.

Aber er schaute nicht zurück.

Schon als er ihr gegenübergesessen hatte und mit dem Zeigefinger über die Zeilen in der Zeitung fuhr, hätte sie ihn gerne angesprochen, wenn ihr nur ein Vorwand eingefallen wäre. Sie hatte Lust auf Neues. Zwei Jahre hatte sie um ihre letzte Beziehung getrauert, zwei lange Jahre war es ihr nicht gelungen, den Verlust zu akzeptieren und nach vorne zu schauen. Und das, obwohl die Umstände der Trennung überaus unerfreulich waren. Von einem Tag auf den anderen war Erik aus ihrem Leben verschwunden, ohne die Gelegenheit für einen Abschied, einfach abgehauen, und mit ihm Nele auf ihren langen Beinen. Zu gerne würde Ronja ihre Trauer unter einem neuen Flirt begraben. Ein unbekannter Beau kam ihr gerade recht. Eine Zufallsbekanntschaft aus dem Nirgendwo. Ein Wink des Schicksals.

In dem Portemonnaie fand sie einen Personalausweis und einen Führerschein auf den Namen Lutz Trede, 170 Mark in Scheinen nebst einigen Münzen, eine EC-Karte der Postbank und einen Kassenbon eines Deutschen Supermarktes.

»Ich hatte ja gehofft, dass die Papiere abgegeben werden«, sagte Trede später. »Aber dass ich sogar das Geld zurückkriege… Gibt nur wenige so ehrliche und gesetzestreue Menschen wie dich.«

Ronja hatte gelacht. »Genau!«, sagte sie. »So bin ich.«

Es war einer der neuen, fälschungssicheren Ausweise. Kunstofflaminiertes Papierinlett, Hologramm, 10,5 mal 7,4 Zentimeter, stellte Ronja fest. Rotstichiges Porträtfoto, das Gesicht verkniffen, geboren am 28. Juni 1959 in Regensburg. Am 18. Januar 1991 von der Stadt Köln ausgestellt, was bedeutete, die Anschrift dürfte aktuell sein.

Ronja beschloss, das Portemonnaie unangemeldet vorbeizubringen.

Und dann mal schauen.

Bei der Endkontrolle vor dem Spiegel glomm kurz ein Zweifel auf. Immerhin war sie sechs Jahre älter, außerdem hatte sie selbst sich nie besonders attraktiv gefunden. Ihre Haare schon, das wohl. Dicht, lockig, kastanienbraun und lang. Je nach Tagesstimmung trug sie sie offen (dann reichten sie bis zu den Hüften), hochgesteckt, zum Dutt gebunden oder als Pferdeschwanz. Die Nase dagegen: zu lang, mit einem hexenhaften Höcker. Der Mund etwas zu groß. Und sie selbst definitiv etwas zu klein und zu füllig.

Was die Männer allerdings keineswegs zu stören schien. Männer nahmen sie offensichtlich anders wahr als sie sich selbst. Wo sie Röllchen sah, sahen jene Rundungen. Eine römische Nase anstelle der Hakennase. Einen Kussmund statt einer großen Klappe. Einen Korb jedenfalls hatte bislang noch kein Mann Ronja verpasst – wenn der vor zwei Jahren entlaufene Ex nicht gewertet wurde –, und so machte sie sich mit ausreichendem Selbstbewusstsein auf über den endlos breiten Rhein mit den überfluteten Riehler Wiesen und den an die Kaimauern des Mülheimer Hafens leckenden Wellen in die Montanusstraße, gegenüber dem Bahnhof, wo sie ein Portemonnaie abgab und nach zwei Tassen Kaffee und kurzem Abtasten ein Angebot unterbreitete, welches Lutz Trede nicht abgelehnt hatte. Der Form halber fragte er auf dem Weg ins Schlafzimmer noch: »Sollten wir uns nicht erst ein wenig besser kennenlernen?«

Worauf Ronja zu bedenken gab: »Aber wenn wir uns dann nicht leiden können?«

Wenn er sich aber geirrt hatte? Wenn das Taxi über eine Bodenwelle gefahren war und ihm die Bewegung des Transporters nur vorgetäuscht hatte? Wenn niemand in dem Lieferwagen lauerte? Dann könnte er zurück in seine Wohnung, und sein Leben ginge weiter wie gewohnt.

Morgen um 11 Uhr würde er den Kopierladen aufschließen, der auf Laras Namen lief, von ihm aber betrieben wurde. Tagsüber würde er wissenschaftliche Seminararbeiten kopieren und mit Studenten über den katalanischen Nationalismus plaudern, und für die Federación Anarquista Ibérica würde er ein Plakat zu einer Veranstaltung über den Anarchismus in Andalusien der dreißiger Jahre drucken. Abends würde er mit Lara in einem kleinen Restaurant im Studentenviertel Seehecht essen, sie würde ihn in ihre Wohnung mitnehmen, und am folgenden Morgen würden sie gemeinsam im Bett frühstücken.

Wenn er sich getäuscht hatte. Wenn niemand in dem Lieferwagen saß.

Sonst.

In dem Augenblick, in dem er die Haustür aufschloss, würde die hintere Doppeltür des Transporters aufspringen und sechs vermummte Elitepolizisten der Grupos Operativos Especiales de Seguridad ihre Maschinenpistolen auf ihn richten, ihn zu Boden werfen, mit Kabelbinder fesseln und in die nächste Kaserne verschleppen. Bis zu dreizehn Tagen würde er in Incommunicado-Haft gehalten, ohne Kontakt zur Außenwelt oder zu einem Anwalt. In den ersten Tagen, an denen er der Willkür der Guardia ausgeliefert wäre, würden sie ihm mit Plastiktüten den Atem rauben, den Schlaf entziehen, mit Telefonbüchern auf den Kopf schlagen und auf die Nieren und welche verschärften Verhörtechniken sie sonst noch aus Francos Zeiten bewahrt hatten. Sie würden ihn zu seinen Kontakten zur baskischen ETA befragen, und sobald sie sich vergewissert hatten, dass es keine gab, würde ihr Interesse an ihm erlahmen. Eine Schießerei in einem Steinbruch in Deutschland? Das war Sache der Deutschen. Sie würden die Verhöre und die Misshandlungen einstellen, ihn noch einige Tage incommunicado halten, bis seine Verletzungen verheilt waren. Dann würden sie ihn nach Deutschland abschieben, wo er wegen Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel, Gründung einer terroristischen Vereinigung, Rädelsführerschaft in den Anarchistischen Zellen und Versuchtem Mord verurteilt würde. Lebenslänglich.

So oder so. Alles hing davon ab, ob er sich getäuscht hatte. Er schaute auf seine Uhr. Unter dem Plastikarmband stand Schweiß. Es war kurz nach zwei, genau ließ sich die Zeit nicht erkennen, seine Uhr hatte ein Ziffernblatt ohne Ziffern. Stattdessen die Zeichnung einer dampfenden Kaffeetasse. Zwanzig Minuten würde er den Lieferwagen noch beobachten. Dann würde er sich entscheiden.

Er sah genau hin. Wartete auf eine weitere Bewegung, auf Gewissheit.

Wartete.

Nichts.

Ronja saß vor zwei Monitoren mit Rekordern und spulte durch das Rohmaterial vor und zurück in einer Geschwindigkeit, die ihn schwindeln ließ. Sie schnitt Großaufnahmen des aufgeschwemmten Gesichts eines Sängers in eine wilde Montage durcheinanderrollender roter Golf-Cabrios. Lutz Trede stellte sich hinter sie und drückte einen trockenen Kuss auf ihre hochgesteckten braunen Locken. Sie beendete ihre Arbeit, fuhr den Rechner herunter, schaltete die Rekorder aus, stand auf und drehte sich vor ihm in ihren Pantoffeln.

»Kann ich so gehen, oder soll ich mich anziehen?«

»Schuhe wären nicht schlecht.«

Er folgte ihr ins Schlafzimmer, wo sie die Kleiderbügel auf der Stange hin und her schob, mal dieses blaue oder jenes geblümte Kleid heranzog und sich vor die Brust hielt, ohne es vom Bügel zu nehmen. Schließlich fiel ihre Wahl auf ein Sommerkleid, so quietschbunt, wie von Jackson Pollock persönlich vollgetropft. Mit freizügigem Wickeldekolleté, in das Trede gutgelaunt hineinschaute.

Ronja schüttelte den Kopf. »Und? Gefallen dir meine Schuhe?«

»Die Pantoffeln?«, fragte er verwirrt.

Ronja lachte schallend auf. Trede schaute ratlos drein. Darüber musste sie wieder lachen.

»Was ist?«, fragte er und schickte ein »Nanu?« hinterher, da Ronja ihm den dritten Knopf am Hemd wieder aufgeknöpft hatte. »Doch besser drei offen?«

Ronja knöpfte auch den vierten Knopf auf und alle anderen, streifte ihm das Hemd von den Schultern und zog ihn zum Bett.

Schließlich trafen sie sich für nichts anderes. Warum also warten?

Morlock fragte sich, wie lange sechs Männer bewegungslos ausharren konnten, die in stickiger Luft auf der Ladefläche eines Transporters zusammengepfercht waren. Lange. Denn es waren Elitepolizisten. Zähe Männer, die minutenlang im Kopfstand die Luft anhalten und dabei zielgenau in eine meterweit entfernte Flasche pinkeln konnten. Aber trotzdem, dachte Morlock, klemmt auch ihnen irgendwann der Sack und will zurechtgerückt werden. Und dann ruckelt der Wagen. Er musste nur Geduld haben und lange genug den Lieferwagen im Auge behalten. Wie lange noch? Ihm begannen die Beine und die Augen zu schmerzen. Er blinzelte.

Das alles wegen Ereignissen, die irgendwann zwischen dem Aussterben der Dinosaurier und der Revolution in der DDR stattgefunden hatten. Taten aus längst vergangenen Zeiten. Begangen von Anarchistischen Zellen. Schon der Name! Morlock sagte immer: Anachronistische Zellen. Womit er Max auf die Palme gebracht hatte, als er ihn das letzte Mal getroffen hatte. Was schon eine Weile zurücklag …, Morlock musste überlegen: fast zwei Jahre, im Sommer 1989. Gorbatschow hatte in Berlin den Fall der Mauer für möglich erklärt. Das chinesische Militär massakrierte Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens, und zwei alte Anarchisten trafen sich im Dalí-Museum in Figueras.

Max hielt Vorträge über die Kämpfe im Ostblock. Er führte ihn zu einem Gemälde, das zwischen schwarzen und gelben Drei- und Vierecken drei Lenins als Chinesen verkleidet zeigte. »Der Kommentar zur Zeit«, sagte er.

»Schwachsinn«, urteilte Morlock.

»Warte ab!« Max zog ihn vier Meter zurück. »Das ist es.« Die Perspektive verwandelte die Lenins mit ihren Chinesenhüten und die Farbflächen in das Bild eines Königstigers. »Das ist künstlerische Vorahnung: Die Lenins verschwinden und ein Königstiger erscheint. Was sagst du jetzt?«

»Schwachsinn von einem royalistischen Arschloch«, bestätigte Morlock sein erstinstanzliches Urteil, wofür er von Max eine Interpretation über den Schädel gezogen bekam. Morlock hörte nicht zu. Draußen vor seinem Ohr rauschte ein Wildbach aus Worten vorbei. Irgendetwas von asiatischer Produktionsweise und dass man Lenin auf den Kopf stellen müsse, wodurch sich Kräfteverhältnisse verschieben würden und weshalb Morlock aus seiner Altersstarre aufwachen müsse.

»Komm mir nicht mit den Anachronistischen Zellen«, sagte der nur.

Max, der sonst jedem Kalauer lachend um den Hals fiel, erwiderte übellaunig: »Du musst die Sache mit dem Steinbruch endlich vergessen. Seitdem ist nichts mehr los mit dir.«

Morlock sagte: »Ich hätte um ein Haar einen umgelegt.«

»Sonst wären wir jetzt nicht hier, sondern im Knast oder tot. Ich auch, ich war nämlich dabei, wenn du dich erinnerst.«

»Du hast nicht geschossen.«

»Weil ich keine Waffe hatte.«

»Du hast nicht geschossen! Und du musstest nicht untertauchen.«

Schweigend gingen sie die Säle ab. Im Hof umkreisten sie Dalís Regentaxi. Max warf ein Einhundert-Peseten-Stück in den Münzautomaten, worauf eine Sprinkleranlage den Innenraum des Straßenkreuzers fluten sollte. Doch die Installation funktionierte nicht, und der Automat wollte auch das Geld nicht wieder herausrücken. Max trat dagegen, bis ein Wärter herbeieilte und ihm die Stelle an der Seite zeigte, gegen die man schlagen musste. Die hundert Peseten klackerten in den Münzschacht. Max ließ sie dem Wachmann als Trinkgeld.

Das war Morlocks letzter Kontakt mit einem seiner alten Genossen. Er ging weiter jeden ersten Samstag im Monat für eine Stunde in die Caféteria eines Möbelhauses und wartete. Das war alles, was ihn mit seinem früheren Leben verband.

Ein Kitzeln am Oberarm weckte Trede auf. Ronja stützte sich auf ihren linken Ellbogen und streichelte versonnen über das Tattoo an seinem Oberarm. Er konnte sie im von den weißen Nesselgardinen gedämpften Mondlicht nur schemenhaft erkennen.

»Hab ich dich geweckt?«, fragte sie.

Er war noch zu benommen und kam nicht auf die Antwort. Er rollte sich zu ihr hin, bettet seinen Kopf zwischen ihren Brüsten und wollte weiterschlafen.

Sie kraulte in seinen dichten Haaren. »Weißt du was …« Sie ließ den Satz unvollendet durchs Zimmer schweben. Trede gab auf. Er wuchtete den Kopf aus seinem weichen Lager in Gesprächsposition hoch.

»Was?«, fragte er schläfrig.

»Du fragst mich nie etwas.«

Wozu diese Feststellung?, fragte er sich. Bei Vollmond, im Bett, in einer lauen, fast sommerlichen Frühlingsnacht? Wahrscheinlich ein Vorwurf. Oder vielleicht noch nicht ganz ein Vorwurf, eher ein östrogenhaltiges Samenkorn von Skepsis, aus dem ein Vorwurf erwachsen könnte. Oder vielleicht auch nicht, wenn ihm eine befriedigende Antwort einfiele, wobei … es war ja gar keine Frage. Also versuchte er eine scherzhafte Replik, die allerdings missglücken sollte, da ihm schlaftrunken noch das Gefühl für Feinjustierung fehlte: »Doch«, fragte er sie, »wie spät ist es jetzt?« Er setzte sich auf und fingerte eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Nachttisch.

Ronja bedeutete ihm, auch rauchen zu wollen. Er schüttelte mit einer lässigen Bewegung aus dem Handgelenk die Packung und hielt sie ihr hin. Ronja zog sich mit spitzen Fingern die Zigarette, die am weitesten herausragte.

»Ich meine etwas Persönliches.« Sie zündete sich die Zigarette an und paffte. »Man könnte meinen, du interessierst dich nicht für mich.«

»Was sollte ich denn fragen?«

»Wie es mir geht, was ich denke und fühle, was ich heute gemacht habe. Was man so wissen will, wenn man sich für jemanden interessiert.«

Ein Lufthauch beulte die Gardine auf, und ein Streifen Mondlicht strich über Ronja. Wie der Strahl eines Fotokopierers, dachte Lutz, versunken in den Anblick. Ronja lag ins Bett gegossen, von der dünnen Steppdecke umflossen. Er hielt sich die Zigarette vor die Augen und schaute der Glut beim Abbrennen zu. »Wenn wir zusammen sind, sind wir zusammen«, sagte er schließlich, »wenn nicht, nicht. Jeder sein Leben und so weiter. Das waren deine Worte. Schon vergessen?« Es klang bitter, bemerkte er erschrocken.

»Es ist ja noch nicht klammern, wenn man sich für die Frau interessiert, mit der man vögelt. Also: Sind dir andere Menschen völlig egal? Oder bist du einfach nur nicht neugierig?«

»Was du mir erzählen willst, wirst du mir erzählen. Und was du mir nicht sagen willst, wirst du mir auch nicht sagen, wenn ich danach frage. Und das geht so in Ordnung. Besonders in unverbindlichen Bettgeschichten. Deine Worte!« Er sog an der Zigarette, hielt den Rauch in den Lungen und ließ ihn schließlich langsam durch die Nase entweichen. »Deine Worte«, wiederholte er. »Nicht meine.«

Ronja lächelte versöhnlich. »Du musst nicht jedes Wort von mir auf die Goldwaage legen.«

»Ich nehme nur ernst, was du sagst.«

Ronja stand auf und schloss das Fenster. Es war Anfang Mai, eine warme Nacht. Im bläulich schimmernden Mondlicht sah sie aus wie eine Eiskönigin, dachte Trede. Und: Von keiner Frau weiß ich so viel und verstehe ich so wenig wie von ihr.

Ronja hüpfte zurück ins Bett, gähnte, zog die Decke über sich und sagte: »Ich weiß gar nichts von dir. Erzähl mal!«

Aber bevor er anfangen konnte, rollte sie sich ein und war eingeschlafen. Trede schmiegte sich an ihren Rücken, schlang seinen Arm um sie und lag noch lange wach.

Einerseits, andererseits, Morlock konnte sich nicht entscheiden. Als er 1978 untertauchen musste, hatte ihm ein Netz von Unterstützern geholfen. Noch in der Nacht der Schießerei brachten ihn Freunde über die grüne Grenze nach Belgien und von dort nach Paris, wo er in einer großbürgerlichen Wohnung im sechsten Arrondissement übernachtete. Am nächsten Tag fuhren ihn zwei Studenten der Sorbonne in einem rostigen R4 in den südlichsten Zipfel Frankreichs, nach Collioure. Von dort schleusten ihn katalanische Genossen über die Grenze nach Spanien.

Aber jetzt? An wen konnte er sich wenden? Wie kam er ohne Unterstützung aus Spanien hinaus? Ohne Fahrzeug, ohne Pass, ohne Unterschlupf? Sein Notgeld wäre in wenigen Tagen aufgebraucht. Nüchtern betrachtet, war seine Lage aussichtslos. Deshalb, und da der Lieferwagen nun seit einer halben Stunde nicht geschwankt hatte, beschloss er, in seine Wohnung zurückzukehren.

Er ging um die Ecke und blieb gleich wieder stehen. Ein Pärchen schlenderte engumschlungen auf den Hauseingang zu. Die beiden wohnten mit drei anderen jungen Männern und einer Frau in der Wohnung über ihm, in der bis tief in der Nacht aus mannshohen Lautsprechern Bässe wie Dieselrammen wummerten. Eine nervtötend eintönige Musik, ein Fabriksound, der an Körperverletzung grenzte. Fand Morlock und sagte es auch seinen Nachbarn, die ihm, dem alten Spießer, Besserung versprachen, aber nicht einhielten. Er wollte niemandem aus der WG über den Weg laufen. Er wollte nicht zum Gruß gezwungen sein. Olà, olà. Er wartete, bis sie im Haus verschwanden. Als die Haustür hinter ihnen zurückschwang, sprang die Klapptür am Heck des Transportes auf und sechs vermummte Polizisten in Kampfanzügen sprangen heraus und stürmten ins Haus, bevor die Tür ins Schloss gefallen war.

Morlock erstarrte. Sie haben gelauert, bis jemand ins Haus geht, damit sie die Tür nicht aufbrechen müssen, dachte er verwundert.

Paradoxerweise war er im ersten Moment erleichtert, da ihm die Last der Entscheidung abgenommen worden war. Doch schnell wich die Erleichterung Verzweiflung. Tut mir leid, Lara, dachte er. Ich kann morgen nicht kommen. Er starrte ins Halbdunkel der Straße.

Er war allein. Sein ganzer Besitz bestand aus dem, was er bei sich trug. Braune Ledersandalen. Eine sandfarbene Leinenhose. Ein kurzärmeliges weißes Hemd. Ein Opinel-Klappmesser. Eine Armbanduhr der Marke Swatch. Eine angebrochene Packung Fortuna-Filterzigaretten. Ein Sturmfeuerzeug. Ein Ledergürtel, in den US-Dollar und Schweizer Franken im Wert von etwa zweitausend Deutschen Mark eingenäht waren. Ein wildlederner Brustbeutel mit 11 500 Peseten, Wohnungsschlüsseln und einem österreichischen Reisepass auf den Namen Michael Leitner.

Ein guter Pass, so gut wie echt. Nun war er wertlos. Er war nicht mehr Michael Leitner. Nicht mehr Wolfgang Morlock. Wie heiße ich jetzt? fragte er sich. Er konnte sich an den Namen in dem Schweizer Personalausweis nicht erinnern.

Das nächtliche Gespräch schien Ronja im Traum weiterbeschäftigt zu haben, denn am Frühstückstisch knüpfte sie daran an und überhäufte ihn mit Fragen, die er wortkarg beantwortete. Wo er aufgewachsen sei?

Regensburg.

Die Fragen, ob er nicht zur Arbeit müsse und wovon er lebe, beschied er mit dem Wort »Ersparnisse«. Die Fragen nach seinen Eltern, ob er ein gutes Verhältnis zu ihnen habe, wo sie lebten und was sie beruflich machten, waren ihm einen vollständigen Satz wert: »Meine Eltern sind schon lange tot.« Und als sie ihre Frage bedauerte, fügte er hinzu: »Ich bin im Heim aufgewachsen.«

Er goss ihr Kaffee nach, sobald ihre Tasse leer war. Aufmerksam. Wie immer.

»Weißt du, was die Rote Hilfe ist?«, fragte Ronja mit lauerndem Blick.

»Die helfen Knackis.«

»Haben sie dir geholfen?«

Trede konzentrierte sich auf das Umrühren seines Kaffees. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und verblasste sofort wieder.

»Worauf willst du hinaus?«, fragte er.

»Du hast gesessen.« Keine Reaktion, weshalb sie fortfuhr: »Ich habe damit kein Problem. Aber ich habe den Eindruck, dass du damit ein Problem hast. Deshalb sollten wir darüber reden.«

»Ich habe keine Probleme, schon gar nicht mit dir«, sagte er, ohne den Blick von seinem Kaffee zu wenden, den die Milch in ein sattes Braun gefärbt hatte. Er schien zufrieden mit der Farbe. Dann schaute er zu ihr hoch. »Ich find’s wunderbar mit dir. Du hast ein paar Regeln aufgestellt, wie es zwischen uns zu laufen hat, Vorsicht, Distanz, Rücksicht blabla… Und ich akzeptiere deine Regeln. Was willst du noch?«

»Ein Minimum an Austausch. Das muss sein. Auch bei einer Bettgeschichte.«

»Ach ja? Na dann!«

Er schmierte sich eine Scheibe Vollkornbrot. In der Küche war es still, nur das Schaben des Messers war zu hören. Wie ein Stuckateur die frisch verputzte Wand betrachtete Trede den Aufstrich. Hier war etwas zu viel, dort zu wenig. Er besserte nach. Dann legte er Fleischwurst auf die Schnitte. Sein Blick schwenkte über den Frühstückstisch, wo er nicht fand, wonach er suchte. Er stand auf und holte Senf aus dem Kühlschrank, mit dem er die Wurst reich bestrich. Ronja beobachtete ihn. Schließlich stand sie auf, ebenfalls wortlos, holte aus dem Hängeschrank ein Glas süßsaurer Gurken und reichte es ihm. Er dankte mit einem Lächeln, fischte mit den Fingern eine Gewürzgurke, teilte sie der Länge nach und belegte damit die Wurst.

»Und von mir weißt du auch nichts«, sagte sie.

»Stimmt. Aber dass lässt sich ändern. Also: Wie geht’s, wie steht’s?« fragte er mit vollem Mund.

»Der Witz schon wieder«, stöhnte Ronja. »Du machst es dir etwas zu einfach.«

Er grinste. Erst die Spannung mit einer scherzhaften Ironie aus der Situation nehmen, und dann wieder ernst werden, ein moderates Einlenken, und alles stünde zum Besten in der Besten aller Welten. Also sagte er: »Woher hast du das? Wie kommst du darauf, ich hätte gesessen?«

»Die Blender-Rolex«, erklärte sie.

»Was hast du gegen meine Rolex?«

»So Uhren tragen nur Angeber – was du nicht bist – oder Knackis. Weil ihnen die Uhr nicht abgenommen wird. Es ist das einzige Statussymbol, das sie im Knast behalten dürfen. Dann dein Tattoo auf dem Oberarm! Wenn’s kein Anker ist, dann ist’s ein Kreuz, wie bei dir. Schlecht gestochen, verlaufende Ränder. Und dazu mit blauer Tinte. Im Knast nimmt man Kugelschreibertinte, und zwar die, die man gerade hat. Wenn keine schwarze da ist, dann eben blaue.«

Ein blaues Tattoo sieht älter aus, dachte Lutz.

»Und du warst nicht nur im Knast. Du warst lange im Knast. Jahre. Weißt du, woran man das erkennt? Samstag, als wir ins Restaurant gegangen sind. Da bist du vor der Tür stehen geblieben, und hast gewartet, dass ich sie dir öffne. Eigentlich sollte es umgekehrt sein, der Herr hält der Dame die Tür auf.«

»Ich dachte, du wärst emanzipiert.«

Sie überging seinen Einwand.

»Ein Knacki kann keine Türen öffnen. Es braucht immer jemanden, der sie für ihn aufschließt. Und wer sich in langen Jahren angewöhnt hat, vor einer Tür auf einen Schließer zu warten, der behält diese Gewohnheit in Freiheit bei. Er wartet, dass jemand die Tür für ihn öffnet.«

Lutz nickte zufrieden. »Du bist mir ja eine Expertin.«

»Weswegen hast du so lange gesessen?«

»Weil ich gestanden habe.« Er grinste. Weil Ronja ihn nur mit ihren großen, braunen Augen anschaute, fügte er hinzu. »War nur ’n Witz.«

»Jaja«, sagte Ronja unbewegt, »lustig. Den höre ich immer wieder gerne. Noch lieber wäre es mir allerdings, wenn du auf persönliche Fragen nicht immer nur mit Kalauern antworten würdest.«

»Na gut.« Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, sie sollte zu ungehalten für einen Scherz und zu gelassen für einen Streit klingen. »Falls ich gesessen haben sollte, dann wegen nix. Ein Justizirrtum. Unschuldig. Und eigentlich habe ich keine Lust, drüber zu reden. Basta.«

Er schien den richtigen Ton getroffen zu haben, stellte er befriedigt fest, denn seine Gesprächsverweigerung amüsierte Ronja.

»Korrekte Antwort«, lachte sie.

Morlock lehnte am Tresen der letzten geöffneten Bodega im Raval und trank Rotwein. Die Sägespäne auf den Fliesen waren seit Tagen nicht ausgekehrt worden. Sie hatten sich mit verschüttetem Bier vollgesogen und mit Zigarettenkippen vermischt. Ein Geruch nach Vergärung stieg vom Boden auf. Eine aufgeschwemmte Nutte koberte ihn an und ließ sich nicht abwimmeln, zupfte an seinem Hemd, bis er sie verärgert anschnauzte, weswegen ihn der Wirt hinauswarf. Sie war Stammgast, er nicht.

An einem Montag um vier Uhr morgens fiel selbst Barcelonas Rotlichtviertel in tiefen Schlaf. Alles war geschlossen, verrammelt, verriegelt. Alle Neonlichter erloschen. Ihm blieb nichts anderes, als durchs Viertel zu spazieren und auf den nächsten Tag zu warten. Ihn fror in seinem kurzärmeligen Hemd. Um sich aufzuwärmen ging er forschen Schrittes. Als hätte er ein Ziel.

Der Rotweinnebel in seinem Kopf lichtete sich langsam und wich Resignation und Müdigkeit. Er sah, dass er im Kreis gelaufen war, vor ihm schloss nun auch die Bodega, aus der er rausgeflogen war. Der Grund seines Hinauswurfs stand schwankend am Bordstein und wartete auf ein Taxi. Morlock ging auf sie zu. »Zehntausend«, bot er ihr. Sie betrachtete ihn misstrauisch aus glasigen Augen. Ihr in vielen Jahren gewachsener Instinkt warnte sie. Mit diesem Freier war etwas faul. Er war nicht betrunken genug, ihr um diese Zeit ein Angebot zu unterbreiten. Sie musterte ihn. Sie sah den Brustbeutel, dessen Kontur sich über seinem Bauch durch das Hemd drückte. Er war alt, er war nicht gefährlich. »Vale«, sagte sie und nahm ihn in eine Absteige mit, in der niemand Fragen stellte. Im Zimmer legte sie ihm eine Hand auf die Hüfte und streichelte mit der anderen mechanisch seine Brust, als wollte sie seine Haut abhobeln. Dann verlangte sie ihren Lohn. Morlock gab ihr 10 000 Peseten. Sie knöpfte sein Hemd auf.

»Nicht nötig«, wehrte er sie ab. Und weil sie ihn aus ihren weit aufgerissenen, umschatteten dunklen Augen erstaunt anschaute, lieferte er ihr einen Grund nach: »Ich will nur reden. Meine Frau, wissen Sie … wir haben Streit. Sie hat mich rausgeworfen.«

Das verstand sie, das gab es öfter. »Vergiss deine Frau«, sagte sie. »Sie wird sich wieder beruhigen.«

Sie nahm die Zigarette, die er ihr anbot. Schweigend bliesen sie gemeinsam Qualm in die Luft. Sie versuchte sich vergeblich an Rauchringen. Sie überlegte, was sie ihm für die 10 000 Peseten noch schuldete. Fragte sich, was er erwartete. Egal was, Hauptsache, es ging schnell. Männer die reden wollen, können lästig werden, Reden dauerte. Deshalb zog sie fickende Männer den redenden vor. Aber sie hatte das Geld genommen mit dem Versprechen, ihn glücklich zu machen. Wenn er lieber redete, dann redete sie mit ihm. Gute Arbeit für gutes Geld, so war ihre Einstellung.

»Sie haben recht«, sagte der Kunde. »Mit dem, was Sie über meine Frau gesagt haben. Es war gut, dass ich mit Ihnen gegangen bin. Jetzt kann sie in Ruhe nachdenken. Sie wird sich wieder beruhigen.« Er lächelte.

»Was ist mit Ficken?«

»Ich möchte einfach nur schlafen. Ich liebe meine Frau, wissen Sie. Ich will sie nicht betrügen, nur wegen dem Streit.«

»Schlafen solo kostet extra«, sagte sie.

»Ich habe nur noch 1500 Peseten.« Er zeigte ihr seine Geldbörse. Sie tippte mit dem Zeigefinger auf seinen Brustbeutel.

»Ich habe nur noch diese 1500«, bekräftigte er und drückte ihr das Geld in die Hand.

Sie überlegte. »Na gut«, gab sie schließlich nach, »weil du mich gesiezt hast. Also, schlaf dich aus.«

Er zog Hose und Schuhe aus, rollte den Brustbeutel in seine Hose und nahm sie als Kopfkissen.

Sie legte sich neben ihn, drehte ihm den Rücken zu und wünschte ihm eine gute Nacht. »Das war nett«, sagte sie noch. »In dreißig Jahren hat mich kein Kunde jemals gesiezt. Du bist der Erste. Es gefällt mir.« Sie zog die Decke hoch, murmelte: »Höfliche Leute, die Deutschen.«

»Ich bin Schweizer«, verbesserte er sie. Doch das hörte sie nicht mehr. Sie schlief und schnarchte leise und gleichmäßig. Das Geräusch beruhigte ihn, die Augen fielen ihm zu, und als er vier Stunden später aufwachte, schlief sie noch. In ihr Schnarchen hatte sich ein helles, rhythmisches Pfeifen gemischt. Ein dünner Schweißfilm ließ ihr Gesicht glänzen. Sie hatte sich nicht abgeschminkt, ihr Make-up hatte das Kissen verschmiert. Ihre Wangen waren fleischig und aufgedunsen. Sie hatte schöne dichte, lockige Haare, die vom dauernden Blondieren brüchig geworden waren. Ein Friseurbesuch war überfällig, am Ansatz dunkelten bereits drei Zentimeter ihrer ursprünglichen Haarfarbe durch. Kastanienbraun. Ihre Geschäfte mussten schlecht laufen, der Friseur, vermutete Morlock, war sicher das Letzte, an dem sie sparte. Abgesehen vom Alkohol vielleicht.

Er strich ihr sanft über die Haare. Die Frau drehte sich um, ohne aufzuwachen. Kurz huschte Ärger über ihr Gesicht mit den geschlossenen, großen Augen und den falschen Wimpern. Sie stieß einen Ton aus, ihre Hand fuhr durch die Luft, dann entspannten sich ihre Züge wieder. Sie schlief weiter, in Frieden. Was immer sie im Traum bedrängt hatte, sie hatte es verscheucht. Ein Lied von den Scherben kam Morlock in den Sinn. Er sang es tonlos, mit leicht geändertem Text, während er sie betrachtete. »Du bist zehntausend Jahre alt, und dein Name ist Mensch«. Morlock erzählte bei jeder Gelegenheit, er sei mit Lanrue befreundet, einem der Gründer der Band. Mitte der Siebzigerjahre hätten sich ihre Wege getrennt, behauptete er. Ton, Steine, Scherben gingen aufs Land und schrieben anstelle der alten Kampflieder poetische Songs. Er dagegen ging zu den Zellen und schoss. Die verdammten Schüsse.

Heute war er froh, dass der Polizist nicht gestorben war. Juristisch allerdings änderte das die Angelegenheit nicht wesentlich. Würde er sich jetzt stellen, dürfte er keinen größeren Strafnachlass erwarten. Der Bundesanwalt würde sagen, er habe nur wegen der Aussichtslosigkeit seiner Lage aufgegeben. Kein Beweis für Reue, kein Grund für eine Strafmilderung. Nur Verzweiflung, weil er in Barcelona aufgestöbert worden war.

Was sollte er schon darauf erwidern? Es stimmte ja.

Er dachte an seine Stunden in der Caféteria des Möbelhauses. Ob die Verabredung noch galt? Jeden ersten Samstag im Monat, so war es noch in den Siebzigern beschlossen worden, sollte in jeder Stadt, in der jemand von den Zellen lebte, ein Genosse zwischen 12 und 13 Uhr mittags im IKEA-Restaurant warten und Zeitung lesen. Wer versprengt war, wer Unterstützung brauchte, der konnte dort Hilfe finden. Es war nie jemand gekommen, und manchmal hatte er gezweifelt, ob von dieser Verabredung überhaupt noch jemand wusste. Vielleicht nahm man ja inzwischen auf eine völlig andere Weise konspirativ Verbindung auf. Max hatte ihm etwas von einem Datenföhn, einem Akustikkoppler erzählt, mit dem man Informationen durch das Telefon verschicken konnte, Computer würden zu Netzen zusammengeschlossen, Morlock hatte kein Wort verstanden. Er misstraute Computern. Computer, das war für ihn Volkszählung. Überwachung. Das waren Horst Herolds NADIS und die BEFA, die beobachtende Fahndung. Waffen des Feindes.

Er jedenfalls war den alten Absprachen treu geblieben. Lara hatte ihn einmal gefragt, was ihn so oft zu IKEA treibe. »Nichts«, hatte er geantwortet. »Ich schaue den Menschen zu. Es ist gut gegen Heimweh. Es beruhigt mich.«

Lara hatte den Kopf geschüttelt und nie mehr nachgefragt. Lara, die er heute Abend versetzen würde. Reiß dich zusammen, dachte er. Vergiss Lara. Du musst raus aus Spanien. Nach Toulouse. Um dort jemanden zu finden, der bei IKEA Kaffee trank und dabei eine Zeitung aus einer anderen Stadt las.

»Hast du mir nachspioniert?«, fragte Lutz Trede.

»Nein«, log Ronja.

Er ließ seine Brotscheibe in der Luft kreisen, was weiter, weiter heißen sollte.

»Ein Bekannter von mir, ein Journalist«, fuhr sie fort, ohne einen Namen zu nennen, »hat es mir gesagt. Wir hatten uns lange nicht gesehen und uns gegenseitig ausgefragt, wie es geht, was wir so treiben. Ich habe ihm von dir erzählt. Und dann hat er mich gefragt: Ist das der Lutz Trede? Mein Bekannter ist bei der Roten Hilfe. Und an die hatte sich ein Gefangener namens Lutz Trede gewandt, weil sein Magenleiden nicht behandelt wurde. Zwei Briefe gingen hin und her, und dann habe dieser Lutz Trede den Kontakt abgebrochen. Sei nach Wittlich verlegt worden, da sei er wohl gesundet, jedenfalls habe er nicht mehr geschrieben. Er wurde dann entlassen. Bist du das? Bist du der Lutz Trede?«

»Ich glaub’s ja nicht!«, spielte Trede Empörung. »Da machst du einen auf Sherlock Holmes. Die Uhr! Das Tattoo! Das Warten vor der Tür! Und was ist? Jemand hat’s dir erzählt.«

»Ist eins zum anderen gekommen«, grinste sie.

»Da du ja eh schon alles weißt«, sagte er, »gibt’s da ja nun nichts mehr zu besprechen. Ich will diese alten Geschichten einfach vergessen. Das ist alles Vergangenheit. Jetzt fängt was Neues an.« Er nahm einen großen Bissen und schob mit vollem Mund hinterher: »Oder willst du gehen, weil ich gestanden und gesessen habe?«

Ronja schüttelte lächelnd den Kopf. »Du bist unverbesserlich. Wirklich. Wobei … wenn du dir diese Kalauer nicht abgewöhnst, dann gehe ich wirklich.«

»Tust du nicht«, stellte er fest.

»Aber im Ernst, zwei Fragen hätte ich noch. In Ordnung?«

»Schieß los.« Er räumte den Frühstückstisch ab. Sie blieb sitzen.

»Wie geht’s dem Magen?«

»Ist in Ordnung. War nervös.«

Die nächste Frage schien vertrackter zu sein. Jedenfalls rang Ronja um die Formulierung. »Warum hast du nicht ausgesagt? Du hättest dir einige Jahre ersparen können. Schwierige Kindheit, dein erster Überfall, angestiftet von den Älteren. Du hättest einen auf Mitläufer machen können. Wegen deiner Sturheit hast du die Strafe komplett abgesessen. Warum hast du nicht mit der Staatsanwaltschaft kooperiert?«

»Weil das ihr Spiel ist. Da hatte ich keinen Bock drauf.«

»Du hattest keinen Bock? Das war alles?«

»Das war alles.«

Sie stand auf, nahm ihm die schmutzigen Teller und Tassen aus der Hand und stellte sie zurück auf den Tisch. »Lass stehen«, sagte sie. »Ich mach das später.«

Sie griff nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her.