Das dunkle Geheimnis in der Brauerei - Bernd Grashoff - E-Book

Das dunkle Geheimnis in der Brauerei E-Book

Bernd Grashoff

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Beschreibung

Es ist ein reichlich mysteriöser Fall, mit dem sich die Polizei auseinander zu setzen hat: Bei Abrissarbeiten auf dem Gelände einer alten Brauerei wird in einem Kühlschacht eine wohl erhaltene Leiche gefunden. Beim ersten Anblick scheint es sich um ein Mädchen zu handeln – tatsächlich ist es aber ein junger Mann in Frauenkleidern. Bei den Ermittlungen stellt sich im Lauf der Zeit heraus,dass es sich um ein Verbrechen handelt, das schon Jahrzehnte zurückliegt ... Dieser Krimi bietet mehr als nur eine spannende Handlung. Er offenbart menschliche Hintergründe und macht mit den Abgründen eines Geschehens bekannt, dem kein Leser unbeteiligt gegenüberstehen kann.

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LESEPROBE ZU

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2005

© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim

www.rosenheimer.com

Titelfoto: © Klaus G. Förg, Rosenheim

Lektorat: Redaktionsbüro text-in, Karin Kern, Landsberg am Lech

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

eISBN 978-3-475-54640-2 (epub)

Worum geht es im Buch?

Bernd Grashoff

Das dunkle Geheimnis in der Brauerei

Es ist ein reichlich mysteriöser Fall, mit dem sich die Polizei auseinander zu setzen hat: Bei Abrissarbeiten auf dem Gelände einer alten Brauerei wird in einem Kühlschacht eine wohl erhaltene Leiche gefunden. Beim ersten Anblick scheint es sich um ein Mädchen zu handeln – tatsächlich ist es aber ein junger Mann in Frauenkleidern. Bei den Ermittlungen stellt sich im Lauf der Zeit heraus, dass es sich um ein Verbrechen handelt, das schon Jahrzehnte zurückliegt ...

Dieser Krimi bietet mehr als nur eine spannende Handlung. Er offenbart menschliche Hintergründe und macht mit den Abgründen eines Geschehens bekannt, dem kein Leser unbeteiligt gegenüberstehen kann.

Inhaltsverzeichnis

1. Primadonna sendet weiter

2. Erbschaft mit Hypothek

3. Der Hass verzehrt den Hasser

4. Tot unterm Elsterbaum

5. Das Versteck

6. Obduktion

7. Das Medaillon

8. Ermittlungen

9. Die Feuerzangenbowle

10. Sankt Leonhard – befreit von seinen Ketten

11. Helmut und Maria

12. Zwei auf der Flucht

13. Fragen und keine Antwort

14. Jungmädchengedanken am Rande der Kampfzone

15. Die Spur der Nibelungen

16. Tatortbesichtigung

17. Oberscharführer Innerebner Alois, Jahrgang 1922

18. Das Verhör

1.

Primadonna sendet weiter

Es ist eine Geschichte zu erzählen, deren Anfang und Ende mehr als fünf Jahrzehnte auseinander liegen: die eines Kriminalfalles aus dem Kreis R. in Oberbayern, in seiner Art weniger mysteriös als vielmehr einmalig. Auch muss vorab gesagt werden, dass es nach der Aufklärung eines Mordes wie diesem natürlich kaum das geben kann, was im Mindesten das Wort vom »Happy End« rechtfertigen würde, obwohl manche Leute von einem freilich seltsamen Wiedersehen zweier Liebender nach über fünfzig Jahren sprechen mochten. Ob das Auffinden des Täters nach dieser langen Zeit so etwas wie Gerechtigkeit wieder herstellen kann – nun, da müssen wir ein Fragezeichen machen.

Beginnen könnte unsere Geschichte am 22. Februar 1945. An diesem ungewöhnlich milden Vorfrühlingstag saßen in einer kleinen Elektrowerkstatt in einer von den Zerstörungen des Krieges noch weitgehend verschonten mitteldeutschen Kleinstadt ein in Ehren ergrauter alter Meister, den wir Herrn Caspary nennen wollen, und Helmut Gutzeit, sein einziger ihm noch verbliebener Lehrling, beisammen und unterhielten sich über Reparaturen an verschiedenen Geräten, wie Lampen mit defekten Kabeln, Heizstrahlern mit durchgeschmorten Drähten, an kaputten Bügeleisen, Toastern und Radios. Da im sechsten Kriegsjahr jede zivile Güterproduktion längst zum Stillstand gekommen war, hieß es, Vorhandenes immer wieder zu flicken oder irgendwie in Gang zu bringen – hinsichtlich der Bedürfnisse des täglichen Lebens also entweder zu improvisieren oder zu verzichten.

Zur kurzen Erinnerung an dieses Frühjahr wenige Wochen vor dem endgültigen Zusammenbruch der deutschen Kriegsmaschine: Am 7. März fiel die Brücke von Remagen in die Hände der Amerikaner, was ihnen den ersten Brückenkopf über den Rhein ermöglichte. Drei Tage später war das gesamte linksrheinische Gebiet in alliierter Hand. Der Sturm über den Rhein und die Einkesselung der letzten intakten deutschen Armee im Ruhrgebiet folgten unmittelbar.

Seit einigen Wochen hatte sich Meister Caspary angewöhnt, gleich morgens einen bestimmten Sender einzuschalten, den man mit den damals üblichen und weit verbreiteten Volksempfängern nicht empfangen konnte, sondern nur auf Kurzwelle im Zwölfmeterband ganz links außen (was übrigens nicht ausdrücklich verboten war), und der weder Musik noch Unterhaltung oder Propaganda – auch keine falschen militärischen Erfolge –, ›sondern nur die ständig aktualisierten Berichte über die jeweilige Luftkriegslage anzubieten hatte. Und die war für die Bevölkerung schlichtweg bedrückend: Luftangriffe mit Bombern, Tieffliegern und Schlachtflugzeugen waren keine Seltenheit. Der Ring um das Land schloss sich immer enger. Und so stellte sich für die Menschen – noch bevor sie feindliche Soldaten in ihrer Stadt würden einrücken sehen – die letzte, die entscheidende Frage: Wer ist wieder mit einem Luftangriff dran – oder, wie manches Stoßgebet morgens lauten mochte: Werden wir wenigstens heute verschont bleiben? Das merkwürdige, hastige Pausensignal – putt-putt-putt-putt – wurde immer häufiger durch den Einleitungssatz »Primadonna sendet weiter« unterbrochen. Und immer häufiger hatte der Sprecher das böse Wort von der Feindtätigkeit – in einem bestimmten Planquadrat – benutzen müssen, was akuten Angriff bedeutete. Ortsangaben gab es dabei nicht, nur chiffrierte, aber leicht zu deutende Codeworte über Anzahl und Bauart der angreifenden Flugzeuge. Sonst nur seltsame Botschaften wie »Colorado Taschenlampe« oder »Emma Auslauf Blendax zwo«. Namentlich Schuljungen zwischen sieben und vierzehn Jahren hingen gebannt an den Lautsprechern und versuchten, die kryptischen Nachrichten zu interpretieren – sie hatten gelernt, die feindlichen Flugzeuge zu unterscheiden.

Caspary markierte auf der großen, mit Buchstaben und Zahlen durchnummerierten Karte alle Punkte der Feindtätigkeit, die der Sender durchgab. Stück für Stück kristallisierte sich an jenem 22. Februar ein Plan, ein genau kalkulierter Großangriff auf alle Eisenbahnknotenpunkte östlich des Rheins heraus. Systematisch sollte ein Großverband zunächst in Nord-Süd-Richtung alle Bahnstrecken lahm legen, um dann etwa im Raum Würzburg durch den nächsten abgelöst zu werden, der nun die parallel verlaufende Süd-Nord-Strecke ausschalten sollte.

»Da braut sich was zusammen!« Caspary sagte es so leise, fast zu sich selbst, wie verlorene flüchtige Gedanken, dass der Junge nicht darauf reagierte.

»Der Lötzinn ist alle, Chef«, bemerkte der stattdessen und legte die Platine auf den Tisch.

Caspary starrte schweigend auf die Karte. Seit Stunden herrschte öffentliche Luftwarnung. Aber die Bewegungen der feindlichen Verbände schienen noch an ihrer Region vorbeizuzielen.

»Wenn dieser Verband«, er deutete auf ein Fähnchen, das sie in den letzten Minuten auf Grund der Rundfunkmeldungen mehrmals in östliche Richtung umstecken mussten, »so weitermacht, dann kriegen wir Vollalarm. Und wenn die blinde Henne doch noch ein Korn findet – ich meine unsere Jäger – und die schießen tatsächlich einen bei uns ab, und falls der dann abladen muss, wie neulich dieser Irrläufer bei dem Höllenangriff auf Dresden, dann …«

Der Junge schaute ihn fragend an.

Caspary fasste sich an die Stirn: »Lötzinn! Entschuldige, wenn ich meine Gedanken ganz anderswo habe. Geh in den Keller. Nach hinten, wo wir unsere Spezialvorräte versteckt haben.«

›Die Luftmine vorige Woche, alle Scheiben und Dächer im Umkreis von sechshundert Metern kaputt – wann hört der Schrecken endlich auf?‹, dachte Caspary. In plötzlichem Entschluss ging er an die Ladentheke, zog eine Schublade auf, entnahm ihr einen Brief und legte ihn aber sofort wieder zurück.

›Ich kann’s ihm nicht sagen‹, dachte er, ›nicht in diesem Moment, vielleicht später, am Nachmittag!‹ Doch dann der Widerspruch: ›Es bleibt mir keine Wahl.‹ Er horchte an der Tür, die zum Keller führte und die der Junge halb offen gelassen hatte. Er hörte die Geräusche des Suchens, das Klappern von Schrauben in einem der metallischen Kästen, etwas fiel zu Boden, wurde aufgehoben.

Caspary atmete tief durch, kehrte zurück an den Ladentisch, an die Schublade, riss sie jetzt auf, hielt den Brief in der Hand – und steckte ihn in eine der Taschen seines weißen Arbeitskittels.

Der Junge war zurückgekehrt. Wortlos brach er ein paar Zentimeter vom Draht ab, stöpselte das Kabel des Lötkolbens wieder in die Steckdose und wartete darauf, dass er sich erhitzte. Caspary wanderte ziellos hin und her, vom Ladentisch zu den seit Jahren leeren Verkaufregalen, zur sich direkt daran anschließenden Werkstatt und wieder zurück. Beim dritten Mal blieb er hinter dem Jungen stehen, der gerade zwei abgebrochene Metallteile in einem alten französischen Philips-Radio zusammenzulöten versuchte. Er legte beide Hände auf die Schultern des Jungen. Helmut hielt mit seiner Arbeit inne und drehte sich erstaunt um.

»Ich muss dich um Verzeihung bitten, Helmut. Ich hab einen wichtigen Brief an dich – nun nicht gerade unterschlagen … ich habe ihn dir nur nicht weitergegeben, als der Postbote gestern hier war. Ich hab ihn einfach an mich genommen. Ich wollte ihn vermutlich nicht existent werden lassen – was absoluter Unsinn war.«

»Was für einen Brief?«, fragte der Junge.

Caspary zog ihn hervor: »Es ist dein Stellungsbefehl.«

Helmut senkte den Kopf.

»Nein, du brauchst ihn nicht zu öffnen. Der Termin wird nicht gleich morgen sein. Wir beide wissen, was drin steht … und«, Caspary deutete auf die Fotos an der Wand, »genauso begann es mit Anselm«, sagte er leise, »vor drei Jahren. Flakhelfer. Bei einem Luftangriff gefallen.« Er nahm ein zweites Foto mit dem Porträt eines Marinesoldaten mit einem kleinen schwarzen Streifen in der linken unteren Ecke ab.

»Ludwig – von dem ich gehofft hatte, dass er eines Tages den Laden übernehmen würde. Die Meisterprüfung mit Auszeichnung bestanden. Sein Meisterstück: das voll funktionsfähige Magnetofongerät. Oder hier: Frank! Na gut, mein schwächster Geselle in vielen Jahren, mit zwei linken Händen, aber eine Berliner Schnauze, die sich gewaschen hatte. Wie oft wollte ich ihn rausschmeißen. Und dann steht eines Tages Frau Windscheit mit der Post in der Tür – so wie gestern der alte Müller. Frank lachte noch: ›Da können Sie ja froh sein, Meister, dass Sie mich endlich los sind.‹ Und ich hab noch gerufen: ›Klar doch, beim Barras werden sie dich zurechtschleifen. Wenn sie das geschafft haben, nach dem Endsieg, kannst du zu mir zurückkommen.‹«

Caspary wischte eine Träne fort.

»Irgendwo in Italien geblieben, Salerno. Man weiß nicht mal genau wo.«

Helmut hielt die Hand zum Meister hin. »Ich müsste es wohl selbst lesen, Chef.«

Erst zog er den Stecker heraus und wischte sich umständlich die Finger an der Hose ab, als dürfe er das staatliche Schreiben, das über Tod und Leben entscheiden würde, nur mit sauberen Händen anfassen. Dann las er es langsam durch, Wort für Wort, um es danach vor sich auf den Tisch zu legen. Beide schwiegen.

Endlich fragte Caspary: »Wann?«

»Heute in einer Woche, Donnerstag, den ersten März, in der alten Kaserne, Infanterie-Regiment 82.«

Urplötzlich schoss es wie ein Vulkanausbruch aus Caspary heraus. Er griff nach dem Brief und schlug wütend mit beiden Fäusten darauf: »Sie brechen ihre eigenen Gesetze! Du bist gerade erst vor zwei Monaten 17 Jahre geworden! Die Wehrpflicht erfasst alle Männer vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr. Nur im Krieg kann sie erweitert werden. Das gilt aber nur für Männer über 45, für den so genannten Landsturm. Sie haben mit einem Federstrich durch eine einfache Verordnung deinen gesamten Jahrgang wehrpflichtig gemacht!«

Helmut war erstaunt über den Zornausbruch seines Meisters. Und Casparys Wut steigerte sich noch. Er begann zu toben und zu schreien: »Nein, nein, nein, ich will nicht, dass du dort an der Wand als Vierter hängst – ein kläglicher Hauch trauriger Erinnerung an meinen letzten Lehrbuben, mit einem schwarzen Bändchen über dem Foto deines Kindergesichts! Sag mir noch einmal: Was war mit deinem Vater?«

Helmut vermied es, an die Wand mit den Fotos zu schauen. »Am Wolchow gefallen.«

»Siehst du! Für einen verlorenen Krieg! Du wirst mir nicht mehr losziehen als letztes Aufgebot, als Kanonenfutter für eine Rotte von Gangstern, die ihr sicheres Ende nur um ein paar Wochen hinauszögern wollen.« Caspary wischte sich den Schweiß von seinem kahlen Schädel. Immer wenn er hochgradig erregt war, schwitzte er und bekam feuchte Hände. Das hatte ihm bei der Arbeit an elektrischen Geräten schon manchen Stromschlag eingetragen.

Helmut begann langsam zu sprechen, und es klang nicht sonderlich überzeugend: »Auf dem Kameradschaftsabend am Samstag hat Ortsgruppenleiter Goldmann eine Rede gehalten. Dass wir fürs Vaterland in der Stunde der höchsten Not …«

»Goldmann! Goldmann!«, schrie Caspary, »dass ich nicht das große Kotzen kriege, dieser Drückeberger mit seinem rechten Arm in der Schlinge. Bin neugierig, was sich darunter verbirgt!«

»Nur eine schwere Nervenerkrankung hält ihn davon ab …«

»… sich zum letzten Gefecht zur Verfügung zu stellen«, höhnte Caspary. »Aber jetzt, da es auf das Ende zugeht, rühmt er sich wohl nicht mehr ganz so laut seiner Heldentaten in der Kristallnacht, da er die Juden über die Betten springen ließ, bei diesen so genannten Hausdurchsuchungen, die in Wahrheit nackte Plünderungen waren.«

Wieder nahm der alte Mann seinen Marsch um Ladentheke und Arbeitstische bis zur Ladentür und zurück auf. Wenn er sich den beiden schmalen, mit Brettern zugeschlagenen Schaufenstern näherte, fiel ein dünner Sonnenstrahl auf seinen kahlen Schädel und brachte ihn zum Glänzen. Er war bald siebzig Jahre alt und ungewöhnlich groß und dürr. Er galt nicht nur als einziger Katholik in einer rein protestantischen Gegend als Außenseiter. Schon 1923 war er als Erster in der Stadt in dieNSDAPeingetreten, was allgemeines Kopfschütteln hervorrief. Und diese Außenseiterrolle setzte er fort, als er – wiederum als Erster – nach dem 30. Juni 1934, nach dem so genannten Röhmputsch, unter lautem Protest sein Parteibuch zerriss. Das trug ihm tiefe Feindschaft ein.

Schon in der Schule hatte er sich anstarren lassen müssen. »Unser Römling« hatte ihn der Lehrer genannt, ein Spitzname, der an ihm haften geblieben war. »Steh doch mal auf, lass dich betrachten!« Ein Erstklässler hatte aufgeregt gefragt: »Haben die alle keine Haare, die Katholischen?« Und er musste, wie so oft, erklären: »Mir ist kein einziges Haar ausgefallen. Ich bin so geboren.« Und, jedenfalls als Junge nicht ohne Stolz, wenn er wieder von einer erfolglosen Behandlung in der Universitätsklinik der Nachbarstadt zurückgekommen war: »Die Professoren sagen: Ich bin ein medizinisches Wunder.«

Nun baute sich Caspary fast bedrohlich vor seinem Lehrling auf: »Ich will kühl und sachlich sein. Hör mir also gut zu. Ich weiß, du wirst mich nicht verpetzen – bei diesem sauberen Goldfasan. Ich gestehe es offen: Ich höre nachts den englischen Sender.«

Und er klopfte vier Mal mit dem Knöchel des rechten Zeigefingers auf die leere Plastikwand des Apparates, an dem Helmut gerade arbeitete. »Bei derBBCklingt es natürlich besser: viermal dieses bedrohliche dumpfe Pochen auf eine Pauke, dann leichter Nachhall, very remarkable.« Er zeigte auf die große Karte: »Was da im Gang ist – gerade heute, gerade jetzt in diesen Stunden –, ich sage dir: Sie spielen auf zum letzten Galopp! Und sie sind sich ihrer Sache so sicher, dass sie es klipp und klar und unverblümt verkünden: Sie warnen alle Orte, die an Eisenbahnknotenpunkten liegen – und noch besser: Sie nennen schon den Termin, wann sie in Berlin ihren Einzug zu halten gedenken, zusammen mit den Russen: im Mai!« Caspary senkte seine Stimme und sagte fast beschwörend: »Was sie bisher gemeldet haben, ist immer eingetroffen, Helmut. Es ist aus und vorbei mit den Nazis. Aber ich will, dass wenigstens du überlebst.« Er schlug seinem Lehrling auf die Schulter, dass dieser zusammenfuhr: »Hast du kapiert?«

Der schoss von seinem Schemel hoch und stand nun da, wortlos erstarrt, nicht fähig zu antworten.

»Wir werden dich verstecken. Frag jetzt nicht, wo und wie!«

Endlich wagte Helmut zu widersprechen: »Aber ich muss mich doch stellen. Alle tun es. Sonst – sonst …«, er fing an zu stottern, »sonst bin ich … bin ich fahnenflüchtig, bin ein Feigling, ein Deserteur, ein Abschaum.«

Caspary strich dem Jungen fast zart über sein kastanienbraunes, leicht gelocktes Haar: »Vorgestern konnte ich endlich mal eine gute Nachricht loswerden. Du weißt vielleicht, dass sie jeden Abend eine Liste von Kriegsgefangenen vorlesen. Der Altmeier Gustav, du kennst den kleinen Dicken aus der Litzmannstraße, der war in der Normandie – und jetzt ist er in Kanada. Sie nennen immer eine Reihe von Namen, die bei uns als vermisst gelten. Und am Anfang und am Ende darf sich einer mit einem direkten Gruß nach Deutschland melden. Ich hab seine Stimme erkannt. Ihm geht es gut. Ist kein Schwindel. Das, was sie bei uns im Rundfunk seit einiger Zeit auch machen – Mikroaufnahmen, die auf Tonband gespeichert werden –, ich meine: so läuft es rein technisch …«

Helmut nickte.

»Aber Sie konnten es seiner Mutter doch nicht direkt sagen, weil …«

»Klar. Abhören feindlicher Sender wird mit dem Tod bestraft. Unter dem tun sie es ja nicht mehr. Ich bin zu Frau Altmeier gegangen, hab ihr zugezwinkert: Hab wieder gependelt. Und siehe da – das Lot ist justament über der Landkarte von Kanada stehen geblieben. Da hat sie genickt, geweint vor Freude. ›Dann lebt er!‹, hat sie geflüstert, und sie hat mich verstanden.«

Helmut schüttelte traurig den Kopf: »Ich hab Angst. So oder so.«

Caspary schaute Helmut fest in die Augen: »Du hast eine Freundin?«

Der Junge nickte schüchtern.

»Mit der habe ich dich schon ein paar Mal gesehen. Die aus dem Salon Knittel.« Er machte eine Pause, bevor er wieder ansetzte: »Ich weiß, ihr Jungen redet nicht gern über so was. Ich sag dir nur eins: Wenn du sie lieb hast und du hast Vertrauen, so wie ich zu dir, oder du zu mir, dann sprich mit ihr.«

Helmut antwortete nicht.

Caspary fuhr eindringlich fort: »Du musst überleben, Junge. Und du wirst es, das verspreche ich dir. Im Sommer ist der Spuk vorbei. Aber vorher wird es noch einen Höllentanz geben. Und im Feuerofen, wie es in der Bibel heißt, wollen wir beide nicht singen, oder?«

Der Junge drehte den Kopf hilflos zu Seite: »Ich kann doch nicht, Meister, ich kann nicht anders.«

2.

Erbschaft mit Hypothek

Primadonna? Längst verstummt, und reicht nicht mal für eine Fußnote in der Historie dieses Krieges. Natürlich hatte keiner der damals Beteiligten ahnen können, dass der Sender nur noch 68 Tage zu hören sein würde. Dann kam ein englischer Sergeant in den Keller des Senders, der längst verstummt war, und schaltete das elektrische Aggregat einfach ab. Die vier Männer in Luftwaffenuniformen, die sich nicht mehr hatten verkrümeln können, mussten mit erhobenen Händen auf dem Hof antreten. Primadonna … aus.

Freilich muss das erwähnt werden, wenn jetzt versucht werden soll, den Faden dieser Geschichte von der anderen Seite her in die Hand zu nehmen – mehr als 55 Jahre später, in einer oberbayerischen Kreisstadt am Inn.

Es ist eine andere Zeit, eine veränderte, fast heile Welt, verglichen mit der Kriegszeit. Erinnert sich noch irgend jemand an ›Primadonna‹? Ganz gewiss nicht die beiden Männer, die an einem Spätsommernachmittag im Wartezimmer des Notariats von Staatsanwalt Dr. Fabricius saßen: ein Anwalt, sportlich und elegant gekleidet, und sein junger Mandant mit struppigem, verwildertem Blondhaar, das er am Morgen wohl mit einer zu großen Portion Gel zu bändigen versucht hatte. Vor ihnen auf dem Tisch lag ein Vertrag zur Unterzeichnung. Der junge Mann hatte eine Erbschaft gemacht, die gleichwohl mit dem unseligen Krieg und all seinen Folgen zu tun hatte – wie sich im Folgenden nach und nach, Stück für Stück herausstellen wird.

»Und was werden S’ mit dem vielen Geld anfangen?«, versuchte der Anwalt ein Gespräch mit dem in dieser Umgebung verschüchtert wirkenden jungen Mann in Gang zu bringen. Der Angeredete musste erst schlucken, bevor er antworten konnte: »Die Mutter verdirbt mir die Freude. Tag und Nacht liegt sie mir in den Ohren mit der Erbschaftssteuer. Des fallt doch in Ihr Gebiet, oder?«

»Kommen S’ später in meine Kanzlei«, erklärte Lindenmeier, »da können wir die Steuertabellen nachschlagen. Sie sind – als Enkel der Schwester des Erblassers – Steuerklasse zwei.«

»Steuerklasse …«, der junge Mann ließ bei geschlossenem Mund, zusammen mit diesem unwillig artikulierten Wort, ein leises Pfeifen hören, was dem Anwalt auffiel, genauso wie die breite Narbe auf seiner Oberlippe, die sich nach links schwang, zur Nase hin, die war stupsartig nach oben gebogen, als habe sie irgendwann einmal einen kräftigen Schlag erhalten.

»… was die mir abgezogen haben! Wenn Sie das wüssten! Ich meine, als ich noch den Job beim Höhensteiger hatte.«

Die Stimme klang deutlich nasal. Anwalt Lindenmeier wusste, woran das lag. »Ich hab als Baby einen offenen Rachen gehabt«, hatte Peter Wagner, so hieß der junge Mann, gleich beim ersten Besuch in seinem Anwaltsbüro ungefragt erklärt. »Wenn Sie mich reden hören … Ich müsste noch einmal operiert werden. Und ich graule mich davor, verstehen Sie?«

»In Ihrem Fall sind die Freibeträge allerdings klein. Ich will Ihnen nicht die Freude des Augenblicks verderben, Herr Wagner. Das Finanzamt wird seine gierigen Hände noch früh genug aufhalten.« Der Anwalt schaute auf seine Uhr und wandte sich an die ältere Angestellte, die mit einem Stapel Blätter aus dem Kopierraum herauskam: »Jetzt sind S’ wohl endlich fertig, wie?«

»Einen Augenblick noch. Der Herr Notar will es noch mal kurz auf Schreibfehler durchschauen.«

Wagner war aufgestanden und ging unruhig im Wartezimmer auf und ab. »Ich müsste etwas essen«, er fuhr sich mit der Hand über den Magen. »Vor Aufregung hab ich heut Früh nichts runterbekommen.« Er schaute Lindenmeier an: »Die Mutter hat gesagt: ›Dass du ihn ja einlädst, den Herrn Anwalt, danach, dass du ihm was anbietest. Nicht grad ein Trinkgeld‹ – dass Sie mir das bitte nicht übel nehmen!«

Lindenmeier ließ seine Blicke leicht gequält über die Gemälde mit den würdig aussehenden älteren Herren wandern, den Vorgängern von Notar Dr. Fabricius.

»Wo Sie mir sicher bald eine Rechnung geben werden …«, setzte der schüchterne junge Mann fort. Lindenmeier dachte: ›So wahr wie das Amen in der Kirche‹, und fasste in die Seitentasche nach dem Umschlag und der Aufstellung, die seine Sekretärin ihm am Morgen zugesteckt hatte. Er reichte mit steifer Geste dem jungen Mann den Umschlag. »Ich halte mich strikt an die Anwaltsgebührenordnung.«

»Na ja, wie es üblich ist – bei einem Anwalt, wenn er einen rauspaukt vor Gericht …«

»Zivilsachen haben mit strafrechtlichen Dingen nichts zu tun«, unterbrach Lindenmeier seinen Mandanten strenger als er eigentlich wollte.

»… oder wie bei uns, wann ein komplizierter Vertrag abgeschlossen wird, der … ich kann mich ja wirklich nicht beklagen … dass es seine Richtigkeit hat.« Wagner setzte misstrauisch hinzu: »Hat es doch, oder?«

»Hat es!«, sagte der Anwalt unfreundlich. »Beschlossen und verkündet. Das steht so da, wir haben lange genug daran rumgebastelt. Wenn ich nur an die Wünsche und Forderungen der Stadt denke, an all die Auflagen, die der Käufer jetzt übernimmt. Und dann im Bauausschuss der Vertreter der Grünen, die der Teufel persönlich als Hindernis für jede vernünftige Industrieansiedlung reingewählt hat …«

Der Anwalt musterte Wagner nicht eben freundlich, diesen Hans-im-Glück. Ja, unbedingt ein Glückspilz, wie Lindenmeier seinen Mandanten für sich seit der ersten Begegnung nannte. Wagner war klein von Statur, wenn auch muskulös. Sein kräftiger Oberkörper bildete einen Kontrast zu den leicht verunstalteten, noch weichen Gesichtszügen. Die blauen Augen lauerten unruhig, als müsse er hier, an diesem ihm ungewohnten Ort, ständig auf der Hut vor einer unerwarteten Wendung der Dinge sein. Etwas verlegen ertappte sich der Anwalt dabei, dass er, nicht sonderlich höflich, viel zu lange die hellen, leicht gekräuselten Bartspitzen am Kinn und am Hals des jungen Mannes fixiert hatte. Klar, mit dieser Oberlippe dürfte er Probleme beim Rasieren haben.

Endlich tat sich die Tür zum Verhandlungszimmer auf. Staatsanwalt Dr. Fabricius winkte die beiden Herren hinein und forderte sie auf, an dem großen Tisch Platz zu nehmen. Während der langwierigen, sich über vier Stunden hinziehenden Verhandlungen saß zu ihrer Rechten der Bevollmächtigte der Getränkefirma, ein flott wirkender Yuppie-Typ, der so aussah, als ob er genauso gut Staubsaugerbeutel in der Fußgängerzone verkaufen könnte. Der Stadtdirektor, der die Auflagen auf dem Trümmergrundstück über viele Wochen vor Lindenmeier erbittert verteidigt hatte, war nicht mehr anwesend. Er hatte nach der Erklärung des Bauausschusses auf weitere Einwände verzichtet.

Nun legte die Notariatsgehilfin die Papiere vor Dr. Fabricius hin und nahm an einem kleinen Tisch vor dem offenen Fenster Platz. Der Notar, dünn, unendlich alt und unendlich weise, auf eine hilflose Art, wie es schien, freundlich, schaute mit seiner kreisrunden Brille mit dicken Gläsern, die seine leicht wässerigen Augen vergrößerten, fragend von einem zum anderen, nickte lächelnd und begann sein Plädoyer: »Von der Legitimation aller Anwesenden habe ich mich durch Inaugenscheinnahme der Personalpapiere überzeugt. Des Weiteren habe ich mich vergewissert, dass der Verkäufer Inhaber der Eigentumsrechte an den Flurstücken vier bis sieben durch elf, genannt ›Innlände‹, ein Ruinengrundstück mit zusammen 29.650 Quadratmetern ist. Als Nachfolger des früheren Eigentümers Fletzinger, Andreas, geboren am 1. 8. 1898, verstorben am 17. 4. 1997, der kein Testament hinterlassen hat – weswegen die gesetzliche Erbfolge eingetreten ist –, wurde eingetragen der arbeitslose Zimmermannsgeselle Wagner, Peter, geboren am 26. 5. 1968 in Wasserburg.«

Fabricius schob die Brille hoch und schaute wohlwollend auf den Angesprochenen. »Der, wie ich einschieben darf, wegen eines in seinem Beruf erworbenen Rückenleidens arbeitsunfähig geworden ist und danach zum Elektriker umgeschult wurde. Wo er, wie sein Anwalt, Kollege Lindenmeier, mitgeteilt hat, noch immer auf eine Anstellung wartet. Vielleicht kann ihm dabei die Käuferfirma behilflich sein, die auf dem Gelände der im Krieg zerstörten und seither nicht wieder aufgebauten Brauerei einen Betrieb zur Herstellung und Abfüllung von Getränken mit zwanzig neuen Arbeitsplätzen errichten will.«

Er blickte zum Vertreter des Getränkekonzerns, der leicht nickte. Wagner senkte verlegen den Kopf, während der Anwalt der Gegenseite brummte: »Interessant, Herr Kollege. Ich werde nicht vergessen, meine Mandantin darauf aufmerksam zu machen. Aber, mit Verlaub, ich bitte zügig fortzufahren. Ich hab heute noch einen Termin in Regensburg.«

Auf dem Gesicht von Dr. Fabricius erschien ein tadelndes Lächeln. »So viel Zeit sollten wir uns immer nehmen – um den Menschen zu sehen, der hinter unseren so trockenen und allzu unpersönlichen Formulierungen kaum sichtbar wird.«

Er hielt das Papier nahe an seine Augen und las Seite um Seite vor. Es hörte sich an wie die Lesung einer biblischen Litanei vor einer Gemeinde, die sie längst kennt und erschöpft darum kämpfen muss, nicht in Gedanken abzuschweifen oder gar einzunicken. Immer, wenn er das Gefühl hatte, die Aufmerksamkeit der Anwesenden könnte nachlassen, hob Dr. Fabricius die Stimme, um sie erst wieder zu senken, wenn er am Atmen, an den Blicken oder an den Bewegungen der Zuhörer erkannte, dass sie ihm wieder voll und ganz folgten.

»Wir kommen zum letzten und wichtigsten Punkt, der Übergabe eines Schecks für den Kaufpreis in Höhe von …«

Für einen Moment wurde es dem jungen Mann dunkel vor den Augen. Die so abstrakt klingende Zahl wollte einfach nicht in sein Bewusstsein dringen. Er glaubte, die schrille Stimme seiner Mutter zu hören: »Peter, die Sache hat einen Haken! Die Zwangshypothek auf dem Grund, viele hunderttausend!« Er: »Aber die Stadt wird sie zurückziehen. Hat der Anwalt versprochen, unsere Bedingung!« – »Dann knapsen sie es dir hintenrum wieder vom Kaufpreis ab, Bub!« – »Aber die Amerikaner brauchen das Land dringend für die neue Anlage!« Abermals das unbelehrbare Gezeter der alten Frau: »Dann musst mehr verlangen, weil – wo findest heut noch in Stadtnähe einen Industriegrund mit mehr als sieben Tagwerk?« – »Lassen Sie die Kirche im Dorf, gute Frau«, hatte Lindenmeier die Mutter wütend angefahren, weil er ein Scheitern der Verhandlungen und damit den Verlust seiner Gebühren befürchtete. »Was sollen S’ denn mit einem umweltverschmutzenden Trümmerhaufen?«

Nur langsam hatte sich die Mutter beruhigt und schließlich halblaut gebrummelt: »In Gottes Namen – wo es eh verhext ist, wie die Leut sagen. Und …«, zum Anwalt gewandt, »… wo die Elstern hausen, diese Unglücksvögel, wo ein Fluch liegt von damals, und wer weiß, was da noch verborgen ist, in den Gängen und Schächten.« Eine wegwerfende Handbewegung: »Aber was wissen Sie schon davon!«

Wagners Aufmerksamkeit galt nun wieder der Verhandlung. Alle Blicke richteten sich jetzt auf den Vertreter der Getränkefirma. Seiner Wichtigkeit bewusst, ließ er die Schlösser seines ledernen braunen Aktenkoffers mit einem metallischen ›Flop‹ aufschnappen, öffnete den Deckel und nahm aus einer Mappe einen Scheck heraus. Er hielt ihn feierlich hoch wie der Priester die Monstranz beim Abendmahl, sodass jeder die Kostbarkeit sehen konnte, stand auf und ging langsam um den Tisch herum. Mit ausschweifender Geste übergab er den Scheck dem Notar. »… den ich hiermit erhalten habe«, ergänzte Dr. Fabricius seinen Vortrag und nannte nochmals laut die Summe.

Lindenmeier schob aus dem Stapel der in mehrfacher Ausfertigung bereitliegenden Dokumente die ersten fünf Exemplare zu seinem Mandanten: »Hier unterschreiben. Sie sind der Erste. Rechts unten.« Der Notar wartete geduldig, bis alle Dokumente unterzeichnet waren. Dann steckte er den Scheck in einen Umschlag und gab ihn dem jungen Mann. »Den bringen S’ gleich runter. Am besten in Begleitung Ihres Anwalts. In die Bank …«, er zeigte nach draußen, wo man durch das offene Fenster die Kirchenuhr sehen konnte, »die noch bis fünf Uhr geöffnet ist. Und dass Sie mir mit dem unverhofften Reichtum gut umgehen und ihn nicht gleich verjubeln, wie die jungen Leut so sind heute – für schnelle Autos und so!«

Peter Wagner stammelte: »Ich – ich verspreche es Ihnen, Herr Doktor. Nur einen neuen Computer, weil – den hab ich vor Freude gleich bestellt. Der müsste heut noch geliefert werden.«

Lindenmeier hatte es nun sehr eilig. Er wollte sich gerade von Wagner verabschieden, als der ihn in einer unerwarteten Regung plötzlicher Kühnheit am Ärmel zupfte. »Wegen des ausgefallenen Mittagessens, Herr Dr. Lindenmeier. Darf ich? Auf eine Brotzeit? Die Mutter hat gesagt, ich soll einen Enzian ausgeben oder einen Obstler, mit Weißbier, oder Kuchen.«

Der Anwalt verlangsamte seinen Schritt, sagte aber abweisend und zugleich halben Herzens zustimmend: »Nichts Süßes. Ich bin Diabetiker.«

Er folgte dem jungen Mann auf den Marktplatz, vorbei an dem Brunnen mit der goldenen Marienfigur, wo unter grün-weißen Sonnenschirmen zahlreiche Gäste den warmen Spätsommernachmittag genossen. Aus dem Café unter den Arkaden kam die Bedienung und zeigte auf einen freien Tisch. »Gehen S’ zur Theke, und suchen S’ sich ein Gebäck aus.«

»Wenn es denn sein muss«, sagte Lindenmeier zu Wagner gewandt, »eine trockene Baguettesemmel und …«, er überlegte kurz, »… einen mageren Käse.«

Als Wagner im Inneren des Cafés verschwunden war, zog der Anwalt seinen Taschenrechner aus seiner Aktentasche, drückte die Tasten und las befriedigt den fünfstelligen Betrag, der im Display erschien. Er würde ein Honorar von gut fünfzehntausend liquidieren können – ein angemessenes Honorar für eingehende Beratungen und zahlreiche Termine in Grundstücksangelegenheiten. ›Herrgott noch mal! Nur einmal im Leben so ein Glück haben wie dieser Bursche!‹, dachte er. Damals, nach 1965, als er angefangen hatte, gab es elf Anwälte in der Kreisstadt. Inzwischen hatte sich ihre Zahl vervielfacht. Er konnte sich nur noch die fett und unfreundlich gewordene Frau Rupp leisten. Die hatte er letzthin des Öfteren ertappt, wie sie während der Arbeitszeit Patiencen am Computer spielte. Schnippisch hatte sie ein Gesicht gezogen, als wollte sie sagen: ›Kann ich was dafür, wenn Ihnen die Mandanten ausbleiben?‹ Manchmal hatte er den Verdacht, dass gerade sie mit ihrem mürrischen Gesicht potenzielle Mandanten vertrieb. Ob er ihr jetzt eine kleine Gehaltsaufbesserung zukommen lassen sollte? Andererseits wollte er dringend seine freiwilligen Rentenbeiträge erhöhen. Er rechnete sich aus, was er mit Fünfundsechzig und was er, wenn er weitermachte, mit Siebzig erwarten konnte – ihn fröstelte, wenn er daran dachte.

Wagner kam von der Theke zurück, schlängelte sich an Tischen und Stühlen vorbei und nahm wieder neben seinem Anwalt Platz. Die Bedienung stellte einen Teller mit einer kleinen Brotzeit vor den jungen Hans-im-Glück und einen weiteren mit einer trockenen Semmel, immerhin auf eine artig gefaltete Serviette gebettet, sowie mit einem Camembert vor den Anwalt. Dann öffnete sie eine Flasche Piccolo und schenkte zwei Gläser voll.

»Das werden S’ mir nicht abschlagen. Ist für Diabetiker. Hab extra gefragt«, bat Wagner.

Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Lindenmeier leicht gerührt. »Genau das Richtige, mein Lieber, Prost!«

Zwei Gläser stießen mit dünnem Klang gegeneinander.

»Ich hab noch eine Bitte«, begann nun Wagner vorsichtig. »Die Baracke, wo der alte Herr gewohnt hat – ich meine, er war ja ein bisschen auch ein Onkel von mir …«

Lindenmeier lachte: »Ein bisschen? So ein bisschen von einem alten Erbonkel möchte wohl jeder gerne haben.«

»Nicht, dass Sie denken, dass ich ihn nicht in Ehren halten werde. Die Mutter hat eine teure Grabpflege bestellt, obwohl die Eltern spinnefeind gewesen sind.« Er schaute Lindenmeier treuherzig an. »Das hat er verdient, der Hund, der Saubazi, von dessen Existenz ich bis vor ein paar Monaten nichts gewusst habe.« Er fuhr fort: »Es ist … ich hab da oben ja die letzten Wochen gewohnt, weil … ich versteh mich nicht mit der Mutter. Und da habe ich noch allerlei alte Sachen vom Fletzinger gefunden: Papiere, Notizen. Und dann die alte Türkin, die ihn zuletzt betreut hat. Sie hat alles in Ordnung gebracht. Jetzt putzt sie für mich, einmal die Woche. Sie fährt noch mit seinem alten Auto. Nicht, dass ich es ihr wegnehmen will …«

»Könnten Sie aber, es ist Teil der Erbmasse.«

»Ich würde ihr gern was geben, zur Erinnerung. Ich weiß nur nicht, wie viel. Bevor ich die Baracke in ein paar Tagen räumen muss, für die Amerikaner, die dort eine Kiesanlage bauen wollen.« Er schien sich einen Ruck geben zu müssen: »Ich denke halt, ob Sie nicht noch mal vorbeikommen möchten, sich alles anschauen und dann …«

Lindenmeier grunzte erfreut und bemühte sich, den jungen Mann etwas freundlicher anzuschauen: »Warum eigentlich nicht?«

»Weil … vielleicht brauche ich auch sonst noch ein paar Ratschläge.« Er setzte vorsichtig hinzu: »Juristische.«

Der Anwalt spitzte die Ohren. »Wobei Sie freilich nicht vergessen, dass eine Beratung honorarpflichtig ist. Davon leben wir schließlich.« Er blätterte in Gedanken die Rechtsanwaltsgebührenordnung durch und unterdrückte seine gute Laune nur mühsam: »Holen Sie mich morgen Früh um zehn Uhr in der Kanzlei ab.« Man müsste ihn zum Abschluss einer Rechtsschutzversicherung überreden, fiel ihm ein. Die Provision war zwar nicht üppig, das war mehr, um die schmalen Bezüge der Referendare aufzubessern, aber – er trank sein Glas mit einem Schluck aus – Kleinvieh macht auch Mist.

3.

Der Hass verzehrt den Hasser

Beim Einsteigen in Wagners kleinen roten Wagen musste Lindenmeier die Beine hochziehen, um nicht das Armaturenbrett mit den Knien zu berühren. Der junge Mann hatte den Beifahrersitz weit nach vorn gerückt, um auf der Rückbank Platz für ein paar große Kartons zu schaffen. Lindenmeier ärgerte sich darüber, dass er nicht auf einem Taxi bestanden hatte, das er mit auf die Rechnung hätte setzen können.

Sie verließen die Stadt und bogen in die schmale Uferstraße ein, die in die bewaldete Auenlandschaft hinausführte. Hinter ihnen versuchte ein Kleinlaster mit wiederholten Signalen der Lichthupe, sie zu schnellerer Fahrt zu bewegen. Endlich fand Wagner eine breitere Stelle, wo er denLKWpassieren lassen konnte. Er war mit roten Stangen beladen.

»Sieht aus, als ob sie schon mit den Vermessungen anfangen«, sagte Lindenmeier und zeigte auf die Stangen.

Links ein kleines, längst aufgegebenes Ausflugslokal mit einem auf ein Brett gepinseltenGESCHLOSSEN, vom Flussufer und dem Hochwasserdamm durch Forellenteiche getrennt. Auf der Schwelle des Hauses saß ein großer alter Hund, ein Neufundländer, halb schläfrig, aber mit einem Auge wachsam zur Straße hinschielend. Nun hob er den massigen Kopf und bellte. Er meinte den Lastwagen, der vor einem mehr als zwei Meter hohen, oben zusätzlich mit Stacheldraht gesicherten Zaun anhielt. Wagner stoppte gut hundert Meter dahinter. Beide Männer stiegen aus. Alle paar Meter am Zaun hingen große Blechschilder:

BETRETEN VERBOTEN – LEBENSGEFAHR!

Wagner erklärte seinem Mitfahrer: »Hier fängt das Gelände an. Was Sie nicht mehr sehen können: Weit in den Berg hinein, sicher mehr als dreißig Meter, sind die ehemaligen Kühlräume. Alles zugewachsen. Dort haben sie das Bier bis zur Reife gelagert.«

Von der Ladefläche des Lastwagens warfen zwei Männer Bündel von weiß-rot markierten Messlatten auf den Boden. Ein Dritter machte sich mit einem Bolzenschneider an der verschlossenen Tür am Zaun zu schaffen. Lindenmeier stellte sich daneben und klopfte auf die metallenen Pfosten: »Bester teurer Schwedenstahl. Wie für die Ewigkeit in den Boden gerammt. Undurchdringlich wie damals der Eiserne Vorhang an der deutschen Grenze.«

»Soll hier früher manchen Unfall gegeben haben«, sagte der Arbeiter. Er hatte Schwierigkeiten, die Tür zu öffnen: »Mit spielenden Kindern«, er zeigte vage auf das Areal und zählte auf: »Schrottdiebe, Brennholz aus den alten Balken, Buntmetall.«

»Die Stadt hat keine Kosten gescheut, alles hermetisch zu verriegeln, zumal sie alles dem alten Herrn aufbrummen konnte.«

»Fletzinger soll er geheißen haben«, erklärte Wagner. »Die Eltern haben es erzählt, von der Brauerei früher.«

»Und mit Zins und Zinseszins auf eine Zwangshypothek gepackt – juristisch gesprochen«, erläuterte Lindenmeier, »bis der letzte mögliche Kaufinteressent vor solchen Belastungen das Weite suchte.«

Der Arbeiter hatte die Tür immer noch nicht öffnen können und winkte einen anderen zu Hilfe.

»Bis jetzt. Die Amerikaner – die gehen da ganz anders ran.«

Lindenmeier schaute durch die Maschen im Draht des Zauns. Alles war mit fast undurchdringlichem Gebüsch, Brennnesseln, Dornen und Kieferngestrüpp zugewachsen – der ehemalige Hof mit aufgebrochenem Pflaster, aus dem an manchen Stellen Grünzeug mannshoch herauswucherte. Dahinter Berge von Ziegelschutt, an einer Stelle am Hang über fünf Meter hoch. Dort hatten sich Bäume angesiedelt, Birken, Erlen. Unterhalb davon ein Gewirr verbeulter Metallteile, Förderbänder, Reste einer Flaschenfüllanlage, unzählige verrottete Fässer, tonnenförmige Metallbehälter, aufeinander gestapelte Paletten, Kästen mit Bierflaschen, noch mit den altertümlichen Verschlüssen, Scherben über Scherben, Autoreifen, sogar ein verrostetes Lastwagenchassis.

»So wie es nach dem Krieg ausgeschaut haben muss«, bemerkte Lindenmeier. Wagner zeigte auf die noch halbwegs als Kühlturm identifizierbare Ruine, auf der noch die Worte ›LEONARDI BRÄUseit 1836‹ zu entziffern waren.

»Ich hab die alten Akten gelesen, musste ich ja, die Unterlagen über Fletzingers Streitereien mit der Stadt«, sagte der Anwalt. »Aber da war noch was anderes mit im Spiel – eine tiefgreifende, auf die Nazizeit zurückgehende Feindschaft. Nicht nur mit Ihrer Familie, sondern auch zwischen Fletzinger und der Stadt. Ja, wie ich gelesen habe: unversöhnlicher Hass. Briefe, die der alte Mann an die Behörden geschrieben hat! Die ihm Beleidigungsklagen eingebracht haben. Er muss ein ausgemachtes Ekel gewesen sein – Entschuldigung«, setzte er schnell hinzu, als er sah, wie sich die Miene des jungen Mannes leicht verzog. »Sie, als der glückliche Erbe, sehen das anders.« Nun wandte er sich Wagner mit ernstem Gesicht zu: »Er soll imKZgesessen haben. Die Eigentumsverhältnisse wurden wohl erst in den Fünfzigern geklärt. Er hat sich schlichtweg geweigert, die im Krieg zerstörte Brauerei wieder aufzubauen. Das waren Zeiten, die manchen zum Menschenfeind werden ließen. Aber davon habt ihr Jungen keine Ahnung. Seien Sie froh darüber.«

Im Hintergrund hatten die Männer Löcher in die Straße gebohrt und die ersten Stangen in den Boden gerammt. Einer war dabei, einen Kasten mit Theodoliten und anderen optischen Geräten auszupacken.

»Die Amerikaner haben es eilig. Montag früh sollen die Bulldozer einfallen, um alles abzureißen, einzuebnen, den Schutt fortzufahren – um die Vergangenheit auszulöschen. Sollte Ihnen nur recht sein, junger Mann.«

Hinter dem Ende des Zauns, wo die asphaltierte Straße an einer Barriere mit einem Sperrschild endete, führte eine halb verfallene Steige nach oben. Neben vom Regen ausgewaschenen Furchen, die sich in den sandigen Untergrund eingegraben hatten, sah man Reste von ausgetretenen Stufen, ein hölzernes Geländer, morsch, moosbewachsen, an vielen Stellen zerbrochen.

»Gleich oberhalb liegt die Baracke. Wir könnten zu Fuß rauf. Aber mit dem Zeug im Wagen …«, überlegte Wagner und ging auf sein mit Kisten beladenes Fahrzeug zu.

Während sie in einem Bogen über einen Feldweg von unten auf die Gasteig hinauffuhren, fragte Wagner vorsichtig: »Was Sie erwähnt haben, mit den Unfällen …«

»Ja, in den Fünfzigern, lange her«, sagte der Anwalt, »zwei Buben, verschüttet.«

»Tot?«

»Stand so in der Zeitung.«

»Die Mutter sagt: ›Es ist ein Fluch, der hier drauf lastet.‹«

Sie hatten die von Birken umsäumte Senke erreicht, die früher beim Bau der weit verzweigten Anlagen als Kiesgrube für den Bedarf an Beton gedient hatte. Mitten in der fast kreisförmigen Senke stand die Baracke aus Betonfertigteilen, wohl auf dem Fundament einer Kiestrennanlage erbaut. Lindenmeier stieg aus und dachte: ›Hier hat der alte Mann gehaust, jahrzehntelang. War er eigentlich arm? Oder reich? Ja, wenn er sich rechtzeitig mit seiner Umgebung geeinigt hätte – aber ein Menschenfeind ist dazu wohl nicht fähig.‹

Wagner holte unter einer kleinen schwarzen Mülltonne den Hausschlüssel hervor. »Ich nenne die Putzfrau, die bei Fletzinger gearbeitet hat, Ankara, weil ich den richtigen Namen immer vergesse. Irgendwas mit Oglu. Pünktlichkeit ist bei den Türken ein deutsches Fremdwort. Sie sollte fertig geputzt haben, bevor wir kommen.« Und er setzte hinzu: »Sie arbeitet im Krankenhaus, in einer Putzkolonne. Sie hat den alten Fletzinger auch betreut. Jetzt kommt sie einmal die Woche zu mir. Ist einfacher so für mich.«

Wagner wuchtete die Kartons aus dem Auto und trug sie ins Innere der Baracke. Lindenmeier setzte sich auf einen der wackeligen Stühle vor der Tür.

»Hab ich bestellt und heute Früh abgeholt: ein Computer, mit Drucker, Scanner, mit allem, was man braucht. Es ist – zu Hause hab ich keine Lust mehr. Die Mutter begreift nicht, dass das eine andere Welt ist, dass ich sie mir mit der Maus reinholen kann. Ich hab einmal den Fehler gemacht, dass ich ihr den Moik mit seiner Volksmusik aus dem Internet runtergeladen hab. Seitdem liegt sie mir in den Ohren, dass ich ihr alles aus dem Fernsehen kopiere. Weil sie nicht kapiert, wie man dieCDs wechselt – und weil sie schwerhörig ist, aber mit dem Hörgerät nicht fertig wird …« Wagner war auffällig geschwätzig.

Der Anwalt aber dachte darüber nach, wie er dem jungen Mann den Abschluss der Versicherung schmackhaft machen könnte. Aufs Geratewohl begann er schließlich: »Merkwürdig – Sie hatten keine Ahnung von der Existenz des alten Herrn? Obwohl Sie und Ihre Mutter keine zwanzig Kilometer entfernt leben?«

»Da war mal ein Streit mit seiner Schwester. Irgendwas nach dem Krieg, mehr weiß ich nicht. Und dass die Mutter gegen den Willen der Eltern geheiratet hat, einen Gastwirt in Haag, meinen Vater. Der hat sich schon nach meiner Geburt aus dem Staub gemacht – als er mich gesehen hat, sagt die Mutter. Er käme aus einer gesunden Familie, während sie …«

»Na ja«, sagte der Anwalt. Er fühlte sich bei dem Thema nicht so recht wohl. »Aber das Gröbste, wenn man so sagen kann, das haben S’ doch gerichtet, oder?«

»Die Mutter hat noch zweimal geheiratet. Ist immer an den Falschen geraten. Der Stefan, der Vater, ist vor zehn Jahren tödlich verunglückt. Ich hab nicht gewagt zu fragen. Es war wohl was mit dem … dem Alkohol. Die Mutter hat nie mehr von ihm geredet. Den Fletzinger, den hat sie nie erwähnt. Die waren alle für sie gestorben, weil sie schon arg eigensinnig ist. Auf den möglichen Anteil von der Erbschaft hat sie gleich verzichtet – für sie ist das alles hier, na ja, ein Fluch, eine Unglückssache, Trümmer, Hypotheken – sie sagt, sie hält es nicht aus, weil es sie belastet.« Nach einer Pause ergänzte Wagner noch: »Freilich erwartet sie, dass ich für sie aufkomme, so was wie eine Rente.«

Das Wort blieb in Lindenmeier haften: Die Rente, die er mit Fünfundsechzig aus dem Anwaltsfonds beziehen würde – keine dreitausend im Monat. Er hatte einfach zu wenig einzahlen können.

»Aber weil es keine anderen Abkömmlinge gibt, wie es heißt, der Onkel ohne Kinder, ich ohne Geschwister«, fügte Wagner hinzu.

Der Anwalt spürte plötzlich wieder einen Druck auf der Brust. Ich weiß ja, was mich bewegt: Es ist die pure Existenzangst. Die schlägt vom Materiellen her ins Seelische – oder ist es umgekehrt? Und er dachte: ›Noch drei Jahre bis …‹

»Ich geh ein bisschen auf und ab. Mich umschauen«, erklärte er plötzlich und machte sich auf eine Erkundungstour durch das Gelände unmittelbar um die Baracke herum.

›Eigentlich ein hübscher abgelegener Ort‹, dachte er. Klar, wenn die Bauarbeiten beginnen würden, wäre es mit der Ruhe vorbei. Wenn erst die Fabrik steht, die Getränkeabfüllanlage mit dem ganzen Drum und Dran – ihm fiel das Wort nicht ein, das hierhin gehörte. Log…? Logistik? ›Sind das schon Ausfallerscheinungen?‹ fragte er sich ernsthaft. Neulich, bei einem Plädoyer vor Gericht, war er mitten im Satz stecken geblieben, weil er sich nicht mehr auf einen bestimmten Paragrafen der Strafprozessordnung besinnen konnte, auf den er sich beziehen wollte. Der Gerichtsvorsitzende musste ihm helfen …

Die Fenster der Baracke waren so schmal, dass sie der wunderschönen Landschaft und dem Blick über die Bäume hinweg ins Flusstal keinen Platz zu gönnen schienen. Hinter dünnen Gardinen ein Bett, also das Schlafzimmer. Ob der alte Mann in diesem Bett …? Mit fast hundert Jahren! ›Vielleicht schaffe ich nicht einmal die Fünfundsechzig?‹, durchfuhr es Lindenmeier. Was dann allerdings auch das Rentenproblem erledigen würde – auf, wie man neuerdings sagt, dem biologischen Weg.

Von den Dachplatten aus Asbest hing in einer Ecke die Regenrinne herab. Der Abfluss hatte sich verschoben, daher konnte das Wasser nicht mehr in die dafür bestimmte Tonne fließen. Es hatte eine Mulde aus dem Kies herausgewaschen. In einem baufälligen Schuppen direkt daneben fand der Anwalt einen flachen Zuber. Den stellte er unter den Abfluss, den er zugleich wieder in die richtige Richtung hinbog. Diese Tätigkeiten gaben ihm ein gutes Gefühl, obwohl sie sinnlos waren, wie er sich eingestand. In ein paar Wochen würde hier alles dem Erdboden gleichgemacht sein. Er reckte sich, kreiste mit den Armen mehrmals über Kopf und Schultern, wie ihm der Arzt für den Fall von Atemnot geraten hatte. Dann hörte er, wie sich ein Auto näherte. Ein uralter gelber Audi-Diesel fuhr heran, eine dicke Frau in einem bunten Kleid stieg aus. Sie ging gleich auf Peter Wagner zu, der noch immer vor dem Haus stand. Als sie den Anwalt sah, sagte sie zu ihm: »Guter Junge, ein Glückskerl, nur keine Frau, weil seine Mama, böse Frau …«, sie lachte und nahm damit ihren Worten etwas von ihrer Boshaftigkeit. Lindenmeier trat mit Wagner und der Frau ins Haus: »Sie sind Frau …?«

»Sag ruhig Ankara zu mir. Wie alle. Auch im Krankenhaus.«

»Ich würde gern wissen – wie haben Sie den alten Fletzinger kennen gelernt?«

Ankara füllte einen Plastikeimer mit Wasser und gab eine grüne Flüssigkeit dazu. Sie tauchte den Schrubber hinein und begann den Boden des Flurs zu wischen: »Noch einmal oder zweimal putzen, dann ist hier Schluss. Oder wirst du mich brauchen, wenn du bald vielleicht eigenes Haus hast?«, wandte sie sich an Wagner.

Der zuckte mit den Schultern. Die Frau hielt inne und stützte sich auf den Schrubber. »Lag im Krankenhaus. Nach Operation. Ich gehörte zur Putzkolonne ›Fleißiges Lieschen‹. Die machte in seinem Stockwerk sauber. Zweimal die Woche. Ärzte wollten ihn nicht gehen lassen, obwohl viel besser. Weil … hat niemand, der für ihn sorgt. Fragt er mich eines Tages: Kannst du Auto fahren? Ob ich ihn nach Haus bringe. Krank, wie er war, ist er noch mit dem Wagen in Klinik gekommen. Stand auf dem Parkplatz. Hab ich ihn hierher gebracht, Feuer gemacht, es war im April, noch kalt, hab aufgeräumt und gekocht. Hat man ja gemerkt, dass er Hilfe brauchte. Er war schon über Neunzig. Man sah es ihm nicht an. Fuhr noch in seinem Audi.« Sie zeigte nach draußen. »Seins. Hat er mir überlassen. Ich dafür ihn betreut. Eingekauft, sauber gemacht, wie jetzt für Wagner Peter.«

Ankara schob in der Küche Tisch und Stühle hin und her, sodass der Anwalt Platz machen musste. Im Knien wischte sie den mit Linoleum belegten Boden. Unvermittelt sah sie auf. »Will Ihnen was sagen. Hatte der alte Herr einen Hass auf die Deutschen. Aber nicht auf mich. Weil ich türkisch bin.«

Nun rutschte sie rüber ins Schlafzimmer und redete weiter: »Muss ich mir Vorwürfe machen. Weil ich im Frühjahr nicht hier war. War in Türkei für einige Wochen. Als ich wieder hier, Haustür verschlossen. Schlüssel in Versteck unter Mülltonne. Liegt Fletzinger tot in der Küche unter Tisch. An Zeitung in seine Hand merk ich, dass ich zwei Tage zu spät gekommen bin.«

Sie war mit dem Schlafzimmer fertig, nahm den Anwalt an die Hand und zog ihn zu einer Besenkammer am Ende des winzigen Flurs. »Ich hab seine Sachen zusammengepackt«, sie zeigte auf zwei Kisten und einen alten Koffer, »wenn du reinschauen willst!«

»Das ist das alte Zeug, von dem ich gesprochen habe«, sagte Wagner, der hinzugetreten war. »Schauen Sie sich das mal an, diese Fotos da.«

Lindenmeier nahm die Kiste in die Hand, ohne sie zunächst zu öffnen. Die Türkin redete ununterbrochen weiter: »Er wollte zuletzt nicht mehr unter Menschen gehen. Hab ich ihm gesagt: ›Im Altersheim ist es doch gut. Bist dort gut aufgehoben. – Er: ›Ist mir ein Gräuel. Ich hasse alte Leute.‹ Er sagte: ›Alte Menschen, besonders viele alte Nazis.‹ – Ich: ›Und was machst du, wenn du wieder krank wirst?‹ – ›Ich werde nicht krank. In meinem Alter fällt man einfach tot um.‹ Genauso ist es wohl passiert.«

Der Anwalt begann in den Papieren zu blättern. Die alte Frau erzählte weiter: »Hab ich ihm gesagt: ›Menschen sind nicht so schlecht, wie du denkst.‹ Hat er den Kopf geschüttelt. Ich: ›Gibt altes türkisches Sprichwort. Der Hass verzehrt den Hasser.‹ Hat er gelacht: ›Ja, das wird stimmen. Hass ist ein Gefühl wie Liebe, genauso stark. Sie hält dich lebendig. Deswegen bin ich biblisch geworden wie Methusalem. Aber du, in deinem Ankara, in deinem Anatolien … du hast ja keine Ahnung, was in diesem Land geschehen ist. Wird tausend Jahre brauchen, um auch nur einen Tag der Schande vergessen zu machen, was tausendjähriges Reich angerichtet.‹«

Sie stellte Lindenmeier einen Stuhl hin, bevor sie nach draußen ging. Der Anwalt öffnete schließlich die Kiste und sah, dass die Türkin Papiere, Hefte, auch einige Karten mit einem Gefühl für Ordnung aufeinander geschichtet und allerlei Fotos, die vorher wohl lose herumgelegen haben mochten, in große Umschläge gesteckt hatte. Die stammten, wie er sah, aus dem Krankenhaus und dienten normalerweise zur Aufbewahrung von Röntgenfotos.

Zuerst fielen ihm einige Schwarzweißfotos in die Hand mit den früher üblichen geriffelten Rändern. Gleich oben lag ein Foto, das einen Mann im besten Alter zeigte, der in einer überraschenden Mischung aus Heiterkeit und, wie es ihm vorkam, zugleich Schwermut direkt in die Kamera lächelte. Auf dem nächsten Bild öffnete der gleiche Mann die Fahrertür eines Lastwagens, eine Hand am Türgriff, ein Bein schon auf der Stufe. An der Seitenwand des Fahrzeugs erkannte man den Schriftzug ›LEONARDI BRÄU‹. Lindenmeier sah genauer hin: Unter dem Arbeitsmantel trug der Mann eine Bundhose, bestickte Wollstrümpfe mit Zopfmuster und Haferlschuhe.

Dann betrachtete der Anwalt ein anderes Foto: Ein stämmiger Kerl in Uniform, mit Hakenkreuzarmbinde; die Nazimütze, die er genau vor seinen Hosenschlitz hielt, betonte durch den zu stramm gezogenen breiten Gürtel und den Schulterriemen eher die Rundungen seines Bauchs, als dass sie ihn verdeckte. Schütteres, blondes Haar, fast eine Glatze. Einzelne Haarsträhnen waren mit Wasser und viel Fleiß zu einem Scheitel hochgekämmt. Neben ihm, ebenso steif und mit einem in unendliche Ferne weisenden Blick, eine Frau im fast wadenlangen weißen Kleid. Sie umklammert mit ihrer Linken die rechte Hand ihres Mannes und mit der anderen einen Blumenstrauß. Der Strauß wirkt schon etwas angewelkt. Die Blumen lassen die Köpfe hängen; es sind Astern, Gerbera, Iris. Oben auf der hochgeschlossenen Bluse eine Brosche mit einem Hakenkreuz. Und da, auf der linken Brust, das bekannte Abzeichen. Ein Hochzeitsbild? Halt, daneben, nur einen guten Meter von dem Paar entfernt, derselbe Mann wie auf den anderen beiden Fotos, halb abgewandt. Die Körperhaltung zeigt Abwehr, Unlust, Distanzierung. Er schaut unfreundlich, ja fast böse in die Kamera.

Noch etwas fiel Lindenmeier auf: Dieser Mann sah der Frau, die übrigens trotz seiner Stiefel eine Spur größer war als ihr Ehemann, auf gewisse Weise ähnlich: Die gleiche schmale Kopfform, der lange Hals. Überhaupt waren beide schlanke, athletische Typen. Kein Zweifel: Das war Fletzinger, hier schätzungsweise keine vierzig Jahre alt, mit seiner Schwester und seinem Schwager.

»Ihr Großvater«, sagte der Anwalt zu Wagner.

»In Naziuniform?«

»Schockiert?«

»Er hat einen dicken Bauch. Er sieht nicht sehr freundlich aus. Und nicht gerade vertrauenerweckend.«

»Das hatten die Bonzen damals wohl so an sich.«

Ein anderes Bild im Postkartenformat: Das gleiche Ehepaar, der Mann in derselben Uniform, vermutlichSA– Lindenmeier kannte sich da nicht so gut aus –, mit Kragenspiegel, drei silbernen Sternen, jetzt regelrecht beleibt, also vermutlich einige Jahre später. Sie standen mit einer Gruppe auf dem Hof der Brauerei. Deutlich wieder die Inschrift: ›LEONARDI BRÄUseit 1836‹ auf dem Kühlturm zu erkennen, von dem eine überdimensional lange Hakenkreuzfahne herabhing. Rechts und links des Paares vier alte Männer, Brauereiarbeiter mit ledernen Schürzen, einer mit einem Messglas in der Hand. Schließlich ein junges Mädchen inBDM-Kluft, mit schwarzem Rock und Kletterweste mit den kleinen Lederknöpfen, zwischen denen eine Kordel steckt, die sie als Führerin kennzeichnet. Ganz und gar auffallend: Auf beiden Fotos waren die Gesichter des Ehepaares mit einer Nagelschere fein herausgeschnitten worden. Der Anwalt drehte das Foto um. Auf der Rückseite las er die mit Kopierstift geschriebenen Worte:

7. Aug. 1941.

An dem ich KZ Floss eingeliefert wurde. Und mein Leonardi unt. Kuratel, wg. Verstoß gg. Heimtücke Ges.

»Und was bedeutete das Heimtückegesetz?«, wollte Wagner wissen. Lindenmeier musste tief in seinen Erinnerungen graben, er erinnerte sich an sein Studium, als sie im Strafrecht kurz die Zeit der Nazijustiz gestreift hatten. Reichsheimtückegesetz? War das nicht jene Vorschrift zur Bekämpfung von Gerüchten, Gräuelnachrichten, wie es damals hieß, das Gesetz gegen unwahre und gröblich entstellte Behauptungen? Ein Gesetz – bestens geeignet, um missliebige Zeitgenossen ohne große Gerichtsverhandlung ins Lager zu bringen? Diese Vorschrift erlaubte es, das Vermögen der Betroffenen entschädigungslos einzuziehen. Darauf bezog sich wohl das Wort ›Kuratel‹.

Der Anwalt konnte ein plötzliches Mitgefühl mit dem toten Fletzinger nicht ganz unterdrücken und begann, dessen Hass zu verstehen. ›Wie es zugeht auf dieser Welt‹, dachte er. ›Da fällt der Erlös aus seinem Besitz doch noch nach Jahrzehnten an die Nachkommen seines schlimmsten Feindes.‹ Er schaute den jungen Wagner an, als wolle er sagen: ›Das braucht dich nicht zu belasten, du bist eine andere Generation, es geht dich eigentlich nichts an. Oder doch?‹

Nach einer Pause, in der Wagner die Fotos zurück in den Umschlag und diesen in die Kiste legte, wandte er sich an Lindenmeier: »Ich muss noch was wissen, der da …«, und er zeigte mit dem Finger auf seinen Großvater, »hat den Onkel insKZgebracht?«

»Wahrscheinlich.«

Wagner presste die Lippen zusammen und ließ wieder dieses eigenartige Pfeifen hören: »Das hat mir niemand gesagt. Das hab ich nicht gewusst.«

Lindenmeier hatte das Gefühl, etwas erklären zu müssen: »Interessieren Sie sich für diese Dinge?«

»Ich weiß nicht.«

»Vielleicht sollten Sie.«

Wagner ging in der Baracke hin und her. »Die Mutter war hier«, sprach er zu seinem Anwalt, »sie wollte das Bett sehen, in dem er gestorben ist. Das hat sie gefreut. Sie sagte: ›Schmeiß alles in den Müll. Es ist nix Gutes.‹« Mit fester Stimme fügte er dann noch hinzu: »Nun gehört es zu meinem Leben. Ich will es genau wissen! Alles!«

Lindenmeier wollte endlich zur Sache kommen. »Und wozu brauchen Sie mich? Dass ich Ihnen rate, was Sie mit der alten Türkin anstellen sollen? Ihr das Auto schenken? Die Verschrottung könnte Sie teurer zu stehen kommen, als wenn das alte Ding sein Leben irgendwo in der Türkei aushaucht.«

»Das wäre nicht die Sache …«

»Was dann? Reden Sie! Die Papiere hier? Lesen Sie sie, und schenken Sie sie dem Museum.«

Wagner nahm einen Anlauf: »Ich sollte mich auf eigene Füße stellen. Die Mutter wüsste ein kleines Elektrogeschäft nicht weit von hier. Sie meint, ich brauche ein Ziel, am besten auch eine Frau, mit der es zusammenpasst – weil die Frauen aufs Materielle zu schauen wissen.«

Lindenmeier nickte belustigt: »Sie wollen doch nicht etwa, dass ich für Sie den Hochzeitsbitter abgebe?«

»Nein, wie das ist mit einem eigenen Laden, ohne Meisterprüfung, mit den Finanzen, mit dem Kaufvertrag, dass es gesetzlich zugeht …«

Lindenmeier dache: ›Dem Mann kann geholfen werden‹, und fragte Wagner: »Haben Sie eigentlich eine Rechtsschutzversicherung?«

Der schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur vom Manfred Krug im Fernsehen, in der Serie, Sie wissen schon, dass der das empfiehlt.«

»Die könnten S’ wirklich gebrauchen. Als Geschäftsmann sozusagen.« Lindenmeier wurde langsam warm: »Weil … da haben S’ dauernd mit dem Gesetz zu tun. Mit den tausend Vorschriften, wo sich nur ein Fachmann durchfindet. Und sind immer versichert, wenn man Ihnen was will. Auch wegen der Rechnungen vom Anwalt. Dass die nicht gering sind, wissen Sie ja inzwischen.«

»Auch von Ihnen?«

»Für die Beratung heute … da müssen Sie schon die übliche Gebühr zahlen«, schnarrte der Anwalt. »Und wenn man die aufgewendete Zeit bedenkt – aber das kommt später! Kommen Sie in meine Praxis. Fahren Sie mich dorthin.«

Der Anwalt hatte seine Hand schon am Türgriff von Wagners Auto, als die Türkin gellend aufschrie. Sie zeigte erregt auf den Strommast über dem First der Baracke. Dort saß ein großer schwarzer Vogel und schaute mit giftigen Augen auf die Menschen herab.

»Saksagan!«, rief die Frau aufgeregt, »Saksagan! Was bedeutet Elster. Und lauert, will stehlen, bringt Unglück und Krankheit.« Sie lief Schutz suchend zum Haus zurück, wobei sie wiederholt in die Hände klatschte. Das Tier ließ sich davon nicht beeindrucken. Erst als Wagner den Motor startete, ihn mehrfach aufdröhnen ließ und schließlich näher an die Baracke heranfuhr, hob der Vogel seine Flügel, flatterte ein paar Mal um das Fahrzeug und flog unter wütendem Krächzen in Richtung Wald. Dort stimmte ein weiterer Vogel in das Protestgeschrei ein.

Auf der Straße, die durch das Ruinengelände führte, sahen die beiden Männer im Auto, dass ein Teil des Zauns bereits niedergelegt war. Arbeiter waren dabei, ein Gerüst aufzustellen, an das ein Reklamebild geschraubt war. Auf einer gut zehn Quadratmeter großen Fläche prangte eine idyllische Alpenlandschaft, wie sie nur die Werbung erdenken kann, mit schneebedeckten Bergen, einem barocken Kirchlein und einer munter flatternden weiß-blauen Fahne und im Vordergrund mit grünen Wiesen voll blühendem Löwenzahn. Sie lasen:

ZUR VERSORGUNG MIT HOCHWERTIGEN ERFRISCHUNGSGETRÄNKEN ENTSTEHT HIER EINE HERSTELLUNGS- UND ABFÜLLANLAGE MIT ZWANZIG NEUEN ARBEITSPLÄTZEN UNSERER WELTBEKANNTEN…

Mehr konnte man noch nicht lesen. Die Tafeln mit dem restlichen Text lagen noch neben dem Gerüst. Ein Arbeiter befestigte gerade quer über dem Schild eine Leiste mit dem weltberühmten Firmenlogo:

ATLANTIC COLA

»Die lassen nix anbrennen«, meinte Peter Wagner bewundernd.

4.

Tot unterm Elsterbaum

Die Polizisten hatten sich zum zweiten Mal in der Dunkelheit verfahren. »Links hatte ich gesagt, die erste Straße links!«, schimpfte Lotzki.

»Zu Befehl, Feldwebel«, flüsterte die junge Kollegin, legte einen anderen Gang ein und setzte den Wagen wütend zurück. Der Rückfahrscheinwerfer funktionierte nicht. Beinahe hätte sie einen Zaun gerammt, weil sie in der Aufregung zu viel Gas gegeben hatte.

»Da hat Hummel von der Fahrbereitschaft die Scheinwerfer immer noch nicht repariert«, fluchte Lotzki laut. Dann, etwas ruhiger wies er nochmals an: »Jetzt erste Straße rechts, kapiert?«

»Na, das ist vielleicht eine Art, einen zu dirigieren …«

»Ich hab gerade eben mal für eine einzige Sekunde den Lageplan studiert, und schon bringen Sie es fertig, in die entgegengesetzte Richtung zu fahren«, er schob den zusammengefalteten Plan in den Seitenkasten zurück. »Und stellen Sie das Blaulicht ab, verdammt noch mal.«

Die Beamtin fand in der Dunkelheit den Schalter nicht. Lotzki griff nach ihrer Hand, führte sie auf den Knopf und drückte sie runter. ›So klein, fast zart, dachte er, viel zu zierlich für eine …‹ Seine Gedanken wurden unterbrochen, als die junge Frau entschuldigend erklärte: »In Nürnberg fahren wir andere Streifenwagen, keineBMW, sondern …« Und nach einer Pause fragte sie vorsichtiger, einlenkend: »Ich verstehe immer noch nicht, warum ich heute fahren muss. Ich hab zwar Nachtdienst, aber Innendienst …«

Lotzki stemmte sich in seinem Sitz zurück: »Weil es mein freier Tag ist! War! Weil ich den Geburtstag eines Sportkollegen feiern wollte. In aller Ruhe! Weil ich mich natürlich nicht ans Steuer setze, wenn ich auch nur ein Bier getrunken habe. Weil ich für einen Kollegen eingesprungen bin, der plötzlich zu einer Schleierfahndung auf die Autobahn musste. Und weil Sie vom Bereitschaftsdienst das doch veranlasst haben …«

»Und?«, fragte die junge Frau angriffslustig. »War das falsch?«

»Natürlich nicht«, erwiderte der Polizist, »der Dienstplan sah eben so aus. Aber dann diese verrückten Anrufe von der Baustelle der Amerikaner …«

Die telefonischen Meldungen, die abends um zehn Uhr kurz hintereinander in der Dienststelle eingegangen waren, hatten sich als äußerst verwirrend und widersprüchlich erwiesen. Zunächst hatte Monika Baumann den aufgeregten Anrufer, der nur die Worte »Gasunfall, Ammoniak aus einem beschädigten Tank ausgetreten« gestammelt hatte und gerade noch in der Lage war, den Ort zu lokalisieren, an die Technische Nothilfe weiterleiten wollen. Noch während sie die Verbindung herstellen wollte, hatte sich ein weiterer Anrufer gemeldet: »Offenbar ein Todesopfer!« Nun hatte sie Lotzki informiert, der zwar sofort aufgetaucht, aber übel gelaunt und kurz angebunden war. Da traf auch schon eine dritte Meldung ein: »Leichenfund in gerade freigelegtem Schacht. Wir haben die Tote in den Kommando-Container gebracht.«

Lotzki hatte unwirsch zurückgefragt: »Die Tote? Sie meinen: eine Frau?«

Doch auf der anderen Seite war bereits aufgelegt worden.

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