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Lothar Kotzmann wird von einer unbekannten Organisation unter dem Namen Jens Uwe Schmidt in ein Mietshaus eingeschleust. Sein Auftrag: Unfrieden unter den Mietern stiften. Eine schwierige Klientel und zu Anfang läuft es etwas zäh, dann jedoch gehen seine Pläne und Intrigen voll auf. Aber irgendetwas stimmt hier nicht, nur was?
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Seitenzahl: 232
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Danke, Schatz!
Lothar Kotzmann
Frau Gertrude Braun
Philipp Ogobagwe
Fräulein Ingelore Reiher
Shania Büttel
Tobias Zabel
Zum Rapport
Guppys
Jörn Hansen
Schlüpfer
Fleisch
Rosinen
Das Fahrrad
Konspirativ
Lieben Sie Brahms?
Na, also!
Bastelstunde
Lego
Ach, Shania…
Schatten
Hinhalten
Manni
Sackgasse
Köpfe
Zweifel
Am Ziel
Kalt
Verschwunden
Kartoffeln
Knapp
The grateful dead
Kälter
Verräter
Die Polizei
Schadensbegrenzung
Erwachen
Lagebesprechung
Undercover
Zuhause
Metamorphose
Der schwarze Fleck
Flucht
Instinkt
Schwach
Wurscht
Glut
Lothar Kotzmann betrat das kleine, unscheinbare Wohnhaus in der Sophie-Scholl-Straße, durchquerte den Flur mit den Briefkästen und wand sich sofort der Kellertreppe zu. Unten im Halbdunkel werkelte der Hausmeister an einer Steckdose herum.
„Steckdose? Schon wieder?“, höhnte Lothar.
Der Hausmeister zuckte die Schultern.
„So langsam gehen mir die Aufgaben aus.
Wird Zeit, wieder das Quartier zu wechseln!“
Lothar nickte nur, schob ein Kartoffelgitter beiseite und trat hindurch.
Noch ein schmaler Flur, noch eine Tür. Dahinter eine andere Welt. Er ging an geschäftigen Kollegen vorbei, die kaum aufblickten.
Bis auf Tobias Zabel, der so ziemlich einzige Kollege, mit dem Lothar über den Job hinaus Kontakt hatte. Das war allerdings von den Chefs nicht gern gesehen und man war hier angehalten, lieber zu schweigen.
„Kotzi, mein Junge! Du sollst zum Chef ins Büro. Und zwar gleich zum Doktor, drin gend, irgendwie eine größere Sache. Wie war die Schulung?“
Zabel war der Einzige, der Lothar so nennen durfte.
Lothar machte eine vage Handbewegung, die alles bedeuten konnte.
„So lala. Das meiste hatte ich schon in der Praxis, wozu dann ein Seminar?“
Zabel lachte. „Jaja, unser Star! Geh Du mal und hole dir Deine neuen Instruktionen.“
„Ja, und du? Irgendwas Neues am Start?“
Zabel zögerte, er flüsterte beinahe. „Die aktuelle Sache ist ganz schön umfangreich, eine Großschlachterei im Norden der Stadt. Ich glaube, das wird schwierig.“
Lothar wies auf das massive, goldene Schmuckstück an Zabels Hals.
„Da solltest du das da wohl lieber in der Schublade lassen.“
Zabel lachte.
„Neenee! Das ist mein Z und das ist mein Markenzeichen! Nur über meine Leiche!“
Er winkte ihm grinsend zu.
Gleich zum Doktor, dachte Lothar, nicht zum Abteilungsleiter, da bin ich aber gespannt. Er straffte sich und zog die Krawatte zurecht, klopfte und trat ein.
„Sie wollten mich sprechen, Herr Doktor?“
„Kotzmann!“
Dr. von Kastelroth war immer sehr lautstark und hoch erfreut. Oder er tat so.
„Wie war das Seminar?“
„Lehrreich, sehr lehrreich!“
„Das will ich hoffen. Und, so ein bisschen Chakachaka?“
„Leider nicht, Chef, nur männliche Teilnehmer.“
„Da kann man nichts machen. Lothar“ – das war selten, vom Chef beim Vornamen genannt zu werden – „Wir haben hier einen echten Spezialauftrag. Setzen Sie sich. Ein Schlückchen?“
Der Herr Doktor machte eine Geste zum Aktenschrank hin.
„Nein, danke, ist mir noch zu früh.“
„Mir nicht!“, entgegnete der Chef und zog die Cognacflasche hervor. Er warf ihm einen Aktenordner hin und füllte sich ein Glas.
„Darum geht’s. Auf der dritten Seite stehen die Namen, Berufe, Familienstände, das Alter und die Vorlieben, Fußballverein, der ganze Quatsch. Auf Seite acht steht ihre neue Vita.“
Lothar überflog es kurz.
„Ich heiße jetzt van de Heuvel? Ein holländischer Name? Ich kann kein holländisch!“
„Ach, Kotzmann, das spielt doch keine Rolle, ihre Familie könnte doch schon seit zweihundert Jahren in Timbuktu leben, oder etwa nicht?“
„Ja, aber - Beruf: Vertreter für Aquaristik. Ich habe keine Ahnung davon! Wenn ich da auf einen Spezialisten treffe, bin ich aufgeschmissen.“
Von Kastelroth schenkte sich noch einen ein, wollte jedoch nicht einlenken.
„Beruf ist nicht verhandelbar, Vertreter ist absolut für ihre Mission geeignet. Sie können tagelang unterwegs sein, ohne, dass es auffällt. Und Sie könnten auch im Haus sein, wann immer Sie wollen, als Vertreter geht das.“
„Ich hätte da einen Vorschlag – wie wäre es mit Münzhändler, da könnte ich auch ziemlich frei handeln? Und ich verstehe etwas davon.“
Der Chef winkte ab.
„Nein, es sollte schon etwas Einfaches sein, das sind alles Arbeiter da, kein einziger Bürohengst, nur zwei mit Abi und einer davon ist ausgerechnet der Schwarze, da können Sie nicht als Edelmetallhändler auftreten.“
Lothar überlegte fieberhaft. Aquaristik, er konnte Fische nicht ausstehen, er aß nicht einmal Fisch! Gut, also lügen.
„Chef, wir haben im Seminar gelernt, dass man schon seine persönlichen Vorlieben einbringen soll, das wirkt viel authentischer.“
„Na gut, machen Sie mir bis, na, übermorgen einen guten Vorschlag. Aber von Wurtzleben l“ - er wies mit einem Zeigefinger nach oben – „hat sich gerade ein Aquarium zugelegt, da ist es schwer, was zu machen. Sie wissen doch, wie er ist. Die Papiere erhalten Sie wie immer bei Tuxel, Pass, Geburtsurkunde, Lohnsteuerkarte, Führerschein, der ganze Quatsch.“
Nach Lothars Geschmack war das ein bisschen zu viel Quatsch. Und Cognac. Da gab es wohl Zusammenhänge. Das sollte er im Auge behalten, nur so für alle Fälle.
„Und wechseln Sie mal den Friseur! Niemand trägt heute den Nacken noch ausrasiert!“
Lothar bezog die Dreizimmerwohnung in der Friedrich-Engel-Straße relativ zügig.
Glücklicherweise konnte er dem Chef den holländischen Namen noch einmal ausreden, aber beim Beruf hatte er ums Verrecken nicht intervenieren können. Jetzt hieß er Jens Uwe Schmidt und musste sich die Grundkenntnisse der Aquaristik schnell anlesen. Die kräftigen Herren vom örtlichen Umzugsunternehmen waren sehr schnell vor Ort.
Lothar Kotz-mann alias Jens Uwe Schmidt musste sich beeilen, vor ihnen in der Wohnung zu sein. Im gläsernen Eingangsbereich rannte er beinahe ein kleines Mädchen um.
„Oh, kleines Frollein, das war aber knapp!
Vielleicht solltest du woanders spielen?“
Das kleine Mädchen starrte ihn nur mit offe nem Mund und reichlich Popeln in der Nase an, als hätte er zwei Köpfe.
Lothar konnte Kinder nicht ausstehen. Keine Lollis verteilen, auf keinen Fall Lollis verteilen, das durfte man heute nicht mehr bringen. Die wenigen Möbel waren schnell auf die Zimmer verteilt und die Herren Möbelpacker mit einem guten Trinkgeld verabschiedet. Er sah sich in der Wohnung um.
Ganz nett, er hatte schon bedeutend schlimmer gehaust. Aus einem Koffer zog er gerahmte Fotos. Seine Ex-Frau, sein kleiner Sohn im Sommer 2014, da war der Bengel gerade vier, eine Aufnahme aus dem Ibiza-Urlaub - Lothar in einem Restaurant mit Strohhut - ein Hundebild. Das war Asta, der Hund seiner Jugend. Lothar Kotzmann hatte nie geheiratet, keine Kinder gezeugt, er hatte die schöne Insel Ibiza nie betreten und auch nie einen Hund besessen, aber die Fotos waren sehr vertrauenerweckend.
Bücher.
Man kann gar nicht vorsichtig genug sein bei Büchern, sie verraten so viel! Der komplette Brockhaus mit Goldrandprägung war immer ein konservatives Statement und sehr beeindruckend. Sachbücher über die heimische Flora und Fauna, ein Pilzbestimmungsbuch, ein Bildband über das Jägerhandwerk und der-gleichen vermittelten Bodenständigkeit und Tradition. Ein Schiller, zwei Goethe.
Kein Hesse, kein Lenz, kein Böll, überhaupt keinerlei Belletristik, so war es am Einfachsten. Zwei Bücher über – Gott sei Dank! – Aquaristik, die hatte er Dr. von Kastelroth noch aus dem Kreuz leiern können.
Ob er damit aber durchkommen würde?
Lothar hatte sich schnell und intensiv in die Unterlagen eingearbeitet. Er hatte es einfach drauf. Man konnte zwar kaum behaupten, er hätte ein eidetisches Gedächtnis, aber er verfügte schlicht über ein gutes Merkvermögen.
Die Vitas waren nach dem ersten Durchlesen weitgehend abrufbar.
Dieses Mal sollte es keine Einzugsparty geben, diesmal nicht. Es war immer so leicht gewesen, auf diese Weise alle gleich live kennenzulernen, aber dieses Mal wollte er sich zurückhaltend von hinten heranpirschen und dann zuschlagen. Altes Gesetz der Savanne: Von der Herde abschneiden und separat fertigmachen. Meist rieten wurde die Seminarleiter von dieser Methode ab, weil so viel psychologische Zusammenhänge zwischen den Mietern verloren gingen. Aber nein, dieses Mal wollte er es sich nicht zu leicht machen, und die Herrschaften einzeln vornehmen, nicht im Rudel.
Wo sollte er anfangen? Er ging kurz die Biographien durch. Seine Wohnung befand sich im Erdgeschoss, also erschien es ihm am naheliegendsten, sich bei den Mietern auf seiner Etage zuerst bekannt zu machen.
Die Wohnung links von seiner: Frau Gertrude Braun.78 Jahre alt, Wohnung 1 c, Erdgeschoß, Witwe, gelernte Krankenschwester zu einer Zeit, als man sie noch Karbolmäuschen nannte. Beinahe 45 Jahre verheiratet, ihr deutlich älterer Mann starb vor wenigen Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Laut Rentenbescheid und Kontoauszügen bezog sie eine wirklich kleine Rente; abzüglich der Miete und Nebenkosten blieben ihr gerade einmal 264,56 € im Monat zum Leben. Trotzdem gab es einen Dauerauftrag zugunsten des hiesigen Tierheimes in Höhe von monatlich 5 €, und sie besaß einen bösartigen Pudel, mit dem die Kollegen beim Observieren bereits schmerzhaft Bekanntschaft gemacht hatten.
Warum tun Menschen so etwas? fragte sich Lothar.
Kaum etwas zu beißen im Kühlschrank und dann für irgendwelche Scheißtölen eine Dose Chappi finanzieren? Wenn er eines weniger leiden konnte als Kinder, waren das Hunde. Oder Fische. Frau Braun ernährte sich vorwiegend von Kartoffeln, Nudeln und Tütensuppen. Ihre Kassenbons erzählten eine traurige, vitaminarme Geschichte.
Eine Deutsche Rentnerin. Das hatte doch Potential!
Lothars Wohnung direkt gegenüber, 1 a, behauste Philipp Ogobagwe, der Afrikaner. Den würde er bei der Kennenlernklingeltour komplett auslassen. Vorerst. Die Reihenfolge, die Reihenfolge war so entscheidend!
Lothar schellte bei Frau Braun und das erste, was er hörte, war das giftige Gebelle eines Hundes. Er musste eine Ewigkeit warten, bis die alte Dame die 5000 Trippelschritte zur Wohnungstür geschafft hatte. Sie öffnete zögerlich die Tür einen Spalt und hielt mit einem thrombosestrumpfbewährten Schienbein eine orangefarbene Töle zurück. Sie schrie routiniert gegen das schrille Gekläff des Köters an, der verzweifelt versuchte, durch den Türspalt hindurch ein Stück von Lothars Hose zu erwischen.
„Was ist denn? Putzi aus!“
„Frau Braun?“ Er wies mit einem Daumen andeutungsweise auf ihr Klingelschild, damit die alte, senile Schachtel gleich wusste, woher er ihren Namen kannte.
„Frau Braun, ich bin ihr neuer- “ Frau Braun winkte ab, und drehte sich weg.
„Putzi! Aus!“
Putzi schien das jedoch überhaupt nicht zu interessieren. Lothar konnte das böse Klappen der Hundekiefer hören.
„Ich muss erst den Hund wegsperren!“ schrie sie ihn an.
Die Tür schloss sich wieder und Lothar musste warten. Dann versuchte er es erneut. Oma Braun eins, die Zweite.
„Ich bin ihr neuer Nachbar und wollte mich mal kurz vorstellen! Mein Name ist Jens Uwe Schmidt!
Ich bin Vertreter für Aquaristik.“
„Was ist das denn?“
Sie starrte ihn über den Rand ihrer Lesebrille fragend an.
„Ich verkaufe Aquarien, diese Glasdinger, in denen Fische leben.“
Er sprach unwillkürlich lauter, alte Leute hören ja immer schlecht.
„Ich weiß, was ein Aquarium ist, ich bin ja nicht blöd! Und Sie brauchen mich nicht anzuschreien!
Sind Sie der Nachmieter von Frau Vossenkuhl?“
Lothar war kurzfristig aus dem Ruder, von einer Vormieterin namens Vossenkuhl hatte nichts im Dossier gestanden.
„Vossenkuhl? So hieß die Dame? Ich habe sie nie kennengelernt. Ich wollte mich nur kurz vorstellen.
Man sollte schon wissen, wer neben einem wohnt, oder?“ Dazu rollte er mit den Augen in die Richtung der Wohnungstür des Mannes aus Ghana.
Fritz Lang wäre beeindruckt gewesen.
Frau Braun eher nicht.
„Ach, wir sind hier schon eine ganz nette Gemeinschaft im Haus.“
Noch, dachte Lothar.
„Und das finde ich auch richtig, richtig toll. Ich wollte Ihnen nur anbieten – wenn Sie Hilfe brauchen, eine Glühbirne wechseln, oder so – wenden Sie sich vertrauensvoll an mich.“
Frau Braun blieb stur.
„Dafür gibt es einen Hausmeisterservice.“
Lothar blieb dran. „Oder einkaufen?“
„Das macht der Phil schon!“
„Oder den Müll herunter -?“
„Das macht auch der Phil.“
Jetzt war er verwirrt. „Wer ist denn der Phil?“
„Na, der Herr Oko, Ogo, na, der Phil halt. Er hilft mir und ich mache dafür seine Wäsche.“
Lothar war überrascht, ein schwarzer Mann war der Betreuer einer alten Dame. Hier würde es einiges zu tun geben.
„Na, das ist ja toll! Man muss eben zusammenhalten in dieser unseren Zeit, gell, Frau Braun?“
„Was denn für eine Zeit?“
„Na, diese!“
Frau Braun schien ein harter Knochen zu sein. Ethnische Solidarität gepaart mit weicher Birne. Aber auch Knochen kommen in die Suppe.
Nach dieser ersten, schwierigen Annäherung verzichtete Lothar Kotzmann erst einmal darauf, Familie Brockstedt zu kontaktieren.
Ob nun aus persönlichen Gründen oder beruflichen – kurzum: Lothar hatte sich nur oberflächlich und widerwillig mit dem Herrn Ogobagwe beschäftigt. Das Dossier hatte er zwar gelesen, aber nicht gern. Warum, konnte er nicht so genau sagen. Fakt war, dass die Schulungen, die sich in erster Linie mit den verschiedenen Rassen beschäftigt hatten, bestätigten, dass die Afrikaner in fast allen Statistiken ziemlich schlecht abschnitten. Laut Seminarleiter verübten invasive Schwarzafrikaner in Deutschland Unmengen an Drogendelikten und verdienten ihren Lebensunterhalt meist mit noch ganz anderen, zwielichtigen Praktiken. Diese Menschen verdarben unsere hoffnungsvolle Jugend mit Haschisch und Amphetaminen; eine Sache, die Lothar besonders am Herzen lag, obwohl er, gelinde ausgedrückt, mit Kindern nichts anfangen konnte. Und ausgerechnet dieser schwarze Mann hatte sich – bis jetzt – nichts zu Schulden kommen lassen. Aber das war nur Tarnung. So hatte es Lothar gelernt.
Dieser höchst verdächtige Mensch hauste laut Akte in der Wohnung direkt gegenüber von Lothars Bude, Nr. 1 a. Philipp Ogobagwe. 1985 in Deutschland geboren, Eltern aus Ghana. 2004 Abi auf einer Abendschule, 2005 Studium der Architektur, mit etwas Hapern und Zagen 2016 Architekt. Er jobbte aber seit gut vier Jahren in einer Gartenbaufirma, weil er keine Anstellung in einem Büro finden konnte. Lothar schwante, dass der Mann aus Ghana in einem Gewächshaus der besagten Gartenbaufirma heimlich Cannabis zog. Das war zwar eine reine Schuld vermutung, die Zahlen sagten jedoch eine Wahrscheinlichkeit von gut 85 % voraus. Nicht verheiratet, keine zumindest nachweisbaren Kinder, zur Zeit unklare Beischlafgewohnheiten mit verschiedenen, deutschen Frauen. Also doch! Es gab eine Reihe von Fotos, die die Abteilung Recherche geschossen hatte. Herr O-gobag-we auf der Arbeit, Herr Ogobagwe beim Einkaufen, usw. Absolut unauffällig, es gab nichts, was man ihm hätte ankreiden können.
Auf der Arbeit war er sehr beliebt. Der Chef der Gartenbaufirma hatte sich auf dem Fragebogen einer fingierten Umfrage nur positiv über Herrn Ogo-was-auch-immer geäußert. Der Afrikaner war in einem Schützenverein – sehr verdächtig! -, in einem Kegelclub, den er jeden Donnerstag besuchte, und er war Vegetarier. Er hatte also Zugang zu Schusswaffen und aß kein Fleisch. Lothar hatte gelernt, dass das alles nur ein mieser Trick war. Sich einfach in die deutsche Kultur hineineinschleichen, mit Deutschen gemeinsam ein Bier trinken und auf Kumpel machen.
„Je integrierter, Kotzmann, desto gefährlicher“, hatte der Doktor gesagt. Vielleicht sollte man mal einen Agenten in die Gartenbaufirma schicken, in der der feine Herr Ogobagwe sein täglich Hirsebrei verdiente. Aber wie Lothar auf seine Anregung hin erfahren hatte, war schon einiges in die Wege geleitet. Außerdem arbeiteten die Kollegen und Kolleginnen im Ministerium daran, dass man die Einwanderungsgesetze verschärfen solle. Schwierige Arbeit in Brüssel. Jetzt war jedoch jetzt, das Ziel in weiter Ferne, kein Mensch wusste, wie lange so etwas noch dauern konnte.
„Im Moment ist es eher so, dass man viele von denen ins Land holt, Kotzmann. Klare Sache:
Man will uns zersetzen. Aber es kommen auch noch andere Zeiten. Die Zeichen stehen auf Sturm!“
Die Jungs von der Abteilung Recherche waren in Lothars Augen ein Haufen fauler Säcke, die sich selten mehr Arbeit machten, als unbedingt nötig. Das sollte er, ganz entgegen der Dienstanweisung, wohl einmal selbst in die Hand nehmen. Abgesehen davon mochte er es auch, sich so - heimlich, heimlich - in das Leben subversiver Elemente hineinzuarbeiten. Im Industrie-Gebiet war wochentags immer viel los, Lothar würde gar nicht auffallen. Eine gute Kamera mit Teleobjektiv gehörte nicht zur Standardausrüstung, die musste extra beantragt werden.
„Hören Sie mal, unsere Mittel sind begrenzt, Krieg ist außerordentlich teuer. Mit anderen Worten: Wir müssen sparen! Wenn es also nicht absolut unerlässlich ist, bleiben wir mal bescheiden.“
„Aber Herr Doktor, ich werde auch ein paar Observationen machen müssen. Die lieben Kollegen sind doch auch überfordert. Ich will ihnen nur ein wenig Arbeit abnehmen!“
Seine reale Meinung über die Kollegen behielt Lothar wohlwissentlich für sich. Schlechtreden hasste der Doktor wie die Pest, selbst und gerade, wenn es stimmen sollte. Aber Lothar hatte sich durchsetzen können. Auf dem Großparkplatz fiel er in seinem Durchschnittsauto kaum auf. Direkt neben der Gartenbaufirma befand sich ein Gebrauchtwagenhandel, von dem aus Lothar das Gelände gut einsehen konnte. Nach dem er den wenig eifrigen Verkäufer unter dem Vorwand, sich nur mal umsehen zu wollen, abgewimmelt hatte, schlich er zwischen den Autos herum. Es war kurz vor fünf und der Afrikaner und seine Kollegen mussten gleich in die Firma zurückkehren. Und so war es auch. Zwei Kleintransporter fuhren pünktlich auf den Hof.
Lothar machte ein paar Fotos, die ein halbes Dutzend Männer zeigten, die sichtlich erschöpft, aber lachend über den Hof ging. Der Afrikaner schlug einem Arbeitskollegen herzhaft auf die Schulter. Sie lachten.
Lothar hatte einen säuerlichen Geschmack auf der Zunge. Er schoss noch ein paar Bilder, dann fuhr er wieder zurück in seine Wohnung.
Jürgen und Franka Brockstedt Jürgen Brockstedt platzierte eine Schale hochkalorischer Kartoffelchips in die enorme Delle seines Bauchnabels.
Seine Frau Franka brachte zwei Flaschen Bier aus der Küche und setzte sich zu ihrem Mann auf das Sofa. Es bog sich ein wenig durch. Der Fernseher lief.
„Was guckst du?“
Ihr Mann winkte ab und stopfte sich in etwa den sechs-hundertfachen Tagesbedarf der wissenschaftlich empfohlenen Menge Natriumchlorid in sich hinein.
„Wieder mal so eine neue Show! Ein halbes Dutzend C-Promis macht für Kohle irgendeinen Scheiß! Promis! Ich kenne nicht mal zwei von denen!“
„Dann schalte doch um.“
„Da läuft der blöde Lichter rum und bringt seine uralten Sprüche. Überall läuft Scheiße.
Brot und Spiele, okay, aber bei den Spielen müssen sie wohl noch nacharbeiten. Mann, wenn ich meinen Job so machen würde, wie die da, wären wir schon längst im Armenhaus!“
Seine Frau war da pragmatisch.
„Solange das mit dem Brot noch läuft, geht´s doch.“
Sie griff herzhaft in die Schale mit den Chips.
„Wie war dein Tag?“
Jürgen rührte sich nicht, lediglich sein umfangreicher Bauch erzeugte beim Atmen einen Tiedehub wie die Nordsee. Die Chipsschale wanderte auf und ab.
„Wie immer.“
Sie schwiegen eine Weile und starrten auf die Mattscheibe. Ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden, fragte Franka:
„Was sagst denn du zum neuen Mieter?“
„Hab ich noch nicht gesehen.“
„Frau Braun sagt, das wäre eine komische Type, irgendwie hat er versucht, sich bei ihr einzuschleimen.“
„Wie einschleimen?“
Franka verstellte ihre Stimme.
„Ach, wenn Sie Hilfe brauchen, bei mir klingeln, einfach nur bei mir klingeln!“
„Vielleicht ist er ja bloß nett? Was macht der denn beruflich?“
Franka schlug ihrem Mann auf die fleischige Schulter.
„Du bist einfach zu gut für diese Welt. Er verkauft Aquarien und wohl die Fische dazu, das hat er wenigstens Frau Braun erzählt.“
„Ich halte eben nichts von Vorurteilen, ich warte immer erst einmal ab. Und ob der wirklich Vertreter für Goldfische ist, lässt sich ja leicht herausbekommen.“
„Er hat schlecht über Phil gesprochen, irgendwie.“
„Irgendwie, irgendwie! Ich hab´ da so meine Zweifel an Frau Brauns Urteilsvermögen.“
„Wieso das denn?“
„Sie wird doch auch von Jahr zu Jahr komischer.“
Franka setzte sich auf und es kam ihr unvermeidlicher Zeigefinger zum Einsatz.
„Nein nein, die Braun hat ein gutes Urteilsvermögen, da lass ich nichts drauf kommen! Denk an die blöde Vossenkuhl! Da hatte sie auch so was von recht!“
Jürgen Brockstedt schwieg dazu.
Er musste seiner Frau zustimmen. Und es war ja auch noch einmal gut gegangen mit der Vossenkuhl, wenn es auch hart gewesen war, schon wegen der beiden Kinder.
Lothar war über das Fräulein gestolpert. Wer benutzte denn heute noch dieses Wort? Er las in der Vita noch einmal nach. Doch, tatsächlich stand da Fräulein. Ingelore Reiher, Wohnung 2 B. Pensionierte Musiklehrerin, 62 Jahre alt. 35 Jahre hatte sie am hiesigen Bernstorff-Gymnasium Musik unterrichtet. Sie bewohnte die Wohnung neben Jörn Hansen. Lothar schaute noch einmal nach. Nein, tatsächlich nur Musik, keine Geographie, keine Mathematik.
Studiert hatte sie Klavier und Violine in einer renommierten Privatschule. Fräulein Reiher war die jüngste Professorin für Musik im Jahre 1983. Sie war nie verheiratet, keine Kinder. Ah, deshalb vielleicht das Fräulein? Die ewige Jungfrau! Ein Leben für die Musik. Was für ein Klischee! Die beiliegenden Fotos bestätigten sein Vorurteil: Sie zeigten eine winzig kleine, spindeldürre Frau in ungünstigen, dunkelgrünen Strumpfhosen in Kombination mit einem rotkarierten Faltenrock und einer gelben Regenjacke, landläufig bekannt als Friesennerz. Das Ensemble wurde von einem pinken Regenschirm vervollständigt. Sie klammerte sich an ein fast antikes Klappfahrrad. Kein Gefühl für Farben.
Wenn man länger auf das Bild starrte, würde man sicherlich blind werden. Lothar stellte sich eine überqualifizierte Künstlerin vor, die mit der Realität haderte.
Die Dame war sogar vorbestraft, Lothar lag das gesamte Dokument vor. Fräulein Reiher hatte vor vier Jahren einen Polizisten mit eben diesem Klapprad über den Haufen gefahren, und soll ihn anschließend beschimpft und mit ihrem Regenschirm vermöbelt haben. Lothar sah sich die Bilder des Opfers an. Keine Frage, die Dame hatte ganze Arbeit geleistet: Der Herr Polizist hatte große Hämatome im Gesicht, der Unterkiefer war gebrochen und das Jochbein. Zudem gab es schwere Prellungen in Intimbereich, was Lothars küchenpsychologische Theorie der ewigen Jungfrau bestätigte. Penisneid. Zu den Bildern bekam Lothar unwillkürlich Bilder in seinen Kopf. Die prügelnde Musiklehrerin. Mit Lehrern hatte er so seine Probleme. Nach seiner Erfahrung ein komisches, exzentrisches Volk.
Schwierig in der Handhabung, kompliziert im Umgang. Und die Kombination Frau, Akademikerin, Musikerin und Lehrerin war nicht zu unterschätzen. Aber Lothar mochte Herausforderungen. Über diese komplexe Person musste er sich ein oder zwei Gedanken machen, bevor er Kontakt aufnahm.
Eine Lehrerin, ach, Gott!
Als er in ziemlich jungen Jahren in einer eindeutig verwirrten Phase seines Lebens Zivi in einer Klinik war, die sich mit einem Puff und einer weißen Wolke verflüchtigt hatte, gab es unter den Krankenpflegern und Schwestern sogar ein Spiel: Berufe raten. Wenn ein Patient seinen eigenen Nachttopf dabeihatte, laufend klingelte und sich ständig beschwerte, dann war es ein Lehrer. Lothar kam nie dahinter. Am Abi konnte es kaum liegen, da kannte er andere, die dieses Klischee nicht erfüllten. Wie dem auch sei – Lothar war leider völlig unmusikalisch. Blockflöte, ja, in der Grundschule, auch im Kirchenchor, aber nur, weil seine Eltern ihn dazu gedrängt hatten und er in der Masse der anderen Stimmen nicht weiter auffiel. Damals war man froh, wenn sich überhaupt ein neues Mitglied meldete. Singen musste er nicht können. Aber okay, es musste ja sein. Wenn er jetzt so darüber nachdachte – er hatte kein Klavierspiel im Treppenhaus gehört, das war ungewöhnlich, wie er fand. Normalerweise klimperten diese Menschen rücksichtslos von morgens bis abends das Treppenhaus voll.
Hier war davon nichts zu hören. Lothar hätte im Nachhinein nicht behaupten können, zufällig auf Fräulein Reiher gestoßen zu sein. Er hatte vielmehr das Gefühl, ihm wäre aufgelauert worden. Er schloss gerade seine Wohnungstür ab, als er einen Stoß im Rücken fühlte.
„Sie da!“
Lothar drehte sich um und wurde akut von der Spitze eines Regenschirmes bedroht.
„Ich, äh…“
„Ich kenne Sie nicht, was tun Sie hier?“
Fräulein Reiher stand mit verzerrtem Gesicht vor ihm. Wie schön doch lächelnde Gesichter waren! Sie war leicht als das Fräulein Reiher zu identifizieren, sie trug heute ebenfalls eine Farbkombination, die einen blind werden ließ.
Lothar versuchte es mit der alten Nummer. Er streckte seinem Gegenüber die geöffnete Hand hin.
„Schmidt, Jens Uwe Schmidt! Ich bin der neue Mieter!“
Die Hand wurde ihm mit dem Regenschirm harsch weggeschlagen.
„Das kann ja jeder sagen! Können Sie sich ausweisen?“
Lothar war verwirrt.
„Ich habe meinen Ausweis in der Innentasche.“
„Dann ziehen Sie ihn ganz langsam heraus.“
Lothar tat wie ihm geheißen. Die alte Schrulle hat wohl zu viel CSI konsumiert, dachte er. Er reichte ihr den Ausweis, den die Dame aufmerksam studierte. Sie verglich das Foto im Dokument ausführlich mit dem Manne, der ihr gegenüberstand.
„Da haben Sie ja noch einmal Glück gehabt!“
Lothar fragte sich, was geschehen wäre, hätte er kein Glück gehabt. Er hatte ja gesehen, was mit dem Polizisten geschehen war.
„Und Sie sind?“
„Das geht Sie gar nichts an!“
Der Regenschirm senkte sich und Lothar entspannte seinen Körper wieder.
Mürrisch zog die alte Frau ab.
Was war das denn? Lothar war ein wenig überfordert. So ein Benehmen hatte er von einer alten Dame, noch dazu einer studierten Musikerin, kaum erwartet. Seltsam ja, verschroben und schrullig auch. Er hätte der Vita Glauben schenken sollen. Aber Misstrauen fiel in das Ressort, das Lothar ja bearbeitete. Es ging lediglich darum, dieses natürlich vorkommende Mineral zu fördern, zu verhütten und in die richtige Form zu gießen. Na, das wäre ja gelacht! Um Misstrauen zu säen – oder zu fördern – musste man erst einmal Vertrauen aufbauen, so unlogisch dies auch klingt. Dafür sollte man sich über die Interessen des jeweils Angepeilten genau informieren. Darauf konnte man aufbauen. Aber wie sollte das bei einer promovierten Musikerin möglich sein?
Hier war er wieder aufs Geratewohl angewiesen. Aber Lothar mochte die Improvisation.
Lothar Kotzmann war nicht zufrieden. Frau Braun hatte anders reagiert, als es geplant gewesen war. Es war jedoch noch zu früh für eine Prognose, vielleicht war aber auch nur der letzte Job einfach zu viel für ihn gewesen. Bei dem Herrn aus Ghana - Lothar vermied nach einer vehementen Dienstanweisung das N-Wort sogar im Geiste - wollte er sich zurückhalten, und sich nach Möglichkeit einen persönlichen Kontakt ersparen. Wie hatte Dr. von Kastelroth gerade vor kurzem erst gesagt?
„Mein lieber Kotzmann, machen Sie sich nichts vor: Rassismus funktioniert in beide Richtungen. Kaum zu glauben, was? Wir wissen zwar noch nicht, wie das gehen soll, aber glauben sie mir – es ist so! Und solange die Abteilung Neo-Ethik da noch nicht weiter ist, gilt ganz klar:
Beidseitiger Rassismus. Und auf keinen Fall das N-Wort!“
Er war gerade auf dem Weg zu seinem Auto, als er das kleine, nervige Mädchen traf, das er im Flur getroffen hatte. Sie war Lothar durchaus bekannt:
Annalena Giesela Büttel, 5 Jahre alt, Kita in der Willem-straße. Sie hatte einen Bruder, Jonas Bernhard, 8 Jahre alt, Bettina-Wegner-Grundschule, zweite Klasse. Was für blöde Namen, dachte Lothar, aber die Großeltern hatten ja unbedingt ihre Vornamen mit einbauen wollen.
Ihre Mutter, Shania Büttel, Wohnung 2 a, 25 Jahre alt, geschieden und halbtags Kassiererin bei ALDI. Die Soze steuerte einen kleinen Teil zu ihrem Lebensunterhalt bei, aber selbst der knickrige Lothar Kotzmann empfand diese Summe als absolut beleidigend. Die Väter der Kinder, die so unberechenbar und selten Alimente zahlten wie ein Platzregen in der Sahara niederging, waren beide groß, bärtig und Sportler. Die Fotografien der Herren, die ihm vorlagen, zeigten den einen in den Bergen in markigen Schuhen und mit Zinksalbe auf der Nase, den anderen in einer Art Wüste, und es entstand der Eindruck, dass die Herren die jeweilige Landschaft beide mit eherner Wade einsam durchschritten hatten. Das sprach Bände.
Die Dame stand also auf die ganz Harten.
Lothar lagen die Dokumente vor und so rechnete er aus, dass Shania bei der Zeugung des Sohnes gerade einmal 16 Jahre alt gewesen war.
So eine also!
Eigentlich hatte er bei Shania klingeln wollen, schon um zu sehen, ob sie ihre Bude in Schuss hatte oder eben nicht, aber das Leben ließ ihn mittags zu seinem Auto gehen und sie vor dem gläsernen Eingangsbereich antreffen, wie sie versuchte, mit diversen Plastiktüten und zwei Kindern links und rechts am Hosenbein, den Haustürschlüssel ins Loch zu stecken. Lothar, ganz alte Schule, erspähte eine Jungfrau in Nöten und öffnete ihr von innen die Tür.
Shania war gehetzt, Lothar nonchalant, herzlich aber förmlich. Zurückhaltend seriös hatte man das in der Schulung genannt. Frauen wollen zuverlässige Männer, die mitten im Leben stehen, Entscheidungen treffen können und keinerlei Schmerzempfinden haben. Männer, die das Nest, dass die Frau baute, auch finanzieren konnten, inclusive Geschirr-spüler und begehbarem Kleiderschrank. Ein Alpha-Tier, so hatte er es gelernt. Und hier stand eines.
„Schmidt, Jens Uwe Schmidt!“
Mit diesen Worten streckte er ihr der technischen Situation kaum angemessen seine maskuline Hand hin, Brust raus, Bauch rein.