Das Erbe der Inselvilla | Ein geheimnisvoller Roman an der Küste Schottlands - Sarah Maine - E-Book

Das Erbe der Inselvilla | Ein geheimnisvoller Roman an der Küste Schottlands E-Book

Sarah Maine

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Beschreibung

Ein Geheimnis. Zwei Frauen. Und ein Herrenhaus, das nicht vergessen will.
Ein bewegendes Familiengeheimnis auf den schottischen Inseln

Als Harriet Deveraux ihr Erbe auf den schottischen Hebriden antreten möchte, steht ihr Plan fest: Aus dem alten Herrenhaus will sie ein Luxushotel errichten. Doch bei ihrem Eintreffen kommt es anders als erwartet: das alte Herrenhaus gleicht einer Ruine. Zudem wird unter den morsch gewordenen Dielen ein menschliches Skelett gefunden, daneben ein Medaillon mit einer Haarlocke und einer einzelnen Feder. Die Spuren führen Harriet hundert Jahre zurück – zu einer verbotenen Liebe, einem lange gehüteten Verrat und einem Geheimnis, das nie ans Licht kommen sollte. Je näher sie der Wahrheit kommt, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen damals und heute … und mit jedem Schritt in die Vergangenheit scheint sie ein Stück ihres Halts in der Gegenwart.

Erste Leser:innenstimmen
„Wer nach einem spannenden Familiengeheimnis-Roman sucht, ist hier genau richtig!“
„Die Autorin versteht es einen Ort lebendig wirken zu lassen. Die schottischen Hebrideninseln waren nahezu greifbar.“
„Eine historische Geschichte über Geheimnisse und Intrigen und starken Charakteren – einfach super!“
„Fesselnd, berührend und spannend – so stelle ich mir einen Roman mit Familiengeheimnis und starken Frauen vor.“

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses E-Book

Als Harriet Deveraux ihr Erbe auf den schottischen Hebriden antreten möchte, steht ihr Plan fest: Aus dem alten Herrenhaus will sie ein Luxushotel errichten. Doch bei ihrem Eintreffen kommt es anders als erwartet: das alte Herrenhaus gleicht einer Ruine. Zudem wird unter den morsch gewordenen Dielen ein menschliches Skelett gefunden, daneben ein Medaillon mit einer Haarlocke und einer einzelnen Feder. Die Spuren führen Harriet hundert Jahre zurück – zu einer verbotenen Liebe, einem lange gehüteten Verrat und einem Geheimnis, das nie ans Licht kommen sollte. Je näher sie der Wahrheit kommt, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen damals und heute … und mit jedem Schritt in die Vergangenheit scheint sie ein Stück ihres Halts in der Gegenwart.

Impressum

Erstausgabe 2018 Überarbeitete Neuausgabe Oktober 2025

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-69090-227-4

Copyright © 2018, Hodder & Stoughton Titel des englischen Originals: The House Between Tides

Copyright © 2016, Goldmann Verlag Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2016 bei Goldmann Verlag erschienenen Titels Die gestohlenen Stunden (ISBN: 978-3-64116-604-5).

Covergestaltung: Nadine Jindal (nk_Coverdesign) unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: © phenphayom, © top images Midjourney

E-Book-Version 14.08.2025, 13:40:10.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Für Richard

Prolog

1945

Die Frau, eine dunkle Silhouette vor grauen Mauern, schaute kurz von der alten Auffahrt aus hinauf zu den mit Brettern vernagelten Fenstern, bevor sie dem Haus den Rücken zukehrte und zu dem Feuer am Strand hinunterging. Menschen bewegten sich in den rauchgeschwängerten Schatten, kleine Gruppen, die nach der spannenden Versteigerung noch staunend verharrten. Als sie sich ihnen näherte, eine hagere Fremde im schwarzen Mantel, wichen sie raunend zurück.

Piuthar Blake!

Sie trat zu den Flammen.

Bho Lunnainn …

Der Wind wirbelte Funken auf, denen die Frau mit dem Blick folgte, bis sie sich über dem trockenen Sand verloren.

Blakes Schwester. Aus London.

Dinge aus dem Haus landeten krachend auf dem Scheiterhaufen – eine kaputte Vitrine aus dem Arbeitszimmer, eine wurmstichige Staffelei. Einen Augenblick lang drückten sie die Flammen nieder, dann umzüngelten diese die Opfergabe und verschlangen sie – und mit ihnen die Zeugen eines Lebens.

Es war eine bizarre Szene gewesen, als man die mottenzerfressenen Vögel und die anderen ausgestopften Tiere herausgebracht hatte und die Flammen den Glasaugen einen vorwurfsvollen Ausdruck verliehen. Ein Hotelbesitzer hatte den ausgestopften Hirschkopf aus dem Treppenhaus erstanden, die wertvolleren Stücke waren nach Edinburgh gebracht worden, während eine ramponierte Lumme schon für ein paar Pennys zu haben war. Der verstaubte, verblichene Rest war ins Feuer gewandert. Die Frau hatte das Ganze beobachtet und sich lediglich abgewendet, als man den einst so geliebten schwarz-weißen Eistaucher aus dem Esszimmer ebenfalls heraustrug. Man hatte ihn, von Mäusen angenagt, zusammen mit einigen in Sackleinwand eingewickelten Gemälden ganz hinten in einem alten Schuhschrank entdeckt, zu spät, als dass er noch unter den Hammer des Auktionators hätte kommen können.

Die Frau hatte die Vernichtung der Bilder verfügt, mit groben Pinselstrichen gemalte Ergüsse eines gequälten Geistes, die sie erschreckten und nur zu deutlich die psychischen Nöte ihres Bruders offenbarten. Nur eines hatte sie behalten, ein Aquarell, an das sie sich gut erinnerte, entstanden in seiner besten künstlerischen Phase. Sie betrachtete es, während die anderen verbrannten. Dann legte sie es beiseite.

Jemand näherte sich ihr. »Das wär’s dann, Mrs Armstrong.«

Donald. Sie nickte lächelnd, und gemeinsam blickten sie in die Flammen, die flackernde Schatten auf ihre Gesichter warfen. »Erinnerst du dich noch an das letzte Feuer, an dem wir miteinander gesessen haben?«, fragte sie wehmütig.

»Der Tag, an dem wir alle zu den Seehundjungen hinausgefahren sind und am Strand Fisch gegrillt haben?« Einen Moment lang leuchtete ihr altes verschmitztes Lächeln in ihrem Gesicht auf. »Ein wunderbarer Tag. Ich denke oft daran.« Eine Möwe zog ihre Kreise, stieß einen Schrei aus und flog über den Machair davon. »Jetzt sind nur noch wir beide übrig.« Die lichterloh brennende Staffelei rutschte auf dem Scheiterhaufen herunter, dass die Funken sprühten. »Ich meinte damals, dieser Tag wäre der Beginn einer neuen Welt, doch es war der Anfang vom Ende …« Und auf den Feldern von Flandern war die Hölle losgebrochen.

Sie sah zu den Booten hinüber, die am Strand lagen, und wandte sich dann noch einmal Donald zu. In dem Mann mittleren Alters erkannte sie den Jungen wieder, mit dem sie als Kind in der heißen Sonne barfuß durch glitzernde Pfützen geplanscht war, ohne dass der Klassenunterschied eine Rolle gespielt hatte. Aber da waren noch andere Kinder gewesen. Ihr Bruder und seiner. Sie schob den Schmerz beiseite und hob den Blick zum leuchtenden Hebridenhimmel. Mittsommerlicht. Wenn die letzten Farben im Westen verschwunden waren, würde ein fahles Licht im Osten auftauchen, das wusste sie. An diesen Gedanken klammerte sie sich, den Rücken entschlossen dem Haus zugekehrt.

Die Männer waren den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, die Fenster mit Brettern zu vernageln, aus dem Haus eine Gruft zu machen. Das Klopfen ihrer Hämmer hallte noch in ihrem Kopf nach, doch sie war froh, dass die Arbeit getan war und sie am Morgen abreisen konnte.

»Was wird damit geschehen, Donald? Wenigstens das Land ist in guten Händen, und das Farmhaus gehört jetzt dir.« Sie winkte ab, als er sich bedanken wollte. »Noch ein paar Unterschriften, dann ist die Sache erledigt.« Die Flammen erschöpften sich; das Feuer hatte schnell gebrannt, angefacht vom Wind, der ungehindert über drei Kilometer offenes Land wehte. »Ich glaube nicht, dass ich je wieder hierherkommen werde.« Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, und ihre Wangen glänzten feucht im Schein des Feuers.

Donald trat einen Schritt näher zu ihr, und sie legte den Kopf wie ein Kind, nicht wie die fast schon alte Frau, die sie nun war, an seine Schulter – den Geruch von Holzrauch in dem Tweedstoff seiner Jacke empfand sie als tröstlich. Da knackte es laut, und ein Funke sprang aus dem Feuer, entzündete das trockene Gras und loderte kurz auf, bevor er verlöschte und einen schwarz verkohlten Fleck hinterließ.

»Ich habe die Geister der Vergangenheit besucht, Donald.« Er drückte sie wortlos an sich. »Gott sei Dank hast du den armen Theo gefunden und nach Hause gebracht.«

Die Schaulustigen entfernten sich über den Strand oder den Machair zu ihren Häusern.

»Lass die Geister ruhen, Emily.« Er nahm ihren Arm. »Und komm jetzt mit zu uns.«

Sie verließen die ersterbende Glut, ein Leuchtfeuer in der hereinbrechenden Dunkelheit, und gingen den ausgetretenen Pfad entlang, der die beiden Häuser verband. Die Frau blieb nur ein einziges Mal stehen, um sich zu Bhalla House umzudrehen, das düster vor dem westlichen Abendhimmel aufragte. Er ließ ihr ein paar Sekunden Zeit, bevor er sie weiterschob, auf den freundlich hellen Schimmer des Verwalterhauses zu.

Eins

2010

Den ersten hatte er noch für einen Schafsknochen gehalten, weil er inmitten von Kaninchenkötel und Schutt schon auf andere Gerippe gestoßen war. Doch der nächste war ziemlich lang, und er hielt ihn eine Weile nachdenklich in der Hand, bevor er sich abrupt aufrichtete. Das war kein Schaf. Neugierig geworden, begann er im Boden zu scharren, unter dem sich weitere fleckige Knochen mit Stofffetzen daran verbargen. Er versuchte, das verrottete Brett, das die sterblichen Überreste bedeckte, zu entfernen, doch es ließ sich nicht bewegen. Erschrocken richtete er sich auf, als ihm klar wurde, dass es sich um eine alte festgenagelte Bodendiele handelte, und darunter lag ein Skelett. Er schob mit trockenem Mund vorsichtig die Erde beiseite, bis er auf einen hellen Schädel stieß. Das Skelett ruhte, den Kopf auf einen Stein im Fundament des Hauses gestützt, auf der Seite, das Kinn auf der Brust. Am Schädel befand sich eine mit Sand gefüllte rissige Delle.

Die Gedanken des Mannes überschlugen sich, als er Mörtelreste von dem halb unter der Erde liegenden Kiefer entfernte, eine Bohrassel von den entblößten Zähnen wegschnippte und mit zitternder Hand mehr von der zertrümmerten Schläfe und der dunklen Augenhöhle freilegte. Er richtete sich, die Kelle achtlos in der Hand, auf und betrachtete sein Werk. Flügelschlag riss ihn aus seinen Gedanken. Er duckte sich unwillkürlich, als eine Taube aus ihrem Nistplatz in einer Nische flatterte.

Der Mann sah auf die Uhr, rückte sie an seinem Handgelenk zurecht. Er hatte die Zeit vergessen. Die Flut kam bereits seit über einer Stunde herein, starker Wind kündigte einen Sturm an. Er schüttete das Skelett rasch wieder zu, ergriff seine Jacke und hastete zum Land Rover.

Der menschenleere Strand wurde schnell schmaler, als der zerbeulte Wagen, eine Fontäne hochspritzend, durchs seichte Wasser brauste. Hatte er zu lange gewartet? Er fuhr in hohem Tempo um die Felsnase, die sich auf halbem Weg zwischen Bhalla Island und der Hauptinsel befand, und folgte den schwindenden Spuren seiner Hinfahrt am Nachmittag. Herabstürzende Seeschwalben begleiteten die hereinkommende Flut, die den Sand zwischen den Landspitzen hinter ihm überspülte. Im Rückspiegel betrachtete er das große graue Haus, dessen Konturen sich auf dem Hügel abzeichneten, und schloss die Hände fester ums Lenkrad.

Gütiger Himmel, ein Skelett!

Auf seiner rasanten Fahrt über den feuchten Sand entdeckte er eine Gestalt in einem langen dunklen Mantel, die von einer Landzunge aus zum Haus hinüberblickte. Eine Frau? Er sah genauer hin. Eine Fremde. Der Land Rover holperte in die letzte tiefe Furche, und der Mann gab Gas, um wieder herauszukommen. Als er festen Boden unter den Reifen spürte, stieß er einen Seufzer der Erleichterung aus, lenkte den Wagen nach rechts, wischte sich die feuchten Handflächen an der abgetragenen Jeans ab und folgte der einspurigen Straße entlang der Bucht, um Ruairidh aufzusuchen.

Zwei

Als sich die Flut am folgenden Morgen über Bhalla Strand zurückzog, stießen Seevögel auf den wellig aufgeworfenen Sand hernieder, in dem die Sonne die seichten Tümpel in Silber tauchte.

Hetty war früh aufgestanden und folgte nun dem sich zurückziehenden Wasser. Sie blieb kurz stehen, um einen Blick über die menschenleere Weite zu werfen, bevor sie weiterging. Anfangs hatte sie noch den Reifenspuren folgen können, aber hier hatte die Flut sie bereits fortgespült. Doch Bhalla House war ohnehin deutlich zu sehen. Wahrscheinlich konnte sie nun bei Ebbe gefahrlos direkt zu dem Haus hinübergehen.

Als sie sich der Insel näherte, stieß sie wieder auf Reifenspuren, aus denen hinter dem Strand ein Weg wurde, dem sie auf dem Grasstreifen zwischen den tiefen Furchen der Räder folgte. Die Luft war nach dem Sturm der letzten Nacht frisch, Vogelgezwitscher war zu hören. Sie horchte. Feldlerchen! Wann hatte sie das letzte Mal Feldlerchen gehört? Jetzt lag das Haus vor ihr. Der Pfad hatte sie zu zwei verfallenen Torpfosten geführt, zwischen denen sie stehen blieb, um das Gebäude zu betrachten. Es war riesig! Bedeutend massiger, als sie es sich vorgestellt hatte, irgendetwas zwischen einem zu groß geratenen ländlichen Pfarrhaus und einem kleinen feudalen Anwesen.

Weiter unten entdeckte sie ein altes Farmhaus, ein weitläufiges zweistöckiges Steingebäude, das eher ihren Erwartungen entsprach. Bhalla House blickte auf sie herab. Es war umgeben von einer niedrigen Mauer, die einen Vorgarten begrenzte; die oberen Steine bildeten ein Zinnenmuster. Aus der Mauer herausgebrochene Steine lagen im hohen Gras verstreut, ein uraltes Seitentor rostete zwischen Nesseln vor sich hin. Der Wind trug den süßen Duft aufgeblühter wilder Rosen heran, die über einem kaputten Spalier wucherten.

Hetty folgte dem Pfad weiter. Die mit Brettern vernagelten Fenster ließen das Gebäude abweisend erscheinen, als stellte es ihr Recht, sich dort aufzuhalten, infrage. Unwillkürlich reckte sie das Kinn vor und ging entschlossenen Schrittes zur Eingangstür, die durch ein stabiles, frisch geöltes Vorhängeschloss gesichert war. Bestimmt hatte Mr Forbes es angebracht. Doch das Schloss hatte Eindringlinge nicht davon abgehalten, die Bretter von einem der Fenster im Erdgeschoss wegzureißen. Zerbrochene Schornsteinköpfe und Dachziegel im Klee sprachen ihre eigene Sprache. Und als Hetty das Schild sah, beschleunigte sich ihr Puls. Privateigentum. Ihr Eigentum.

Plötzlich verspürte sie den Drang hineinzugehen und selbst nachzusehen, in welchem Zustand es war, und zwar gleich, bevor ihre Erregung sich angesichts der gewaltigen Aufgabe, die vor ihr lag, in nackte Angst verwandelte. Ihr Blick fiel auf eine rote Fischkiste in einem Distelgestrüpp und wanderte dann noch einmal zu dem Fenster, von dem die Bretter weggerissen worden waren. Warum nicht? Sie schaute nach links und rechts, ein Städterinstinkt, aber es war niemand da, der sie aufhalten würde. Also stellte sie, bevor sie es sich anders überlegen konnte, die Kiste unter das Fenster, kletterte hinein und landete knirschend auf zerbrochenem Glas und gesplittertem Holz. Wie albern, dachte sie, als sie den Schmutz von ihren Händen wischte: Die Schlüssel lagen bei Mr Forbes, sie musste ihn nur darum bitten. Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, dass diese erste Begegnung mit dem Haus unangekündigt und allein erfolgen musste. So wurde sie zum Eindringling. Sie verharrte, die Finger auf der fleckigen Wand, und lauschte in die Stille. Als ihre Haut lediglich feuchte Kälte registrierte, zog sie die Hand zurück und blickte sich in dem leeren Raum um.

Er war nicht nur leer, sondern verwüstet. Im Zug nach Norden hatte sie sich, das Gesicht gegen das Fenster gepresst, einzureden versucht, dass diese Reise einen Neuanfang markieren würde. Aber sie war auch eine Flucht …

Während der Fahrt durch die dicht besiedelten Midlands und den industriellen Norden hatten sie Zweifel überkommen. Was tat sie da? Sie hatte keine Ahnung von Restaurierungsprojekten oder der Führung eines Hotels. Wäre es nicht besser, das Gemäuer zu verkaufen und das Geld zu investieren, um reisen zu können?

Doch als der Zug die schottischen Borders passiert hatte, war sie beim Anblick der Landschaft optimistischer geworden. Sie hatte sich aufrecht hingesetzt, den Thriller aus dem Buchladen in der Euston Station weggelegt und dem ungewohnten Tonfall des Schaffners gelauscht, der sein Wägelchen mit Erfrischungen durch den schwankenden Zug schob, während sie an Bergen und Meer vorbei Richtung Norden ratterten.

Nach einer Nacht in Fort William hatte sie die letzten etwa einhundertsechzig Kilometer mit dem Mietwagen zurückgelegt, die Brücke nach Skye überquert und die Fähre zu den fernen Inseln genommen. Bei der Ankunft hatten sich die meisten Wagen von der Fähre in Richtung Ort gewandt, doch ihr sagte man, dass sie geradeaus weiterfahren solle, weg von dem kleinen Fischerort. Schon bald hatte sich die Straße in einen schmalen Asphaltstreifen voller Schlaglöcher verwandelt, der sich durch ein trostloses Torfmoor wand, in dem neben kleinen grauen Tümpeln und Bächen dachlose Ruinen aufragten. Und schließlich hatte sie von einem Hügel aus einen Küstenstreifen und eine grünere, fruchtbarere Landschaft mit kleinen, durch Zäune und Gräben strukturierten Feldern sowie Rinder und Schafe entdeckt. Worauf sie ein Glücksgefühl durchströmte.

Das Cottage, das sie für eine Woche gemietet hatte, befand sich in etwa eineinhalb Kilometer Entfernung. Sie hatte den Wagen dort abgestellt und war auf eine Landzunge hinausgeschlendert, von wo aus sie eine große Fläche trockenen Sandes betrachtete. Bhalla Strand … Dahinter lag die Insel, am Rand der Welt. Und dort hatte sie das Haus selbst gesehen, dessen Silhouette sich vor den Schattierungen des westlichen Himmels abhob. Der einsame Rückzugsort des Malers. Windböen, die ihr ins Gesicht bliesen, hatten den Schrei einer Möwe fortgetragen. Der Anblick hatte sie für die fast tausend Kilometer lange Anreise in den vergangenen beiden Tagen entschädigt. Doch das Geräusch eines Motors hatte diesen wunderbaren Moment zerstört. Ein Land Rover war auf sie zugebraust, so schnell, dass der Sand unter den Reifen aufspritzte. Er war durch eine tiefe Furche geholpert, den Strand heraufgekommen und auf die Straße eingebogen und verschwunden. Am Ende hatte er tiefe Stille zurückgelassen, die nur durch den Schrei der Möwe und das Rauschen des Windes durchbrochen wurde. All das war am Abend zuvor gewesen. In der Dämmerung hatte Bhalla House etwas Mystisches gehabt, doch nun, im härteren Licht des Morgens, verflüchtigte sich dieser Eindruck.

Sie machte vorsichtig einen Schritt vorwärts, sah hinauf zu der eingestürzten Decke und den mit grünen Flecken übersäten feuchten Wänden, unter deren abgeblättertem Putz verrottende Latten zum Vorschein kamen. O Gott, worauf hatte sie sich da eingelassen? Der beißende Geruch von Schafskot stieg ihr in die Nase, als sie sich in den Flur vortastete. Dabei fiel ihr Blick auf rostende Leitungen an der Wand, die einst wohl zu längst nicht mehr existierenden Klingeln gehört hatten. Die breiten Stufen, die sich früher einmal elegant zu einem von einem Oberlicht aus Glas erhellten Treppenabsatz emporgeschwungen hatten, waren nun den Elementen ausgesetzt. Geborstene Dachbalken ragten wie die verschobenen Spanten eines havarierten Schiffs durch ein ausgefranstes Loch. Darüber zogen Wolken vorbei. Gütiger Himmel! Kaputte Stufen und schiefe Geländer luden nicht dazu ein, den ersten Stock zu erkunden. Man hatte sie gewarnt, rief sie sich in Erinnerung, als sie einen Blick in dunkle Räume warf, die vom Flur abgingen und in denen die Fenster mit Brettern vernagelt waren. Der Anwalt, der den Nachlass ihrer Großmutter regelte, hatte ihr erklärt, dass das Haus viele Jahre lang leergestanden habe und renoviert werden müsse. Mit einer Ruine hatte sie allerdings nicht gerechnet. Sie war ratlos. Als sie mit trockenem Mund in den ersten Raum zurückkehrte, kämpfte sie gegen Verzweiflung und wachsende Panik an. Egal, ob es ihr gefiel oder nicht: Für all das war nun sie verantwortlich. Sie musste mit Ruairidh Forbes reden.

Gerade wollte sie, ein Knie auf dem Fensterbrett, hinausklettern, als erneut Motorengeräusch an ihr Ohr drang, und sie sah denselben Land Rover, der am Abend zuvor vor der Flut davongebraust war, aufs Haus zukommen. Vermutlich ein Farmer, der nach seinen Herden schauen wollte. Sie wich zurück, um nicht bemerkt zu werden. Gab es noch einen anderen Weg hinaus? Sie ging in den Flur und entdeckte Licht. Bei genauerer Überprüfung stellte sich heraus, dass es aus einem kleinen Anbau kam. Das Licht fiel durch ein Loch im Dach auf eine Schubkarre, einen Spaten und den vor noch nicht allzu langer Zeit aufgegrabenen Boden, den Planken und Bretter bedeckten.

Plötzlich hörte sie Hämmern. Sie lauschte. Es schien von draußen zu kommen. Und doch ganz aus der Nähe. Sie merkte, dass der Flur hinter ihr dunkel war. Das Fenster … Sie stolperte durch den Eingangsbereich zurück, rief etwas und schlug mit den Fäusten gegen die Bretter, die ihr nun den Weg hinaus versperrten.

Das Hämmern verstummte, sie hörte einen Fluch und wie die Nägel wieder herausgezogen wurden. Kurz darauf stand sie einem Mann mit dunklen Haaren und wütendem Blick gegenüber.

»Herrgott noch mal, können Sie nicht lesen?« Er lehnte die Bretter gegen die Wand, schob die Fischkiste mit dem Fuß zurück unters Fenster und bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung, das Haus zu verlassen. »Raus.« Dann trat er einen Schritt zurück und bot ihr keine Hilfe an, als sie mit dem falschen Bein zuerst über den Sims kletterte.

»Moment. Ich bin nicht widerrechtlich hier eingedrungen. Ich …« Ihre Jeans verfing sich an einem herausstehenden Nagel und riss. »Es hat alles seine Richtigkeit …«

Aber der Mann hörte ihr gar nicht zu, und sobald ihre Füße den Boden berührten, kickte er die Fischkiste in die Disteln und nahm die Bretter wieder in die Hand. »Da drinnen gibt’s sowieso nichts mehr zu klauen.«

»Klauen? Das ist das Haus meiner Großmutter oder war es zumindest …« Nun gehörte es ihr. Warum fiel es ihr so schwer, das zu sagen?

Der Mann, der schon wieder zu hämmern begonnen hatte, hielt inne, sah sie mit gerunzelter Stirn über die Schulter hinweg an und ließ den Hammer sinken. Sein gebräuntes Gesicht zeugte davon, dass er viel Zeit draußen verbrachte, und unter seiner alten Wolljacke erahnte sie kräftige Muskeln. Er musterte sie eindringlich.

»Sind Sie Ruairidh Forbes?«, fragte sie schließlich und verfluchte sich dafür, dass sie sich selbst in diese lächerliche Situation gebracht hatte. Was für ein Einstand!

»Nein«, antwortete der Mann. »Warum sind Sie durchs Fenster geklettert? Haben Sie keinen Schlüssel?«

»Noch nicht. Er hat ihn, ich meine Mr Forbes …« Sie vergrub die Nägel in den Handflächen. Bestimmt hielt der Mann sie für dumm. »Ich wollte gerade bei ihm vorbeischauen.«

Da wanderte sein Blick hinüber zum Strand, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Nicht nötig«, sagte er.

Als sie sich umdrehte, sah sie einen uralten Saab herannahen. Der Fahrer stoppte den Wagen unterhalb des Hauses, weil ihm der ausgefahrene Weg für sein tiefliegendes Vehikel offenbar zu riskant erschien, schlug die Tür des Autos zu und kam auf sie zu, gefolgt von einem schwarz-weißen Collie.

»Du kommst wie gerufen«, begrüßte ihn der dunkelhaarige Mann und lehnte sich mit belustigtem Blick gegen den Land Rover. »Morgen, Ruairidh. Darf ich dir die neue Herrin von Bhalla House vorstellen? Ich hab sie grade rausgeworfen.«

Hetty spürte, wie sie rot wurde, aber der Neuankömmling trat mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Harriet Deveraux? Ich hatte keine Ahnung, dass Sie kommen«, erklärte er.

»Hetty«, erwiderte sie und ergriff seine Hand.

»Hatten Sie noch mal geschrieben?« Er war um die vierzig, mehrere Jahre älter als der erste Mann, um einige Kilo schwerer und wirkte auf den ersten Blick deutlich freundlicher.

Sie schüttelte den Kopf. »Das war eine spontane Entscheidung.« Motiviert durch den dringenden Wunsch, von London wegzukommen. Und von Giles. »Eigentlich hatte ich bis Juni warten wollen, weil da mehr Zeit gewesen wäre.«

Er hielt ihre Hand einen Moment fest. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich Sie an der Fähre abgeholt. Haben Sie eine Unterkunft?«

»Ja. Gleich da drüben.« Sie deutete in Richtung Cottage.

»Bei Dùghall? So, so …« Er zog die buschigen Augenbrauen zusammen, um einen Blick in Richtung des anderen Mannes zu kaschieren, der Hetty noch immer unverblümt anstarrte.

Nun trat er ebenfalls mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »James Cameron.« Sie nahm seine Hand und erwartete eine Entschuldigung. »Was Sie getan haben, war leichtsinnig«, bemerkte er und wandte sich ab, um sein Werkzeug im Land Rover zu verstauen. »Das Haus ist eine tödliche Falle. Es ist baufällig. Wenn etwas heruntergefallen wäre und Sie unter sich begraben hätte, würden wir jetzt Ihre Leiche aus dem Schutt schaufeln.« Er warf dem anderen Mann einen Blick zu. Dann beschrieb er Ruairidh ihre Begegnung, ohne sich bei ihr für seine Unfreundlichkeit zu entschuldigen.

»Du lieber Himmel! Was für ein Empfang«, rief Ruairidh Forbes aus. Er schien ehrlich bestürzt.

»Du wirst es ihr sagen müssen«, bemerkte James Cameron, schloss die Heckklappe des Land Rover und lehnte sich erneut mit verschränkten Armen dagegen. »Früher oder später.« Dabei ließ er Hetty noch immer nicht aus den Augen. »Ja, das weiß ich«, erklärte Ruairidh unglücklich. Dann erzählte er Hetty von dem Knochenfund.

Hetty sah ihn entsetzt an. »Ein menschliches Skelett? Haben Sie eine Ahnung, von wem?«

»Nein. James hat es gestern gefunden; ich hab’s selber noch nicht gesehen. Ich wollte es mir jetzt anschauen und mich danach mit meinen Kollegen auf dem Festland in Verbindung setzen.«

Hetty nickte. Sie hatte nicht erwartet, einmal die professionellen Dienste ihres Schlüsselwarts, der bei der Polizei arbeitete, in Anspruch nehmen zu müssen. »Vielleicht ein Landstreicher?«, mutmaßte sie, ein Obdachloser, der in dem Haus Unterschlupf gefunden oder sich zu Tode getrunken hatte. Hoffentlich war er nicht darin gefangen gewesen … »Ist etwa das Dach eingestürzt?« Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun, dass man sie wegen Fahrlässigkeit belangen könnte. Sie war erst seit ein paar Monaten Eigentümerin; wie sah die Sache juristisch aus?

»Da die Leiche unter den Bodendielen lag, bezweifle ich das«, erklärte James Cameron. Er lehnte noch immer lässig am Land Rover und betrachtete sie.

Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, was das bedeutete. »Nein!« Sie stützte sich mit einer Hand an der Mauer ab.

»Schlimme Sache«, murmelte Ruairidh und deutete auf den Saab. »Sie können im Wagen warten, während wir uns die Angelegenheit genauer anschauen.«

Doch sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das möchte ich mit eigenen Augen sehen …«

James Cameron holte Schutzhelme aus dem Kofferraum des Land Rover, sperrte den Hund ins Auto und öffnete das schwere Vorhängeschloss an der Tür zum Haus. Dann trat er einen Schritt beiseite, um Hetty hineinzulassen, und ging an ihr vorbei, als sie kurz im Eingangsbereich stehen blieb. Eine Ahnung der vergangenen Pracht überkam sie, als sie den Staub im Sonnenlicht tanzen sah.

Ruairidh Forbes schob sie weiter zu James, dem die dunklen Haare in die Stirn fielen, als er die Plane von dem aufgegrabenen Boden entfernte. »Armer Kerl«, sagte der Polizist und ging neben James in die Hocke. »Empfindliche Stelle, direkt über der Schläfe.«

Hetty trat näher. Niemand hatte ihr erklärt, wie es zu dem Fund gekommen war, und nun schien auch nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, sich danach zu erkundigen.

»Schauen Sie.« James Cameron deutete mit seinem Taschenmesser auf den Schädel und kratzte vorsichtig Erde und Mörtel weg. »Sieht ganz so aus, als hätte man die Leiche in Füllmaterial eingebettet und anschließend die Bodendielen darübergelegt.«

Hetty verschränkte schaudernd die Arme vor der Brust. Lediglich der obere Teil des Skeletts war zu erkennen, fahle Knochen, von oben erhellt, der Kopf auf der Seite, als schliefe der Mensch. Das Ganze wirkte irgendwie surreal. Es war furchtbar. »Hier begraben, und niemand weiß davon …«

»Jemand muss es gewusst haben«, widersprach Ruairidh, richtete sich auf und klopfte den Staub von seinen Händen. »Lass es uns wieder zudecken, Jamie.«

Hetty machte ihnen Platz. Wenig später hörte sie James erstaunt rufen und sah, dass er mit der Messerspitze auf etwas golden Glänzendes im Schutt deutete.

Der Polizist ging wieder neben ihm in die Hocke. »Was ist das?« Als James die Erde wegkratzte, kam ein ovales Medaillon an einer Goldkette zum Vorschein. »Heißt das, dass es eine Frau ist?«, fragte Ruairidh ernst.

Wolken schoben sich vor die Sonne und dämpften das Licht. Hetty hob den Blick. Eine Frau?

»Ein teures Stück.« James Cameron betrachtete das Medaillon genauer und ließ den Daumen über die Buchstaben darauf gleiten. »BJS oder SJB? Keine Ahnung, sie sind ineinander verschlungen. Soll ich’s aufmachen?« Er schaute Ruairidh an, in dem Professionalität und Neugierde miteinander rangen. Am Ende siegte die Neugierde, und James ließ die Schneide des Messers zwischen die Hälften des Medaillons gleiten. Darin befanden sich eine Haarlocke und eine Feder. Sonst nichts. Kein Text, kein Bild, nur eine mit Bindfaden zusammengebundene Haarlocke und die fast zu Staub zerfallene Feder.

Drei

1910

Von einer Landzunge aus sah Beatrice endlich das Haus, das im hellen Licht der Sonne erstrahlte. Schönwetterwolken warfen wandernde Schatten auf den feuchten Sand, doch wenig später tauchte eine dunklere das Gebäude in düsteres Grau. Als Beatrice zum Himmel hinaufschaute, musste sie an Theos Bilder denken, die das außergewöhnliche Licht hier, seine Intensität und Wandelbarkeit, letztlich nur erahnen ließen.

Eine frische Brise trug den säuerlichen Geruch des Seetangs herüber, der sich an der Flutmarke häufte, und erinnerte Beatrice daran, dass das Jahr noch jung und unerforscht war. Ein Vogel kreiste mit spitzen Schreien über ihrem Kopf, während der Wind an ihren Röcken zerrte und die Krempe ihres Huts hochdrückte. Sie brauchte eine Weile, um die Bänder enger zu binden, und als sie den Blick wieder hob, war die Wolke verschwunden und das Haus lag erneut im gleißenden Licht da. Der Sand flirrte leicht von der Wärme und ließ die Küstenlinie verschwimmen.

Sie hörte, wie jemand ihren Namen rief, und sah, dass ihr Mann sie heranwinkte. Er hatte, während sie an den Strand gegangen war, überwacht, wie ihre Koffer auf einen wartenden Karren umgeladen wurden, damit seine Malutensilien sorgsam behandelt wurden. Als sie ihn erreichte, half er ihr auf den Pferdewagen, bevor er sich neben sie setzte, die Zügel ergriff und das Gefährt auf den Sand hinunterlenkte.

»Edinburgh ist wie eine andere Welt«, bemerkte sie, und er nickte lächelnd.

Noch zwei Tage zuvor hatte sie, in Gedanken vertieft und von Theo beobachtet, am Fenster ihres Abteils gesessen, als der Zug Waverley Station und die Stadt verließ. Für einen Weitgereisten wie ihn mochte so eine Fahrt lächerlich sein, aber Beatrice war nur selten aus Edinburgh herausgekommen, und der Anblick des leuchtend gelben Stechginsters und der himmelblauen Glockenblumen hatte sie entzückt. Sie war nicht gefasst gewesen auf die raue Schönheit der Highlands, auf die Bergketten, die sich zu den Buchten mit glitzerndem Wasser hinab erstreckten, welche, je weiter sie mit dem Zug nach Westen kamen, immer breiter wurden und sich schließlich zum Meer öffneten. Auch der kurze Aufenthalt auf der Fähre nach Skye hatte sie nicht auf die Überfahrt zu den Inseln vorbereitet.

»Es kann rau werden«, hatte Theo sie gewarnt, »und wahrscheinlich wird dir übel.«

Doch er hatte sich getäuscht. Sie war die ganze Zeit über auf dem ölverschmierten Deck geblieben, mollig warm in ihrem Reisemantel, unbeeindruckt von den stampfenden und rauchenden Maschinen des Postschiffs, fasziniert von der blaugrauen See und den Inseln.

»Theo, ich hatte ja keine Ahnung …«, hatte sie gemurmelt und ihre Haare festgehalten, die der Wind hochpeitschte.

Er hatte neben ihr gestanden, ein großgewachsener, stattlicher Mann, die Hände um das Geländer, die Haare in der Stirn, und den Tölpeln nachgeblickt, die hinaus aufs Meer flogen; vor ihren Augen hatte er seinen weltmännischen Habitus abgelegt. Aber was dachte er, hatte sie sich gefragt, dieser Mann, mit dem sie seit zwei Monaten verheiratet war? Ganz sicher konnte sie sich da nie sein, denn seine Miene verriet nichts. Ein Lächeln war auf sein Gesicht getreten, und er hatte sich zu ihr herabgebeugt, um sie zu küssen. Während der Wagen das letzte Stück des Weges zurücklegte, hatte sie ihn gemustert. Bisher kannte sie ihn nur als Angehörigen der Edinburgher Gesellschaft, in der er sich seiner Position aufgrund seines Geldes, seines Intellekts und seiner Begabung sicher sein konnte. Doch hier, außerhalb der gewohnten Umgebung, war er plötzlich wieder ein Fremder für sie. Er hatte sich konzentriert und voller Vorfreude auf ihre Reise vorbereitet, dafür gesorgt, dass sie passende Kleidung und festes Schuhwerk einpackte, und innegehalten, um ihr die Funktionsweise seiner neu erworbenen Kamera zu erklären.

»Du wirst doch aber auch malen, oder?«, hatte sie gefragt, und er hatte voller Leidenschaft geantwortet, das hoffe er.

Während der Fahrt und im Umgang mit den Gepäckträgern in den Bahnhöfen hatte er vor Energie und Eifer gesprüht, und die verspätete Abfahrt des Postschiffs hatte ihn ungeduldig gemacht. Doch als sie sich den Inseln näherten, war er plötzlich verstummt, und sie spürte, wie er sich innerlich von ihr distanzierte.

»An Tagen wie diesem ist es hier fast ein bisschen wie in der Ägäis«, sagte er unvermittelt mit fröhlicherer Miene. »Aber warte nur, bis du den Westwind kennenlernst. Dann siehst du die andere Seite.«

Sie hatte den Westwind mit einer Handbewegung abgetan, sich bei ihm untergehakt und sich an ihn geschmiegt, und er schenkte ihr ein Lächeln. Als ihr Ziel in Sichtweite gekommen war, hatte sie wieder seine Erregung gespürt und den Blick auf Bhalla Island, das Ende der Welt, gerichtet. »Jenseits von hier wohnen Drachen!«, hatte er mit leuchtenden Augen ausgerufen. Die Insel sei seine Zuflucht, hatte er gesagt, ein Ort ungezähmter Schönheit mit endlosen weißen Sandstränden, weitem Himmel und Meer, eine sich ständig verändernde Palette von Farben. Dann hatte er sich wieder praktischen Dingen zugewandt. Obwohl das Haus geräumig sei, würden sie nicht in großem Stil leben. »Möglicherweise wird es dir primitiv erscheinen«, hatte er gesagt und ihr erklärt, dass er nicht viel Personal beschäftige, dass sie sich mit den Mädchen begnügen müsse, die er den Sommer über von den Pächtern anheure und die von der Haushälterin Mrs Henderson überwacht würden. »Einen Mr Henderson gibt es übrigens nicht. Den hat es nie gegeben, also frag gar nicht erst nach ihm. Aber eine Tochter.« John Forbes, Theos Verwalter, kümmere sich um Farm und Pächter. »Ein sehr fähiger Mann. Sein Vater ist mit meinem Vater als Verwalter von Dumfries hergekommen, John hingegen ist bereits ganz Bewohner dieser Insel.« Er werde von einem erwachsenen Sohn unterstützt, und eine Tochter mache ihm den Haushalt, da seine Frau Jahre zuvor gestorben sei. Ein weiterer Sohn lebe in Kanada. »Sie führen das Anwesen schon lange.« Plötzlich hatte er die Stirn gerunzelt, und sein Edinburgher Gesicht war zum Vorschein gekommen. »Sie werden sich umstellen müssen – hier hat es keine Herrin des Hauses mehr gegeben, seit meine Stiefmutter von der Insel geflohen ist.«

»Geflohen?«

»Ihr war es hier zu primitiv.« Er hatte den Mund zu einem Lächeln verzogen und sie mit einem zweifelnden Blick angesehen.

»Ich weine Edinburgh nicht nach, Theo. Ich wünsche mir etwas völlig anderes.« Fürchtete er, dass auch sie fliehen würde? Und warum hatte er, nachdem er offenbar als junger Mann durch die neue Heirat seines Vaters von hier vertrieben worden war, seitdem nicht mehr viel Zeit auf der Insel verbracht? Sie spürte seine tiefe Verbundenheit mit diesem Ort, der ihn zu so vielen seiner frühen Werke angeregt hatte. Nun, da sie sich auf halber Höhe des Strands, in Sichtweite des Hauses, befanden, nahm sein Gesicht wieder einen angespannten Ausdruck an. Verwundert wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Gebäude zu, das auf einer Anhöhe hoch über der Umgebung aufragte; seine Proportionen standen in keinem Verhältnis dazu. An der Vorderseite erkannte sie einen kleinen Turm sowie Staffelgiebel und hohe Fenster, die in der Sonne glänzten. Was in aller Welt hatte Theos Vater, einen Leinenfabrikanten, keinen Kleinadligen, dazu bewogen, ein solches Haus errichten zu lassen? Hier, am Ende der Welt …

Und wie fanden es wohl die Bewohner der Insel? Sie musste an die niedrigen, einfachen Unterkünfte denken, an denen sie während der Fahrt vorbeigekommen waren, die sie für Scheunen oder Ställe gehalten hatte. Sie hatte Theo gefragt, wo die Menschen denn wohnten, und seine Antwort hatte sie erstaunt. Daraufhin hatte sie sich die Hütten genauer angesehen und sich dabei vorzustellen versucht, wie das Leben für die zahnlückigen Frauen war, die sich, in Tücher gehüllt oder über Zinnwannen gebeugt, unter niedrigen Dachvorsprüngen bei der Arbeit unterhielten. Manche richteten sich auf, um dem Wagen nachzusehen. Schmutzige Kinder waren auf den Weg herausgerannt, während die Kleineren hinter Torfstapeln hervorlugten; einige hatten ihr Winken erwidert. Sie hatte gerade an die Busse und Automobile in der Edinburgher Princes Street gedacht, als ein kleiner Esel, der unter mit Torf beladenen Körben wankte, zur Seite gerissen wurde, um ihnen Platz zu machen. Ausdruckslose Blicke waren ihr gefolgt.

Nun, da der Wagen den Strand verließ, stand Bhalla House plötzlich ganz klar vor ihnen. Aus der Nähe wirkte es noch abweisender. Trotzdem schwärmte sie, in ihm vereine sich der Charme eines Gebäudes aus einem Roman von Sir Walter Scott mit der romantischen Atmosphäre einer verlassenen Insel.

»Ob du in sechs Monaten noch genauso denken wirst?«, erwiderte Theo, und sie wurde gegen ihn gedrückt, als der Wagen auf den felsigen Teil des Strandes fuhr.

Vor ihnen gabelte sich der Weg; die eine Seite führte zum Haus des Verwalters und den Farmgebäuden ein wenig unterhalb der Anhöhe, die andere wurde zu einer breiteren, von Büschen gesäumten Straße, in denen kleine Vögel zwitscherten. Sie fuhren zwischen zwei Steinsäulen hindurch, neben dem Tor standen Männer in Arbeitskleidung. Das waren bestimmt die Pächter, dachte Beatrice und musterte ihre bärtigen Gesichter. Sie erwiderten ihren Blick und nahmen die Mützen ab, als Theo eine Hand zum Gruß hob und dem mit ihrem Gepäck beladenen Karren folgte.

»John hat alles für deinen Empfang aufgeboten«, erklärte Theo, nickte in Richtung vorderer Eingang, wo sich mehrere Frauen mit vom Wind geblähten Röcken und weißen Schürzen versammelt hatten, und hielt den Wagen an. Da löste sich eine imposante Gestalt in dunkler Tweedkleidung aus den Schatten, gefolgt von einem jüngeren Mann, der Theo die Zügel abnahm.

»Willkommen zu Hause, Mr Blake«, begrüßte der Mann Theo und nickte Beatrice respektvoll zu. »Willkommen, Madam.«

»Schön, dich zu sehen, John.« Theo kletterte vom Wagen herunter, um ihm die Hand zu schütteln. »Was für ein Empfang.« Er deutete auf die Frauen, während er Beatrice herunterhalf. »Beatrice, meine Liebe, das ist Mr Forbes. John, meine Frau.«

Ein freundliches Lächeln trat in die braunen Augen des bärtigen Verwalters, als er ihr die Hand hinstreckte. »Herzlich willkommen, Mrs Blake.« Seine Stimme war tief, sein Händedruck fest.

Der jüngere Mann, der die Zügel hielt, eine schmalere Version des Verwalters, wurde als sein Sohn Donald vorgestellt und murmelte eine undeutliche Begrüßung. Dann ging Theo auf die Haushälterin zu.

Beatrice folgte ihm, den Blick unsicher auf das Haus gerichtet. Würde sie tatsächlich Herrin eines solchen Anwesens sein? Theo Blake, hatte ihre Mutter ihr gesagt, würde Erwartungen an sie haben. Doch er schien ihre Bedenken nicht zu bemerken, als er sie Mrs Henderson, einer Frau mit freundlichem Gesicht, vorstellte und den anderen Frauen zunickte, die in einer Reihe hinter ihr standen. Anschließend wandte er sich erneut dem Verwalter zu, und Beatrice nahm eine Terrasse und ein abgesenktes Rechteck wahr, wo anscheinend versucht worden war, einen Garten anzulegen. In einer geschützten Ecke wurde gerade unter einem Spalier eine grobe Bank aufgestellt. Ein Garten, dachte sie, war gar keine schlechte Idee.

Während die Haushälterin die Bediensteten zur Rückseite des Hauses scheuchte und Theo sich nach wie vor mit dem Verwalter unterhielt, sah Beatrice, dass sich ein schlanker junger Mann in dunkler Hose und weißem Hemd mit weiten Ärmeln, eine braune Jagdhündin neben sich, auf dem Feldweg von den Farmgebäuden dem Haus näherte. Als er die Grenzmauer erreichte, schlüpfte er hastig in seine Jacke, drückte das Tor auf, marschierte hindurch und ließ es hinter sich zuschlagen.

Der Verwalter runzelte die Stirn, und Theo drehte sich um. Als er den jungen Mann sah, verstummte er mitten im Satz und starrte zuerst ihn und dann den Verwalter an. »Aye. Cameron ist wieder da, Sir. Seit ungefähr einer Woche.«

Der junge Mann sprach einen kurzen Befehl aus, worauf die Hündin sich hechelnd auf dem Kies niederließ. Beatrice merkte, dass er sie ganz unverhohlen, beinahe unverschämt, musterte. Theo stand wie versteinert da und sah ihm entgegen.

Schließlich löste der junge Mann den Blick von Beatrice, verneigte sich leicht vor Theo und streckte ihm die Hand hin. »Willkommen zu Hause, Sir.«

Theo ergriff sie zögernd. »Ebenfalls willkommen zu Hause, Cameron.« Er sprach langsam, fast vorsichtig. »Ich wusste nicht …« Theo musterte den jungen Mann eindringlich, ehe er sich Beatrice zuwandte. »Das ist Cameron, der ältere Sohn von Mr Forbes. Offenbar gerade aus Kanada zurückgekehrt.« Der junge Mann verbeugte sich noch einmal leicht. »Und das, Cameron, ist meine Frau.«

Vier

2010

Ruairidh Forbes bot Hetty an, sie zu ihrem Cottage zurückzubringen, wischte hastig den Sand vom Sitz des Saab und warf eine Regenjacke nach hinten, während er sich noch einmal für ihre raue erste Begegnung mit der Insel entschuldigte. »Leider war es ein sehr unfreundlicher Empfang«, sagte er verlegen. »Schock wäre das bessere Wort.«

Was für eine Untertreibung!, dachte Hetty. Gleich am ersten Tag hatte der Tod sie an dem Ort eingeholt, an den sie sich vor ihm hatte flüchten wollen. Und noch dazu ein gewaltsamer Tod, ein Verbrechen. Sie ertappte sich dabei, wie sich ihre Hand um die Türklinke verkrampfte, und sie ließ los, um die Finger zu bewegen, bevor sie sich ein Lächeln abrang. »Für Sie bestimmt auch.«

»Aye. Ich kann’s kaum glauben.«

Vom Wagen aus beobachtete sie, wie James Cameron die Schubkarre den Hang zu den Nebengebäuden hinunterschob.

Ruairidh folgte ihrem Blick. »Das sind die alten Farmgebäude des Anwesens. Sie gehören meinem Großvater«, erklärte er, einen Ellbogen auf das geöffnete Wagenfenster gestützt. »Er ist dort auf die Welt gekommen und wäre wahrscheinlich immer noch da, wenn meine Großmutter kein

Machtwort gesprochen hätte.«

Er lachte, und das fand sie sympathisch. Während der Fahrt erzählte er ihr, dass sich früher an der Stelle von Bhalla House das Haus des Gutsherrn befunden und seine Familie drei Generationen lang das große Gebäude verwaltet habe, bis es nicht mehr bewohnt worden sei. »Ich bestelle nach wie vor das Land und nutze die Nebengebäude«, sagte er. »Deswegen sind die Schlüssel für Bhalla House vermutlich bei mir. Das war immer so.«

Inzwischen hatten sie das gegenüberliegende Ufer und die Straße entlang der Bucht erreicht. Wenig später hielt er auf dem unebenen Boden vor dem Cottage. »Darf ich Sie nach dem nicht sonderlich erfreulichen Einstand heute bei uns zum Abendessen einladen, Miss Deveraux? Wir würden uns freuen, wenn Sie kommen.«

»Gern. Aber nur, wenn Sie ab jetzt Hetty zu mir sagen.«

»Aye, wird gemacht, Hetty.« Er versprach, sie am Abend abzuholen, und fuhr los.

***

Nachdem sie ihm seufzend nachgeblickt hatte, drückte sie mit der Schulter gegen die Cottagetür, die sich nur schwer öffnen ließ. In dieser Gegend war es schon schwer, eine Tür aufzumachen, dachte sie, als ihr der modrig-feuchte Rauchgeruch des Häuschens in die Nase stieg. Sie hatte das Cottage wegen des angepriesenen Blicks auf den Strand gewählt, doch es entpuppte sich als enttäuschend. Der Küchenboden war klebrig, das Linoleum im Bad eiskalt, alles irgendwie schmuddelig. Sie drückte die Tür wieder zu. Dabei fiel ihr Blick auf den ausgeblichenen Kalender vom vergangenen Jahr. Wirbelnde Kilts und dröhnende Dudelsäcke. Bilderbuchschottland.

Eine halbe Stunde später starrte sie, eine Tasse Tee in der Hand, die Beine untergeschlagen, in den kalten Kamin und versuchte, Bestandsaufnahme zu machen. Du lieber Himmel! Was für ein Empfang, hatte Ruairidh Forbes gesagt, und vor ihrem geistigen Auge tauchte das Bild des eingeschlagenen Schädels mit der leeren Augenhöhle auf. Plötzlich überkam sie wieder dieser nur zu vertraute Kummer, das Gefühl dahinzutreiben, das sie seit dem Tod ihrer Eltern nicht loswurde. Noch jetzt, drei Jahre nach dem Unfall. Verlust. So ein kurzes, unscheinbares Wort. Nach dem Anruf am frühen Morgen hatte es sich furchteinflößend aufgebläht; der Absturz, nur wenige Minuten nach dem Start, hatte ein riesiges Loch in ihre Seele gerissen. Sie hatte lange gebraucht, den ersten Schock zu überwinden, und auch noch, als sich die Trauer in Benommenheit verwandelt hatte, war das Gefühl der Leere geblieben.

Dann war vor zwei Monaten auch noch nach jahrelanger Demenz ihre Großmutter gestorben, und plötzlich war sie ganz allein dagestanden. Seitdem schlafwandelte sie.

Sie trat ans Fenster und schaute hinaus auf den Strand. Ohne Giles hierherzukommen war ihre erste eigene Entscheidung seit drei Jahren. Die geplante Renovierung von Bhalla House sollte ihrem Leben wieder einen Sinn geben, einen Neubeginn markieren. Gut, es mochte kein sonderlich vielversprechender Einstand gewesen sein, aber das Skelett veränderte letztlich nichts. Das war Sache der Polizei, außerdem handelte es sich nach Ruairidh Forbes’ Ansicht um ein altes Verbrechen. Irgendwie würde es schon aufgeklärt werden. Das Haus befand sich in einem schlechteren Zustand als erwartet, aber sie stand ja noch am Anfang.

Ein Kaminfeuer würde ihre Laune verbessern, dachte sie, vorausgesetzt, es gelang ihr, das elende Ding anzuzünden, was sie am Abend zuvor mit dem ungewohnten Torf nicht geschafft hatte. Als sie vor dem Kamin niederkniete, fragte sie sich noch einmal, warum James Cameron in einem Haus herumgebuddelt hatte, das ihm nicht gehörte. Bestimmt würden sie sich im Pub vor Lachen ausschütten, wenn er erzählte, wie sie sich beim Versuch, durchs Fenster zu klettern, die Jeans zerrissen hatte, als sie auf sein Geheiß ihr eigenes Anwesen verlassen musste. Er selbst schien das ziemlich lustig gefunden zu haben …

Sie würde Ruairidh Forbes, den sie mochte, nach den Hintergründen fragen. Vielleicht wurde er in dieser merkwürdigen neuen Welt zu ihrem Verbündeten. Das Hochzüngeln einer kleinen Flamme erinnerte sie an das kurze Aufflackern des Optimismus auf der Fähre tags zuvor, wo sie das Gefühl gehabt hatte, es sei richtig hierherzukommen. Über dem aufgewühlten Kielwasser, als die Hügel von Skye im Blaugrauen verschwanden, war sie in einer Art Zwischenwelt gelandet, in der die Grenzen zwischen Himmel, Meer und Land, kaschiert durch Wolken, verschwammen. Doch dann hatte die Sonne die Wolken von hinten erhellt, den Dunst durchdrungen und die Konturen der Inseln erstrahlen lassen. Nach einer langen Reise hier anzukommen war ihr ebenfalls richtig erschienen, weil sie so ein echtes Gefühl für die Abgeschiedenheit der Insel entwickelte. Für ihre Einsamkeit.

Giles hatte gleich nach der Beisetzung ihrer Großmutter mit ihr hierherkommen wollen. »Damit du dir einen ersten Eindruck verschaffst.« Auf einer Nachbarinsel befinde sich ein Flugplatz, hatte er ihr mitgeteilt; sie könnten hinfliegen. »Bestimmt können wir dort irgendeine alte Klapperkiste mieten.«

Doch das wäre ihr zu schnell gegangen. Sie hatte das Bedürfnis gehabt, allein zu kommen. Giles war begeistert gewesen von ihrer spontanen Idee, das Haus in ein Luxushotel zu verwandeln – so begeistert, dass er sich sofort erboten hatte, Investoren für sie aufzutreiben, möglicherweise sogar selbst Geld in das Projekt zu stecken. Das war typisch Giles: Er packte die Dinge an, wollte Ergebnisse. Und er übernahm die Kontrolle.

Während sie in den kalten Kamin starrte, dachte sie an die Ursache für ihren überstürzten Aufbruch. Sie waren auf einer Party von einem Bekannten von Giles in einer schicken Wohnung mit Blick auf die Themse gewesen, und der stolze neue Eigentümer hatte sie, eine Flasche unter einem Arm, den anderen unaufgefordert um ihre Taille geschlungen, zu einem der riesigen Fenster geführt, um ihr zu zeigen, wie die Sonne über London unterging. »Erinnert ein bisschen an Turner, finden Sie nicht? Oder eher an Blake? Giles sagt, Theo Blake sei Ihr Urgroßvater gewesen.«

»Nein. Meine Urgroßmutter Emily Blake war seine Schwester, genauer gesagt, seine Halbschwester.«

»Ich an Ihrer Stelle würde mich an die direkte Linie halten. Mit dem Pfund können Sie wuchern.« Er strahlte sie mit seinen leicht hervorstehenden Augen an. »Blake, der rätselhafte Einsiedler. Der Beginn seiner Karriere war vielversprechend, aber später hat er sich nicht mehr sonderlich hervorgetan. War er unglücklich verliebt, oder hat er getrunken?«

Sein Tonfall hatte sie geärgert. Sie wusste nur wenig über Theo Blake, eine vage Figur in den Annalen ihrer Familie. Sie verband mit ihm eigentlich nichts als ein Gemälde, ein Seestück an der Wand ihres Kinderzimmers, doch sie hatte plötzlich die Verpflichtung verspürt, ihn zu beschützen.

Der Duft des teuren Rasierwassers von ihrem Gastgeber stieg ihr in die Nase, und sie wich zurück. »Wie gesagt: Ich bin nur entfernt mit ihm verwandt.«

»Soweit ich weiß, haben Sie sein Haus geerbt«, hatte er entgegnet und war einen Schritt auf sie zugetreten, um ihr

Glas aufzufüllen. »Sie Glückliche!«

Typisch Giles, dass er es überall herumposaunt hatte.

Hätte er doch den Mund gehalten!

»Die Idee mit dem Hotel finde ich großartig. Wir müssen zusehen, dass Sie die richtigen Kontakte kriegen. Ich rede mit Giles darüber. Mit Ihrem Aussehen und Ihrem Stammbaum, Schätzchen, werden Ihnen die Investoren nur so nachlaufen.«

Stammbaum? Sollte sie etwa schaulaufen wie ein prämierter Hund?

»Und ich werde Ihr allererster Gast sein.«

Seine Hand war von ihrer Taille zu ihrer Hüfte geglitten, und sie hatte sich hilfesuchend nach Giles umgesehen. Wenn sie dem Mann eine Abfuhr erteilte, war er bestimmt beleidigt, aber musste sie sich das wirklich gefallen lassen? Sie hatte gesehen, dass Giles sie amüsiert vom anderen Ende des Raums aus beobachtete und keinerlei Anstalten machte, sie aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Er hatte ihr lediglich eine Kusshand zugeworfen und sich wieder seiner dunkelhaarigen jungen Gesprächspartnerin zugewandt.

Kurz darauf waren die Finger ihres Gastgebers auf ihren Oberschenkel gewandert, und er hatte sie ohne Vorwarnung auf die Lippen geküsst. Und gelacht, als sie entsetzt zurückgewichen war. »Sauber bleiben«, hatte er gesagt und sich wieder unters Volk gemischt.

Daraufhin war Giles zu ihr gekommen und hatte ihr über die Wange gestrichen. »Mach nicht so ein Gesicht, Schatz. So ist er nun mal.«

»Soll ich mich etwa geschmeichelt fühlen?«

»Er ist ein großes Tier in Kunstkreisen. Es zahlt sich aus, ihn zu kennen.«

Giles kultivierte solche Kontakte. Sie hatte sich eine sarkastische Bemerkung verkniffen und sich abgewandt, um zu beobachten, wie Männer in schicken Anzügen Frauen in enganliegenden Kleidern Avancen machten und sich darum bemühten, einen guten Eindruck zu hinterlassen, dazuzugehören. Das war nicht ihre Welt. »Wie lange müssen wir noch bleiben?«

Giles hatte verärgert reagiert und sich geweigert, sie nach Hause zu bringen. Er hatte sich wieder ins Gewühl gestürzt, worauf sie ihren Mantel geholt hatte und gegangen war. Als sie im Außenlift auf den Sonnenuntergang über der Themse hinausgeschaut hatte, war ihr Theo Blakes Bild mit dem weißen Sand und der tief über dem Wasser stehenden, blendenden Sonne eingefallen, und ihr war der Gedanke an Flucht gekommen, der sich während der Taxifahrt durch die Londoner Straßen verfestigte. Sie würde sich einfach aus dem Staub machen, denn zum ersten Mal seit dem Verkauf ihres Elternhauses hatte sie nun einen Ort, an den sie sich flüchten konnte.

Doch diese Zuflucht entpuppte sich gerade als Phantom, als verfallendes Relikt aus längst vergangener Zeit. Im Kamin verglomm das kleine Feuer. Sie stellte ihre leere Tasse weg, weil sie das Bedürfnis verspürte, nach draußen zu gehen. Ruairidh Forbes hatte ihr in etwa eineinhalb Kilometer Entfernung einen Co-op gezeigt, wo sie Grundnahrungsmittel erwerben konnte. Ein Spaziergang würde ihr guttun, und sie könnte noch einmal ihre Alternativen abwägen. Inzwischen hatte Giles bestimmt ihre kurze Nachricht auf dem Anrufbeantworter gehört, die sie hinterlassen hatte, bevor sie in den Zug nach Norden gestiegen war. Wie stark waren ihre Gewissenbisse über ihren überstürzten Aufbruch? Nicht allzu stark, wie es schien …

Sie öffnete die Tür mit einem Ruck. Da es hier kein Internet und kein Mobilfunksignal gab, konnte Giles sie weder aufspüren noch Kontakt mit ihr aufnehmen, was bedeutete, dass sie endlich den Freiraum hatte, den sie brauchte.

***

Später, das Licht über der Bucht wurde schon dämmrig und sie hielt gerade ein Schläfchen in einem der durchgesessenen Sessel, weckte sie lautes Klopfen an der Tür. Sie richtete sich auf. Das war sicher Ruairidh Forbes, dieser Bär von einem Mann, den sie irgendwie beruhigend fand.

»Es ist offen. Sie müssen fest dagegendrücken, die Tür klemmt«, rief sie, während sie nach einem Blick in den Spiegel ihre widerspenstigen Haare mit den Fingern zurechtzupfte. Sie hörte, wie jemand mit der Schulter gegen die Tür stieß, dann, wie sie sich öffnete. Und herein kam nicht der freundliche Polizist, sondern James Cameron, der den Jackenkragen zum Schutz gegen den Wind hochgestellt hatte.

»Hallo noch mal«, begrüßte er sie und tastete den Rahmen der Tür ab, um den Punkt zu finden, an dem sie klemmte. »Ruairidh ist beschäftigt und lässt sich entschuldigen.« Seine Haare fielen ihm über die Augen, als er sie ansah. »Mord und Brandstiftung an ein und demselben Tag. So aufregend geht’s bei uns nicht immer zu.« Er trat unaufgefordert über die Schwelle und brachte kühle Abendluft herein. Als er sich mit unverhohlener Neugierde in der kleinen Küche umsah, fiel sein Blick auf den angeschlagenen Tisch und den verrosteten Abfalleimer. »Dùghall zielt nicht gerade auf Luxuskundschaft ab, was?«, bemerkte er und hob eine

Augenbraue. »Was verlangt er denn inzwischen?«

Sie ignorierte seine Frage. »Brandstiftung?«, wiederholte sie.

»Ja.« Er schaute sich weiter in dem Raum um, stocherte mit dem Fuß in einem Riss im aufgeworfenen Linoleum und verzog das Gesicht beim Anblick des Kalenders. »Ein junger Nichtsnutz hat seine Entlassung aus dem Knast mit dem Abfackeln seines Elternhauses gefeiert. Seine Freundin scheint sich mit einem andern getröstet zu haben, als er hinter Gittern war.«

Brandstiftung? Wie passte das zu diesem abgelegenen Ort? »Sperrt Mr Forbes ihn wieder ein?«

»Nein, er sorgt nur dafür, dass die Schaulustigen sich zerstreuen. Um den Burschen kümmert sich jemand anders. Ruairidh kommt später dazu. Er hat mich gebeten, Sie abzuholen. Bevor ich’s vergesse …« Er nahm einen Schlüsselbund aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.

»Ich hatte gehofft, dass er sie behalten würde.« Sie biss sich auf die Lippe. Glaubte er jetzt, dass sie sich vor der Verantwortung drücken wollte? Vielleicht stimmte das ja. »Wäre doch vernünftig, wenn jemand ins Haus kann, sobald ich wieder weg bin«, fügte sie hinzu.

»Er hat seine Schlüssel. Das sind meine.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Die habe ich, seit vor ein paar Jahren Leute eingebrochen sind und die Kamine geklaut haben. Danach haben wir bessere Schlösser angebracht und die Fenster neu vernagelt. Leider werden die Bretter immer wieder runtergerissen, und es steigt allerlei Gesindel ein.« Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Vermutlich hat mich jemand da oben arbeiten sehen. Burschen aus der Gegend, schätze ich, denen langweilig war.«

»Sie haben dort gearbeitet? Was denn?« Ihr Ton war schärfer als beabsichtigt.

Er verschränkte die Arme. »Ich hab das Fundament überprüft. Nach Anweisung«, antwortete er ein wenig verstimmt.

»Anweisung? Von wem?«, erkundigte sie sich.

»Von der Kanzlei Dalbeattie und Dawson. Genauer gesagt von Emma Dawson.«

Emma Dawson, deren schnurrende Telefonstimme Hetty kannte und die sie mit ihrem Charme jedes Mal ein Stückchen weiter in ihre Richtung lenkte, weil sie merkte, wie wenig Hetty wusste, und das ausnutzte. Dalbeattie und Dawson. Alte Kollegen von Giles mit einer Kanzlei auf Skye, die sie auf seine Empfehlung hin eingeschaltet hatte. Hetty erkundigte sich nach weiteren Einzelheiten. Emma Dawson, stellte sich heraus, hatte die Sache in die Hand genommen. Bei ihrem letzten Telefonat hatte sie sich erboten, jemanden für eine Kostenaufstellung zu finden, und Hetty erinnerte sich vage, zugestimmt zu haben. Daraufhin hatte Emma offenbar James Cameron instruiert, sich an die Arbeit zu machen.

»Sie wussten nichts davon?«, fragte er ungläubig. »Dann wissen Sie vermutlich auch nicht, dass ich ihr gesagt habe, Sie sollen die Finger von dem Projekt lassen. Noch ein paar Stürme, und die westliche Mauer stürzt ein und reißt den großen Giebel mit sich. Da ist ein ziemlich breiter Riss drin.« Er schwieg kurz. »Sie wollte sich damit nicht zufriedengeben. Sie hat mich angewiesen, der Sache auf den Grund zu gehen. Das habe ich getan und dabei leider mehr gefunden, als mir lieb ist. Sie haben große Pläne, Miss Deveraux. Ein Luxushotel, Gourmetküche, Jagdgesellschaften, Golf …« Sie hörte Unmut in seiner Stimme mitschwingen.

»Das sind tatsächlich Optionen, die ich abwäge«, bestätigte sie, senkte den Blick und nahm die Schlüssel.

Er schwieg einen Moment stirnrunzelnd, den Blick auf die Stelle gerichtet, an der die Schlüssel gelegen hatten, bevor er sie offen ansah. »Sie haben selbst gesehen, in welchem Zustand sich das Gemäuer befindet. Entschuldigen Sie meine Frage, aber haben Sie eine Vorstellung davon, was Sie sich da aufhalsen? Ich kenne dieses Haus mein Leben lang und konnte seinen Verfall beobachten. Es ist nicht mehr zu retten.«

Sie griff nach ihrer Handtasche. Vielleicht hätte Giles doch mitkommen sollen, dachte sie. »Wir stehen noch ganz am Anfang, Mr Cameron«, sagte sie und rang sich ein kleines Lächeln ab. »Ich bin gerade erst dabei, mich zu informieren.«

***

In Ruairidhs Haus wischte sich dessen Frau Ùna an einer gestreiften Schürze die Finger ab und schob eine Strähne ihrer roten Lockenmähne hinters Ohr, bevor sie Hetty die Hand reichte, während der Hund sie mit einem Schwanzwedeln begrüßte. Topfdeckel klapperten auf dem Herd, der Dampf daraus stieg zu den zahllosen Socken an dem Wäschetrockner daneben auf. In der Mitte des Raums stand ein Tisch, auf dem eine Kerze brannte, vielleicht um von einem Haufen Bügelwäsche abzulenken.

Ein Junge, der Hetty als der Sohn der Forbes vorgestellt wurde, stellte vier Teller auf den Tisch und musterte Hetty kurz, bevor er sich James Cameron mit einem gälischen Rede schwall zuwandte. Cameron lauschte mit ernster Miene, und als er nickte, nahm der Junge eine Taschenlampe und zog ihn, gefolgt von dem Hund, hinaus in die Dunkelheit.

»Alasdair und sein Dad reparieren ein altes Boot. James soll es sich ansehen«, erklärte die Mutter, während sie Hetty ins Wohnzimmer führte und ihr etwas zu trinken anbot. »Fühlen Sie sich wohl bei Dùghall?« Sie schob einen Stapel Papier weg und deutete auf einen Sessel am Kamin. »Wahrscheinlich gibt er nicht allzu viel Geld für Behaglichkeit aus.«

»Ist schon in Ordnung«, antwortete Hetty. Nachdem ihre Gastgeberin zwei Gläser eingeschenkt hatte, entfernte sie sich, um nach dem Essen zu schauen.

Hetty setzte sich und sah sich in dem unordentlichen Raum um. Bei den herumliegenden Papieren handelte es sich um Schülerhefte und eine Notenliste. Grundschule. Eine ziemlich willkürliche Sammlung von Taschenbüchern füllte mehrere Regale, zwischen denen Gemälde und Fotos hingen. Hinter dem verblichenen Rückenwirbel eines Meeressäugers, der am Kamin lehnte, klemmten Briefe und Rechnungen, während auf einem Beistelltischchen die Rolle einer Angelrute darauf wartete, repariert zu werden. Rechteckige Torfstücke trockneten im Kamin; Islington, dachte Hetty, war eine völlig andere Welt.

Dann fiel ihr Blick auf ein Bild in einer Nische, und wieder spürte sie diese innere Verbindung. Tümpel zwischen Felsen, 1889. Blakes bekanntestes Gemälde, sein frühes romantisches Meisterwerk. Das Original hatte sie drei Jahre zuvor in einer Sonderausstellung in London gesehen. Als sie davor gestanden war, hatte ihr jemand auf die Schulter getippt. Giles Holdsworth. Sie kannten sich aus der Kanzlei, in der er arbeitete und die den Nachlass ihrer Eltern regelte.

»Ich wollte Sie auf diese Schau aufmerksam machen, aber Sie sind mir zuvorgekommen«, hatte er gesagt und ihr später bei einer Tasse Kaffee erklärt, dass er geschäftlich in der Galerie gewesen sei. »Aber als ich gehört habe, dass das Bild Tümpel zwischen Felsen hier hängt, habe ich mich nach einer Besprechung abgesetzt, um es mir anzusehen.«

Vom Café aus waren sie noch einmal zu dem Gemälde zurückgekehrt, und sie hatte sich vorgebeugt, um das Schildchen daneben zu lesen. »1889. Hier steht, dass er da gerade mal zwanzig war. Unglaublich.«

Auf dem Bild war eine junge Frau in einfacher Kleidung zu sehen, die sich mit einer Hand an einem Felsen abstützte, während sie einen Fuß aus einem Tümpel hob. Ein einzelner Tropfen löste sich dabei von ihrem Zeh und fiel zurück ins Wasser. Mit der anderen Hand raffte sie ihre Röcke, damit sie nicht nass wurden, und dabei rutschten ihr die dunklen Haare in die Stirn. Blake hatte sie in dem Moment verewigt, in dem sie sich ihm zuwandte. Ein winziger Fleck markierte den Glanz ihres Auges, als sie in seine Richtung schaute. Es war ein wunderschönes, stilles Werk, das Ruhe ausstrahlte, ein Versprechen zu geben schien; ein kurzer Moment, der ein ganzes Leben umfasste.

***

1889

»Herrgott, Màili, nun halt doch mal still!«

»Das geht nicht. Ich darf das Gleichgewicht nicht verlieren.«

Er zeichnete grimmig lächelnd ein paar Linien in seinen Skizzenblock, hob kurz den Blick und arbeitete weiter, während sie in ihrer Pose verharrte. »Nur noch ein paar Sekunden, dann hab ich’s …« Doch sie richtete sich auf, und er ließ frustriert den Stift fallen. »Mein Gott, Frau!«

Sie lachte ihm über die Schulter zu. »Ich kann nicht länger so dastehen. Den Rest musst du dir denken, du hast mich ja schon oft genug gezeichnet«, sagte sie und sank ins weiche Gras neben ihm. »Wird das Bild dich berühmt machen?« Sie legte das Kinn auf seine Schulter, um einen Blick auf die Skizze zu werfen. »Und werden sie dann in Edinburgh über mich reden?«

Seine Konzentration war dahin, als der salzige Geruch ihrer Haare ihm in die Nase stieg, und er stöhnte innerlich auf. Sich körperlich von Màili fernzuhalten schaffte er nie lange. Die Kunst würde warten müssen. Er presste die Lippen zusammen, hin- und hergerissen zwischen seinen beiden Leidenschaften. Noch kurz zuvor hatte er sich ganz auf seine Arbeit konzentriert und Màili wahrgenommen wie jedes x-beliebige Modell. Doch jedes andere Modell hätte eher auf seine Anweisungen gehört als sie. Sie durfte also das Gleichgewicht nicht verlieren, so, so.

»Mir wäre es lieber, wenn sie über das Bild reden würden, vorausgesetzt, es wird je fertig.« Er zückte erneut den Stift, um den Faltenfall ihres Rocks zu ändern. Dann lehnte er sich gegen den Felsen zurück, die Krempe seines Strohhuts tief in die Stirn gezogen, und musterte sie – er konnte sie endlos ansehen. »Redet man hier denn noch nicht genug über dich?«, fragte er.

Sie wandte sich stirnrunzelnd von ihm ab und begann, an den rosafarbenen Köpfen der Grasnelken zu zupfen, die aus einer Felsspalte wuchsen.

Er betrachtete die geschwungene Linie ihres Nackens, ihren vollkommenen Hals, ihre vollen Brüste. Màili war nicht einfach nur irgendein Modell, sondern so viel mehr. Eine Freundin aus Kindertagen, die in seiner Abwesenheit zu einer atemberaubenden Schönheit herangewachsen war. Eine Freundin, die ihn jetzt mit ihren Mandelaugen auf ganz besondere Weise anblickte und errötete. Für Theo war sie das Herz der Insel.

Diamanten auf einer Schaumkrone.

Sand und der weiche Machair.

Das Licht der Sonne auf den Schwingen einer Möwe. Màili.

»Ich weiß nicht, was du meinst.« Sie warf eine rosafarbene Blüte in den Tümpel, beobachtete, wie der Wind sie drehte, und weigerte sich, ihm in die Augen zu sehen. Das wusste sie ganz genau …

Plötzlich wirkte er besorgt und verletzlich. »Ich liebe dich, Màili.«