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Ein Alptraum für Polizeikommissarin Viktoria Engel: Sie erschießt im Dienst einen Unschuldigen, den 16-jährigen Rouven Kramer. In ihrer Not inszeniert sie die Tat, als hätte sie aus Notwehr gehandelt, doch die Dorfbewohner hegen Zweifel. Als kurze Zeit später eine weitere Leiche auftaucht, bizarr inszeniert wie Rouvens Tod, bricht eine Welle von Misstrauen über das Dorf herein, bis sich niemand mehr vor dem anderen sicher fühlt …
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Veröffentlichungsjahr: 2014
Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deAlle Personen in diesem Roman sind frei erfunden.Auch den Ort Martinsfehn werden Sie vergeblich auf der Landkarte suchen.Er existiert nur in meiner Fantasie.Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlagerschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2014ISBN 978-3-492-96487-6© Piper Verlag GmbH, München 2014Covergestaltung und -motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, ZürichDatenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen
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Prolog
Sie spürte seinen Blick, hob den Kopf und lächelte ihn an. Gemeinsam schnippelten sie einen Teil der getrockneten Pilze noch kleiner, als sie ohnehin schon waren. Sie benutzte dazu sein Taschenmesser. Er nahm das Messer, das er zum Schlachten brauchte. Die Schnipsel landeten in einer Flasche mit Apfelkorn, die er zuschraubte und kräftig schüttelte. Seine Hände waren schlank und sogar jetzt im November noch gebräunt, weil er so viel Zeit im Freien verbrachte. Sie wünschte sich, von ihnen berührt zu werden.
Gestern hatte sie sich im Internet schlaugemacht. Diese Pilze waren keineswegs so harmlos, wie er behauptete. Sie enthielten Psilocybin, das so ähnlich wie LSD wirkte. Doch sie wagte nicht, ihre Bedenken laut auszusprechen. Er sollte sie nicht für einen Feigling halten.
»Ich werde noch ein Kaninchen schießen, damit ich nicht aus der Übung komme«, hatte er angekündigt. Auf seiner großen Wanderung würde er völlig autark leben. In seinem Survival-Guide hatte er ihr gezeigt, welche Insekten man essen konnte, Maikäfer zum Beispiel, das hätte sie nie gedacht. Schnecken galten als besonders nahrhaft, man musste sie in kochendes Wasser werfen und dann noch braten, damit sie ihren unangenehmen Eigengeschmack verloren. »Dafür müsste ich allerdings kurz vor dem Hungertod stehen«, hatte er gesagt und dabei gelacht. Er wollte lieber fischen und jagen. Aber ausgerechnet Kaninchen.
Als sie klein war, hielt ihr Opa Kaninchen. Deutsche Riesen mit großen, dunklen, glänzenden Augen. Ihr silbriges Fell fühlte sich seidig und unendlich weich an. Obwohl es streng verboten war, ihr Opa fürchtete immer, dass eines der Tiere entwischen könnte, öffnete sie manchmal heimlich eine der Käfigtüren und ließ ihre Hand über die Rücken der Tiere gleiten. Die Kaninchen bewegten sich kaum, sie saßen immer nur da, stumm und wehrlos, eingesperrt in ein winziges dunkles Loch. Wenn die Jungen geboren wurden, nackt und blind, versteckten die Mütter sie in der hintersten Ecke ihres Verschlags, als könnten sie die Kleinen dort vor ihrem trostlosen Schicksal bewahren. Sie bereiteten ein weiches Nest aus Heu und Haaren, die sie sich selbst ausrupften. Ihr Opa war der Einzige, der in die Nester schauen durfte. Acht, sagte er dann, oder zehn oder auch mal nur vier. Sie selbst musste sich gedulden, bis die kleinen Kaninchen von selbst aus dem Nest krabbelten. Sie sahen alle gleich aus, graubraun ohne irgendein Fleckchen Weiß. Dennoch hatte sie immer ein Lieblingskaninchen. Eins, das sie ihrer Meinung nach besonders lieb anschaute oder das außergewöhnlich süß mit der Nase wackeln konnte.
Die Kaninchen waren zum Schlachten da, das verstand sie erst später. Sobald ihr klar wurde, was da sonntags auf den Tisch kam, in sämiger, hellbrauner Bratensoße, mit gelblichen Kartoffeln und köstlich duftendem Rotkohl, weigerte sie sich, davon zu essen. Wie konnten die Erwachsenen nur mit Appetit die Kaninchen verspeisen, die vor ein paar Tagen noch in Opas Stall gehockt hatten, lebendig, warm und weich.
Jahrelang hatte sie nicht mehr daran gedacht. Erst an diesem späten Nachmittag im November, als sie nebeneinander im herbstnassen Gras kauerten, hinter den morschen Brettern, die einmal Claasens Gemüsegarten eingezäunt hatten, kam die Erinnerung zurück. Etwa siebzig Meter vor ihnen hockte ein Wildkaninchen, sein Fell schimmerte nur wenig bräunlicher als das der Schlachtkaninchen ihres Großvaters, und da war alles wieder da. Sogar der Stallgeruch, streng und etwas süßlich, stieg ihr in die Nase.
Das Tier ahnte nichts von seinem bevorstehenden Tod. Unbekümmert setzte es sich auf die Hinterläufe, der Kopf mit den großen dunklen Augen, die ihr so vertraut waren, drehte sich wachsam hin und her. Als er ihr die Schrotflinte anbot, schüttelte sie den Kopf und unterdrückte den Impuls, in die Hände zu klatschen und dem Kaninchen das Leben zu retten.
Er kniete neben ihr, hob die Waffe, ganz langsam, mit der Sicherheit des guten Jägers, er kniff das linke Auge zusammen, zielte sorgfältig und drückte ab. Gleichzeitig mit dem Knall flog das Tier rückwärts durch die Luft. Es landete auf der Seite und blieb reglos liegen, wie hingeworfen. Als hätte es niemals gelebt.
Jeden anderen Menschen hätte sie in diesem Moment aus tiefster Seele verabscheut. Ihr wurde klar, wie sehr sie ihn liebte.
Freitag, 4. November
Mit einem Seitenblick musterte Hauptkommissar Renke Nordmann, Leiter des Polizeireviers Martinsfehn, die neue Beamtin, die seit einigen Wochen zu seiner Mannschaft gehörte. Polizeikommissarin Viktoria Engel, dreiundzwanzig Jahre alt und frisch von der Polizeiakademie in Nienburg, machte ihrem Namen alle Ehre. Langes blondes Haar, im Dienst zu einem braven Zopf geflochten, eine schmale Figur, ein verträumtes Lächeln. Das einzig Irdische an ihr waren die Hände, groß und derb, mit kurzen, fleischigen Fingern und Nägeln, die breiter waren als lang, Männerhände. Aber das tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Wer guckte bei einer hübschen Frau schon auf die Hände. Und alles andere erschien aus Männersicht nahezu perfekt. Kürzlich hatte er sie mal privat gesehen, in Top, Minirock und hohen Pumps. Das war auf dem fünfundzwanzigsten Geburtstag von Jens Stiller gewesen. Den Kumpels aus Jens’ Fußballmannschaft war bei ihrem Anblick buchstäblich der Sabber aus dem Mund gelaufen.
In gerade mal fünf Wochen war es der jungen Polizistin gelungen, seine Dienststelle in ein Tollhaus zu verwandeln. Sogar Lorenz Bäumer, der trotz seiner achtundvierzig Jahre noch immer bei seiner Mutter wohnte, wich nicht von ihrer Seite. Lorenz war unglaublich langweilig und verstaubt, angefangen bei der Frisur, einem akkuraten Seitenscheitel, der schon in Renkes Jugend den Strebern vorbehalten war, bis hin zu den perfekt geputzten Schuhen und den weißen Stofftaschentüchern, die seine Mutter mit großer Sorgfalt für ihn bügelte. Dass Lorenz sich überhaupt für eine Frau interessierte, war neu. Jetzt allerdings hätte er am liebsten den Stuhl abgefegt, bevor Viktoria Engel sich darauf setzte. Auch Jens Stiller, der jüngste seiner Beamten, kriegte regelmäßig rote Ohren, wenn sie ihn ansprach. Und das, obwohl er gerade erst mit seiner Tanja zusammengezogen war. Selbst Oliver Dellbrink, Anfang vierzig und glücklich verheiratet, konnte den Blick nicht von ihr lassen. Zwischen den dreien hatte sich eine Art Wettkampf um Viktoria Engels Gunst entwickelt. Einzig Renke selbst und Erwin Holtz, der kurz vor der Pensionierung stand und sich mehr für seine Enkelkinder als für junge Frauen interessierte, hielten sich da raus.
Die Kleine genoss die Situation und versuchte gar nicht erst, das zu verbergen. Irgendwann in ihrem Leben, davon war Renke überzeugt, hatte Viktoria nicht genug Beachtung bekommen. Bekanntlich lagen die meisten Verhaltensmuster ja in der Kindheit begründet. Jetzt schien sie geradezu süchtig nach männlicher Bewunderung zu sein. Ständig hielt sie Blickkontakt zu ihren Kollegen, und sie verfügte über ein breites Repertoire an Gesten, die ihr die Aufmerksamkeit einbrachten, die sie offenbar so dringend benötigte.
Am Anfang hatte es Renke Nordmann amüsiert, wie Viktoria die männlichen Kollegen manipulierte, beinahe wie eine Dompteuse. Mittlerweile fielen ihm dieses Gehabe und vor allem die allzu vorhersehbaren Reaktionen seiner Kollegen auf die Nerven. Vor allem störte ihn dieses Mädchengetue, das ihn an Aleena, seine sechzehnjährige Tochter, erinnerte.
Es war Freitag, der vierte November, achtzehn Uhr, in einer Stunde schloss das Revier. Nachts war das Polizeipräsidium in Leer für Martinsfehn zuständig. Viktoria sollte das Protokoll einer Vernehmung schreiben. Ratlos, mit gerunzelter Stirn, schaute sie den Monitor an, so als würde sie ihn zum ersten Mal sehen und überhaupt nicht begreifen, wie dieses Ding da auf ihren Schreibtisch gekommen war. Ihre Fingerspitzen spielten mit ihrem blonden Zopf, ihre typische Hilf-mir-bitte-Geste. Wie üblich blieb das Signal nicht lange unbemerkt.
Gerade als Renke sagen wollte, dass so ein Protokoll ja wohl keine große Aufgabe darstellen würde, bot Jens seine Hilfe an.
Augenblicklich versuchte Oliver, seinen vermeintlichen Rivalen auszubooten. »Musst du nicht den Bericht über den Crash auf dem Parkplatz schreiben?«
Jens warf ihm einen unwirschen Blick zu. »Das hat Zeit bis Montag.«
Noch eine Stunde bis Dienstschluss, und die Luft in der Wachstube knisterte mal wieder. Bei nächster Gelegenheit sollte Renke wohl mal Tacheles mit den Jungs reden. Das hier war immer noch ein Polizeirevier und kein Hühnerstall. Um die Situation zu entschärfen, erhob er sich von seinem Schreibtischstuhl und griff nach der Dienstmütze.
»Ich fahr noch mal ’ne Runde. Mal schauen, ob die Kids wieder bei Aldi an den Einkaufswagen rumhängen und die Kundschaft nerven. Viktoria, du kommst mit. Das Protokoll kann bis Montag warten.«
Ein schadenfrohes Grinsen erhellte Olivers Gesicht.
Kaum dass er die Tür geöffnet hatte, bereute Renke seinen Entschluss. Ostwind und leichter Nieselregen. Mistwetter. Der Dienstwagen war noch ziemlich neu, ein Passat Kombi, silbern mit blauen Streifen, auf denen mit weißer Schrift aus reflektierender Folie POLIZEI stand. Zum Fuhrpark des Polizeireviers Martinsfehn gehörte auch ein Bulli, aber den fuhr Renke nicht so gern, weil die Kupplung rutschte und der Fahrersitz nicht mehr so stramm gepolstert war. Er startete den Motor und drehte die Heizung bis zum Anschlag auf. Sechs Grad zeigte das eingebaute Außenthermometer.
»Ganz schön kalt, was?« Viktoria klemmte die Hände zwischen ihre zusammengepressten Knie.
»November, was erwartest du?« Nach einem Blick in den Rückspiegel ließ er den Passat rückwärts auf die Straße rollen.
Martinsfehn war ein typisches Fehndorf, wie es Hunderte in Ostfriesland gab. Die Hauptstraße verlief beidseitig parallel zum Martinskanal, dem der Ort seinen Namen verdankte. In Renkes Kindheit war Martinsfehn noch ein kleines, unbedeutendes Dorf gewesen, in dem jeder jeden kannte. Inzwischen gab es ein neues Schulzentrum, ein Einkaufszentrum, zwei Neubaugebiete und neuerdings sogar ein Industriegebiet, das allerdings außerhalb der Ortschaft lag und von dem die meisten Grundstücke noch nicht verkauft waren.
Renke drehte die übliche Runde. Am Marktplatz vorbei, die kleine Stichstraße zum Einkaufszentrum hoch und dann links auf den Parkplatz. Martinsfehn mochte ein kleines Nest sein, aber die gängigen Märkte wie Aldi, Lidl, Rossmann, KiK und ein Verbrauchermarkt, der zu einer regionalen Kette gehörte, hatten sich auch hier angesiedelt, außerdem ein Schnellimbiss, die Filiale einer Großbäckerei und ein kleiner Blumenladen. Er stellte den Motor ab und löste seinen Sicherheitsgurt. Mit einem Blick erfasste er, dass bei den Einkaufswagen keine Jugendlichen herumlungerten. Vermutlich war es ihnen schlicht und ergreifend zu kalt, was er gut verstehen konnte. Aber das war ja ohnehin nicht der wahre Grund für diese Fahrt.
»Da ist keiner.« Viktorias Stimme klang ein wenig enttäuscht, fast schon beleidigt, und wieder musste er an seine Tochter denken. »Fahren wir wieder zurück?«
»Gleich. Ich muss noch was besorgen.« Er stieg aus und steuerte den kleinen Bäckerladen an, dessen Schaufenster in samtigen Herbstfarben geschmückt waren.
»Moin, Renke«, begrüßte ihn Sybille Lange, eine ehemalige Freundin seiner verstorbenen Frau, die hier seit Jahren arbeitete. In der roten Schürze wirkte sie genauso appetitlich wie die Backwaren, die sie verkaufte. Ihre Tochter Melanie war schon seit Kindergartenzeiten Aleenas beste Freundin.
»Na, was macht Aleena?« Bevor er antworten konnte, winkte sie ab. »Schon klar, mit sechzehn fühlen sie sich erwachsen und erzählen uns kein Wort zu viel. Stimmt’s?«
Er nickte beiläufig und zeigte auf das dunkle Kürbiskernbrot, das köstlich aussah und noch besser duftete. »Das nehme ich mit.« Ihm war bewusst, dass Sybille einen Anlass suchte, ihn in ein privates Gespräch zu verwickeln, doch dafür fehlten ihm sowohl die Zeit als auch das Interesse.
Als er wieder im Auto saß, strahlte Viktoria ihn verschwörerisch an. »Ach, darum sind wir hier.« Sie tat so, als würden sie von jetzt an ein großes Geheimnis teilen, aber auf solche Spielchen verspürte er keine Lust. Drei Verehrer mussten für das Ego der Kleinen reichen.
Ein kurzer Blick in den Seitenspiegel, dann bremste er ab. »Moment. Da sind sie ja.« Mit dem Daumen wies er auf eine Gruppe von Jugendlichen, die es sich unter dem Dach des Buswartehäuschens bequem gemacht hatte.
Beim Anblick des Polizeiwagens erhob sich Patrick Janssen, natürlich betont langsam, man hatte ja ein Gesicht zu verlieren. Nachlässig steckte er die linke Hand in die Tasche seiner schwarzen Bomberjacke, die nicht so aussah, als könnte sie ihn bei diesen Temperaturen warm halten. Die rechte verbarg er hinter dem Rücken. »Hey, Nordmann, alles paletti?«
Der Polizist schenkte ihm ein halbherziges Lächeln. »Hallo Patrick. Bisschen kalt heute, oder?«
»Und nass. Aber wenn man von innen heizt, ist das null Problem.« Mit breitem Grinsen brachte Patrick die rechte Hand, die eine Dose Bier umklammert hielt, nach vorn und streckte sie in die Höhe. Seine Fingernägel waren abgekaut bis auf das Fleisch. Am kleinen Finger steckte ein breiter Silberring.
»Ich gehe mal davon aus, dass ihr alle sechzehn seid.« Nach einem ernsten Blick in die Runde ließ Renke die Scheibe hochfahren und gab Gas. Halb sieben, heute wollte er mal pünktlich Feierabend machen.
»Müssen wir das nicht kontrollieren?« Mit gerunzelter Stirn drehte Viktoria sich um und schaute noch mal über ihre Schulter. »Die Kleine in der weißen Jacke ist bestimmt jünger.«
»Angelina. Die ist vierzehn. Glaub mir, die ist hier besser aufgehoben als zu Hause. Wenn ich sie heimbringe, kriegt sie gewaltige Prügel von ihrem Stiefvater. Und morgen sitzt sie wieder hier, dann allerdings mit einem blauen Auge.«
»Hast du schon mal das Jugendamt informiert?«
»Wozu? Was glaubst du denn, was die unternehmen? Ich kann es dir sagen. Nichts.«
»Okay«, sagte Viktoria gedehnt, die das in der Ausbildung natürlich ganz anders gelernt hatte.
Vielleicht hätte er ihr an dieser Stelle einen Vortrag halten sollen über das richtige Augenmaß im Umgang mit Jugendlichen, bei der Gelegenheit könnte er auch darauf hinweisen, dass Patrick Janssen achtzehn war und damit volljährig. Und dass der junge Mann nach einem sehr ernsten Gespräch unter vier Augen, das inzwischen zwei Jahre zurücklag, seine Grenzen sehr wohl kannte und in der Regel auch nicht überschritt. Aber irgendwie fehlte Renke die Motivation. Als Dienststellenleiter hatte er es weiß Gott nicht nötig, sich vor einer Anfängerin zu rechtfertigen. Seit er vor zweieinhalb Jahren die Revierleitung in Martinsfehn übernommen hatte, lief hier alles rund. Renke war hier aufgewachsen, als Sohn eines Postboten und der Gemeindeschwester. Jeder kannte und achtete ihn, in so einer ländlichen Gemeinde bedeutete das schon die halbe Miete. Zudem hatte er als Übungsleiter für Selbstverteidigungskurse eine weitere Möglichkeit gefunden, die Jugendlichen aus Martinsfehn zu erreichen. Dabei erschien es ihm besonders wichtig, nicht nur die Grundlagen verschiedener Kampfsportarten zu vermitteln, sondern auch das, was einen guten Kampfsportler ausmachte, nämlich Fairness, Disziplin und ein gutes Gefühl für den eigenen Körper. Wer mit sich selbst im Reinen war, brauchte nicht grundlos auf andere einzuprügeln. Aus dem Stegreif wären ihm vier oder fünf Heranwachsende eingefallen, die er im Training auf den richtigen Weg gebracht hatte. Die Mehrzahl der Kids in Martinsfehn respektierte ihn, viele mochten ihn sogar, aber sie alle wussten, wenn Nordmann richtig böse wurde, war der Spaß vorbei.
In der Revierstube war mittlerweile wieder Ruhe eingekehrt. Wie früher, dachte er und ertappte sich bei dem Gedanken, dass es ohne Viktoria besser gelaufen war.
Das Telefon klingelte. Oliver nahm mit der linken Hand ab, weil er in der rechten einen Kaffeebecher hielt. »Polizeirevier Martinsfehn, Polizeioberkommissar Dellbrink am Apparat … Okay, wir werden das prüfen. Herzlichen Dank.« Er legte auf, stöhnte und verdrehte die Augen. »Da treibt sich mal wieder jemand bei Claasen rum. Haben die Leute nichts Besseres zu tun bei dem Schweinewetter?«
Zwanzig vor sieben. Renke hatte sich fest vorgenommen, heute mal pünktlich Feierabend zu machen, um mit Aleena zu Abend zu essen, zum ersten Mal in dieser Woche. In letzter Zeit fanden kaum noch gemeinsame Mahlzeiten statt, das musste sich dringend wieder ändern. Der Duft des frischen Brotes, das vor ihm auf dem Schreibtisch lag, stieg in seine Nase. Er würde Spiegeleier dazu braten, irgendwo im Kühlschrank musste auch noch ein Rest Schinken sein. »Oliver, du fährst da hin. Nimm Viktoria mit.«
Zu Claasens Hof führte eine schmale Straße, die Schlehenwieke, die sich vor allem nachts und am Wochenende als Schleichweg zwischen Martinsfehn und dem Nachbardorf Hankensfehn großer Beliebtheit erfreute. Links der Straße verlief der Kanal, die eigentliche Schlehenwieke, rechts standen die wenigen Häuser. Sie fuhren an zwei Bauernhöfen vorbei, von denen einer noch landwirtschaftlich genutzt wurde und der andere einer jungen, alternativ orientierten Familie gehörte, dann hörte die Bebauung auf. Starker Regen setzte ein, was Oliver mit lautem Fluchen kommentierte. Wenig später musste er abrupt auf die Bremse treten, weil ein Rudel Rehwild die Straße kreuzte. Die Viecher schwammen einfach durch den Kanal, das hatte er schon öfter beobachtet. Der Wagen schlingerte und geriet auf den Seitenstreifen, doch er schaffte es, ihn wieder auf die Straße zu bringen und dort zu stoppen. Zum Glück. Er konnte sich was Besseres vorstellen, als einen der Martinsfehntjer Landwirte anzurufen, damit der schadenfroh grinsend den Dienstwagen aus dem Morast zog und dafür zwanzig Euro kassierte.
Die geblendeten Tiere blinzelten ins Scheinwerferlicht, dann staksten sie auf ihren langen Beinen weiter.
»Was für eine überflüssige Scheißaktion«, beschwerte er sich und boxte mit der Faust gegen das Steuerrad. »Warum ist Renke nicht selbst gefahren?«
Viktoria lachte leise. »Ja. Schade eigentlich. Renke und ich so ganz allein im Dunkeln, das hätte mir gefallen.«
»Was soll das denn heißen?«
»Renke Nordmann sieht verdammt gut aus, er ist ledig und im richtigen Alter.«
»Er ist verwitwet. Und er hat seiner Britta auf dem Sterbebett versprochen, dass er allein bleibt, bis Aleena aus dem Haus geht. Das ist noch ’ne ganze Weile. Mach dir keine Hoffnungen.«
»Woher weißt du das so genau? Warst du dabei, als sie gestorben ist?«
»Nee, bestimmt nicht. Aber Christine und Britta waren gut befreundet.«
Dass er den Namen seiner Frau erwähnte, verdarb ihr die Laune. Sie wandte sich von ihm ab, schaute angestrengt nach vorn und sagte kein Wort mehr. Dabei hatte er nur ihre Frage beantwortet.
»Wir sind da.«
Der alte Claasen war vor zehn oder elf Jahren gestorben. Seither stand der Hof leer. Seine beiden Söhne versuchten seit einiger Zeit halbherzig, das Anwesen zu verkaufen. Ihre Preisvorstellungen hatten allerdings wenig mit der Realität gemein. Es hieß, sie hätten Geld genug und wären nicht drauf angewiesen, ihr Elternhaus zu verschleudern. Der Hof verfiel unterdessen. Das hatte schon vor dem Tod des alten Claasen angefangen, und seit niemand mehr dort wohnte, schritt der Verfall noch schneller voran.
Das Dach war undicht, im Scheunenbereich an einer Stelle sogar eingestürzt, in vielen Fenstern fehlten die Scheiben – ein Werk der ortsansässigen Jugend. Die Türen waren schon vor Jahren aufgebrochen worden, das Inventar zum größten Teil zertrümmert oder geklaut. Eine Zeit lang wurde die Polizei mehrmals in der Woche zu dem abgelegenen Gehöft gerufen. Inzwischen hatte sich das wieder gelegt. Heutzutage hing die Dorfjugend lieber am Marktplatz oder vor den Geschäften rum. Die Kids brauchten Licht, um sich zu zeigen.
Oliver parkte quer auf der Auffahrt. Kaum, dass der Wagen stand, zog er Viktoria auf seinen Schoß, er seufzte wohlig und leckte mit der Zunge über die weiche Haut in ihrem Nacken. Er hätte gar nicht in Worte fassen können, wie gut sie sich anfühlte, weich und trotzdem glatt und fest.
»Wenn ich es mir recht überlege, bin ich doch froh, dass Renke nicht selbst gefahren ist.« Er lachte leise. Kaum zu fassen, aber keiner der Kollegen ahnte etwas davon, dass er regelmäßig mit Viktoria schlief, mit der Frau, auf die alle im Revier scharf waren. Nicht mal Renke hatte was gemerkt, dabei hielt der sich immer für den Obercrack, weil er früher bei der Kripo gearbeitet hatte. Wirklich schade, dass Oliver keinem davon erzählen durfte. Sie würden ihn beneiden, alle, auch Renke, und das hätte er zu gern erlebt.
Als er versuchte, ihre Uniformjacke zu öffnen, schlug Viktoria seine Hände fort. »Jetzt nicht. Nachher sieht uns jemand.«
»Hier ist doch keiner, Süße.« Seine rechte Hand glitt zwischen ihre Beine. Er würde sie schon auf Touren bringen, wenn sie ihn nur machen ließ.
»Finger weg, ich will jetzt nicht. Kapiert?« Mit einer energischen Bewegung rutschte sie auf ihren eigenen Sitz und warf den langen Zopf über die Schulter. Die Haarspitzen streiften dabei seine Wange.
In gewisser Weise war sie unberechenbar, mal schüchtern wie eine Fünfzehnjährige, dann wieder wild und hemmungslos. Zickig konnte sie auch sein, so wie jetzt. Aber gerade das reizte ihn, machte ihn an, diese Ungewissheit, wie sie drauf war, wie weit er gehen durfte.
Sie betätigte den elektrischen Fensterheber und ließ die Scheibe auf ihrer Seite bis zur Hälfte runter. »Hier soll jemand sein? Wer will das denn gesehen haben? Ist doch stockfinster. Und es gibt keine Nachbarn.«
»Was weiß ich. Irgendeiner, der hintenrum nach Hankensfehn wollte, ist doch egal. Mach das Fenster wieder zu, es regnet rein.« Seufzend zog Oliver den Zündschlüssel ab. »Wir warten zwei Minuten, vielleicht hört der Scheißregen ja auf. Dann gehen wir los.« Er beugte sich nach rechts und holte eine große Stabtaschenlampe aus dem Handschuhfach, dabei streifte er absichtlich ihr Bein. Keine Reaktion. Okay, dann eben nicht. Was zum Teufel hatte er eigentlich verbrochen, dass Viktoria ihn so behandelte? Sonst konnte sie seine Hose gar nicht schnell genug aufkriegen. Weiber.
Angestrengt starrte er zum Haus hinüber. Der Regen sammelte sich auf der Frontscheibe, und er konnte nichts erkennen, außer dass es dunkel war und sich da draußen scheinbar nichts bewegte. »Ist sowieso keiner mehr da, falls überhaupt jemand hier gewesen ist. Aber nachsehen müssen wir trotzdem.« Inzwischen war Oliver ziemlich sauer. Auf denjenigen, der für das Wetter verantwortlich war, wer immer das sein mochte. Auf den Blödmann, der die Polizei angerufen hatte. Auf Renke Nordmann, der sich jetzt bestimmt schon auf dem Heimweg befand, und natürlich auf Viktoria, die keine Lust verspürte, die Situation auszunutzen.
Die beiden Polizisten stiegen aus und schlossen leise die Autotüren. Warum leise? Das sollte Oliver sich für den Rest seines Lebens fragen: Ob alles anders gekommen wäre, wenn er die Autotür mit Schwung zugeknallt hätte?
Viktoria streckte ihre Hand nach vorn und lächelte ihn an. »Es regnet gar nicht mehr.«
Aber das reichte nicht aus, um seine Laune zu verbessern. »Du wirst sehen, dass hier keiner ist. Bei dem Scheißwetter geht doch niemand freiwillig vor die Tür.«
»Oder da ist einer, der uns gehört hat und sich jetzt versteckt«, flüsterte sie.
Auf einmal wirkte sie gar nicht mehr cool, eher wie ein kleines, ängstliches Mädchen, das beschützt werden wollte. So gefiel sie ihm gleich sehr viel besser. So waren sie, die Neuen, große Klappe, voller Eifer, überall witterten sie Schwerverbrecher, aber wenn’s drauf ankam, machten sie sich in die Hose. Umständlich fingerte Oliver die Taschenlampe aus dem Hosenbund. Kein Mond, keine Sterne, Dunkelheit und ein heftiger Wind, der an seiner Jacke zerrte. Der Boden war bedeckt mit einer dicken Schicht Herbstlaub, die jedes Geräusch verschluckte. Der Lichtschein seiner Lampe huschte über die Backsteinfassade des Hauses. Bei Nacht wirkte Claasens Hof wie verwundet, das kaputte Dach, die leeren Fenster, die scheinbar lautlos um Hilfe riefen. Richtig unheimlich.
»Hier ist keiner«, wiederholte er stur und stapfte sehr entschieden Richtung Haus, immer dem Lichtkegel der Taschenlampe folgend, vielleicht, um Viktoria zu imponieren, oder einfach, weil die Dienstvorschrift es so verlangte.
Hinter seinem Rücken zog Viktoria ihre Waffe aus dem Holster. Dass sie die Heckler & Koch sogar entsicherte, was er absolut lächerlich fand, erkannte er an dem typischen Geräusch.
»Willst du Kaninchen schießen?«, fragte er spöttisch, drehte sich aber nicht um. Hoffte einfach, dass Viktoria den Lauf der Pistole auf den Boden richtete und nicht auf seinen Rücken. Das hatten sie ihr ja wohl in der Ausbildung beigebracht. »Ich mag Kaninchen am liebsten in Rotwein geschmort, mit Zwiebeln und ganz viel Thymian.«
»Ostfriesisch ist das aber nicht.« Viktorias Stimme klang angespannt. Sie hatte tatsächlich Angst. Hey, Kleine, wie wär’s mit einem starken Mann, dachte er. Und dass sich vielleicht doch noch was aus der Situation machen ließ, wenn sie erst wieder im Wagen saßen.
Vor ihm bewegte sich etwas. »Hallo? Hier ist die Polizei.« Oliver leuchtete zur hinteren Hausecke. Da stand jemand, eine einzelne Person.
Hinter ihm schnappte Viktoria heftig nach Luft, wie ein Schwimmer, der gerade aus dem Wasser aufgetaucht war, um seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Die macht sich gleich ins Hemd, dachte er amüsiert, und er freute sich schon darauf, sie hinterher damit aufzuziehen. Er beschleunigte seine Schritte, wollte so schnell wie möglich abklären, wer sich um diese Zeit bei Claasen aufhielt, und warum, damit er sich angenehmeren Dingen widmen konnte. Und dann passierte alles auf einmal. Sein rechter Fuß trat in ein Loch, ein Maulwurfsloch vermutlich, er rutschte aus, knickte ein, ging zu Boden, und ein unglaublicher Schmerz überrollte ihn, als wäre sein Knöchel in ein Tellereisen geraten.
»Scheiße!«, brüllte er und dann: »Pass auf!«, um Viktoria vor dem unebenen Boden zu warnen. In derselben Sekunde hörte er den Knall, laut und hart. Ein Schuss, das wusste er sofort.
Viktoria hatte ihre Waffe abgefeuert. Als Nächstes nahm er das Stöhnen wahr, das eindeutig von der Hausecke kam, das entsetzliche Stöhnen, das zu einem langen Seufzer wurde, der ganz unvermittelt erstarb. Danach hörte er nur noch seinen eigenen keuchenden Atem und seinen Herzschlag, der dumpf in seinen Ohren dröhnte.
Bei dem Sturz war ihm die Taschenlampe aus der Hand gefallen und einen halben Meter weitergerollt. Sie beleuchtete jetzt den Boden, das Laub, das sein Unterbewusstsein, warum auch immer, als Blätter von Kastanie und Ahorn identifizierte.
»Bist du verletzt?«, wimmerte Viktoria. »Was ist mit dir, sag doch was, bitte!« Sie kniete neben Oliver und drehte seinen Kopf so, dass er sie ansehen musste.
»Ich bin doch bloß umgeknickt«, brüllte er. »Bist du wahnsinnig geworden? Was ballerst du hier in der Gegend rum?« Den Schmerz ignorierend rappelte er sich hoch, schnappte die Lampe und humpelte zur Hausecke, dorthin, wo er eine Gestalt auf dem Boden liegen sah, erfüllt von der Ahnung, dass soeben etwas Schreckliches passiert war.
In beinahe zwanzig Dienstjahren war Polizeioberkommissar Oliver Dellbrink dem Tod oft genug begegnet, meist bei Verkehrsunfällen oder Selbstmorden. Noch während er seine zitternde Hand ausstreckte, wusste er bereits, dass er einen Toten berühren würde. Warm noch, aber bereits ohne Seele. »Bist du wahnsinnig geworden? Wahnsinnig?«, wiederholte er wieder und wieder, weil er einfach nicht glauben konnte, glauben wollte, was hier passiert war.
Die Kugel aus Viktorias Dienstwaffe hatte dem Toten das halbe Gesicht weggerissen. Dennoch erkannte Oliver ihn sofort, allein schon an dem alten Bundeswehrparka, den keiner von den jungen Leuten in Martinsfehn sonst trug. Auf dem Boden lag Rouven Kramer, der Sohn des Pastors, erschossen von einer durchgeknallten Polizistin. Die Beine sackten ihm weg.
Neben ihm kauerte sich Viktoria ins nasse Herbstlaub. »Du hast gerufen: Pass auf!« Fassungslos schaute sie auf ihre Hände, dann ließ sie mit angewiderter Miene die Waffe fallen. »Warum hast du Pass auf! gerufen?«
Was sollte er jetzt sagen? Etwa, dass er sie nur vor einem blöden Maulwurfsgang warnen wollte? Dass Rouven Kramer wegen eines allzu eifrigen Maulwurfs sein Leben verloren hatte? Krampfhaft versuchte Oliver, sich zu erinnern. Wie war sein Tonfall, hatte er aufgeregt geklungen, vielleicht sogar panisch? Konnte Viktoria daraus wirklich den Schluss ziehen, dass sich ihr Leben in Gefahr befand? Ihr Leben oder seins?
»Warum hast du nur: Pass auf! gerufen?«, schluchzte sie neben ihm. »Du bist umgefallen. Ich dachte doch, der hat ’ne Waffe. Wie konntest du mir solche Angst einjagen! O Gott, was hab ich getan?«
Verzweifelt versuchte Oliver, einen klaren Gedanken zu fassen, einen einzigen klaren, vernünftigen Gedanken, der ihm jetzt weiterhalf. Stattdessen kamen ihm die unsinnigsten Dinge in den Sinn. Der Wagen musste dringend zur Inspektion, er wusste nicht, was er Christine zu Weihnachten schenken sollte, die Glühbirne im Kühlschrank war kaputt, und der Lottoschein steckte noch in seiner Brieftasche. Er dachte an Christine, die Frau, mit der er seit über zehn Jahren verheiratet war und die er gerade eben noch betrügen wollte, zum wiederholten Mal, obwohl er überzeugt war, seine Frau zu lieben. Er erinnerte sich an seinen Dienstantritt, den ersten Tag als Polizist, wie stolz er damals war, auch daran, wie Renkes Vorgänger ihm ein paar Wochen später einen kräftigen Einlauf verpasst hatte, weil er seiner Ansicht nach zu forsch gegen einen pöbelnden Jugendlichen vorgegangen war. Der damalige Revierleiter empfahl einen Lehrgang über Deeskalation, und Oliver hatte sich umgehend zu dieser Fortbildung angemeldet. Ansonsten war seine Karriere bei der Polizei makellos verlaufen. Und jetzt so ein Desaster.
»Das ist Rouven Kramer, der älteste Sohn von unserem Pastor. Wir müssen die Kollegen anrufen.« Er sagte das völlig emotionslos, weil er nichts fühlte, wirklich gar nichts. »Das gibt ein Ermittlungsverfahren.« Für Viktoria, die frisch gebackene Kommissarin, dürfte die Polizeikarriere damit wohl beendet sein, das wussten beide. Was für ihn selbst dabei herauskam, ließ sich schwer einschätzen. Hatte er einen Fehler gemacht? Hätte er diesen Unfall verhindern können? Verflucht, er wusste es nicht, er wusste gar nichts mehr, nur dass er alles dafür geben würde, wenn er die Uhr zurückdrehen könnte, nur ein paar Minuten.
Viktoria brach in hysterisches Schluchzen aus. »Nein! Bitte nicht.« Am ganzen Körper bebend würgte sie ein paar Worte hervor. »Mein Vater … mein Großvater … mein Onkel … alle Polizisten … Wie soll ich … je wieder nach Hause fahren … ihnen ins Gesicht sehen!«
Das wusste Oliver auch nicht. Er wusste ja nicht mal, wie er sich selbst jemals wieder in die Augen schauen sollte, Christine, Renke Nordmann und vor allem Rouvens Eltern.
»Es hilft doch nichts, Mädchen. Wir müssen die Kripo verständigen. Das gibt ’ne ganz normale Todesermittlung.«
»Bitte, bitte, bitte nicht«, wimmerte sie. »Bitte Oliver, es kann dir doch nicht egal sein, was aus mir wird. Nicht nach allem, was zwischen uns war.« Aufschluchzend warf sie sich gegen seinen Oberkörper, ihre Arme umklammerten seinen Rücken, ihr tränennasses Gesicht presste sich gegen seinen Hals: »Du musst mir helfen, du musst mir einfach helfen, lass mich jetzt nicht im Stich, Oliver, bitte!«
Als er nicht reagierte, richtete sie sich auf. »Schon kapiert. Du hast nur eine zum Vögeln gebraucht, weil deine heilige Christine dich nicht mehr ranlässt. Stimmt’s? Ich bin dir doch total egal.«
»Natürlich bist du mir nicht egal«, sagte er automatisch, merkte aber selbst, wie wenig überzeugend das klang.
»Was hat der hier überhaupt gemacht?« Sie sprang hoch, ihre Hände wischten über ihre Hose. Dann griff sie erneut nach ihrer Pistole. »Vielleicht war er gar nicht allein? Ich sehe besser mal nach.«
»Warte, ich komm mit und leuchte. Und nimm die Waffe runter.« Bevor du noch einen abknallst, aber das sagte er nicht laut. Mühsam humpelte er Viktoria hinterher. Der Schmerz war kaum zu ertragen, vor allem, wenn seine Fußspitze den Boden berührte, zuckte es wie ein elektrischer Schlag durch seinen gesamten Körper. Nach ein paar Metern ließ sich Oliver auf den Boden fallen, er rollte den Strumpf runter und erwartete, Blut zu sehen, aber es gab keine offene Wunde, nur ein stark angeschwollenes Gelenk, das sich bereits steinhart anfühlte. Am liebsten wäre er einfach so liegen geblieben, um abzuwarten, egal, auf wen oder was. Dann aber fiel ihm ein, dass Viktoria die Waffe in der Hand hielt. Er durfte sie nicht allein lassen, nicht in dieser Verfassung und mit der Heckler & Koch. »Komm her, du musst mich stützen.«
Mit erstaunlicher Kraft zog sie ihn auf die Beine. »Leg den Arm um meine Schulter, keine Angst, ich schaff das schon.«
Gemeinsam untersuchten sie die Rückseite von Claasens Haus. Das große, doppelflügelige Stalltor, dessen grüne Farbe schon bis zur Unkenntlichkeit verblasst war, hatte jemand mit einem stabilen Vorhängeschloss gesichert. Das Holz wirkte allerdings sehr morsch, vermutlich hätte ein Fußtritt genügt, um in den Stall zu gelangen. Den Platz davor hatte der alte Claasen mit grauen Betonsteinen gepflastert, die jetzt, genau wie das restliche Grundstück, von einer dicken Lage Herbstlaub bedeckt waren.
Gegenüber vom Haus stand eine große Remise. Sie war leer bis auf ein paar halb verrottete Ballen Stroh. Hier hatte Rouven sich ein Lager gebaut. Sie entdeckten einen Schlafsack, darunter eine alukaschierte Isomatte, einen leeren Emaillebecher, eine ungeöffnete Flasche Sekt und ein Glas mit einer Kerze darin, noch warm. Sogar Feuerholz hatte der Junge aufgeschichtet, aber nicht angezündet. Kein Hinweis auf eine weitere Person. An einem Balken hing ein totes Kaninchen, noch nicht ganz kalt, die Kehle aufgeschnitten. Das Blut tropfte im gleichmäßigen Takt auf den Boden, ganz langsam, daneben steckte ein Ausbeinmesser im Holz, und an einem Pfosten lehnte eine Schrotflinte.
»Ein Gewehr!«, schrie Viktoria triumphierend, und obwohl sie allein waren, hätte Oliver ihr am liebsten den Mund zugehalten. »Er war bewaffnet. Was hat der hier gemacht? Was war das überhaupt für ein komischer Vogel?«
Mit der Schulter gegen einen Balken gelehnt, das rechte Bein vor dem linken gekreuzt, um den verletzten Fuß zu entlasten, erzählte Oliver, was er über den Jungen wusste. Dass Rouven Kramer, der keine zehn Meter entfernt tot auf dem Boden lag, das Gesicht von einer Kugel zerfetzt, davon geträumt hatte, einmal zu Fuß über die Alpen zu wandern. Ganz allein.
»Der hat sich schon mal ein Kaninchen geschossen und über dem Lagerfeuer gebraten. Wollte ganz allein klarkommen. Dass er hier bei Claasen campiert hat, wusste keiner. Nicht mal Renke, sonst hätte er bei dem Anruf sicher gleich geschaltet.«
»Wie? Euch war bekannt, dass dieser Junge ein Gewehr hat, damit wildert, und ihr habt nichts unternommen?« Es klang fassungslos.
Ja, wenn man es so deutlich aussprach, konnte man es wirklich kaum glauben. »Du kennst ja Renke«, murmelte Oliver. »Er hat beschlossen, dass Rouven Kramer harmlos ist.«
»Renke Nordmann ist ein selbstherrliches Arschloch. Aber jetzt könnte das Gewehr unsere Rettung sein«, erklärte Viktoria mit erstaunlich fester Stimme.
Er kapierte nicht, was sie damit sagen wollte. Fragend schaute er sie an.
»Ja was denn? Du kommst doch auch nicht ungeschoren davon. Am Ende wird es heißen, dass zwei Polizisten einen harmlosen Jugendlichen abgeknallt haben, den Sohn des Pastors auch noch. Was deine Christine wohl sagen wird?«
»Lass Christine aus dem Spiel.«
Sie lachte, und es klang kalt und hässlich. War das hier wirklich die Frau, die seit Wochen sein ganzes Denken ausfüllte, die ihn zum Ehebrecher gemacht hatte, die Frau, die ihn beim Sex mühelos dorthin brachte, wo er mit Christine nie hinkommen würde, und die gleichzeitig so sanft und liebevoll sein konnte, dass es außerhalb seiner Vorstellungskraft lag, sie jemals wieder aufzugeben? Bei dem Gedanken an den toten Jungen wollte er sich nur noch hinsetzen und weinen. Und Viktoria benahm sich, als hätte sie aus Versehen den Hund des Försters erschossen.
Mit einem energischen Ruck entwand sie ihm die Taschenlampe und leuchtete damit mitten in sein Gesicht. »Los, Oliver, reiß dich zusammen. Den Jungen können wir nicht mehr lebendig machen. Aber unsere Haut, die können wir vielleicht retten. Wir brauchen das Gewehr und den Sekt.« Sie klemmte die Lampe zwischen ihre Knie, holte ein paar Einmalhandschuhe aus ihrer Hosentasche, zog sie an und streifte darüber die Fingerhandschuhe aus dunkelroter Wolle, die sie neben Rouvens Schlafsack gefunden hatte. Auf dem Handrücken war sehr sorgfältig ein sternförmiges Muster gestickt. Ein Werk seiner Großmutter, das erkannte Oliver sofort, weil er selbst ganz ähnliche Handschuhe besaß, allerdings in Dunkelgrün. Die Handschuhe, die die Mutter des Pastors scheinbar pausenlos strickte, galten auf dem alljährlichen Weihnachtsbasar der Kirche als der absolute Renner.
Es schien blasphemisch, Viktoria in den Handschuhen zu sehen, die die Großmutter für ihren Enkel gestrickt hatte, und Oliver spürte den Drang, Viktoria die Handschuhe zu entreißen. Er schaffte es aber nicht, sich zu rühren. Immer noch stand er an den Pfosten gelehnt, das linke Bein nutzte er als Standbein, das rechte mit dem schmerzenden Gelenk wagte er nicht zu belasten. Stumm schaute er zu, wie Viktoria die Sektflasche öffnete, gekonnt und ohne einen Tropfen zu verschütten, und etwas davon in den Emaillebecher goss, der neben Rouvens Lager auf dem Boden stand. Dann zerrte sie den Militärrucksack zu sich rüber und wühlte darin herum. »Hier ist eine Art Tagebuch. Wahnsinn. Der hat alle Kaninchen aufgelistet, die er im letzten Jahr geschossen hat. Ein Fasan war auch dabei, noch einer … ein Wilderer, sag ich doch.«
Inzwischen hatte sich der Schmerz in seinem Knöchel verschlimmert. Mit einem leisen Stöhnen ließ er sich auf den Boden sinken und vergrub den Kopf in den Händen. Als er wieder aufblickte, sah er, wie Viktoria mit einem Filzstift ICH HASSE EUCH ALLE! über die letzten beiden Seiten von Rouvens Buch schrieb, mit großen, ungelenken Druckbuchstaben.
Sie räumte den Rucksack wieder ein, dann trug sie das Luftgewehr zu dem Toten. »Komm. Und zieh dir Einmalhandschuhe an, das ist wichtig.« Als er nicht reagierte, wurde sie lauter. »Bitte, Oliver, du musst mir jetzt helfen!« Der Klang ihrer Stimme verriet, wie verzweifelt sie war. Um nichts in der Welt hätte er jetzt mit ihr tauschen wollen.
Mit beiden Händen zog er sich an dem Pfosten empor, dann streifte er die Latexhandschuhe über seine Hände und folgte ihr wie hypnotisiert. »Was soll ich tun?«
»Es muss aussehen, als ob er zuerst geschossen hat. Ohne Grund.« Sie legte eine Hand an ihre Kehle und schaute ihn an, bettelnd. »Das müssen wir irgendwie hinkriegen. Bitte. Du sagst doch immer, dass du mich liebst. Jetzt kannst du es beweisen.«
In genau diesem Augenblick hätte er sie stoppen müssen, ihr sagen, dass das Wahnsinn war, zum Scheitern verurteilt, aber er hielt den Mund, aus Liebe, Mitleid oder aus Feigheit, er wusste es nicht.
Bei dem Toten angekommen, ließ Viktoria den Strahl der Lampe hektisch kreisen. Sie entdeckte einen alten, zerzausten Buchsbaum, gut einen Meter hoch und unten schon ganz kahl, und drückte die Lampe zwischen die oberen, dicht belaubten Zweige. »Das reicht als Beleuchtung, oder? Jetzt fass ihn unter die Schulter und richte ihn auf. Wir brauchen seine Jacke.«
Der Schmerz in seinem Knöchel war so heftig, dass er sein ganzes Denken ausfüllte. Er verstand nicht, was Viktoria sich da ausgedacht hatte, und es war ihm auch egal, er würde einfach das tun, was sie von ihm verlangte. Irgendwie schaffte er es, den toten Jungen hochzuzerren. Rouven fühlte sich noch ganz warm und weich an, wie lebendig. Sein Blut verschmierte Olivers Uniformjacke. Viktoria öffnete den Parka, es dauerte ein paar Minuten, weil Rouvens Handschuhe sie behinderten, und zerrte ihn herunter. Dann streifte sie sich die grüne Jacke über, nahm das Gewehr hoch und drückte ab. Mehrfach schlugen Schrotkugeln auf den Weg, den sie vor wenigen Minuten gekommen waren, und in den alten, verkrüppelten Apfelbaum. Ganz langsam begriff Oliver den Plan. Die Spurensicherung würde den Schrot finden, dazu Schmauchspuren an Rouvens Handschuhen und den Ärmeln des Parkas. Alles zusammen sollte als Beweis dienen, dass der Junge auf die Polizisten geschossen hatte.
Olivers Hand in dem milchig weißen Latexhandschuh strich über Rouvens leblosen Arm, als wäre es möglich, sich bei einem Toten zu entschuldigen. Nicht nur, dass der Junge einen völlig sinnlosen Tod gestorben war, jetzt beschmutzten sie sein Ansehen auch noch mit ihren Lügen, um selbst davonzukommen.
»Und jetzt musst du mich anschießen.« Es klang wild entschlossen. »Irgendwohin, wo es nicht zu weh tut. Schnell, bevor mich der Mut verlässt.« Jetzt lächelte sie sogar, wenn auch unter Tränen.
»Und was machen wir solange mit ihm? Sein Pullover muss trocken und vor allem frei von diesem Scheißherbstlaub bleiben, das überall festklebt. Da war doch eine Isomatte, oder? Hol die mal her.«
Mit großen Schritten rannte sie zurück zur Remise, holte die Isomatte und rollte sie aus. Dann schaute sie ihn fragend an.
»Wir müssen ihn so hinlegen, dass kein Blut auf den Schaumstoff kommt … das ist wichtig … Ich hab ’ne Idee … vielleicht so …« Mit beiden Händen schob er einen Haufen aus Blättern zusammen. »Hier, für den Kopf.«
Gemeinsam gelang es ihnen, den toten Jungen so zu lagern, dass Rücken und Arme auf der Matte landeten, der Kopf mit der entsetzlichen Wunde im nassen Laub.
»Jetzt ziehst du den Parka und die Wollhandschuhe über. Du weißt schon, Schmauchspuren. Wenn ich angeschossen bin, können wir behaupten, dass es Notwehr war.«
Nachdenklich nahm Oliver das Luftgewehr in die Hand. Er wischte mit dem Zeigefinger über den Lauf, seufzte und legte es zurück auf den Boden. Nein. Er brauchte sich nur Viktorias wunderschönen Körper vorzustellen, ihre nackte Haut, um zu wissen, dass er niemals auf sie schießen könnte. Er schüttelte den Kopf. »Diese Schuld will ich nicht auch noch auf mich laden.«
Ihr abgehacktes Lachen jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. »Überleg nicht lange, tu es einfach. Ich halte das schon aus, keine Sorge. Vielleicht hab ich das sogar verdient.«
Beharrlich blieb er bei seiner Weigerung. Später sollte er sich noch tausendmal fragen, ob es ihm in Wahrheit darum gegangen war, sie nicht so einfach davonkommen zu lassen. Eine schmerzhafte Schusswunde als Strafe, und alles wäre gesühnt und damit aus der Welt, als würde man fünfzig Euro für eine besonders große Verfehlung in die Sonntagskollekte werfen und sich hinterher erlöst fühlen. »Ich kann das nicht. Schieß doch auf mich. Am besten direkt in mein Herz.«
»Halt still.« Ohne zu zögern, griff sie nach der Waffe, trat ein paar Meter zurück, zielte auf seinen linken Oberarm und drückte ab. Die Kugeln prasselten durch den blauen Stoff in sein Fleisch. Es tat nicht mal weh. Dann ließ sie das Gewehr direkt neben dem Toten auf das nasse Laub fallen.
Oliver musste den Jungen erneut aufrichten, damit sie ihm den Parka überziehen konnte. Der Reißverschluss ging nicht zu, in den Handschuhen war sie einfach zu ungeschickt, also blieb die Jacke offen. Als Nächstes rollte sie die Isomatte ein und trug sie zurück zum Lager.
Als sie zurückkehrte, hielt sie die Sektflasche in der Hand, sie kippte beinahe den gesamten Inhalt über den Bauch und die Oberschenkel des Toten, dann brachte sie die Flasche zurück. Den Sinn dieser Aktion verstand Oliver nicht, aber er stellte auch keine Fragen mehr, hoffte einfach nur noch, dass alles endlich vorbei war. Zuletzt zog Viktoria die Handschuhe aus und streifte sie über die Hände von Rouven Kramer. Diesmal ging sie ganz behutsam vor.
»So, jetzt können wir die Kollegen rufen. Es war Notwehr, du bist zum Haus, wir haben gerufen: Hier ist die Polizei!, und der Junge hat einfach losgeballert. Er hat dich getroffen, du bist im Eifer des Gefechts umgeknickt, hast deinen Knöchel verletzt, und ich habe zur Eigensicherung meine Dienstwaffe benutzt. Dass ich ihn in Anbetracht der Situation und der schlechten Lichtverhältnisse erschossen habe, kann mir niemand zum Vorwurf machen. Immerhin habe ich dir das Leben gerettet.« Sie lächelte wie ein kleines, tapferes Mädchen, das sich seine Angst nicht anmerken lassen wollte, obwohl es in Wirklichkeit am ganzen Körper zitterte.
Ganz kurz überlegte er, wie Christine wohl in dieser Situation reagiert hätte. Aber die Frage ließ sich leicht beantworten. Christine hätte zu ihrer Schuld gestanden. Christine war unfehlbar, ganz anders als er selbst und Viktoria.
»Wir gehen zum Wagen zurück.« Ächzend kämpfte er sich wieder hoch. Der Schmerz im Fußgelenk raubte ihm den Atem, dennoch lehnte er ihre Unterstützung ab. Viktorias Berührung konnte er jetzt einfach nicht ertragen. Mithilfe eines rostigen Spatens, der, warum auch immer, an der Schuppenwand lehnte, quälte er sich zum Auto, dabei machte er einen großen Bogen um den toten Jungen.
»Du hast sein Blut an deiner Uniform«, sagte er dumpf. »Und ich auch. Wie wollen wir das erklären?«
»Wir sagen, dass du ihn hochgenommen hast, in der Hoffnung, noch etwas für ihn tun zu können. Aber er war leider schon tot. Ich saß daneben, hab dir geholfen, außerdem war ich so entsetzt, dass ich ihn umarmt habe. Wir waren kopflos. Völlig kopflos, das muss man doch verstehen, nicht wahr?«
»Was sollte das mit dem Sekt?«
»Sie sollen denken, dass er betrunken war.«
Er lachte ungläubig. »Ist das dein Ernst? Die untersuchen doch seinen Mageninhalt. Und seinen Blutalkoholwert.«
»Ach so, ja, Scheiße. Egal. Sag jetzt auf dem Revier Bescheid.«
Er griff zum Funkgerät. »Hier ist Polizeioberkommissar Oliver Dellbrink. Wir haben einen Notfall. Schusswaffengebrauch im Dienst. Die Kollegin hat jemanden tödlich getroffen. Am besten schickt ihr gleich die Kripo.«
Der Beamte blieb ganz ruhig. »Was ist mit Ihnen? Brauchen Sie Hilfe? Soll ich einen Krankenwagen schicken? War es nur ein Täter? Ist er wirklich tot?«
»Uns geht es gut und ja, er ist tot, und ich bin leicht verletzt. Angeschossen. Sonst ist niemand hier.« Er nannte die Adresse, dann bat er darum, Renke Nordmann zu benachrichtigen. Danach stellte er den Funk einfach aus. Sein Akku war leer, absolut leer.
»Wohin mit den Einmalhandschuhen?«, fragte Viktoria flüsternd.
»Gib sie her.« Er stopfte die Handschuhe in die Hosentasche. In Anbetracht seiner Verletzungen würde man seine Uniform, wenn überhaupt, erst später abholen. Die Kollegen konnten ihn ja schlecht hier ausziehen und in Unterwäsche ins Krankenhaus schicken. In der Klinik würde er sicher eine Möglichkeit finden, die Handschuhe unauffällig verschwinden zu lassen.
Als Viktoria sich zu ihm beugte, um ihre Lippen auf seine zu pressen, drehte er den Kopf zur Seite. Das war vorbei. Fünf endlos lange Minuten später ergriff er ihre Hand, sie fühlte sich genauso kalt an wie seine. »Und jetzt?«
»Jetzt sind wir Komplizen«, flüsterte sie tonlos. »Für alle Zeit miteinander verbunden.«
Als sie ihn erneut küssen wollte, wehrte er sich nicht mehr. Es begann wieder zu regnen, genauso plötzlich und genauso heftig wie vorhin. Aber da hatte Rouven Kramer noch gelebt, ein Gedanke, der Oliver die Kehle zuschnürte. Die Tropfen prasselten auf das Wagendach und liefen an den Scheiben herunter. Es war unmöglich, draußen etwas zu erkennen, aber das wollte er auch gar nicht.
Renke öffnete die Haustür. »Aleena?« Keine Antwort. Er versuchte es noch dreimal und musste schließlich einsehen, dass sie wieder mal nicht zu Hause war. Neuerdings schien seine sechzehnjährige Tochter zu kommen und zu gehen, wie es ihr gerade passte. Wenn er sich beschwerte, hieß es: Du bist ja sowieso nie zu Hause. Er dachte an Britta, seine verstorbene Frau. Manchmal half es, sich vorzustellen, wie Britta an seiner Stelle reagiert hätte. Auf der anderen Seite war Britta seit drei Jahren tot. Damals konnte man Aleena noch halbwegs mit Schimpfen und Hausarrest beeindrucken. Davon war sie heute meilenweit entfernt.
Seufzend legte er das Kürbiskernbrot auf den Küchentisch. Dann versuchte er, Aleena auf dem Handy zu erreichen.
Sie nahm das Gespräch sofort an. »Aleena.«
Kein Wort zu viel, dachte er und ärgerte sich. »Wo bist du? Ich hab uns frisches Brot mitgebracht.«
»Bin unterwegs. Bis gleich.« Sie drückte ihn einfach weg.
Noch ehe er das Handy in seine Hosentasche stecken konnte, klingelte es erneut. Die Kripo in Leer. Und das, was der diensthabende Beamte sagte, schien einfach unglaublich. »Bei Claasens Hof? Ich bin unterwegs.« Eilig kritzelte Renke eine Nachricht für Aleena auf einen Zettel, den er mitten auf dem Küchentisch platzierte. Im Gehen brach er noch ein Stück von dem köstlich riechenden Brot ab und stopfte es in den Mund. Vermutlich würde er so schnell nichts mehr zu essen bekommen.
Nola van Heerden tauchte die Rolle in die grüne Farbe und fuhr anschließend damit über die Wand. Erst vor vier Monaten hatte sie das kleine Haus in der malerischen Altstadt von Leer bezogen und frisch renoviert, doch das tiefe Rot im Wohnzimmer, das ihr zuerst so gut gefallen hatte, konnte sie keinen Tag länger ertragen. Es war genauso düster wie ihre Stimmung, wenn sie abends auf ihrer Couch hockte und sich fragte, wie um alles in der Welt sie hier gelandet war. In einem Anflug von Verzweiflung hatte sie auf dem Heimweg vom Dienst am Baumarkt gehalten und diese Farbe gekauft, die sich Maigrün nannte und auf dem Etikett so optimistisch leuchtete. Auf der Wand wirkte sie sehr viel matter als das frische Birkenlaub, das Nola im Laden assoziiert hatte. Schon wieder eine Enttäuschung. Sie dachte an Rob, ihren geschiedenen Mann, dem sie das alles zu verdanken hatte, und stellte sich vor, ihn genüsslich in der Farbe zu ersäufen.
Nolas Haus, das wirklich winzig war, wurde eingezwängt von einem Handarbeitsgeschäft auf der rechten Seite und einer Anwaltskanzlei auf der linken. Zwei Zimmer, eine überraschend geräumige Küche, die Platz bot für einen runden Tisch und vier Stühle, ein Bad und ein Garten, der seinen Namen kaum verdiente. Im Grunde bestand er nur aus einer überdachten Terrasse und einer ungepflegten Rasenfläche von geschätzten hundert Quadratmetern. Umgeben war das Ganze von drei mannshohen Mauern und der Rückfront ihres Häuschens. Alles Grün, das Nola sehen konnte, gehörte den Nachbarn.
»Hier kriegst du keinen einzigen Sonnenstrahl ab«, hatte ihre Mutter bei ihrem ersten und bislang einzigen Besuch prophezeit, aber Nola hatte nur mit den Schultern gezuckt und: »Macht nichts«, gemurmelt.
Manchmal reichte es nicht aus, sich scheiden zu lassen. Nachdem sie Rob in einem Anfall von Wut vermutlich das Nasenbein gebrochen hatte, war ihr klar geworden, dass sie fortgehen musste, irgendwo neu anfangen, in einer Stadt, in der sie ihm nicht mehr begegnen konnte. Ihre Attacke, auf die sie weiß Gott nicht stolz sein konnte, war die Reaktion darauf, dass es ihrem geschiedenen Mann einmal mehr gelungen war, eine Versöhnung vorzutäuschen, die mit Sex endete, nur damit er sich gegen Morgen aus ihrem Bett schleichen und ihre Sachen filzen konnte. Nach Bargeld, Geldkarten, echtem Schmuck, kurz nach allem, was sich versilbern ließ.
Sie erwischte ihn in dem Moment, als er die Wohnung, die früher mal ihre gemeinsame gewesen war, verlassen wollte und rammte ihm ohne Vorwarnung ihr Knie ins Kreuz. Nachdem sie sich sechs Jahre lang nicht gewehrt hatte, kam ihr Angriff so unerwartet, dass er ungebremst mit dem Gesicht gegen die Tür knallte. Seine heftig blutende Platzwunde an der Stirn hielt sie nicht davon ab, noch mehrfach in seine Rippen zu treten. Sie nahm ihm die dreihundert Euro, die sie am Vortag von der Bank geholt hatte, ihre Visa Card und ihr nagelneues Smartphone ab und setzte ihn vor die Tür.
Erschrocken über sich selbst, über den Hass, der sich da aufgestaut hatte, beschloss Nola, ihre Zelte in Hannover so schnell wie möglich abzubrechen. Freie Stellen für Hauptkommissare waren bei der Kripo rar gesät, und sie landete hoch im Norden, genauer gesagt in Ostfriesland. Noch fühlte sie sich wie ein Fremdkörper im Polizeipräsidium. Zudem musste sie meistens mit Conrad Landau zusammenarbeiten, einem Kollegen, den sie genauso wenig mochte wie er sie. Die Abende verbrachte sie in der Regel allein, und sie musste sich zwingen, nicht ständig an Hannover zu denken, ihre Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen war, in der sie eine Stelle bei der Kripo gefunden und heimlich davon geträumt hatte, zum LKA zu wechseln, der Stadt, in der sie Rob van Heerden kennengelernt und geheiratet hatte und die plötzlich zu klein geworden war für sie und ihren spielsüchtigen Exmann.
An diesem Wochenende hatte sie Bereitschaft. Als ihr Handyklingelte, ahnte sie, dass ihre Renovierungspläne sich für diesen Abend erledigt hatten. Und richtig, ihr Kollege war dran, Oberkommissar Conrad Landau. Eine Weile hörte sie schweigend zu. »Kein Problem, ich hol dich ab.«
Im Bad warf sie die alte Jeans und das karierte Männerhemd, das sie immer zum Streichen trug, in die Wanne. In Unterwäsche huschte sie hoch ins Schlafzimmer. Eine saubere Jeans, dazu ein dicker Rollkragenpullover aus hellgrauer Wolle. Nach einem kurzen Blick aus dem Fenster, es regnete noch immer, offenbar ein Dauerzustand in Ostfriesland, entschied sie sich für ihre schon etwas in die Jahre gekommene Regenjacke von Barbour und schlüpfte zuletzt in ihre neuen, kniehohen Lederstiefel, die man über der Hose trug. Sie fand, dass sie darin mindestens fünf Zentimeter größer wirkte. Im letzten Moment kehrte sie noch mal um und behandelte die Stiefel mit dem Nano-Imprägnierspray, das die Verkäuferin ihr aufgedrängt hatte.
Im Auto drehte sie ihre kupferroten Locken zu einem Knoten, den sie mit bunten Plastikkämmen befestigte. Mit offenem Haar sah sie jünger aus, als sie tatsächlich war. In ihrem Beruf war das nicht unbedingt von Vorteil. Dann stellte sie Musik an, ihre neue Lieblings-CD von Incubus, ganz frisch auf dem Markt. Bei den ersten Takten trommelte sie mit den Fingerspitzen auf das Lenkrad. Pervers, ich bin wirklich pervers, dachte sie. Ich freue mich darüber, dass einer tot ist und ich den Abend nicht allein verbringen muss, wie abartig. Gut, dass niemand in meinen Kopf gucken kann.
Conrad wartete bereits an der Straße. Er trug altes, speckiges Ölzeug, das aufdringlich nach Schimmelpilz roch und aussah, als ob er es irgendwo im Keller aufbewahrte, zusammengeknüllt in der hintersten, dreckigsten Ecke, wo es den Mäusen als Wohnung diente. Jetzt ärgerte Nola sich, dass sie so bereitwillig angeboten hatte, mit ihrem Privatwagen zu fahren. Bestimmt würde der rote Mini hinterher nach Conrads Ölzeug stinken.
Ein letztes Mal zog Conrad hektisch an einer Zigarette, bevor er sie auf den Boden fallen ließ und einstieg. Damit, dass in Nolas Mini nicht geraucht werden durfte, konnte er sich nur schwer abfinden. Aber in dieser Beziehung blieb sie eisern. Wie erwartet, hatte Conrad mal wieder eine deutliche Fahne. Um diese Zeit war er nur selten fahrtüchtig, ansonsten hätte er wohl darauf bestanden, mit seinem vollgequarzten, zugemüllten Passat zu fahren.
Nolas Kollege war ein großer Fan der amerikanischen Krimireihen aus den Siebzigern oder Achtzigern des letzten Jahrhunderts. Diese Detectives, die in alten Straßenkreuzern die Highways rauf- und runterfuhren und die es nicht nötig hatten, sich an Vorschriften zu halten, weil sie sich selbst als das personifizierte Gesetz betrachteten, hatten es ihm angetan. Nola hegte den heimlichen Verdacht, dass Conrad sich als deutscher Detective Lieutenant Mike Stone alias Karl Malden betrachtete, was sie dann und wann zum Lachen reizte.
Früher einmal war Conrad angeblich bekannt für seine gründlichen Ermittlungen gewesen, aber inzwischen kam es Nola vor, als würde sie mehr oder weniger allein arbeiten, während er entweder Kaffee oder Zigaretten organisierte oder heimlich aus dem silbernen Flachmann trank, der stets in seiner Brusttasche steckte und den er mehrfach täglich in seinem Auto auffüllen musste. Conrad hatte ein Alkoholproblem, das wusste jeder im Polizeipräsidium, aber solange er im Dienst funktionierte, sah man höflich darüber hinweg. Nola fand das absolut nicht in Ordnung, zumal sie diejenige war, die in der Regel mit Conrad arbeiten musste. Als jüngstem Teammitglied stand es ihr allerdings nicht zu, dem altgedienten Kollegen Schwierigkeiten zu bereiten.
Kaum dass der Mini das Stadtgebiet verlassen und Nola in den fünften Gang hochgeschaltet hatte, schlief ihr Partner ein, wie ein rhythmisches Gurgeln verriet. Vielleicht nicht das Schlechteste, so konnte sie in Ruhe Musik hören. Kurz vor Martinsfehn stieß sie Conrad mit dem Ellenbogen an. »Wach auf, wir sind da.«
Die Antwort, ein unverständliches Gemurmel, hörte sich am ehesten wie »Scheißdreck« an.
Wortlos hielt sie ihm ein Pfefferminz hin. Musste ja nicht jeder gleich merken, dass er getrunken hatte.
Die Uhr zeigte Viertel vor acht, es war stockfinster und regnete ziemlich heftig. Renke seufzte. Dunkelheit und Nässe waren Gift für die Arbeit der Spurensicherung, aber am Wetter konnte er nichts ändern. Gleich nachdem Anruf aus Leer hatte er Jens Stiller benachrichtigt. Gemeinsam hatten sie den Tatort gesichert und ein paar Worte mit Oliver gewechselt, der sich jetzt auf dem Weg ins Krankenhaus befand. Immer noch fiel es Renke schwer, zu realisieren, was hier passiert war. Zehn Meter von ihm entfernt lag Rouven Kramer, der Sohn des Pastors. Tot. Viktorias Dienstwaffe hatte ihm das halbe Gesicht weggerissen. Dennoch hatte er ihn sofort erkannt. Aus unerfindlichen Gründen hatte der Junge mit einer Schrotflinte das Feuer auf die beiden Polizisten eröffnet. Was um Himmels willen mochte ihn dazu bewogen haben? Oliver war getroffen, zum Glück nur am Oberarm, und Viktoria hatte zur Eigensicherung geschossen, nur einmal, doch der Junge war tot. Verdammtes Pech.
Jens saß mit Viktoria im Auto. Sie rauchten, die Zigarettenspitzen glimmten rot im Wageninneren auf.
Dr. Gritta Fenders, die Rechtsmedizinerin, schüttelte traurig den Kopf. »Hallo Renke, was für ein Mist, und damit meine ich nicht nur das Wetter. Ich kann nur das sagen, was du selbst siehst.« Es klang deprimiert. »Der junge Mann ist durch einen Kopfschuss ums Leben gekommen. Den Todeszeitpunkt kennen wir ja, da kann ich nichts Neues beisteuern. Ich denke, meine Arbeit hier ist beendet. Den Rest wird die rechtsmedizinische Untersuchung zeigen. Bei mir im Institut ist es wenigstens einigermaßen warm und trocken.«
»Okay, vielen Dank, Gritta. Wir warten noch auf die Kripo. Die müssen jeden Moment eintreffen. Vielleicht willst du dich so lange ins warme Auto setzen?«
»Nichts lieber als das.«
Wenige Minuten später hielt ein roter Mini an der Straße, und zwei Personen stiegen aus. Eine junge Frau, die Renke nie zuvor gesehen hatte, und Conrad Landau – ausgerechnet. Das Erste, was Conrad machte, war eine Zigarette anzünden. Typisch. Er blieb neben dem Auto stehen, drehte sich mit dem Rücken zum Wind und rauchte gierig.
Die junge Frau zog die Kapuze ihrer Jacke über ihren Kopf, schaute sich kurz um, kam dann zielstrebig auf Renke zu und streckte ihm die Hand entgegen.
»Nola van Heerden, Kripo Leer. Was ist passiert?«
Die weiß, was sie will, dachte er sofort. Als Renke noch ein Junge war, gab es in seinem Elternhaus eine hellrote Katze. Obwohl sie erheblich kleiner war als alle anderen Katzen, ließ sie sich nichts gefallen, von keinem. Noch heute konnte er sich an viele blutige Kratzer erinnern. Und daran, wie es ihn immer gereizt hatte, gerade diese Katze zu streicheln, ihre Zuneigung zu gewinnen, was ihm letztendlich aber nicht gelungen war. Als er Nola van Heerden anschaute, musste er an genau diese Katze denken. Vielleicht lag es an ihrer Größe, er schätzte sie auf ein Meter sechzig, höchstens, vielleicht auch an der entschlossenen Körperhaltung oder an der Haarfarbe. Wenn er sich nicht sehr täuschte, lugten da rote Locken unter der Kapuze hervor. Auf jeden Fall hätte er sich nicht gewundert, wenn sie ohne Vorwarnung in seine Hand gebissen hätte. Ihr Händedruck war fest und zupackend.
So knapp wie möglich erzählte er das, was er wusste.
Sie nickte nur, stellte keine Fragen. »Mein Chef hat bereits ein auswärtiges Ermittlerteam angefordert. Aus Delmenhorst, glaube ich. Auf jeden Fall bringen die ihre eigene Spurensicherung mit. Wir können also nicht viel tun, nur warten und den Tatort sichern.«
»Moin, Renke, und? Was ist das hier für ein Müll?« Offenbar hatte Conrad aufgeraucht. »Wir dürfen sowieso nichts machen. Weiß gar nicht, was wir hier sollen. Der Alte weiß doch, dass du dich auskennst und keine Fehler machst.« Er schniefte und strich sich mit der Hand das Haar zurück, das dünner geworden war und vor allem grauer.
»Ich würde mir gern mal den Tatort ansehen. Ich hol Überschuhe und Handschuhe aus dem Wagen.« Damit verschwand Frau van Heerden Richtung Mini. Nola van Heerden, was für ein gewaltiger Name für so eine kleine Frau.
»Wozu? Wir ermitteln doch gar nicht!«, brüllte Conrad ihr hinterher, aber sie blieb nicht mal stehen. »Ich könnte kotzen«, stöhnte Conrad und machte umgehend die entsprechenden Geräusche. »Da hat der Alte mir echt ein Ei ins Nest gelegt. So ’ne Oberehrgeizige, arbeitsgeil bis zum Letzten, findet nie ein Ende. Jetzt interessiert sie sich schon für Sachen, die uns gar nichts angehen.« Sein Atem roch nach Pfefferminz, Renke konnte sich schon denken, warum.
Als Frau van Heerden zurückkehrte, hielt sie Renke eine Taschenlampe und ein paar Überschuhe hin. »Hier. Kommen Sie ruhig mit. Vielleicht fällt Ihnen was auf.« Mit Conrads Begleitung schien sie gar nicht zu rechnen.
Zuerst schauten sie den Jungen an. Der Regen hatte die Leiche völlig durchnässt. Natürlich spürte Rouven nichts mehr davon, Renke tat er trotzdem leid. Er mochte kaum hinsehen.
»Ist er bewegt worden?«, fragte Frau van Heerden mit erstaunlich klarer Stimme. Der Tod schien sie nicht sonderlich zu berühren. Wie Conrad gesagt hatte, eine ganz Ehrgeizige. Wieder fiel ihm die kleine Katze ein. Die kannte auch keine Gnade. Einmal hatte sie der vierjährigen Nachbarstochter das ganze Gesicht blutig gekratzt. Danach wollte Renkes Vater die Katze vergiften. Aber schlau, wie sie war, blieb sie wochenlang verschwunden, bis die Wogen sich wieder geglättet hatten.
»Keine Ahnung. Warum?«
»Weiß nicht, es sieht einfach so aus. Er liegt so friedlich da, so entspannt.«
Entspannt?Hey, dem fehlt das halbe Gesicht. Aber dann musste er sich eingestehen, dass sie nicht unrecht hatte. Rouven lag auf dem Rücken, ganz gerade, wie aufgebahrt. Als hätte ihn jemand liebevoll in das nasse Laub gebettet. Das Gewehr lag parallel zu seinem Körper, zu weit, als dass es ihm aus der Hand gefallen sein könnte.
Sie gingen weiter und untersuchten gemeinsam die Rückseite von Claasens Haus. In der Remise hatte Rouven sich eine Art Lager eingerichtet. Renke hatte den Platz schon vor zehn Minuten flüchtig gesichtet, aber nichts angefasst.