Das Dunkle in Sonja - Sven Elvestad - E-Book

Das Dunkle in Sonja E-Book

Sven Elvestad

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Beschreibung

Helmersen merkte, daß sie zitterte. Er fand, daß ihr großes Entsetzen übertrieben sei. Ihre Augen waren weit geöffnet vor Schreck, und starrten mit Angst und Beben besonders auf den einen der fremdartig aussehenden Menschen – den mit dem blauseidenen Halstuch ...

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Das Dunkle in Sonja

Sven Elvestad

idb

Erstes Kapitel

Asbjörn Krags doppelte Buchführung

P. C. Helmersen, der hübsche Polizeileutnant vom Polizeiamt in Christiania, war gerade von seinem Sommeraufenthalt aus einem der bekanntesten und elegantesten Badeorte von Dänemark zurückgekehrt.

Es geht nicht an, den Namen des Badeortes zu nennen, weil man sonst leicht erraten könnte, wer sich hinter den erdichteten Namen dieser Geschichte verbirgt.

Eine Enthüllung würde für mehrere Damen und Herren, die in diese Geschichte verwickelt sind, und die fortfahren sollen, ihr ehrenwertes Leben unangefochten von Neugierde und Geklatsch weiterzuführen, peinlich sein. Aus all diesem geht hervor, daß in dieser Kriminalgeschichte ehrenwerte Menschen auftreten. Das heißt einige, vielleicht die meisten, jedenfalls die Hauptpersonen. Es sind aber auch einige unehrenhafte dazwischen. Zum Beispiel der mit dem blauseidenen Halstuch, der ... Aber es ist zu zeitig, Geheimnisse zu diesem Zeitpunkt zu entschleiern. Es genügt, wenn wir sagen, daß der Polizeileutnant P. C. Helmersen, als er von seiner Badereise zurückkam, voll Verwunderung war über die Zufälligkeiten des Lebens, über die Arglist der Menschen und besonders über ein seltsames Ereignis, das einer Dame die Ehre, und zwei Menschen das Leben rettete.

Helmersen war, wie gesagt, ein sehr hübscher Mann. Lebt er wirklich? Kann es nützen, daß wir auf einen unserer Polizeileutnants raten? Kaum. Ich sage nicht, wer sich hinter der Maske P. C. Helmersen verbirgt. Und mit schwerem Herzen gehe ich daran, die Neugierde der geehrten Leserin noch höher zu spannen, indem ich berichte, daß in dieser Geschichte von P. C. Helmersen eine sehr hübsche junge und reiche dänische Dame auch eine Rolle spielt. Noch dazu eine sehr bedeutende Rolle.

Polizeileutnant Helmersen war also zu den langweiligen und häßlichen Polizeikontoren zurückgekehrt, ganz erfüllt von seinem merkwürdigen Sommererlebnis. Bereits den ersten Abend in der Stadt gab er die Geschichte seinem Freund, dem Detektiv Asbjörn Krag zum besten, während sie im Restaurant Königin speisten, und Krag interessierte sich so lebhaft dafür, daß er ihr auf den Grund zu dringen wünschte.

Er fragte den Polizeileutnant aufs sorgsamste aus, erfuhr alle Einzelheiten, selbst der geringste Umstand schien Interesse für ihn zu haben, und schließlich hatte er das Ganze beisammen.

Darauf begann er die Geschichte zu ordnen. Eine Geschichte ordnen war ein besonderer Ausdruck, den Asbjörn Krag gebrauchte, wenn er eine Reihe von Ereignissen in ihre verschiedenen Phasen auflöste und die einzelnen Umstände in Kolonnen aufstellte. Auf diese Weise wurde die Begebenheit rein wissenschaftlich behandelt, als würde sie einem Reagenzglas oder einer Lupe ausgesetzt. Dieses Verfahren machte allerdings jegliche Begebenheit, selbst die spannendste, trocken, aber es hatte den Vorteil, daß er in den Kern der Ereignisse eindrang. Er sah sozusagen ihren Aufbau ihr einfaches und kahles Skelett.

Asbjörn Krag machte verschiedene Notizen. Über die Notizen setzte er die Überschrift:

»Polizeileutnant P. C. Helmersens sonderbares Erlebnis.«

Diese Überschrift würde zu einer spannenden Novelle gepaßt haben, keine Geschichte aber konnte trockener wiedergegeben sein als diese. Sie sah aus, wie eine Abrechnung in einer doppelten Buchführung, und dadurch, daß jedenfalls anfangs ein gewisser komischer Anstrich über der Geschichte lag, wirkten Asbjörn Krags Aufzeichnungen geradezu parodistisch. Zuerst kam eine Beschreibung des großen dänischen Badeortes.

Ebensowenig wie ich meine Leser mit einer Wiedergabe von Krags merkwürdiger Buchführung ermüden will, ebensowenig werde ich etwas Besonderes von dem Badeort sagen. Ich fürchte, wie gesagt, daß jemand ihn wiedererkennen könnte. Nur so viel muß man wissen, daß die Begebenheit sich in einem der bekanntesten Badeorte in Dänemark abspielte, und daß die Begebenheit von der Art war, daß niemand außer den Hauptpersonen etwas davon erfuhr. Das Ereignis griff also nicht in das muntere, flackernde und boshafte Geklatsch des Badelebens ein. Die vielen Gäste, die ihre Gesundheit an dem Badeort pflegten, lebten ihr Leben unangefochten weiter, und es wurde kein Wort über das Geschehene gesagt, weder in den Strandkörben am Meer, noch in der Bodega des Dorfes, noch beim Fünfuhrtee in dem eleganten Palmengarten des »Hotels Trinacria«, während die italienische Kapelle mit flatternden Haaren und jubelnden Violinen Saint-Saëns' »Simson und Delila« spielte. Kann jemand nach dieser Beschreibung erraten, auf welchen Badeort ich abziele, nun meinetwegen. Ich habe nichts gesagt.

Nach der Beschreibung des Badeortes folgte Asbjörn Krags Personenliste. Merkwürdigerweise kam der Name des Polizeileutnants erst in dritter Reihe, was nach Asbjörn Krags Methode unbedingt bedeutete, daß Helmersen als Nummer drei zwischen den auftretenden Hauptpersonen zu betrachten war. Ich gebe hier die Personenliste wieder, indem ich die geehrten Leserinnen bitte, sie in ihrer Erinnerung festzuhalten.

Aage Gade, Rechtsanwalt, vierzig Jahre alt, arbeitsam, angesehen, wohlhabend, politisch interessiert, führt große Sachen, ist oft bei großen Generalversammlungen zugegen, ehrgeizig, Ritter vom Danebrog-Orden, liebt seine Frau.

Sonja, seine Frau, geborene Russin, spricht Dänisch mit einem leisen Akzent, sehr hübsch, tugendhaft, liebt ihren Mann.

Hier hatte Asbjörn Krag in Klammer hinzugefügt »(hat einen gewissen Hang zu Untätigkeit und Langeweile).«

P. C. Helmersen, norwegischer Polizeileutnant, tüchtig, pflichtgetreu, amüsiert sich gern, wenn er Gelegenheit dazu hat. Prahlt mit seinen Damenbekanntschaften. Ist sehr hübsch, was er auch weiß und hin und wieder durchblicken läßt. Würde es in einem weniger trockenen und ernsten Land als Norwegen weit bringen.

Es versteht sich von selbst, daß eine schmerzvolle Grimasse über Helmersens Gesicht glitt, als er diese Beschreibung las. Aber er sagte nichts. Er kannte ja Asbjörn Krag und wußte, daß er ihn augenblicklich unterm Seziermesser hatte.

Dann kam der letzte Posten:

Der Mann mit dem blauseidenen Halstuch.

Über diesen Mann schrieb Asbjörn Krag nichts, ganz und gar nichts. Dagegen machte er ein großes Fragezeichen dahinter und bemerkte in einer beifolgenden Notiz: »Bis jetzt hat noch keiner ihn sprechen gehört.«

Jetzt aber komme ich zu Asbjörn Krags Aufzeichnungen über die Sache, und hier will ich seine Papiere schließen und auf eigene Faust berichten. Ich möchte nur noch seine Auffassung, die er von dem Polizeileutnant hat, unterschreiben. Er war ein nicht ganz sympathischer Mann. Aber der Erfolg, den er bei dem schönen Geschlecht hatte, bewies, daß er Frauen gefiel. Der Sommer war seine große Zeit. Dann schwärmte er von Badeort zu Badeort, und wenn er nach Hause kam, konnte man seinem mystischen Lächeln und seiner rosenroten Korrespondenz anmerken, daß der Hochsommer erfolgreich gewesen war. Diesmal aber war alles verändert, und Helmersen kehrte ernst und nachdenklich zurück. Daran war die verdammte Geschichte schuld.

Auf eine Weise kann man sagen, daß die Sache bereits im Mai begonnen hatte. Denn hätte Helmersen nicht am 24. Mai nachmittags eine Besprechung mit Rechtsanwalt Aage Gade im Grand Hotel in Christiania gehabt, dann wäre aus der ganzen Geschichte nichts geworden.

Diese Besprechung aber hat nichts mit der Begebenheit zu tun. Aage Gade hielt sich damals wegen einer bekannten dänischen Bankaffäre in Christiania auf. Er wollte mit Hilfe der Polizei einige Umstände aufgeklärt haben, die mit gewissen norwegischen Bankgeschäften zusammenhingen. Der dänische Rechtsanwalt hatte sich von der Liebenswürdigkeit und Dienstbereitschaft des Polizeileutnants angenehm berührt gefühlt und ihn eingeladen, ihn zu besuchen, falls sein Weg ihn nach Dänemark führen sollte.

Zweites Kapitel

Der Mann mit dem seidenen Halstuch

Leutnant Helmersen dachte gar nicht mehr an diese Einladung: er betrachtete sie als eine reine Höflichkeitsphrase, und als er einige Monate darauf nach Kopenhagen kam, hatte er den freundlichen Advokaten ganz vergessen.

Helmersen trieb sich einige Tage in Kopenhagen herum, wie reisende Norweger zu tun pflegen. Nach der grauen Langeweile der Cafés und den unwürdigen und rohen »Vergnügungslokalen«, auf die Junggesellen in Christiania angewiesen sind, öffnen sich plötzlich in Kopenhagen große, menschengefüllte Lokale voll frohen Gelächters und munteren Lärms. Der norwegische Polizeileutnant plätscherte lustig mit im Strom, und nachdem er sich den letzten Abend die Zeit im »Hotel Astoria« im Taumel vertrieben hatte, fühlte er sich am nächsten Morgen so müde, daß er aufs Land wollte.

Natürlich tauchten seine alten Schwärmereien, die Badeorte, in seiner Erinnerung auf, und er setzte sich in den Zug nach – – –. Da hätte ich den Ort beinah verraten. Man kann nicht vorsichtig genug sein. Ich will nicht einmal die Lage andeuten. Es ist überhaupt gar nicht gesagt, daß unser Held mit dem Zug nach dem Badeorte reiste. Es gibt große schöne Badeorte in Dänemark, die man nur auf dem Wasserwege erreichen kann.

Genug davon, tags darauf befand Helmersen sich als Gast in dem vornehmen Hotel des Ortes, dem großen »Hotel Trinacria«. Er machte nach der Reise Toilette, und nachdem er in dem eleganten Speisesaal etwas gefrühstückt und Gelegenheit gehabt hatte, die anwesenden Damen zu mustern (sie waren wirklich sehr hübsch, Helmersen strich seinen Schnurrbart und kam gleich in gute Laune), zündete er sich eine duftende Zigarre an und begab sich an dem hellen, warmen Sommernachmittag zur Promenade, – dem breiten, menschengefüllten Weg längs des Strandes, im Volksmund, Kurdistan genannt. Das Wort selbst verrät, was hier vorging. Hier wurde in den Vormittagsstunden die Kur gemacht, hier wurde in den Nachmittagsstunden die Kur gemacht, hier wogte Geschwätz und Geklatsch zwischen hellen lustigen Kleidern und weißen Flanellhosen, und wenn eine unbekannte Gestalt in dem Gewühl auftauchte, ein neuer Mann, eine neue Möglichkeit, gleich spukte es lustig in vielen Augenpaaren. Helmersen ging auf und ab und stellte mit Wohlbehagen fest, daß er gar nicht übel sei, ganz hübsch, ganz flott – dies Urteil hatte er in verschiedenen blitzenden Mädchenaugen gelesen.

Nach dem Bade am nächsten Morgen finden wir unseren Helden wieder, als er die Umgebung durchstreifte. Er wollte den Ort kennen lernen. Das kleine Fischerdorf, das dem Ort seinen Namen gegeben hatte, fand er sehr interessant, die kleinen niedrigen Häuser mit ihren Strohdächern lagen idyllisch in der Landschaft verstreut. Er bemerkte, daß mehrere Wirtshäuser und kleinere Restaurants im Dorf waren, und er kehrte ein paarmal ein, um sich in der brennenden Sommerhitze zu erquicken.

Einzelne der Wirtschaften waren offenbar ausschließlich für die Badegäste da. Andere hatten ein anderes Gepräge, hier verkehrten die Eingeborenen des Dorfes und der Umgebung, Arbeiter, Fischer, Viehhirten, Pferdehändler; am Ende des Dorfes lag solch eine typische Wirtschaft. Der Krug trug den bezeichnenden Namen »Café Babylon.« Helmersen sollte später auf sonderbare Weise an diesen Krug erinnert werden, der eine Rolle bei seinem Aufenthalt an diesem Ort zu spielen bestimmt war.

Auf dem Rückweg machte er einen großen Umweg über das bebaute Land. Er wußte, daß er wegen dieses langen Spaziergangs zu spät zum Frühstück kommen würde. Aber es kümmerte ihn nicht. Er fühlte sich aufgeräumt und glücklich, weil er hier so allein ging und ihm wohl war. Es begegneten ihm nur wenig Menschen, und als er plötzlich an einen Weg vorbeikam, der in einen dunklen und duftenden Wald führte, schlug er ihn ein und befand sich nach einigen Minuten allein im Walde. Kein Mensch war zu sehen, der Wald war kühl und still und schien wenig besucht zu werden, denn das Gras wuchs üppig auf dem Pfade und zwischen alten, eingetrockneten Wagenspuren. Indem er tiefer in den Wald hineinkam und sich mehr und mehr vom Dorfe entfernte, war es ihm, als ob die Stille um ihn her immer größer wurde. Plötzlich aber wurde sie von knirschenden Schritten vor ihm auf dem Pfade zerrissen.

Kurz darauf tauchten zwei Gestalten auf.

Er hatte erwartet, irgendeinem Forstbeamten oder ländlichen Wanderer von einem Gehöft in der Nähe zu begegnen. Darum wurde er äußerst erstaunt, als er sah, wer ihm entgegenkam.

Es waren zwei jüngere Männer, nicht schlecht gekleidet. Aber sie hatten etwas Falsches und gleichsam Schleichendes an sich, das lichtscheue Geschäfte anzudeuten pflegt. Beide waren typische Großstadtexistenzen, von jener Sorte, die der Polizeileutnant genau von der Anklagebank her kannte: schlaue Gesichter, umherirrende Augen, höflich und gewandt, zudringlich und frech. Der eine hatte sogar einen gewissen Apachen(Gauner)-Anstrich, indem er statt Kragen und Schlips ein blauseidenes Tuch um den Hals trug.

Das ist ein richtiger Schwerenöter, dachte Helmersen, einer von denen, die auf Tanzböden Erfolg haben und einen flotten Schieber tanzen können.

Der Polizeileutnant fixierte sie scharf, indem er an ihnen vorbeiging. Die beiden Burschen sahen ihn auch an, aber verstohlen und mit halbgeschlossenen Augen, als ob sie es sich nicht merken lassen wollten, daß er ihre Neugierde weckte. Das war das erstemal, daß der Polizeileutnant dem Mann mit dem seidenen Halstuch begegnete. Er sollte ihn später noch häufiger unter sonderbaren Umständen treffen.

Als Helmersen einige Schritte gegangen war, drehte er sich um und sah ihnen nach. Gleichzeitig hatten auch die beiden Burschen sich umgewandt. Sie wurden verlegen, drehten sich schnell um und gingen weiter.

Der Polizeileutnant aber fühlte sich plötzlich von einer eigentümlichen Vorahnung ergriffen. Es war ihm natürlich auffallend, zwei solche Typen in der Nähe des großen und mondänen Badeortes zu sehen. Hatten sie etwas Böses im Sinn?

Da er doch zu spät zum Frühstück kommen würde und eigentlich nichts zu versäumen hatte, beschloß er, ihnen zu folgen, um zu sehen, welchen Weg sie einschlagen würden. Vielleicht konnte er diesem oder jenem eine Warnung zukommen lassen. Obgleich er in Zivil war, trug er doch sein Polizeischild bei sich. Dies, dachte er, konnte ihn gegebenen Falles legitimieren und erklären, weshalb er sich in die Sache mischte.

Er ging also hinter den Apachen her. Aber er wartete, bis sie hinter einer Biegung des Weges verschwunden waren, so daß er ihnen folgen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Er hörte ihre Schritte die ganze Zeit in dem lautleeren und unbeweglichen Walde vor sich.

Plötzlich aber horchte er interessiert auf; er hörte noch mehr Schritte. Schritte, die sich aus der Ferne näherten und mit denen der Apachen vermischten. Und dann auf einmal wurde alles still.

Der Polizeileutnant stand einen Augenblick lauschend, und ging dann rasch weiter.

Als er zur Wegbiegung kam und ein Stück des Weges offen vor sich liegen hatte, sah er, daß plötzlich drei Menschen auf der Arena aufgetreten waren.

Der dritte war eine elegante, hochgewachsene und sehr schöne Dame.

Sie war den Apachen auf dem Waldweg begegnet, und, soweit er verstehen konnte, waren sie ihr entgegen getreten und hatten sie zum Stillstehen gezwungen.

Sie versuchte sie zu umgehen, aber sie näherten sich ihr auf drohende Weise.

Das heißt, die Apachen näherten sich ihr bettelnd, sie hielten die Mützen in der Hand und standen in gebückter Haltung vor ihr.

Zur selben Zeit aber lag etwas in ihrem Auftreten, woraus klar hervorging, daß sie sich mit Gewalt nehmen würden, wenn ihre Bettelei nicht erhört wurde.

Die Dame sah sich nach Hilfe um und entdeckte den Polizeileutnant.

Drittes Kapitel

Der Schnitt im Ohr

An den Armbewegungen der jungen Dame sah der Polizeileutnant, daß sie sich in Gefahr glaubte und seine Hilfe anrief. Die beiden Burschen sahen ihn nicht, so vertieft waren sie in ihre höfliche Bettelei.

Unser Held aber eilte hastig näher. Es fehlt ihm nie an Mut, besonders nicht, wenn er einer hübschen Dame beistehen kann. Als er die Gruppe erreichte, ging die Dame auf ihn zu, und als die Burschen fortfuhren, sich ihr zu nähern, lehnte sie sich an ihn und ergriff seinen Arm.

Helmersen merkte, daß sie zitterte. Er fand, daß ihr großes Entsetzen übertrieben sei. Ihre Augen waren weit geöffnet vor Schreck, und starrten mit Angst und Beben besonders auf den einen der fremdartig aussehenden Menschen – den mit dem blauseidenen Halstuch. Dem Polizeileutnant kam plötzlich der Gedanke, daß diesem furchtbaren Entsetzen etwas anderes zugrunde liegen müsse, als die zufällige Begegnung mit verdächtig aussehenden Personen. Sie mochten ja auf eine gewisse drohende Weise gebettelt haben, aber sie hatten doch immerhin nur gebettelt.

Als sie sahen, daß sich Hilfe einfand, zogen die beiden Apachen sich einige Schritte zurück. Aus ihren Augen aber leuchtete jetzt sowohl Keckheit wie Mut. Sie sahen sich um, es war niemand anderes in der Nähe. Der Wald war still. Bis zu bewohnten Häusern war es weit. Und sie waren zwei gegen einen Mann und eine Frau, die halb ohnmächtig war vor Schreck.

Ihre Gesten wurden wieder einschmeichelnd, ihre Augen schielend. Sie näherten sich mit tiefen Verbeugungen, den Hut in der Hand.

Der eine (nicht der mit dem Halstuch) sagte:

»Wir sind reisende Handwerksburschen, schenken Sie uns etwas für unsere Reisekasse! Wir haben noch nichts gegessen und drei Nächte unter offenem Himmel geschlafen.«

Hätte der Polizeileutnant Kleingeld bei sich gehabt, würde er ihnen sicher ein paar Münzen gegeben haben; aber er wußte, daß er zufällig kein Kleingeld bei sich hatte, und er wollte sein Taschenbuch, in dem seine ganze Reisekasse lag, nicht herausnehmen. Er war mutig, aber einige Jahre im Polizeidienst hatten ihn Vorsicht gelehrt.

Darum warf er sich in die Brust, legte sein Gesicht in die gewohnten strengen Polizeifalten und rief:

»Machen Sie, daß Sie fortkommen!«

Da richteten beide Apachen sich höher auf und der vorderste lächelte mit kreideweißen Zähnen in seinem jungen, frechen Gesicht.

»Nur sachte, nur sachte«, sagte er, »wir sind friedliche Leute. Wir lassen uns nicht beleidigen.«

Die beiden Apachen schlichen vorsichtig näher. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, müssen wir hier darauf aufmerksam machen, daß die junge Dame sich zitternd enger an ihren Beschützer lehnte, und daß der Beschützer sie fest um die Hüften faßte.

Mit der anderen Hand, die er frei hatte, griff Helmersen in die Tasche.

Der vorderste der Apachen griff auch in die Tasche. Und er lächelte wieder – mit einem seltsamen Lächeln, das einem einsamen Spaziergänger durch Mark und Bein gehen kann.

Der Polizeileutnant begriff, daß die Sache anfing ernst zu werden.

Gleichzeitig merkte er, daß die Dame einer Ohnmacht nahe war.

Die Lage war wirklich alles andere als günstig.

Da tat er etwas, was ihm schon früher aus der Verlegenheit geholfen hatte.

Eine Waffe zog er nicht heraus, denn er hatte keine.

Dagegen trug er immer sein Polizeischild bei sich.

Diese Polizeischilder sind fast in allen Ländern gleich. Und das Wort Polizei verstehen alle Spitzbuben der Welt.

Er zog also das blitzende Polizeischild aus der Tasche und zeigte es.

Das hatte gleich eine sonderbare Wirkung auf die beiden Kerle.

Sie warfen sich einen hastigen Blick zu.

Da verbeugte der Vordere sich noch tiefer, als er bisher getan hatte, und sagte:

»Mein Herr, wir sind friedliche Handwerksburschen und haben nichts Unrechtes getan.«

»Machen Sie, daß Sie fortkommen«, sagte der Polizeileutnant.

»Wir werden gehen«, antwortete der Apache, »wir fliegen, mein Herr, aber wir haben nichts zu essen.«

»Machen Sie, daß Sie fortkommen!«

Der Apache zeigte abermals seine Zähne auf eine merkwürdige Weise. Dann machten sie kehrt und gingen weiter. Als sie ein Stück gegangen waren, beschleunigten sie ihre Schritte, und als sie um die nächste Wegbiegung verschwunden waren, hörte der Polizeileutnant ihre schnellen, klappernden Schritte. Sie liefen.

Da wandte der Polizeileutnant sich an die junge Dame. Sie war einer Ohnmacht nahe und lehnte ihren schönen Kopf gegen seine Schulter. Eine seltsame Stimmung durchbebte ihn, sowohl Stolz wie Freude, aber wir müssen abermals der Wahrheit die Ehre geben, indem wir verraten, daß sein erster Gedanke dieser war:

Ich bin noch nicht vierundzwanzig Stunden in dem Badeort und habe bereits ein Abenteuer. Noch dazu ein spannendes und pikantes.

Sein nächster Gedanke war:

Wer ist die Dame, und was soll ich jetzt mit ihr machen?

»Gnädiges Fräulein«, sagte er, »kommen Sie zu sich, die Gefahr ist vorüber.«

Die Dame seufzte tief auf und schlug ihre halbgeschlossenen Augen auf.

Dann blickte sie sich erschrocken um, als fürchte sie, daß die schrecklichen Apachen noch in der Nähe seien.

Als sie sah, daß sie allein waren, fühlte sie sich sichtlich erleichtert.

Im nächsten Augenblick entdeckte sie, daß sie gegen einen fremden Herrn gelehnt stand.

Sie fuhr zurück.

»Gott!« rief sie, »ich kenne Sie ja gar nicht.«

In diesem Ausruf lag etwas so Naives und Rührendes, daß unser Held sein Herz stocken fühlte.

»Fürchten Sie nichts«, sagte er, »es kann Ihnen nichts mehr geschehen. Ich habe sie fortgejagt.«

Die Dame wurde auf seine Sprache aufmerksam.

»Sie sind ein Fremder«, sagte sie. »Sind Sie Schwede?«

»Ich bin Norweger«, antwortete der Polizeileutnant mit einer Verbeugung und stellte sich vor.

»Mein Name ist Frau Sonja Gade«, antwortete die junge Dame.

Also Frau! dachte der Polizeileutnant.

Die junge Frau hielt ihm ihren Arm hin.

»Darf ich Sie bitten, mich nach Hause zu begleiten«, sagte sie, »ich wage es nicht mehr allein durch den Wald zu gehen.«

So gingen sie denn zusammen durch den schönen und stillen Wald, und der Polizeileutnant bemerkte, wie die Erregung der jungen Dame sich nach und nach legte.

Hin und wieder nur machte sie eine Bemerkung und erschauerte, woran er sah, daß sie noch immer mit Schrecken an das kleine Erlebnis dachte.

»Er war entsetzlich«, flüsterte sie.

»Welcher von beiden?« fragte der Polizeileutnant.

»Meinen Sie den mit den weißen Zähnen, gnädige Frau?«

»Nein den anderen mit dem blauseidenen Halstuch.«

»Nun, der hielt sich doch die ganze Zeit im Hintergrund, mir schien er der friedlichste von beiden zu sein.«

»Haben Sie nicht auf sein Ohr geachtet, sein linkes Ohr?«

»Ja, aber –«

»Es hatte einen Schnitt«, sagte sie mit einem Schauder.

Der Polizeileutnant lachte.

»Ja«, sagte er, »ich erinnere mich, er hatte eine kleine Narbe im linken Ohrläppchen; aber das ist doch nichts Schreckliches.«

Die Dame sah ihn mit großen erstaunten Augen an.

Sie fuhr zusammen.

»Nein«, sagte sie, »Sie haben recht.«

Der Polizeileutnant hatte wieder das bestimmte Gefühl, daß ihr auffallend großes Entsetzen eine besondere Ursache habe.

Sie kamen aus dem Wald heraus.

Viertes Kapitel

Eine schreckliche Nachricht

Obgleich die junge Dame sich als Frau Gade vorgestellt hatte, dachte der Polizeileutnant doch keinen Augenblick an seinen Bekannten in Dänemark.

Er verband nichts mit diesem Namen.

Aber er hatte sich plötzlich bis über beide Ohren verliebt.

Die bezaubernde Anmut der jungen Dame entzückte ihn.

Die Angst, die sie durchgemacht hatte, und die sich noch auf ihren weichen, rosigen Wangen malte, verlieh ihr eine gewisse nervöse Unruhe, die sein Herz zum Beben brachte. Er fühlte sie an seiner Seite. Als sie aus dem Wald herauskamen, wünschte er, daß er nie ein Ende genommen hätte, sondern so unendlich gewesen wäre wie die großen norwegischen Wälder. So ging es zu, daß unser armer Polizeileutnant plötzlich sein Herz verlor. Er dachte nicht mehr daran, was er seinen Freunden erzählen wollte, wenn er zu dem langweiligen Polizeiamt zurückkehrte. Es war nicht mehr der Kurmacher, der hier Arm in Arm mit einer neuen Eroberung ging. Es war ein verliebter Mensch, und er merkte es selbst. Es flüsterte in seiner Phantasie, während er plaudernd an ihrer Seite ging: Ich bin verliebt ... verliebt...

Frau hatte sie gesagt, Frau Gade – –

Er fragte sie nach ihrem Vornamen.

»Sonja«, sagte sie.

Und als er diesen fremdartigen Namen hörte, wurde er auf etwas Fremdartiges in ihrem Wesen aufmerksam.

»Sie sind also nicht Dänin?« fragte er.

»Nein«, antwortete sie. »Ich bin in Rußland geboren. Meine Eltern waren Russen.«

Es war ihm, als ob ein Schatten von Unbehagen über ihr Gesicht glitt, indem sie es sagte.

Sollte sie ein Geheimnis haben? dachte er – er meinte es an der Atmosphäre um sie herum zu merken, an ihrem nervösen und unruhigen Wesen. Er nahm sich vor, ihrer Herkunft nachzuforschen. Jetzt erinnerte er sich auch wieder, wie ängstlich sie gewesen war, als sie entdeckte, daß der eine Apache einen Schnitt im Ohr hatte – wie eine gezeichnete Kreatur.

Als er sah, daß sie ihn auf einen Weg geleitete, der nicht zum Badehotel führte, fiel ihm erst ein, sie zu fragen, wo sie wohne. Er hatte als selbstverständlich angenommen, daß sie zu den Hotelgästen gehörte.

Sie zeigte geradeaus auf eine hübsche Ziegelsteinvilla, die halb hinter üppigen Bäumen verborgen lag.

»Dort wohne ich«, sagte sie, »das ist unser Haus. Mein Mann hat es vor einigen Jahren bauen lassen. Wir wohnen hier den ganzen Sommer und ziehen erst spät im Herbst, wenn es kalt wird, nach Kopenhagen.«

»Ich sehe ein Kleid zwischen den Bäumen«, murmelte der Polizeileutnant und blickte aufmerksam hinüber.

»Das muß eines der Mädchen sein«, sagte sie, »ich habe zwei Mädchen. Sonst bin ich heute ganz allein. Mein Mann ist im Gericht.«

»Ist Ihr Mann oft im Gericht?« fragte der Polizeileutnant; im selben Augenblick fühlte er, wie er über die Frage errötete.

Sie aber merkte es gar nicht oder tat jedenfalls, als ob sie es nicht bemerkte.

»Ach ja«, antwortete sie, »recht oft.«

Und im selben Augenblick seufzte sie. Helmersen fühlte die Bewegung ihrer Brust an seinem Arm. Ein Schauer durchbebte ihn. Er seufzte. Sie liebte also ihren Mann.

Jetzt waren sie bis zum Gitter gekommen, einem fast zwei Meter hohen Eisengitter, das den Garten umgab. Ein gelber Kiesweg führte von dem breiten, schmiedeeisernen Tor zum Haus. An der Pforte nahm sie freundlichen und herzlichen Abschied von ihrem Ritter. Sie sandte ihm einen merkwürdigen, fernen und prüfenden Blick, indem sie sagte:

»Ich hoffe, daß Sie uns besuchen werden, wenn mein Mann aus Kopenhagen zurückkommt.«

Helmersen dankte und versprach es gern.

Dann ging sie über den Kiesweg auf das Haus zu. Der Polizeileutnant konnte sie lange zwischen den Eisenstäben des Gitters verfolgen.

Als Helmersen in sein Zimmer zurückkehrte, war er ganz verwirrt von der sonderbaren Begegnung. Er meinte ihre Augen überall zu sehen – die großen, tiefen Augen mit den langen Wimpern.

Am nächsten Tag spazierte er mehrmals an der Villa vorbei. Einmal meinte er ihr Kleid ganz von weitem zu erblicken, aber es war zu tief zwischen den Bäumen des Gartens, als daß er es genau erkennen konnte.

Zufällig kam er nachmittags an der kleinen Landstation vorbei.

Er stand gerade vor dem Bahnhofsgarten, als der Kopenhagener Zug herangebraust kam; wenn man den Ausdruck »brausen« bei dem elenden kleinen Zug gebrauchen kann, der über die Schienen geklappert kam. Er betrachtete das helle Sommergewimmel auf dem Bahnsteig, lachende und flirtende und kaffeebraune Badegäste, heitere, farbenreiche Toiletten, Winken mit Schleiern und weißen Taschentüchern aus den Coupéfenstern. Das ganze herrliche Leben, das die Abwechslung des Badeortes ausmachte: die Ankunft des Zuges aus Kopenhagen.

Da mitten im Gedränge sah er sie. Sie trug eine kleidsame weiße Toilette, keinen Hut, Blumen an der Brust. Ein Herr stieg aus dem Zug und näherte sich ihr.

Ihr Mann, dachte Helmersen, und sein Herz klopfte. Der Polizeileutnant konnte das Gesicht des Mannes nicht sehen, denn er hatte seinen Panamahut tief in die Augen gedrückt.

Da nahm er den Hut vor seiner Frau ab und begrüßte sie, sie küßten sich. Sie lächelte und schien glücklich.

Und da erkannte er den Mann wieder. Das war ja der dänische Advokat Aage Gade, dem er früher einmal in Christiania behilflich gewesen war. Unbewußt freute er sich darüber, daß er auf diese Weise einen neuen Berührungspunkt mit der Familie gefunden hatte.

Das glückliche Ehepaar verläßt den Bahnhof, und als Frau Gade des Polizeileutnants ansichtig wird, führt sie ihren Mann auf ihn zu.

Kaum aber sind sie halbwegs, als der Advokat den Fremden selbst entdeckt und ihm mit ausgestreckten Händen entgegengeht.

Es wurde ein warmes Wiedersehen.

»Lieber Freund«, sagte der Advokat, »es freut mich außerordentlich, Sie zu treffen. Warum haben Sie mich in Kopenhagen nicht besucht?«

Der Polizeileutnant gibt einige Redensarten zum besten.

Dann sagt der Advokat:

»Wie schön, daß ich Gelegenheit habe, Sie meiner Frau vorzustellen!« Er dreht sich zu Frau Sonja um und sagt einige sehr hübsche Worte über seinen norwegischen Freund.

Der Polizeileutnant ist gerade im Begriff zu sagen, daß er bereits die Ehre gehabt habe, die schöne Frau kennen zu lernen, als ihn ein Blick aus Frau Sonjas Augen trifft.

Ein Blick... Der Polizeileutnant erbebte bei diesem Blick.

Noch nie war er solchen flehenden Augen begegnet.

Um was bat sie?

Er wußte es nicht. Aber von einem Instinkt geleitet, tat er, als ob sie ihm unbekannt sei. Und sie beugte den Kopf dankbar und beifällig.

Plötzlich ist es, als ob der Advokat sich auf etwas besinnt. Er wird auf einmal ernst, wendet sich an seine Frau und sagt:

»Weißt du, Sonja, der Mann mit dem Schnitt im Ohr ist aus Kiew geflüchtet.«

Sie wurde plötzlich totenblaß.

Fünftes Kapitel

Die Notizen

Als der Polizeileutnant Frau Sonjas bittende Augen sah und gewahr wurde, wie eine plötzliche Blässe, einem kalten Windhauch gleich, über ihr Gesicht fuhr, wurde es ihm plötzlich klar, daß sie ein Geheimnis habe.

Er konnte nicht leugnen, daß diese Entdeckung ihn auf eine gewisse Weise erfreute. Wenn sie ein Geheimnis hatte, das ihr Mann nicht wissen durfte, dann war er ja auf eine Weise ihr Mitwisser, und dadurch war gleich eine Art vertrauliches Verhältnis zwischen ihnen geschaffen. Das würde ihm Veranlassung geben, häufiger mit ihr zusammenzukommen. Sie konnten Blicke wechseln, die nur sie allein verstanden – eine bezaubernde Aussicht für einen Verliebten.

Im übrigen war der berühmte Advokat sehr froh über die Begegnung mit seinem norwegischen Freund. Er wollte sich so gern, sagte er, für seine Liebenswürdigkeit in Christiana erkenntlich zeigen und lud ihn deshalb für den Abend ein. Der Polizeileutnant nahm die Einladung blitzschnell an, aber er hatte die Enttäuschung zu sehen, wie ein gewisser Verdruß sich auf Frau Sonjas hübschem Gesicht spiegelte. Sie gingen plaudernd zusammen bis zur Gitterpforte der Villa; der Polizeileutnant hatte erwartet, daß man ihn gleich mit hineinbitten würde, weil es doch schon bald Abend war. Statt dessen streckte ihm die gnädige Frau liebenswürdig die Hand entgegen, und er hörte sie sagen:

»Wir erwarten Sie also heute abend um 9 Uhr und freuen uns sehr Sie zu sehen.«

Der Advokat schien über den schnellen Abschied erstaunt, aber er streckte die Hand aus und sagte:

»Na ja, dann leben Sie wohl so lange.«

Helmersen, unser ausgezeichneter Polizeileutnant, ging etwas enttäuscht, aber doch glücklich nach Hause.

In seinem Hotelzimmer verbrachte er den größten Teil der Zeit vorm Spiegel. Welchen Anzug und welchen Schlips sollte er wählen? Wäre er in der Stadt gewesen, hätte er nicht nachzudenken brauchen. Hier draußen auf dem Lande aber konnte er unmöglich Gesellschaftstoilette anlegen. Er wählte einen blauen Jackettanzug. Auf den Schlips verwandte er besondere Sorgfalt.

Hier müssen wir unseren Freund, den Polizeileutnant, vorläufig verlassen.

Der erste Abschnitt von Asbjörn Krags Aufzeichnungen über diese merkwürdige Sache schließt nämlich damit, daß der Polizeileutnant vorm Spiegel steht. Krag hat in Parenthese hinzugefügt: »Rostbrauner Schlips.« Solche unwesentliche Kleinigkeit würde er sich nicht erlaubt haben, wenn sich nicht irgend eine Bedeutung daran knüpfte. Darum wollen auch wir uns erinnern, daß der Polizeileutnant an jenem ersten Abend beim Advokaten einen rostbraunen Schlips trug.

Der folgende Teil von Asbjörn Krags Aufzeichnungen, die Mitte des ganzen Werkes, ist ziemlich schematisch und zum Teil ganz rätselhaft. Er vergißt verschiedene Umstände mitzuteilen, die Helmersens Verbindung mit dem Advokaten und sein wachsendes Interesse für die schöne Frau Sonja näher beleuchten könnten.

Dagegen fügt er Kleinigkeiten hinzu, deren Wichtigkeit ganz unbegreiflich erscheint. Diese kleinen Notizen sind sehr schwer zu deuten gewesen. Wie das Vorhergehende eine novellistische Ausgestaltung von Krags recht ausführlichen Mitteilungen war, muß das Folgende im wesentlichen eine auf Schlüssen beruhende Ausgestaltung des interessanten Teiles von Asbjörn Krags Manuskript bleiben.

Am meisten scheinen den berühmten Detektiv die Verhältnisse des Advokaten Aage Gade interessiert zu haben.

Wir finden verschiedene Aufklärungen über ihn, die ein klares Bild von ihm zu diesem Zeitpunkt geben:

Ein angesehener Advokat, der an großen Geschäften beteiligt war, und der diese Geschäfte mit großem und wachsendem Interesse führte.

Wie die meisten Kopenhagener Rechtsanwälte stand er mit gewissen angesehenen Aktiengesellschaften in Verbindung, entweder als juristischer Ratgeber, als Direktionsmitglied, Revisor oder dergleichen.

Abgesehen davon, daß Aage Gade Privatvermögen besaß, müssen seine Einnahmen aus diesen Geschäften recht bedeutend gewesen sein. Krag führt in Parenthese eine Summe an: 40.000 Kronen, setzt aber ein Fragezeichen dahinter.

Als erste Tatsache wird also festgestellt, daß Advokat Aage Gade ein ökonomisch vollständig unabhängiger Mann ist.

Darauf kamen Notizen, die bezeugten, daß er ein hervorragender Jurist war. Krag hatte hier anscheinend Archivstudien in der dänischen Gerichtszeitung gemacht (dem offiziellen dänischen Gerichtsjournal). Er zählt verschiedene Sachen auf, die Gade beim höchsten Gericht geführt – und zwar mit entschiedenem Erfolg geführt hat.

Zwischen diesen Notizen stehen einige merkwürdige und anscheinend ganz sinnlose Mitteilungen über die Villa des Advokaten in dem Badeort, und über seinen Landaufenthalt überhaupt.

Um von diesem Sammelsurium einen Begriff zu geben, dessen leitender Grundgedanke Asbjörn Krag sicherlich klar vor Augen gestanden hat, teilen wir hier einige von diesen Notizen mit.

24. Mai. Der Advokat und seine Frau besuchen den Badeort.

27. bis 29. Mai. Plädoyer beim höchsten Gericht in der Affäre Bülowstraße 13.

30. Mai. Reise nach Esbjerg wegen der westindischen Dampfschiffahrtsgesellschaft.

usw. usw.

Und dann kommt:

20. Juni. Aufbruch nach dem Badeort. Von jetzt ab hält Frau Sonja sich in der Villa auf.

22. Juni. Der Advokat in der Stadt.

23. Juni. Der Advokat in der Villa.

25. bis 27. Juni. Plädoyer beim höchsten Gericht.

27. bis 30. Juni. Der Advokat in der Villa.

1. Juli. Der Advokat gewinnt die Glamsberg-Sache beim höchsten Gericht.

3. Juli. Generalversammlung im Yachtklub. (Der Advokat zugegen.)

4. Juli. Sitzung im Touristenverein. (Der Advokat zugegen.)

Hier kommt eine Unterbrechung in Asbjörn Krags Notizen, die dem so trockenen und prosaischen Polizeimenschen gar nicht ähnlich sieht.

Er schreibt folgendes:

»Es ist als sicher zu betrachten, daß der Advokat seine Frau liebt, und daß sie ihn liebt.«

Dann kommt wieder:

5. und 6. Juli. Der Advokat in der Villa.

7. bis 8. Juli. Der Advokat in Kopenhagen usw.

Aus all diesem kann man schließen, daß der Advokat ein sehr beschäftigter Mann war, dessen Landaufenthalt häufige Unterbrechungen erfuhr.

Bei flüchtiger Betrachtung bekommt man aus Krags Papieren den Eindruck, als ob ein Privatdetektiv das Tun und das Lassen eines Ehemannes ausspioniere. Es kann indessen nicht bezweifelt werden, daß er schon jetzt von weitem eine bestimmte Linie in einer Untersuchung verfolgte, die zu merkwürdigen Resultaten führen sollte.

Von Frau Sonja heißt es irgendwo in den Notizen:

»Langweilt sie sich?«

Über den Polizeileutnant wird nur gesagt, was er sich nach seiner ersten Begegnung mit dem Advokaten am Bahnhof vorgenommen hatte. Hieraus geht hervor, daß Asbjörn Krag ihn einzig und allein für eine Nebenperson gehalten hat – eine gleichgültige Person, die durch einen reinen Zufall in ein sonderbares Spiel verwickelt wurde, eine gewisse Bedeutung dadurch bekam und wieder verschwand, während das Spiel fortgesetzt wurde.

Es ergibt sich, daß der Polizeileutnant viel in Gades Villa verkehrt hat. Er hat Frau Gade mit Konversation und Spaziergängen unterhalten, während der Advokat von seinen ewigen Geschäften in Anspruch genommen war.

Denn der Advokat war von Geschäften in Anspruch genommen und nicht nur, während er sich in Kopenhagen aufhielt.