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Bobby hat im Vollrausch mit seinem Schwager einen Unfall mit Fahrerflucht begangen. Eine schwangere Frau und ihr ungeborenes Kind kamen dabei zu Tode. Noch Jahre danach trägt er die Schuld wie einen Mühlstein um seinen Hals und verbarrikadiert sich in seiner Wohnung. Dann zieht neben ihm eine neue Nachbarin ein. Isis ist eine lebensfrohe, selbstsichere Frau, die Bobbys Leben in neue Farben taucht. Er lebt wieder auf und alles wird gut. Ganz sicher. Doch, doch.
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Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Ich bedanke mich bei
Meinert, Nicki, Igor, Inken, Conny, Angiebaby, meiner Frau und all den anderen, ohne die das alles gar nicht möglich gewesen wäre.
Lektorat: Kerstin Ingwersen
Covergestaltung: The Incredible Lusmore
Contact: ralftfranzen.de
Schuld
Windjacken
Frau Doktor
Testikel
Isis
Auch nur ein Mann
Der Schrank
Druck
Protokoll
Abbruch!!!
Frauendings
Biedermeier
Abbruch.
Kommunikation
Freunde
Zeit
Sex
Arsch
Raus
Abendessen
Liebe
Zugfahren
Lauf
Weiber!
Absolution
Fremdgehen
Angst
Kontrolle
Besuch
Immer und Nie
Elternabend
Haare
Fische und Bernstein
Die Bullen
Am Boden
Weg
Unterbrechungen
Warnung
Jetzt
Zuerst wurde es dunkel und dann schlagartig hell.
Und Bobby bot sich folgendes Bild: Ungefähr ein Dutzend Hühnerpaare machten auf der Tanzfläche alles außer reinstecken.
Woher kannte Bobby diesen Satz? Er kam nicht drauf, aber ziemlich genau das spielte sich gerade vor seinen Augen ab. Der schmalzgelockte DJ mit den langen Koteletten hatte eine langsame Nummer angekündigt und durchgezogen, und das, was Bobby jetzt beobachten konnte, war das Resultat. Wie war er nur auf diese Schnapsidee gekommen? Schnaps passte, und er war gar nicht auf diese blöde Idee gekommen, sondern Arne.
Bobby lehnte an der Bar und tickte mit einem Fingernagel nervös gegen das Bierglas. Alle Frauen trugen Glitzer und enge Miniröcke und stellten ihre Fleischauslagen mehr oder weniger deutlich zur Schau; die Herren der Schöpfung waren meist in Karottenjeans und bunten Hemden gewandet, Fragmente der späten Achtziger. Nicht ein einziger Rollkragenpullover!
Arne drückte seinen kleinen, wuchtigen Körper durch den Paillettendschungel; natürlich nicht, ohne sich immer wieder um zu drehen.
„Ist doch toll hier!“ schrie er gegen einen ABBASong an.
„Jede Menge Weiber! Und fast alle im gleichen Kompostzustand wie du! Resteficken! Ich gebe zu – mich findste erst in so nem Laden, wenn ich nur noch Schuhe mit Klettverschluss trage, aber immerhin!“
Das sollte wohl witzig sein, Bobby verzog nur den ohnehin schiefen Mund. Arne war nicht zu bremsen.
„Mann, Alter, du musst doch mal raus! Wie lange willst du denn noch in deiner eigenen Pelle versauern! Du kannst der Scheiße nicht ewig nachhängen, es muss auch mal Schluss sein!“
Die Scheiße.
Bobby nannte es anders, aber die Scheiße ginge natürlich auch. Die Gegenwart von Frauen war jetzt gerade so ziemlich das Letzte, was er brauchte, aber Arne, der gute, laute, launige Arne hatte gemeint, er müsse Bobby heilen, mit einer Art Schocktherapie. Für Arne gestaltete sich das ganz einfach: So wie man jemanden, der an einer Schlangenphobie leidet, gaaaanz einfach mal 24 Stunden in einen Käfig mit 200 Klapperschlangen einsperrt.
„Konfrontation, Alter, Konfrontation! Das ist das Zauberwort! Annika und ich haben lange darüber gesprochen. Sie hat ´ne Freundin aus einem Selbsthilfekurs für - hab´ ich vergessen – Dings, und die sagt, nur eine Schocktherapie ist wirksam!
Du stellst dich deinem Problem, und wenn du, sinnbildlich natürlich, inmitten der Schlangen hockst, setzt sich deine Psyche automatisch, auto-ma-tisch damit auseinander! Zack!“
Was für eine Idee! Und Bobby sollte jetzt auf den Rat einer guten Freundin seiner Schwester hören, nur, weil sie diese aus ihrer Menstruationsgruppe kannte? Was für eine überzeugende Referenz!
Bobby hatte gequält mit dem Kopf geschüttelt.
„Irgendwas hast du nicht verstanden. Frauen sind doch nicht mein Problem! Das Problem ist, dass ich, also damals…“
Er konnte es einfach nicht aussprechen.
Die Worte, die er sagen wollte, weigerten sich, von seinem Mund geformt zu werden. Sie waren so belanglos und wurden der Situation nicht gerecht. Aber laberrhabarber hatte Bobby dann doch zugesagt, damit Arne endlich Ruhe gäbe und das Maul hielte. Und seine Schwester. Er hatte sich in den letzten Jahren genug angehört, und das müsse man auch irgendwie mal würdigen, so sein Gedanke. Bobby verdächtigte Arne außerdem, dass er nicht ganz uneigennützig ausgerechnet diese Therapie und diese Location ausgewählt und schließlich durchgesetzt hatte. Außerdem konnte sich Arne zusätzlich die vage Zusage der Gattin erarbeiten, dass es vielleicht nicht bei einem Disco-Besuch bleiben würde, ja, „Du weißt doch, Bobby ist wie ein trockener Keks gewissermaßen!“
und unter Umständen die Möglichkeit bestand, dass Bobby mehr als eine Quasi-Sitzung brauchen würde. Mit dem Keksvergleich hatte er Annika eiskalt erwischt. Und so kam er mal ganz offiziell und sogar mit vehementer Zustimmung seiner Frau in diesen zweifelhaften Genuss. Jetzt saßen sie hier mit den anderen bunten Hemden an der Theke, tranken viel zu teure Getränke und begutachteten seltsame Geschöpfe im Paarungsritus. Bobby hatte erst im letzten Augenblick erfahren, dass es sich um eine ÜFünfzig-Party handelte.
„Lass uns los! Das bringt doch nichts!“
Aber Arne hatte tapfer dafür gekämpft, so einfach würde er die Arena nicht verlassen.
„Du musst doch erst einmal hinschauen! Tolle Frauen! Und endlich mal was, wofür du fast zu jung bist!“
„Du hast einfach kein Wort verstanden, kein Wort!“
Bobby spannte seinen Körper, löste sich vom Tresen und suchte den Weg nach draußen. Er stellte sich weit weg von den anderen Rauchern und zündete sich eine Zigarette an. Arne blieb dicht hinter ihm.
„Du kannst das nicht hier so einfach platzen lassen, wir machen uns so langsam Sorgen um dich!“
„Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen, ich komme schon klar.“
„Du kommst gar nicht klar! Du kommst seit fast vier Jahren nicht klar!“
„Vier Jahre, vier Monate und zwölf Tage.“
Arne wies mit dem Zeigefinger auf Bobby´s Brust.
„Das, genau das meine ich! Wer zählt denn schon so die Zeit?! Du hast alle Termine bei deinem Psychodoc abgesagt, alle!“
Bobby wand sich.
„Ihr habt einfach die Problematik nicht verstanden, es geht nicht um Frauen! Ich kann nur ihren Anblick nicht mehr ertragen, ich kann einer Frau nicht mehr ins Gesicht sehen. Ich hab das Leben verraten!“
Bobby vergrub sein Gesicht in den Händen und machte komische Geräusche. Einige Raucher glotzen schon. Arne verscheuchte sie.
„Hier weint ein Mann, na und? Auch ein Mann kann weinen! Verpisst euch!“
Ach, Arne!
„Ich will nach Hause.“
Aber Arne hatte einen Plan, der nicht so edel war, wie einst vorgegeben.
„Okay, pass auf, wir machen das jetzt so: Ich bring dich nach Hause und mach mich nochmal auf die Piste. Und ruf Annika nicht an!“ Er dachte einen Augenblick nach, „Ja, und geh auch nicht ans Telefon, wenn sie anruft, okay?“
Damit war Bobby raus. Arne rannte zurück in den Glitzerschuppen, um seine Jacke von der Garderobe zu holen. Bobby blieb wartend zurück.
Die gemeine Windjacke ist leicht zu identifizieren: Sie sieht einfach grauenvoll aus. Nicht so, dass alles Grauenvolle, das man sieht, immer eine Windjacke wäre, aber doch vielleicht. Dieses Überbleibsel einer verwirrenden Phase der siebziger Jahre tritt in seinem unvergleichlichen Polyamid-Charme fast nur in den Farbkombinationen beige/ grau oder grau/beige auf. Am leichtesten ist die Windjacke jedoch über den jeweiligen Träger zu identifizieren:
Der sich für sportlich haltende Mittfünfziger bis ins hohe Alter.
Arne war mit fünfunddreißig Jahren eigentlich zu jung für dieses Kleidungsstück und besaß zwei Exemplare: eines in grau/beige und ein zweites in beige/grau. Er sah damit irgendwie billig aus. Für den Rest seiner knapp 1 qm schweren Statur erschien er eigentlich wie ein modisch halbwegs gefühlvoller Charakter, der wegen seiner des Genusses geschuldeten Gewichtszunahme lediglich ein paar Kompromisse eingehen musste. Aber er liebte diese Jacken, die er in unregelmäßigen Abständen vor der Altkleiderwut seiner Frau versteckte. Immer dann, wenn ein Flyer zu diesem Thema in der Schlüsselschale im Flur lag, versteckte Arne eine dieser Jacken in einer Plastiktüte unter dem Reserverad im Kofferraum seines Autos. Und seit Annika ihre Hilfsbereitschaft grundsätzlich als neue Lebensaufgabe entdeckt hatte, wurde es zu Arnes Aufgabe, die Jacken zu retten.
Und in einer dieser Jacken stand Arne vor Bobbys Wohnungstür und klopfte das abgemachte Zeichen.
Trotzdem öffnete Bobby die Tür nur einen Spalt und hatte die Sicherheitskette vorgelegt.
„Iesche brrringe Piezza!“ tönte Arne.
Bobby schloss die Tür, hakte hörbar die Kette aus und öffnete sie erst nach einer beunruhigend langen Minute wieder. Arne lief ihm hinterher in die dunkle Wohnung.
„Mensch, Alter, lass hier doch mal eine Runde Licht rein!“
Mit diesen Worten riss Arne die Vorhänge zweier Fenster auf. Bobby wandte sich ab und schützte seine Augen mit den Handflächen.
„Ich will das so!“
„Du spinnst!“ Arne sah sich um. „Ich war ja länger nicht hier drin, aber ich muss sagen, seitdem hat sich hier überhaupt nichts verändert. Nee, stimmt nicht, es liegen viel mehr Spinnenleichen auf der Fensterbank. Das ist hier so tot wie Elvis!“
Er wies auf die kahlen Wände.
„Ich wette, bei dir überlebt nicht mal ein Kaktus. Hast du was zu trinken da?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, dackelte er in die Küche. Im Kühlschrank fand Arne eine einsame Dose Bier, die er von ihrem Leid erlöste. Er öffnete eine Schublade.
„Alter, ich hab´ so was noch nie gesehen! Alle Messer und Gabeln in einer Reihe? Nebeneinander? Meinst du das ernst?“
Er schaute in einem Hängeschrank nach. Wie einzelne, auf Abruf wartende Soldaten standen Whiskygläser, Wassergläser und Weiß-der-Kuckuck- Gläser stumm in einer exakten Reihe, als hätten sie gerade noch miteinander getuschelt.
„Bring die Untersetzer mit!“ rief Bobby aus dem Wohnzimmer.
„Und wie du aussiehst! Ne Dusche und eine Rasur wären vielleicht mal angebracht. Ich sage es nicht gern, aber du stinkst etwas säuerlich, es piekst schon in den Augen. Aber zum Punkt: Wir müssen reden.“
Bobby hob die Arme und ließ sie kraftlos auf seine Schenkel fallen.
„Was willst du von mir? Lasst mich doch einfach in Ruhe.“
Aber Arne hatte einen Auftrag.
„Das sehen meine Frau und deine Schwester leider völlig anders, mein lieber Schwager! Und du weißt, wie sie ist.“
„Wo sind die Untersetzer?“
Arne wedelte mit den Armen.
„Genau, genau das meine ich! Wer bitte braucht einen Untersetzer für ´ne Dose Bier?“
„Das ist ein Glastisch.“
„Und deine Küchenschublade! Wer macht sowas?“
„Ich bin eben ein ordentlicher Mensch.“
„Nein, mein Lieber, das ist eindeutig zu viel. Und damit bin ich genau beim Punkt. Deine Schwester will, dass du mal endlich diesen Therapeuten besuchst und dein Leben in beide Hände nimmst.“
Bobby öffnete versuchsweise den Mund, Arne fiel ihm punktgenau ins Wort.
„Und sag jetzt nicht, ich will das so, lasst mich, und den ganzen Scheiß! Damit kann ich nicht nach Hause kommen, du kennst deine Schwester!“
Ja, Bobby kannte seine Schwester.
Sie hatte ihn überraschend lange in Ruhe gelassen.
„Zeit, so etwas braucht Zeit.“ hatte sie damals gesagt. Jetzt war die Zeit offenbar abgelaufen.
„Das bringt doch nichts! Ich war schon einmal bei diesem komischen Psychologen. Bei ihm hatte ich das Gefühl, der kompensiert seine eigenen Probleme durch mich!“
Arne verstand nicht. Aber das war jetzt auch für ihn nicht relevant. Er fuchtelte mit einer Hand in der Luft herum.
„Olle Kamellen. Deine Schwester hat mir eine Adresse mitgegeben, eine ganz frische Praxis, die sollen richtig gut sein.“
Bobby fragte sich, woran man einen guten Psychologen erkennt. An den Heilungsraten?
Hoffentlich!
Er kaute auf etwas herum. Zögerlich bildete Bobby die passenden Worte.
„Was ich dich schon immer fragen wollte: Wie kommst du damit klar? Ich hab dich das nie gefragt, die ganzen Jahre nicht.“
Arne stutzte, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Es gibt Dinge, über die sollte man einfach schweigen. Außerdem: Was soll sein? Was bringt das? Wir waren damals beide sturzbesoffen, und die Frau war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“
Er setzte nach.
„Und - auch, wenn du das nicht gerne hörst: Ich bin ja nicht gefahren.“
Er ließ eine kurze Pause entstehen, und das Gift wirkte bei Bobby sofort. Dann folgte so eine Art Gegengift.
„Ich sehe das als Kismet. Klar, wir hätten nie und nimmer ins Auto steigen sollen, aber ich war genau so betrunken wie du. Und zum Glück erinnere ich mich einfach nicht an den ganzen Scheiß. Ich weiß nur noch, wie wir aus der Kneipe sind und zack – wach ich im Krankenhaus wieder auf. Der totale Filmriss. Retrograde Amnesie nennt das mein Hausarzt. Aber okay, ist vielleicht auch gut so, ich kann nichts weiter dazu sagen. Und ich denke auch nicht darüber nach.“
Er beugte sich nach vorn.
„Bobby, mein Junge, es gibt nichts zu tun. Katrin ist tot und begraben. Tragisch? Ja! Unvermeidbar?
Unbedingt! Sonst wäre es ja nicht passiert! Aber es ist eben passiert.“
Bobby wunderte sich, dass Arne ihren Namen behalten hatte. Er selbst hatte ihn immer gemieden, sogar in seinen Gedanken war es immer „die junge Frau“. Nicht Katrin, nicht Katrin Behrends.
„Bobby, überleg doch mal: Klar war das blöd, mit so viel intus noch Auto zu fahren, keine Frage! Deswegen ist das ja auch verboten!“
Er grinste unpassend dazu.
„Aber das ist es doch! Wie konnte ich das tun? Ich hab doch sonst nicht gesoffen? Und schon gar nicht so!“
Arne seufzte. Der Beschwichtiger, exakt seine Rolle.
„Du hattest eine schwere Zeit damals! Sag mal, erinnerst du dich nicht, wie ich dich gefunden habe?
In Embryonalstellung auf dem Fußboden, eingeschlossen im Bad! Tanja, die blöde Kuh! Und nein, ich sag jetzt nicht, ich hab es dir gleich gesagt.
Fakt ist: ich hab es dir gleich gesagt!“
Bobby schwieg. Auch das bereits gehört, tausend, dreitausend Mal? Eine abgelutschte Schelllackplatte mit durchgenudelter Nadel, die laufend aus der Rille springt.
„Also …“ Arne wollte los. „Fassen wir mal zusammen:
Was darf ich deiner Schwester berichten?“
Bobby wollte nicht, aber es war ihm auch klar, dass das nie aufhören würde, er musste wohl einmal etwas guten Willen zeigen. Und Annika hatte sich sehr zurückgehalten. Das schien jetzt vorbei zu sein.
Und als ob das nicht genug sei, haute Arne noch einen raus.
„Und Jürgen und Ute haben sich beschwert. Du könntest dich auch mal wieder bei ihnen melden.“
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Bobby kam aus dem Sessel hoch.
„Die? Wo waren sie denn, als ich sie gebraucht hätte? Wo waren sie denn, als ihr Mördersohn im Knast war?“
Arne spürte, hier war Ende, er wollte es nicht auf die Spitze treiben. Ein Teilerfolg, immerhin.
„Schalt runter, mein Junge! Ich bin doch nur der Überbringer und hier ist nicht Marathon! Ganz nebenbei – für deinen PC brauche ich noch ein bisschen, ich muss eine neue Festplatte einbauen, da werden wohl ein paar Daten flöten gehen. Deine Kiste ist so alt wie Äsops Tante, die läuft doch noch mit Holzzahnrädern! Willst du nicht mal was Neues?“
Aber Bobby hörte nicht mehr zu, er überlegte, was von Arne übrigbleiben würde, wenn man ihm die ganzen blöden Sprüche nehmen würde.
Wohl nichts, außer der Windjacke.
Eine Stunde vor diesem grauenhaften Termin lungerte Bobby unten auf der Straße herum.
Er versuchte , an einer schmuddeligen Imbissbude einen Kaffee zu kaufen, aber das war restlos schiefgelaufen. Er schaffte es nicht, die Schwelle zur Gesäßtasche seiner Hose zu überschreiten, er blieb jedes Mal, jedes Mal am Knopf hängen wie Flüchtlinge an der nordkoreanischen Grenze. Weiter kam er nicht, jedes Mal zog er seine Hand wieder zurück. So rauchte er sich ersatzweise innerhalb dieser einen Stunde einen röhrenden Husten an.
Bobby hatte gar nichts erwartet.
In seinem Tran stand er einfach irgendwann vor der glatten Tür der Praxis, eine Tafel verkündete „Dr. Renee van der Buur“. Bobby drückte auf die Klingel und wartete Ewigkeiten auf den Summer, der ihn dann erbarmungslos erlöste. Völlig in seiner Welt gefangen, gab es kaum Platz für Erwartungen, aber ein Fünkchen Hoffnung war geblieben, dass eine psychologische Praxis irgendwie wärmer, irgendwie kuschliger eingerichtet sein müsste, als die eines Proktologen. Ein Zimmer voller Stofftiere vielleicht, eine matratzengefütterte Zelle oder ein Bällebad, irgendetwas, irgendetwas, in das Verzweifelte ihr von Tränen überströmtes Gesicht abtauchen und hineinschluchzen konnten. Davon war hier nichts zu sehen: Hätte ein mondäner Innenarchitekt mit Andy-Warhol-Perücke das Elefantenhaus von Hagenbeck dekoriert, sähe es sicherlich genauso aus. Alles war in Weiß und Pastelltönen gehalten, gelackte, klinisch wirkende Oberflächen, deckenhoch gekachelt. Hier zersäbelte man eher Fleisch und Knochen, keine Seelen.
Bobby hatte sich als einzigen Wunsch an das Universum eine verständnisvolle, reife Dame mit mütterlichen Brüsten am Tresen erhofft, aber er wurde enttäuscht. Was sonst, dachte er, heute. Die Dame am Empfang war eine hübsche, junge Frau, die Arne sicherlich gerne gevögelt hätte. Bobby stellte sich vor, wie ihn diese Frau dem Herrn Psychologen kaugummikauend mit „Der Irre mit dem Autounfall ist da!“ ankündigte. Frau Sommer, wie ihr Namensschild verriet, konnte Bobbys Zweifel auch nicht mit überraschend ruhiger Professionalität zerstreuen. Dafür kam sie gut viereinhalb Jahre zu spät. Er ließ ihr keine Chance.
„Termin!“ murmelte er zwischen den Lippen hervor und schob ein Rezept und seine Karte über den Marmor.
„Ah, Herr Sörensen, wenn sie einen Augenblick Platz nehmen wollen. Wenn Sie bitte noch diesen Fragebogen ausfüllen würden?“
Mit diesen Worten komplimentierte sie ihn in den Wartebereich und ihre entschuldigenden Augenbrauen schafften es kaum, Bobby herauszureißen. Bobby setzte sich in das offensichtliche Wartezimmer und starrte lustlos auf die Zettel und den Kugelschreiber auf seinen Knien.
Name, Vorname, Geburtsdatum. Stand das nicht alles auf dieser Gesundheitskarte? Bobby schrieb nur seinen Vornamen in den Bogen.
„Nehmen sie Medikamente? Wenn ja, welche?“ kreuzte er auch nicht an und schrieb auch nichts dazu. Er könnte ja jetzt noch gehen, dachte er, kein Problem. Der Flur war leer, er schien der einzige Patient zu sein. Am Tresen vorbei, er könnte sich ducken, und dann zur Eingangstür. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen.
„Wenn Sie mir bitte folgen wollen!“
Er schlurfte der jungen Dame hinterher, diese öffnete eine Tür, sie sagte „Herr Sörensen“ und verpflichtete Bobby mit einer gepflegten Hand hinein. In der Manteltasche tickte er zweimal hintereinander gegen sein Feuerzeug.
„Nehmen Sie doch Platz, Herr Sörensen.“
Okay, Dr. Renee van der Buur war eine Frau. Renee, ja, klar. Bobby behielt seinen Mantel an und setzte sich auf ein Designerstück. Frau Doktor war landläufig attraktiv und strahlte eine Art Gurkenfrische aus.
„Schön, dass Sie da sind!“
Sie strahlte ihn unverbindlich an. Sie lüpfte ihren Hintern kurz aus dem Schreibtischsessel und langte herüber, um ihm die Hand zu schütteln. Wiederwillig willigte Bobby in dieses Ritual ein. Frau Doktor warf einen belanglosen Blick auf den kaum ausgefüllten Zettel, der zusammen mit Bobby den Raum betreten hatte.
„Wie geht es Ihnen, Herr Sörensen? Oder darf ich Robert sagen?“