Verdächtiger Freund - Sven Elvestad - E-Book

Verdächtiger Freund E-Book

Sven Elvestad

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Beschreibung

Es sollte erst nur ein Freundschaftsdienst sein. Kriminaldetektiv Krag will für einen Freund herausfinden, weshalb Verlobte und Schwiegervater in spe nichts mehr von ihm wissen wollen. Doch dann gerät gerade dieser Freund in den Verdacht, einen Mordversuch begangen zu haben ... Klassischer Krimi in Sherlock-Holmes-Manier.

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Verdächtiger Freund

Sven Elvestad

idb 

ISBN 9783961502332

 Erstes Kapitel. Ein merkwürdiger Tag

»Liebst du sie wirklich?« fragte Asbjörn Krag und schaute seinen Freund forschend von der Seite an.

Rittmeister Ivar Rye fuhr heftig auf.

»Du kennst mich doch!« rief er. »Ich bin kein Freund großer Worte, am wenigsten, wo es sich um meine eigenen Gefühle handelt. Während meiner Reisen in Asien und Afrika habe ich gelernt, Taten zu schätzen und die großen, leeren Worte zu verachten. Du weißt also, daß ich wirklich aus meines Herzens innerster Überzeugung rede, wenn ich sage, ich liebe sie.«

Rye trat ans Fenster und schaute hinaus. Die Bäume der Allee draußen prangten im ersten frischen Grün des Mais.

»Jetzt bin ich fünfunddreißig Jahre alt«, sagte er. »Ich bin weit in der Welt herumgekommen und glaube, daß ich jetzt endlich das Glück meines Lebens gefunden habe. Wenn mir dies entrissen wird, so bin ich – das fühle ich bestimmt – für immer unglücklich. Dann bleibt mir nichts, als wieder die Welt zu durchstreifen.«

Ivar Rye setzte sich wieder Asbjörn Krag gegenüber und fuhr mit demselben tiefen Ernst fort:

»Nun möchte ich die Sache mit dir besprechen, weil ich weiß, daß du ein Mann von scharfem Verstand bist, und weil ich dich als meinen Freund schätze. Ich habe in der letzten Zeit unaufhörlich über die Sache nachgedacht, und ich bin zu der Ansicht gekommen, daß sich irgend etwas Geheimnisvolles zwischen sie und mich gestellt haben muß. Willst du mir helfen?«

»Du gehst ja gewaltig ins Zeug«, erwiderte Asbjörn Krag. »In allem, was ich bis jetzt gehört habe, kann ich vorerst nichts erblicken, als eine Liebesgeschichte. Du liebst also das Mädchen. Und sie liebt dich auch?«

»Ja, sie liebt mich.«

»Sehr schön. Hat sie dir das gesagt?«

»Ja, das hat sie mir gestanden«, fuhr er heftig dazwischen.

»Gut. Wie lange kennst du sie?«

»Seit einem halben Jahr. Letzten Herbst lernte ich sie kennen, als ich nach meines Vaters Tod das Gut übernommen hatte. Nachher trafen wir öfters zusammen. Du weißt, daß ich ein eifriger Reiter bin, und sie ist eine begeisterte Reiterin, und so hatten wir gleich ein gemeinsames Thema für unsere Gespräche. So verging einige Zeit. Aber ich versichere dir, daß ich mir vom ersten Augenblick an bewußt war, in ihr die Liebe meines Lebens gefunden zu haben.«

»Was sagte der Alte dazu? Er mußte euch doch gelegentlich beisammen sehen.«

»Du meinst den Oberst?«

»Ja, ihren Vater.«

»Er war zu Anfang und noch lange Zeit nachher ganz einverstanden. Er lud mich in sein Haus, und soweit ich erkennen konnte, sah er mit freundlichen Blicken mit an, wie sich Dagny und ich einander immer mehr näherten. Er scherzte auch gelegentlich und meinte, wir gäben einmal ein schönes Paar.«

»Warum hast du dann nicht um sie angehalten?«

»Das habe ich getan!«

»Und da hat er also dann ›nein‹ gesagt?«

»Durchaus nicht. Aber er unterbrach mich ganz freundlich und sagte, davon könnten wir später einmal reden. Wir beide, Dagny und ich, sahen die Sache als abgemacht an, und es wurden auch unserem beinahe täglichen Beisammensein keinerlei Hindernisse in den Weg gelegt. Wir hätten am liebsten sofort geheiratet, aber da der alte Herr auf die üblichen Formen hielt, wollten wir uns fügen und waren bereit, uns eine entsprechende Verlobungszeit gefallen zu lassen.

Aber da kam plötzlich die Veränderung in seinem Betragen mir gegenüber.

Wie genau ich mich dieses Tages erinnere! Es war am Abend vor nun gerade vierzehn Tagen. Die Sonne war am Untergehen, und es fing an, kühl zu werden. Ich ließ ›Eva‹, mein neues Reitpferd, satteln, denn ich wollte zum Oberst hinüberreiten, um heute noch einmal ein paar Worte mit meiner Braut zu wechseln. Ich hatte sie schon am Vormittag einige Augenblicke gesprochen, und wir sollten uns eigentlich erst am nächsten Morgen bei unserem gewöhnlichen Ausritt wiedersehen. Aber es war mir wie eine Ahnung. Ich trieb ›Eva‹ an, so sehr ich konnte, und schweißbedeckt langte sie vor der Haustür des Obersten an.

Als ich mich eben aus dem Sattel schwang, trat der Verwalter des Obersten zu mir. Der Mann heißt Hansen. An seiner verlegenen Art sah ich gleich, daß etwas los sein mußte.

›Wünschen der Herr Rittmeister den Herrn Oberst zu sprechen?‹ fragte er.

›Ja‹, antwortete ich aus alter Gewohnheit. Natürlich wollte ich mit ihr sprechen und nicht mit dem Oberst.

›Komme ich vielleicht ungelegen?‹ fragte ich und erwartete die gewohnte Antwort: ›Durchaus nicht.‹ Denn ich kam sonst niemals ungelegen, ob der Oberst auf seinem Zimmer arbeitete, ob er aus dem Felde war oder eine von seinen kleinen vergnügten Gesellschaften hatte. Aber ich erhielt eine unerwartete Antwort.

›Der Herr Oberst empfängt heute nicht.‹

›So – na – warum denn nicht?‹

›Ich soll den Herrn Rittmeister grüßen und sagen, daß er nicht wohl sei. Er hat den Herrn Rittmeister durchs Fenster herreiten sehen.‹

›Na, na‹, dachte ich. ›Das ist wieder so eine von des Alten kleinen Launen. Da ist nichts zu machen.‹ Ich fragte daher den Mann:

›Wollen Sie mich dann bei dem gnädigen Fräulein melden?‹

›Das gnäd'ge Fräulein kann heute auch nicht empfangen.‹

Ich war so verblüfft über diese Antwort, daß ich die Zügel fallen ließ. Mein erster Gedanke war, daß sich meine Braut in dem naßkalten Frühlingswetter erkältet haben könnte.

›Liegt sie zu Bett?‹ fragte ich.

»Nein.«

›Dann möchte ich sie dennoch sprechen. Wollten Sie ›Eva‹ so lange halten, Hansen?‹

Aber Hansen, der ganz unglücklich und verlegen vor mir stand, machte keinerlei Anstalten, meinem Wunsch nachzukommen. Im Gegenteil, er machte Miene, mir in den Weg zu treten.

Ich begriff nicht, was das sein sollte. Meine Gedanken jagten sich. Sollte ich irgend etwas gesagt oder getan haben, das Mißfallen erregt hatte? Aber ich konnte nirgends einen Grund zu einem derartigen Mißverständnis entdecken. Zu einem war ich jedoch sehr rasch entschlossen: ich wollte nicht heimgehen, ehe ich ergründet hatte, wo das Mißverständnis steckte. Deshalb sagte ich zu Hansen:

›Gehen Sie sofort zum Herrn Oberst und sagen Sie ihm von mir, daß ich den Hof nicht verlasse, ehe ich mit ihm gesprochen habe.‹

Hansen murmelte etwas davon, daß er nur dessen Befehlen gehorche, ging aber doch ins Haus. Rasch kam er wieder zurück und meldete, daß der Oberst mich empfangen wolle.

Sofort ging ich ins Arbeitszimmer des Obersten, und dort wurde mir ein Anblick, der mich aufs tiefste erschreckte.

Vor wenigen Stunden erst hatte ich den Oberst gesehen. Da war er vergnügt und guten Mutes und auf seinem runden, gemütlichen Gesicht war kein Wölkchen zu sehen.

Jetzt stand ein gebrochener Mann vor mir. Seine Haare waren in Unordnung; er sah sehr blaß aus, und man hätte meinen können, er habe geweint. Der Kummer war deutlich in seinen Augen zu lesen. Noch niemals habe ich in so kurzer Zeit eine so schreckliche Veränderung im Aussehen eines Menschen wahrgenommen.

Ja, lieber Krag, wie soll ich dir jetzt nur den Inhalt unserer Unterredung mitteilen! Das stürzte über mich herein, und ich erinnere mich nur an eine entsetzliche Verwirrung, von der wir beide, der Oberst und ich, ergriffen waren.

Als ich bei ihm eintrat, kam er auf mich zu und streckte mir beide Hände entgegen.

›Sie zittern ja am ganzen Leibe,‹ sagte ich erschrocken. ›Ist Dagny etwas geschehen? Wenn sie sehr krank ist, so lassen Sie mich lieber gleich die ganze Wahrheit wissen.‹

›Nein,‹ stammelte er. ›Dagny ist nicht krank.‹

›Warum kann ich sie dann nicht sprechen?‹

›Weil Sie nicht können. Heute ist es unmöglich.‹

Ich fragte, ob ich irgendein Unrecht getan hätte. Da ergriff er meine beiden Hände und sagte: ›Keineswegs. Sie sind uns beiden sehr teuer. Aber jetzt müssen Sie gehen.‹

Ich wollte nur ungern den Gutshof verlassen und war sehr niedergeschlagen. Aber schließlich flehte mich der Oberst mit zitternder Stimme und verhaltenen Tränen an, zu gehen.

›Jetzt ist es sieben Uhr,‹ sagte er. ›Heute abend um zehn Uhr sollen Sie Nachricht von mir bekommen. Sie werden sehen, es kommt alles wieder in Ordnung.‹

Nun blieb mir nichts anderes mehr übrig als zu gehen. Aber ich verließ den Hof mit dem drückenden Gefühl, daß irgend etwas Unerwartetes und Entsetzliches geschehen sein müsse.

Ich schwang mich auf ›Eva‹ und ritt die Landstraße entlang, an den Fenstern des Herrenhauses vorüber.

Als ich an Dagnys Fenster kam, entdeckte ich ein helles Kleid dahinter, und die Vorhänge bewegten sich. Ich hielt mein Pferd an. Da verschwand das Kleid, und ich mußte weiterreiten. Es hatte angefangen zu dämmern.

Das war alles, was an jenem merkwürdigen Tage geschehen ist. Aber noch merkwürdiger war, was später geschah.«

Zweites Kapitel. Ein Unglückstelegramm

Rittmeister Ivar Rye schwieg und versank in trübe Gedanken. Krag weckte ihn nicht aus seiner Grübelei, sondern studierte einstweilen des Freundes Gesichtsausdruck. Merkwürdig, wie plötzlich der Freund dem Aussehen nach mindestens um zehn Jahre älter geworden war.

»Abends um zehn Uhr erhielt ich endlich Bescheid«, erzählte Rye weiter. »Es kam ein Bote von dem Obersten und brachte mir zwei Briefe; einen von ihm selbst und einen von dessen Tochter.

Beide Briefe strömten über von Sorge und Kummer.

Der Oberst schrieb, daß er heute die schwerste Stunde seines Lebens durchgemacht habe. Ich weiß den Brief beinahe wörtlich auswendig.

Er schrieb, er habe mich während unseres Zusammenseins schätzen gelernt, und wenn sich die Sache in der Zukunft so ordnen würde, daß wir wieder zusammenkommen könnten, so wäre ihm das eine große Freude.

Vorläufig sei es ihm aber unmöglich, mich zu sprechen, und aus der Heirat mit seiner Tochter könne jetzt nichts werden.

Er habe mir nicht das mindeste vorzuwerfen, schrieb er weiter. Verhältnisse, über die weder er noch ich Herr seien, machten den Bruch notwendig.

Er wisse, daß er an einen Ehrenmann schreibe, der die Gründe für sein Schweigen achten werde. Aber eine Heirat sei und bleibe unmöglich. Er habe sich mit seiner Tochter beraten, und sie habe sich bereit erklärt, auf ihr Glück zu verzichten.

Dagnys Brief war in großer Aufregung geschrieben, die stark auf mich einwirkte. Ich konnte die heftige Gemütsbewegung, in der sich das arme Mädchen während des Schreibens befunden hatte, förmlich mitfühlen, alles müsse zu Ende sein, schrieb sie. Es sei am besten, wenn wir uns nie mehr sähen. Aber sie grüße mich tausendmal. Sie werde bis zu ihrem letzten Atemzug meiner gedenken.

Du verstehst wohl, lieber Freund, daß mir in jener Nacht kein Schlaf in die Augen kam. Die ganze Sache war mir unbegreiflich. Woher dieser plötzliche und unbegründete Bruch? Ich erschöpfte mein Gehirn mit unzähligen Fragen, allein ich fand keine Lösung.

Später nahm ich meine Ausritte wieder auf, und vor drei Tagen traf ich mit Dagny zusammen.

Sie hatte ein schwarzes Kleid an und sah sehr blaß aus. Ihr Pferd war schweißbedeckt, wie nach einem langen und heftigen Ritt.

In einem Hohlweg trafen wir zusammen und mußten aneinander vorbei.

Ich grüßte. Sie nickte, und ihre Wangen überzogen sich mit einer dunklen Röte.

Nun konnte ich mich nicht mehr halten, sondern fiel ihrem Pferd in die Zügel.

›Dagny, du bist mir eine Erklärung schuldig,‹ sagte ich. ›Ich reise fort von hier, aber ich kann nicht gehen, ehe ich erfahren habe, was uns getrennt hat.‹

Sie war ganz verwirrt vor Angst und Verlegenheit und fragte: ›Du willst fortgehen?‹

›Ja. Wundert dich das?‹

›Weit fort?‹

›Sehr weit fort, Dagny. Willst du mir nicht eine Antwort auf meine Frage geben?‹

›Nein, denn das kann ich nicht. Du darfst mich nicht fragen.‹

›Ist etwas geschehen?‹

›Ja, es ist etwas geschehen; etwas, das nicht mehr ungeschehen gemacht werden kann.‹

›Auch nicht mit einem klaren Verstand, gutem Willen und zwei starken Fäusten?‹

Sie gab keine Antwort; sie lächelte nur. Ein sehr nervöses Lächeln. Ihre Lippen bebten.

›Liebst du mich nicht mehr, Dagny?‹

›Laß meine Zügel los, dann will ich dir die Antwort geben.‹

Ich ließ die Zügel fahren.

Sie beugte sich zu mir herüber und sagte mit bebender Stimme:

›Ich habe dich von jeher geliebt, und ich liebe dich noch und werde dich immer lieben.‹

Dann spornte sie ihr Pferd und jagte davon.

Ich rief ihren Namen nach. Sie drehte sich im Sattel um, winkte mir zu und rief:

›Wir dürfen uns nie mehr sehen!‹

Seither habe ich sie auch nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch auf dem Hofe ist.

Und damit, lieber Krag, hast du erfahren, was geschehen ist. Ich bitte dich um deine Hilfe. Das tue ich, weil ich gewiß weiß, daß dies nicht nur eine gewöhnliche Liebesgeschichte ist.«

Rye stand auf und trat ans Fenster. In seiner Stimme war ein merkwürdiges Beben, als er sagte:

»Du begreifst wohl, daß ich nicht aus noch ein weiß. Aber vielleicht kommt es daher, weil ich vor Unglücksgefühl fieberkrank bin und blind vor Liebe. Aber ich kann wirklich nicht ergründen, was geschehen ist. Es liegt auf mir wie eine trübe Ahnung, daß hinter diesen Begebenheiten ein Geheimnis steckt. Ein Geheimnis, dessen Lösung ich nicht finden kann, aber vielleicht vermagst du es. Und wenn ich an das vergrämte Gesicht des alten Obersten denke, als ich zuletzt mit ihm sprach, da schlägt mir heftig das Herz. Was müssen das für Ereignisse gewesen sein, die so unauslöschliche Spuren in das Antlitz eines Menschen graben konnten!«

Ivar Rye hatte zu Ende gesprochen.

»Wo ist mein Überzieher?« sagte er. »Ich muß nun gehen!«

»Ohne meine Antwort abzuwarten?« fragte Asbjörn Krag.

»Du weißt ja, wo ich wohne«, antwortete der Freund. »Du kannst kommen, wann du willst. Ich lasse ein Zimmer für dich bereit halten. Aber du mußt innerhalb acht Tagen kommen.«

»Warum so geschwind?«

»Nach acht Tagen reise ich ab.«

Im nächsten Augenblick stand Rye im Überzieher da.

»Ich möchte nur zwei Fragen an dich richten«, sagte Krag.

»Bitte!«

»Wer, glaubst du, ist wohl die Ursache von allem dem, der Vater oder die Tochter?«

»Ich meine, das sei aus meiner Erzählung deutlich hervorgegangen«, erwiderte Rye. »Es ist meine feste Überzeugung, daß es der Vater, der alte Oberst ist, der sich mir und seiner Tochter in den Weg stellt. Aber er tut das notgedrungen und mit blutendem Herzen.«

»Hältst du den Alten für einen Ehrenmann?«

»Ich mag ihn sehr gern leiden, und ich halte ihn unbedingt für einen Ehrenmann«, antwortete Rye.

»Schön. Nun noch eine Frage. Weiß die Nachbarschaft etwas von dieser Geschichte?«

»Ja, da bringst du mich auf etwas, das mich veranlaßt, meine Abreise zu beschleunigen. Es war ja nicht zu vermeiden, daß die Nachbarschaft etwas von unserer Verlobung erfuhr. Ich weiß auch keinen Grund, warum sie nichts davon hätten erfahren dürfen, die Hochzeit war ja auch schon bestimmt. Nun haben sie natürlich auch den Bruch erfahren, und es hat viel Klatsch gegeben. Das ist unangenehm, aber es läßt sich nichts dagegen machen.«

Als nun Rye gehen wollte, hielt ihn Krag mit noch einer Frage auf.

»Du hast mir von dem Obersten und Dagny erzählt. Kann nicht auch noch eine dritte Person im Spiele sein?«

»Was meinst du damit?«

»Gibt es nicht noch einen Dritten? Ich meine außer dir?«

Rye drückte die Hand des Freundes.

»Nein!« sagte er. »Es gibt keinen Dritten. Dafür stehe ich.«

Nun verabschiedeten sich die beiden Freunde voneinander. Rye ging zum Bahnhof, um abzureisen. Asbjörn Krag blieb noch lange sitzen, tief in Gedanken versunken. Das war jedenfalls eine wunderliche Sache, ohne Ähnlichkeit mit andern Geschichten, mit denen er als Detektiv sonst schon zu tun gehabt hatte.

Er legte sich die Frage vor, ob er sich überhaupt in diese Sache mischen solle oder nicht.

Was konnte er tun?

Hier war ja nicht die geringste Ungesetzlichkeit begangen worden, und so hatte er keine Veranlassung, sich an den alten Obersten und seine Familie zu wenden.

Aber jedenfalls konnte er seinem alten Freunde Ivar Rye einen Besuch machen und ein paar Tage bei ihm bleiben. Er konnte ja sagen, er wolle sich einige Tage der Ruhe gönnen.

Am Tage darauf erhielt er eine Postkarte mit folgendem Wortlaut:

»Lieber Freund! Dein Zimmer steht bereit. Dein Ivar.«

Allein er zögerte noch immer.

Da ereignete sich etwas, das ihn veranlaßte, einen raschen Entschluß zu fassen.

Am Tage, nachdem er die Postkarte erhalten hatte, zeigte ihm der Leiter der Osloer Kriminalpolizei ein Telegramm. Es lautete:

»Oberst Anders Holger ist in der Nähe seines Hofes lebensgefährlich verletzt aufgefunden worden. Unglücksfall oder Überfall. Umstände sehr verdächtig. Gerichtliche Untersuchung im Gang.«

Oberst Anders Holger, das war ja der alte Oberst, Dagnys Vater.

Eine Stunde darauf war Asbjörn Krag unterwegs.

Drittes Kapitel. Der Verdacht

Während der Eisenbahnfahrt befand sich Asbjörn Krag in einer Unruhe, wie er sie selten verspürt hatte. Ein ums andere Mal überdachte er das Telegramm mit der Nachricht von dem rätselhaften Unglücksfall.

Der alte Oberst war also halbtot in der Nähe seines Hofes aufgefunden worden. Unter verdächtigen Umständen. Es kam Krag sonderbar vor, daß ihm sein Freund Rye davon keine Mitteilung gemacht hatte.

Verdächtige Umstände! Diese Worte klangen sehr bedenklich. Es mußte ihnen etwas sehr Ernstes zugrunde liegen, sonst hätte das Telegramm kaum so gelautet. Diese Depesche war von einem Berichterstatter ans Telegraphenbüro gerichtet worden. Wahrscheinlich hatten also die Zeitungen Oslos bereits das Publikum in Bewegung gesetzt, und das war dem Detektiv kein angenehmer Gedanke. Es war ihm immer am liebsten, wenn er seine Arbeit in der Stille tun konnte. Er ging durch alle Wagen des Zuges, entdeckte aber zu seiner Freude keinen Journalisten. Nun hatte er also jedenfalls einen halben Tag Vorsprung.

Einer der Reisenden fing ein Gespräch mit ihm an. Es war ein älterer Herr mit einem gutmütigen Gesicht, ein Versicherungsagent. Während des Gesprächs erwähnte Asbjörn Krag auch den Unglücksfall, der den alten Oberst getroffen hatte, und das interessierte den Versicherungsagenten sehr lebhaft. Es zeigte sich, daß er den Oberst seit mehreren Jahren kannte.

»Ich hielt viel von dem alten Herrn«, sagte der Agent. »Er war ein Soldat von altem Schrot und Korn, hartköpfig, aber im Grunde herzensgut. Seine Gastfreiheit war großartig.«

»Da ist er wohl sehr reich?« fragte Krag.

»Er hatte etwas von seinem Vater geerbt, aber er selbst hat sein Vermögen vervielfacht, denn er hatte einen ausgeprägten Geschäftssinn. An mehreren Fabriken war er beteiligt, trocknete Moore aus und ließ Land urbar machen. Ich glaube, daß sein Vermögen jetzt nach unsern Verhältnissen wohl groß genannt werden darf.«

Der gesprächige Versicherungsagent erzählte noch allerlei von dem alten Oberst, und Asbjörn Krag lauschte begierig. Die kleinste Kleinigkeit war ihm wichtig, wenn er mit einer derartigen Untersuchung beschäftigt war; alles, was er erfahren konnte, stapelte er in seinem Gehirn auf. Da lag alles gewissermaßen in Schubfächern geordnet, und er konnte nach Bedarf das betreffende Fach aufziehen und durchsuchen.

Im Laufe des Nachmittags langte der Zug an der kleinen Station an. Krag hatte seinem Freunde Rye seine Ankunft nicht angezeigt und wurde deshalb auch nicht am Bahnhof abgeholt. Es war eine milde und warme Witterung, und Asbjörn Krag freute sich behaglich auf die Wagenfahrt, die er bis zu Ivar Ryes Gutshof zurückzulegen hatte. Er trat in den Kaufladen, um sich einen Wagen zu bestellen.

»So. Sie wollen also zu Herrn Rittmeister Rye«, sagte der Kaufmann ruhig und sah ihn aufmerksam an.

Asbjörn bemerkte den Blick und wunderte sich darüber.

»Meinen Sie, er sei nicht zu Hause?« fragte er.

Der Kaufmann lachte.

»Doch, ich glaube schon. Ich glaube nicht, daß er jetzt so bald auf Reisen gehen wird. Jedenfalls nicht weit fort.«

Als Asbjörn Krag diese ernst gesprochenen und verdächtig klingenden Worte hörte, fühlte er wieder eine sonderbare Unruhe in seinem ganzen Körper.

»Sie sprechen von einem meiner besten Freunde«, sagte er zu dem Kaufmann.

»Ach so!« beeilte sich dieser zu sagen. »Na ja, der Herr Rittmeister ist gewiß ein bedeutender Mann. Und große Reisen hat er gemacht. Ist er nicht rund um die ganze Erde gekommen?«

»Doch, das ist er. Er ist in vielen Ländern gewesen.«

»Ja. in der Fremde draußen nimmt man's nicht so genau«, sagte der Kaufmann und ging dann hin, um den Kutscher zu rufen.

Asbjörn Krag merkte wohl die Vorsicht, die aus diesen Worten sprach. Also hatte sich das Gerede der Leute bereits dieser Sache bemächtigt. Krag merkte, daß man Ivar Rye nicht wohlwollte.

Als Kutscher erhielt Asbjörn einen alten graubärtigen Bauern. Während des ersten Teils der Fahrt zeigte sich der Bauer still und verschlossen, aber durch Krags Freundlichkeit und die Gabe eines Priemchens Tabak taute er auf. Endlich fragte er zögernd:

»Sind Sie aus der Nachbarstadt?«

»Behüte, ich bin aus Oslo.«

»Und Sie wollen zu Herrn Rittmeister Ivar Rye?«

»Gewiß.«

»Kennen Sie ihn denn?«

»Nein«, behauptete Krag, einer plötzlichen Eingebung folgend.

Es entstand eine lange Pause. Dann begann der Bauer wieder zu fragen:

»Dann sind Sie vielleicht einer – so einer von denen – die aus der Stadt erwartet werden?«

»Nein, das bin ich nicht«, erwiderte Asbjörn Krag. »Aber ich bin wegen des Unglücksfalls, der Oberst Holger betroffen hat. hergekommen.«

Der Bauer nickte.

»Na das konnte ich mir ja denken«, sagte er.

»Lebt er noch?«

»Ja, er lebt noch, und vielleicht kommt er auch durch, aber er ist noch nicht zu sich gekommen.«

Nun wurde der Bauer geheimnisvoll und murmelte halblaut vor sich hin:

»Vielleicht ist es für jemand recht gut, daß er noch nicht wieder zum Bewußtsein gekommen ist und eine Anklage erheben kann.«

»Kennen Sie Herrn Rittmeister Rye?« fragte Krag.

»Jawohl ich kenne ihn schon und ich habe auch seinen Vater gekannt. Mit dem ließ sich noch ein Wort reden. Aber der Herr Rittmeister läßt niemand zu nahe kommen.«

Asbjörn Krag sah wohl ein, daß ein Mann wie Ivar Rye mit seinem Starrkopf, seinem abweisenden und verschlossenen Wesen unter dem Volke wenig beliebt sein konnte.

Kurz darauf fragte der Bauer:

»Was haben Sie denn für einen Beruf?«

Krag wußte nicht recht, was er sagen sollte.

»Ich bin Journalist«, sagte er dann.

Das verstand der Bauer nicht.

»Einer, der für die Zeitung schreibt«, erklärte der Detektiv.

Da ging dem Bauer ein Licht auf.

»Also Kolporteur. Ach so«, sagte er.

Asbjörn Krag ließ sich diese Bezeichnung gefallen. Kurze Zeit darauf deutete der Bauer auf einige Baumgruppen und sagte:

»Sehen Sie dort den Glockenturm?«

»Jawohl.«

»Das ist der Turm auf dem Gute des Herrn Obersten.«

»Dann muß das ein großer Hof sein.«

»Ja, es ist das größte Gut hier in der Gegend.«

»Möchten Sie gerne die Stelle sehen?« setzte der Bauer nach einer Weile hinzu.

»Welche Stelle?«

»Die Stelle, wo es geschehen ist. Wo man ihn gefunden hat.«

»Nein, ich danke. Jetzt noch nicht. Wer hat ihn denn gefunden?«

»Der Ingenieur.« Wieder deutete der Bauer mit dem Finger. »Dort auf dem Ziegelwerk. Er kam des Nachmittags über die Wiese und sah ihn am Waldrand unter den Bäumen liegen. Er machte Anzeige beim Gericht. Dann wurde der Oberst nach Hause gebracht. Und nun sind wir da.«