Der mit der Fähre kam - Sven Elvestad - E-Book

Der mit der Fähre kam E-Book

Sven Elvestad

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Beschreibung

»Er ist eigentlich glücklich, der Segelmacher, denn er hat die Hoffnung nicht aufgegeben. Er und sie dort draußen – die Hexe.« Der Sprechende wies mit einer Geste in den dunklen Flur. Vielleicht hatte jemand draußen die Bemerkung gehört, denn für einen Augenblick blieb der krumme, drohende Schatten wie lauschend stehen. Da wurde es ganz still in der Schankstube, aber dann glitt der Schatten wieder in das Dunkel zurück, und das seltsame Gespräch ging weiter, diese stechenden, feindseligen Worte, die ein Geheimnis verrieten, das alle kannten ... klassischer Skandinavien-Krimi

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Sven Elvestad

 I. Das Fährhaus

Es begann spät zu werden, und man erwartete eigentlich nichts mehr von dem Abend. Die Stimmen klangen zerstreut und hatten einen Ton von Müdigkeit, die Gespräche waren jetzt schon mehrere Stunden zwischen den dicken Eichenwänden polternd hin und her gegangen, man hatte sich vielleicht nicht mehr viel zu sagen. Die Gewichte der Schlaguhr surrten, und es schlug elf. Das war viel für diese Leute, deren Tag um fünf Uhr früh in der Dunkelheit begann. Alle lauschten den Schlägen, und nun starrten sie sich gegenseitig prüfend an.

Der Tabakrauch hing schwer in dem großen Raum. Von der Paraffinlampe an der Decke, die unter einem großen, grünlackierten Blechschirm brannte, rieselte das Licht in die rauchgeschwängerte Luft und bildete Streifen wie der Scheinwerfer auf dem Meer. Bis in die entferntesten Ecken der Stube konnte das Licht nicht dringen, die lagen im Dunkel da, aber man gewahrte undeutlich die Umrisse schweren, altväterischen Hausrats.

Gerade unter der Lampe stand der Tisch; er wurde der Admiralstisch genannt, denn in längst entschwundenen Tagen hatte er einem alten Seehelden gehört. Es war ein mächtiger Tisch, mehrere Zoll dick, aus einem Stück gezimmert. Rings um die vier Tischbeine ging eine Holzleiste, seit Jahrhunderten von Stiefelsohlen abgescheuert; der Tisch, der durch all die Zeiten so manchen schweren Rausch mit Faustschlägen und Krakeel mitgemacht hatte, ließ sich in seiner Schwere fast nicht von der Stelle rücken. Rings um diesen Tisch saßen die Gäste des Fährhauses an diesem Abend wie an so manchem Abend zuvor, erhitzt vom Trinken, einzelne schon vor Schläfrigkeit einnickend, andere mit fieberhaft glänzenden Augen, andere wieder stumm, in ihrem Rausch still brütend, beobachtend.

Auf dem Tisch stand eine Anzahl Flaschen und Gläser, es war ein Festabend gewesen, aber von wirklich Festlichem war wenig zu verspüren; die Worte, die nun gesprochen wurden, knorrige, unwillige Worte, die gereizte, feindselige Antworten bekamen, waren Ausläufer eines langen Zwistes, der allmählich verebbt war, aber den man weiterzuspinnen suchte, indem sich der eine an jedes Wort des anderen hängte, es verdrehte und ihm eine böswillige Bedeutung unterlegte.

Es war etwas Gejagtes, Ungeduldiges über diesem Beisammensein, je weiter die Nacht vorrückte, und es war jedem klar, daß auch dieser Abend zu Ende gehen würde, ohne daß etwas Besonderes sich ereignete, weder etwas Fröhliches noch eine Rauferei – es würde nur jeder mit dieser ewigen Stichelei zwischen Menschen enden, die sich zu gut kannten. Alle hier kannten einander so gut, daß sie sich genierten, als wenn sie einander fremd gewesen wären. Das Gespräch konnte lange Minuten stocken, und in der Stille war es, als säße jeder einzelne da und dächte an seine Nachbarn und wüßte alles von ihnen, alles Böse.

Das waren Augenblicke von einer gewissermaßen unterseeischen Stille. Die Gesichter der Männer waren nur undeutlich von dem Schein der Öllampe beleuchtet, der Tabaksrauch trieb in langsamen Schwaden dahin und verschleierte ihre Züge. Die um den Tisch saßen, waren fast lauter ältere Leute, so um die Fünfzig herum, wettergebräunte, scharfmarkierte Gesichter, wie sie für die Seeleute und die Küstenbevölkerung charakteristisch sind, eine Art Hornhaut über den Backenknochen, harte rauhe Fäuste mit gleichsam ewig steifgefrorenen Fingern, Haar und Bart farblos und struppig, dabei trocken wie Stroh.

Auf einer Bank an der Längswand saß einiges junges Volk, plaudernd, die Arme auf den Knien und den Oberkörper auf die Arme geduckt. Einer von ihnen, ein Junge von neunzehn Jahren, hatte jenes unwahrscheinlich helle Haar, das man unter den blauäugigen Menschen in den Schären finden kann, ganz weiß, schaumweiß, nordisch und alt im Norden wie das Abenteuer. Das war Sigvard, der Ruderknecht der Fähre.

Wenn an dem großen Tisch mit lauter Stimme noch zu trinken verlangt wurde, trat eine helle Gestalt über die Schwelle. Die Tür in den Flur stand offen, und dort draußen konnte man beim Schein einer vernebelten Stallaterne die breite Treppe mit dem aus dicken Planken ausgeschnittenen, geteerten Geländer sehen. In dem geräumigen Gang waren auch Bierfässer aufgestellt, und von den Wandbrettern funkelte es dunkel von staubigen Flaschen und alten Kupfergefäßen.

Das alte Fährhaus hatte ein schwermütiges Gepräge des Alters von Jahrhunderten, es lag schon seit Menschenaltern so ohne jegliche Veränderungen da; es war bis in die innersten Winkel von einem sonderbaren herben Geruch durchsäuert, einem scharfen Gemisch von schmutzigem Flußwasser, Bierdunst und Teer.

Eine ganze Welt für sich, abgeschieden und eigenartig, war dieses dunkle alte Haus. Wenn alles geschlossen war, drang kein Laut von draußen durch die dicken Planken; aber wenn die Doppeltür nach dem Flußufer geöffnet wurde, hörte man das Tosen des Flusses, der vorbeiströmte – des großen Flusses, der sich hier in das Meer stürzte, ein Tosen, das mit den Jahreszeiten wechselte, je nachdem die Wassermenge größer oder geringer war, aber nie sein eintöniges Rauschen verlor.

Aus dem Flur in die Stube kam die helle Gestalt, ein junges Mädchen mit einer blauen Schürze, die den ganzen Körper umspannte, die Arme voll Bierkrüge, die sie einen nach dem andern auf den Tisch vor die Gäste hinstellte. Das war Ann-Mari. Es war ein gewinnender Ausdruck in ihrem Gesicht, die Ahnung eines Lächelns, doch von jenem stillen bewußten Ernst unterdrückt, den ganz junge und unterjochte Wesen in der Gegenwart Älterer annehmen, und der ein Geheimnis zu bedeuten scheint, mag es nun kindliches Wissen um ein verborgenes Glück sein, religiöse Ergriffenheit oder eine heimliche Liebe – die Strenge dieses Ernstes ist immer von der leuchtenden Unschuld der Jugend gleichsam durchsichtig. Wenn sie hereinkam, hob der Weißblonde drüben auf der Bank immer den Kopf, aber sie ging wieder, ohne hinzusehen. Sie hielt sich draußen im Flur auf, aber sie war nicht allein dort, von Zeit zu Zeit glitt eine andere Gestalt in dem Laternenschein vor, wie ein großer krummer Schatten anzusehen.

Die Männer tranken einander in der Weise zu, daß sie die Krüge fest auf die Tischplatte stießen und wieder aufhoben. Einer von ihnen trank bis zur Neige und erhob sich dann. Er ging zu einer der kleinen Fensterluken hin, die aus der Wand ausgeschnitten und mit braunen leinenen Gardinen bedeckt waren. Er sah nach dem Wetter, einzelne folgten ihm mit den Blicken und lächelten halb verdrießlich, halb höhnisch, als wüßten sie, was er im Sinn hatte.

»Willst du schon gehen, Segelmacher?« fragte einer von ihnen.

Segelmacher Jan wandte sich um und lehnte sich an den Türpfosten. Er hatte einen großen struppigen Bart, der, wenn er sprach, fast ganz den Mund verdeckte, seine asthmatische Stimme klang sehr undeutlich. Sein Kopf war unnatürlich schwer für den schmächtigen Körper, und daß er ihn zur Brust hinabgebeugt hielt, gab ihm etwas Heimtückisches. Wenn er vor sich hinsah, wurde ein Streifen des weißen Augapfels unter den Pupillen sichtbar, was seinen Augen einen schielenden Blick gab. Er antwortete nicht direkt auf die Frage.

»Wir kriegen morgen gutes Wetter, denk ich,« sagte er, »eine feine Brise von Südost.«

»Wie kannst du das sehen, Segelmacher?« fragte einer am Tisch, »der Himmel ist ja pechschwarz, und kein Mondstrahl dringt durch die Wolken.«

»Ich weiß es«, erwiderte der Segelmacher. »Ich erinnere mich noch ganz genau, so war es auch an jenem Abend vor zwanzig Jahren. Zwanzig Jahre ist es jetzt her«, wiederholte er und steuerte wieder auf den Trinktisch zu.

Drüben kicherte einer. Das war der Schuster Julius, ein kleiner dünner Kerl, der zwischen zwei breiten Fischern beinahe verschwand. Er hatte jenes Fadenscheinige in seiner Erscheinung, das Leuten seines Berufs in sehr engen Gemeinwesen eigen zu sein pflegt; sein Gesicht war fahlgrau, so als hätte er sich nie ordentlich reingewaschen, sein Bart hing zerfranst herab.

Der Schuhmacher entdeckte, daß die anderen anerkennend lachten, und da sagte er:

»Darum meinst du vielleicht, daß etwas passieren muß, Segelmacher, weil es zwanzig Jahre her ist. Ich sehe dich noch, wie du an demselben Abend vor zehn Jahren warst. Da hast du dich auch herumgedrückt und nachdenklich das Wetter angeguckt und zu prophezeien angefangen – du feierst da so eine Art Jubiläum.«

»Der Segelmacher glaubt an Wunder«, bemerkte ein anderer.

Und nun kam es von einem nach dem andern vom Tisch her:

»Er glaubt an die Worte der Schrift: Du sollst nicht zweifeln.«

»Aber das Abenteuer ist vorbei.«

»Er ist eigentlich glücklich, der Segelmacher, denn er hat die Hoffnung nicht aufgegeben. Er und sie dort draußen – die Hexe.«

Der Sprechende wies mit einer Geste in den dunklen Flur. Vielleicht hatte jemand draußen die Bemerkung gehört, denn für einen Augenblick blieb der krumme, drohende Schatten wie lauschend stehen. Da wurde es ganz still in der Schankstube, aber dann glitt der Schatten wieder in das Dunkel zurück, und das seltsame Gespräch ging weiter, diese stechenden, feindseligen Worte, die ein Geheimnis verrieten, das alle kannten:

»Nicht einmal die Pfaffen gaben noch Hoffnung, weder der alte, der fort ist, noch der neue, der kam.«

»Nein, das ist, weiß Gott, wahr. Es wird immer nur öder und hoffnungsloser hier um das Fährhaus.«

»Wir sterben auch einer nach dem andern, wir sind unser nicht mehr viele.«

»Aber wir, die wir noch da sind, wir warten alle«, meinte der Segelmacher. Sein unheimlicher Blick bekam einen eigenen, triumphierenden Glanz:

»Ich weiß es,« fuhr er fort, »ihr tut nur so, als ob ihr nicht mehr glauben würdet. Aber keiner hat die Hoffnung ganz aufgegeben, das ist die Wahrheit, denn keiner hier von uns weiß etwas. Nichts wissen wir. Ihr hört mich alle gern so reden, wie ich rede, denn es tut euch wohl, mir zu widersprechen, es liegt auch im Widerspruch eine Art Trost, weil er einen ganz kleinen Zweifel oder eine ganz kleine Hoffnung offenläßt, wie ihr wollt. Und mit mir ist es auch anders als mit euch. Ich habe meine Segelwerkstatt.«

»Die Dunkelkammer ...«, brummte einer.

»Die Dunkelkammer, ja«, erwiderte der Segelmacher bitter. »Das ist schon richtig, daß es dort drinnen immer dunkler und dunkler wird. Auf den Fenstern liegt jahrzehntealter Staub, von einem Jahr zum andern kann ich merken, wie das Licht abnimmt und sie immer blinder werden. Ist mir recht so, es liegt etwas so Menschliches darin. Es ist etwas von meinem eigenen Leben in dieser Werkstatt, so senken die Jahre auch ihr Dunkel über mich. Aber wenn ich hineinkomme, so habe ich die Erinnerungen an das Vergangene viel deutlicher um mich, als ihr andern sie haben könnt. Das liegt an der alten Luft dort drinnen, am Halbdunkel und dann an dem Geruch von Segeltuch und Takelwerk und Teer. Wenn ich dort drinnen stehe und Atem schöpfe, ist es mir, als wenn ich die Brigg wieder aus dem Sunde gehen sähe, wie vor zwanzig Jahren, wißt ihr nicht mehr, wie sie in der Südostbrise duftete, frisch geteert und fein? Wenn ich diesen Duft wieder spüre, da wird die Hoffnung wieder lebendig, ich glaube, ich ahne die Brigg irgendwo weit draußen auf dem Meer, weit, weit weg unter einem anderen Himmel – aber noch da.«

Der Segelmacher hatte die Stimme zu einem heiseren Röcheln gesenkt, und es wurde merkwürdig still in der Stube. Die Leute wetzten unwillig auf den Stühlen, als erbitterte es sie, daß man ihnen diese Erinnerung aufdrängte. Plötzlich trat eine Erscheinung aus dem Flur, es war der krumme Schatten, der nun in der Gestalt eines alten Weibes auflebte, gebückt, mit einem zigeunerhaft dunklen, scharfgeschnittenen Gesicht, das war die Herbergsmutter Kaisa. Sie war in grobes, bauerngewebtes Zeug gekleidet, und an den Füßen hatte sie Männerröhrenstiefel. Aber über dem dunklen Leibchen funkelte eine dicke Halskette aus Gold, an ihren gekrümmten Fingern und in den Ohren leuchteten Ringe. Sie blieb einen Augenblick stehen und nickte dem Segelmacher zu, dabei lächelte sie vielsagend. Dann sagte sie mit geheimnisvoller Betonung:

»Ich habe deine Worte gehört, Segelmacher. Ich weiß auch, was ich weiß.«

Plötzlich wandte sie sich an die andern am Admiralstisch, und mit harter, gebieterischer Stimme sagte sie kurz:

»Man ruft.«

Sigvard erhob sich sofort.

Ein anderer öffnete die große Tür nach dem Fluß zu. Das Brausen des strömenden Wassers drang abgeschwächt in die Stube, und der Luftzug stieß eine Rußsäule aus der Lampe. Alle horchten.

Durch das Brausen hörte man aus weiter Ferne von der anderen Seite des Flusses eine rufende Stimme:

»Hol über ... hol über!«

Der junge Sigvard ging rasch auf die Tür zu.

»Ich nehme das Boot«, sagte er.

II. Die »Glücksprobe«

Von einem Haken neben der Tür nahm Sigvard seine Mütze, eine runde Winterhaube aus Schafspelz, er wand auch eine wollene Schärpe um den Hals, es war noch Vorfrühling, und an den kalten Flußufern blieb der Frost lange in der Luft hängen. Dann ging er durch die breite Doppeltür hinaus. Die Herbergsmutter Kaisa blieb stehen und sah ihm nach. Eine Weile blieb es still rings um den großen Tisch, man konnte Sigvards Schritte die Holzstufen hinunter hören, die zu einer Brücke führten. Kaisa bog ihren mageren Kopf vor und starrte in die Dunkelheit, sie war wie ein ungeheurer Rabe, der auslugt. Es gab nichts anderes zu sehen, als eine baumelnde angezündete Laterne unten auf der Brücke. Da machte Sigvard das Boot klar. Kaisa schloß die schwere Tür wieder zu.

Während sie noch damit beschäftigt war, kam noch jemand in das Schankzimmer. Es war eine Frau. Sie kam aus dem Treppenhaus, und sie bewegte sich in einer ganz merkwürdigen, lautlosen, gleitenden Art durch das Zimmer. Sie hatte eine Art Filzpantoffeln an den Füßen, so daß ihre Schritte nicht zu hören waren. Ihr Erscheinen erregte keine sonderliche Aufmerksamkeit bei den in der Stube Sitzenden. Nur der Segelmacher sagte halblaut:

»Da kommt Signe von den Schären zurück.«

Dann nickte er ihr zu und grüßte:

»Guten Abend, Signe.«

Sie erwiderte nichts, sie sah ihn nicht einmal an, sie glitt durch das Zimmer zum Fenster hin, wo sie versuchte, durch die Zipfel der gemusterten Gardine irgend etwas dort draußen zu sehen, und obgleich das Fenster hinter der Gardine ganz dunkel lag, starrte sie doch lange in die Finsternis. Über ihrem hoffnungslosen Beginnen lag etwas so Eifriges und Zielbewußtes, als sei sie in einer bestimmten Absicht gekommen, die sie allein anging und niemand anderen. Daß ihr Erscheinen an dieser Stelle nichts Ungewöhnliches war, konnte man an der Gleichgültigkeit der Leute merken. Eher wurde sie mit Abneigung empfangen, insoweit ein verstocktes Schweigen Abneigung ausdrücken kann.

Sie mochte etwa vierzig Jahre alt sein, vielleicht war sie jünger, aber irgend etwas Abgerackertes in Gesicht und Gestalt gab ihr dieses Alter; sie war ziemlich blaß, ihr Haar war glatt von den Schläfen zurückgestrichen und ihre Kleidung sehr ärmlich, die Ärmel zu kurz, so daß die mageren Hände weit hervorragten. Als sie eine Zeitlang durch das schwarze Fensterglas gestarrt hatte, glitt sie wieder in die Stube zurück. Einen Augenblick blieb sie an der Tür zum Flur stehen und stützte das Kinn in die lange Hand, vollständig versunken in Nachdenken, in ein stummes, ratloses Nachdenken, dann ging sie in den dunklen Flur hinaus – dies war Signe, wie der Segelmacher sie genannt hatte –, und sie war Ann-Maris Mutter.

Doch eine Person hatte ihre seltsame Wanderung durch das Schankzimmer mit einer gewissen Aufmerksamkeit verfolgt, das war Kaisa. Aber nicht aus Interesse, sondern mehr aus Ärger. Die alte Hexe stieß hie und da ein verächtliches Schnauben aus, sie bewegte ihren Kopf mit den baumelnden Ohrgehängen im Takt zu Signes Wanderung, wie um zu markieren, wie widerwärtig ihr deren ganze Erscheinung war, und als Signe in den Flur verschwand, schlug die Alte eine harte Lache auf.

Einer der Männer am Tisch bemerkte:

»Es ist sonderbar, daß sie nie etwas redet, dabei geht sie immer herum wie vollgepfropft mit Neuigkeiten.«

Ein anderer erwiderte:

»Das ist, weil sie um diese Jahreszeit immer ihre Ahnungen hat. Sie kommt jetzt sicher wieder von den Schären zurück, wo sie nach Laternenschein auf dem Meer ausgelugt hat. Sie leidet an derselben Krankheit wie die Hexe Kaisa dort drinnen und der Segelmacher – sie hofft noch.«

Ein Dritter wendete ein:

»Aber ich finde mich trotz alledem mit Signe besser zurecht, weil ...«

Er sprach den Satz nicht zu Ende, sondern machte eine bezeichnende Bewegung nach der Stirn.

»Sie ist nicht recht klug, jawohl,« flüsterte der Schuster mit seiner heiseren Stimme. Er fügte hinzu: »Als ob das die Sache besser machte. Man sollte sie hier nicht so herumlaufen lassen, sie hat so etwas Verstimmendes an sich, sie ist wie einer dieser grauen Nebelvögel, die im Herbst draußen auf den Schären sitzen.«

Einer der Ältesten im Kreise, einer, der bisher stumm dagesessen und an seiner Pfeife gekaut hatte, erhob sich jetzt; es war der Lotsenälteste, eine feste, breitschultrige Gestalt, deren sanfte, ganz hellblaue Augen so wundersam kindlich in dem braungebrannten, von einem roten Bart überwucherten Gesicht glänzten. Er war sicher über die Siebzig, aber gesund und knorrig wie ein Eichenstamm. Alle sahen ihn erstaunt an. Man war es nicht gewohnt, Leute aufstehen und wie in einer Versammlung auftreten zu sehen, ein paar der Jüngeren unterdrückten ein Kichern. Der Lotsenälteste stand da und sog an seiner Pfeife; als er die Munterkeit der anderen bemerkte, zuckten ein paar rasche, weiße Blitze durch das Blau seiner Augen, dann begann er leise, so leise, daß er unwillkürlich Aufmerksamkeit erzwang, und alle verstummten und lauschten.

»Du fragtest mich vorhin, Segelmacher, warum ich heute abend so still dasitze und gar nichts rede. Ich dachte nach, denn ich war mit dem Vorsatz hergekommen, ein ernstes Wort mit euch Männern zu sprechen, und ich wußte nicht recht, wie ich die Sache anpacken sollte. Es fällt so schwer, offen von dem zu sprechen, was uns alle im tiefsten Innern bewegt. Aber ich glaube, es tut jetzt not. Ich habe länger hier im Fährdorf gelebt als einer von euch anderen, ich kann mich an den kleinen Ort mehr als ein halbes Jahrhundert erinnern, und ich kann es nicht anders sagen, wir waren damals glücklicher, viel glücklicher, sowohl die, die in den armseligsten kleinen Hütten wohnten, wie jene, die es reichlicher hatten. Damals war hier Zusammenhalt, gute Kameradschaft, alle freuten sich daran, den Ort wachsen zu sehen, auch an der Arbeit selbst hatte man seine Freude. Und damals gab es Barmherzigkeit unter den Menschen. Ich weiß noch, wenn es einem von uns schlecht ging oder wenn das Unglück eine Familie heimsuchte, dann waren alle bereit, zu helfen und zu trösten und es mit tausend Freuden zu tun. Überhaupt hatten alle einen frohen Glauben an die Arbeit und die Zukunft, die Verhältnisse waren freilich äußerst bescheiden, aber da jeder in enger Zusammengehörigkeit mit seinem eigenen Beruf lebte, herrschte durchgehends Zufriedenheit und vor allem ein starker, unerschütterlicher Zukunftsglaube. Ja, ja, dieser felsenfeste Glaube an die Zukunft ... Ist es vielleicht nicht wahr, was ich sage? Die meisten von euch werden sich daran erinnern.«

Alle zögerten mit der Antwort. Sie rückten unruhig auf den Stühlen und starrten da und dort hin, doch keiner sah den anderen an. Aber die allgemeine Verlegenheit löste ein so heftiges Paffen an den Pfeifen aus, daß neue Ströme von gelblich-weißem Rauch sich durch die Luft zu schlängeln begannen, sie bildeten Wellenlinien und mächtige Figuren, zerstreuten sich zu hängenden Schleiern, die unter den Strahlen der Petroleumlampe in vielerlei Farben schillerten.

In diesem Rauchschleier erschien plötzlich Ann-Mari wieder, die Arme voll frischgefüllter