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Schottland 1893: Die 19jährige Evelyn Ballantyre macht sich auf, ihren Vater auf eine Reise nach Kanada zu begleiten. So kann sie die Grenzen des herrschaftlichen Anwesens hinter sich lassen, das für sie in den letzten Jahren eher ein Gefängnis als ein Zuhause war. Seit jener schicksalhaften Nacht, in der zwei Menschen starben, und ihr Jugendfreund, der Stallbursche James Douglas, der Tat beschuldigt fliehen musste. Doch als sie in der kanadischen Wildnis unverhofft auf James trifft, drängen die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit an die Oberfläche. Und Evelyn muss sich entscheiden, wo ihre Zukunft liegt …
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Seitenzahl: 495
Veröffentlichungsjahr: 2018
Buch
Schottland 1893: Die 19-jährige Evelyn Ballantyre macht sich auf, ihren Vater auf eine Reise nach Kanada zu begleiten. So kann sie die Grenzen des herrschaftlichen Anwesens hinter sich lassen, das für sie in den letzten Jahren eher ein Gefängnis als ein Zuhause war. Seit jener schicksalhaften Nacht, in der zwei Menschen starben und ihr Jugendfreund, der Stallbursche James Douglas, der Tat beschuldigt fliehen musste. Doch als sie in der kanadischen Wildnis unverhofft auf James trifft, drängen die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit an die Oberfläche. Und Evelyn muss sich entscheiden, wo ihre Zukunft liegt …
Autorin
Sarah Maine wurde in England geboren, wuchs dann aber in Kanada auf, bis sie in ihre Heimat zurückkehrte, um Architektur zu studieren. Schon als Kind lernte sie die einzigartige Schönheit Schottlands lieben, wenn sie dort mit ihren Eltern Urlaub machte, eine Tradition, die sie heute mit ihrer Familie fortführt. Sarah Maine lebt in York im Nordosten Englands.
Von Sarah Maine außerdem bei Goldmann erschienen:
Die gestohlenen Stunden. Roman
( auch als E-Book erhältlich)
SARAH MAINE
Jenseits
des breiten Flusses
Roman
Aus dem Englischen
von Sonja Hauser
Für meinen Vater und meine Mutter
und für Ian, für die Tage in der Wildnis
Prolog
Charles Ballantyres Anwesen, Scottish Borders, Grenzgebiet zwischen Schottland und England, 1888
Der Schuss schreckte die Saatkrähen von den Bäumen auf.
Als James, der im Wald unterwegs war, ihn hörte, fluchte er und begann zu rennen, ohne auf die Zweige und Dornen zu achten, die seine Haut ritzten und sich in seiner Kleidung verfingen. Am Waldrand angekommen, sah er Jacko in die Knie gehen, den Kopf zurückgeworfen, die Hände gegen die Brust gepresst.
Die Saatkrähen formten einen gezackten Heiligenschein am Himmel, während James zum Schilf hastete, an dessen Rand der Wilderer lag, einen mit einem Stiefel bekleideten Fuß im seichten Wasser. Er sank neben ihm nieder.
»Jacko! Jacko, nicht aufgeben!«
Doch der Atem des alten Mannes ging rasselnd, seine Augen waren geschlossen. Blut quoll zwischen seinen schmutzigen Fingern hervor und breitete sich auf seinem Hemd aus.
»Nein!«
So durfte es nicht enden. Die Krähen kreischten, ein Wasserhuhn huschte ins Schilf.
James betrachtete den Angeschossenen, sein Jugendvorbild, seinen Beschützer und Freund. Schuldgefühle stiegen in ihm auf. Er hatte ihn verraten …
»Da ist noch einer.« Die Stimme eines Mannes von der anderen Seite des Flusses.
James hob den Blick und suchte in Jackos zerrissenen Taschen hastig nach etwas, womit sich die Blutung stoppen ließe.
Aussichtslos.
»Ich hole Hilfe.«
Jacko öffnete die Augen, kurz leuchteten sie auf. »Bei denen?« Er stieß ein krächzendes Lachen aus.
James schaute noch einmal über den Fluss. Am anderen Ufer standen zwei Männer in Jagdkleidung aus Tweedstoff. Sie musterten ihn, ohne sich zu bewegen. Hausgäste? Der eine hielt die Flinte auf Taillenhöhe. Was war passiert? Hatten sie auf Jacko geschossen? Der mochte leichtsinnig sein und nicht ganz richtig im Kopf, aber der alte Wilderer stellte für niemanden außer sich selbst eine Bedrohung dar.
Dann entdeckte James eine dritte Gestalt im Schatten einer uralten Eiche. Nun wurde ihm manches klar. Er fluchte. Bestimmt war das einer der Wildhüter, vermutlich McAllister höchstpersönlich. Der würde Jacko ohne mit der Wimper zu zucken erschießen, um ihren Jahrzehnte währenden Konflikt zu beenden.
Der Mann trat aus dem Schatten heraus, und James’ Herz setzte einen Schlag aus.
Das war nicht McAllister und auch keiner seiner Männer.
Sondern Ballantyre.
Gott sei Dank! Doch James’ Erleichterung verflüchtigte sich, als Ballantyre sich nicht von der Stelle rührte. Er sah James nur über den Fluss hinweg an, und James schaute zurück.
»Lauf weg«, flüsterte Jacko heiser und zupfte an seinem Ärmel, doch James’ Blick blieb über das ruhig dahinfließende Wasser auf Ballantyre gerichtet. »Lauf. Lauf, so schnell du kannst, Junge, und so weit weg, wie …«
Die Krähen, dunkle Zeugen des Geschehens, begannen sich zu zerstreuen, ihr Kreischen drang durch die laue Luft des Herbstabends. Kurz sammelten sie sich über den Dächern und Kaminen des über gepflegten Rasenflächen aufragenden Ballantyre House und beschrieben drohend einen einzigen Kreis darüber, bevor sie sich in die aufsteigenden Nebel erhoben.
Dann ging alles sehr schnell. Erst später würden sich die Ereignisse vor James’ geistigem Auge Szene um Szene wiederholen, ein ums andere Mal, viele Jahre lang, und James würde versuchen, einen Sinn darin zu entdecken.
Jacko sank leblos in seinen Armen zusammen, sein wilder Geist flog mit den Krähen davon – und da: Peng! Eine zweite Kugel zischte knapp an James’ Wange vorbei.
Irgendwo stieß jemand einen Wutschrei aus.
James’ Instinkte erwachten. Er sprang auf und flüchtete geduckt in den Schutz des Eichenwaldes wie ein Fuchs in seinen Bau, das Echo des Krähengezeters in den Ohren.
Eins
Columbian Exposition, Weltausstellung, Chicago, 1893
Alle paar Minuten durchschnitt ein riesiger Lichtstrahl den Nachthimmel über der White City so grell, dass die Vögel auf den dunklen Wellen des Sees erschraken. Er erhellte den eleganten Bug von Mr Larsens Jacht Walküre, die dort vor Anker lag, und ließ den Rumpf erglänzen. Nun erreichte er Evelyn Ballantyre, die, über die Backbordreling gebeugt, auf die schartigen Spiegelungen hinunterschaute. Sie begann, die Sekunden zu zählen. Eins, zwei, drei – als der Strahl sich entfernte, hob sie den Kopf und folgte ihm mit dem Blick über den Pier, der sich etwa einhundert Meter entfernt befand. Dort erhellte er die Promenade mit ihren Ständen und Buden, die bereits geschlossen waren, bevor er wieder hinaufwanderte und die Silhouetten klassischer Kuppeln und Kolonnaden beleuchtete.
Die White City, die Weiße Stadt …
Kurz streifte der Strahl das Achterdeck, wo Evelyns Vater und ihr Gastgeber Mr Larsen unter dem gestreiften Sonnensegel in Abendkleidung auf den Beginn des Festes warteten.
»Alles in Ordnung, Liebes?«, erkundigte sich ihr Vater. Sie nickte und wandte sich erneut dem See zu. Zuvor hatte sie ihnen Gesellschaft geleistet, war dann aber mit einem Lächeln aufgestanden, das keinem der Männer auffiel, um zur Reling hinüberzuschlendern und das Schauspiel mitzuverfolgen, wie Elekrizität das Ufer verwandelte. Das Gespräch der beiden hatte sich wie immer hauptsächlich um aktuelle Zeitungsartikel gedreht, in denen nun tagtäglich die Rede war von Bankrotten und Selbstmorden. Was gab es darüber noch Neues zu sagen?, fragte sich Evelyn.
Sie betrachtete stirnrunzelnd die Spitzen ihrer paillettenbesetzten Schuhe. Es handelte sich um ein neues, ausgesprochen teures Paar, das sie bei einem kurzen Einkaufsbummel während eines Landgangs in New York auf dem Weg nach Chicago erworben hatte. Die Pailletten funkelten, als der Lichtstrahl sie erfasste, Glanz ohne jegliche Substanz.
Die White City. Die Bezeichnung hatte sie in Schottland das erste Mal gehört und sich einen geheimnisvoll-magischen Ort vorgestellt. Die Stadt, die sie nun mit eigenen Augen sah, wurde tatsächlich ihren Erwartungen gerecht. Doch an der lauten Machinery Hall, der Maschinenhalle, in der sie den Vormittag verbracht hatten, war für sie nichts Ätherisches oder Magisches gewesen, und auch nicht am Mines and Mining Building, dem Gebäude, das sich Minen und Bergbau widmete und das sie am Nachmittag aufsuchten. Ihr Vater hingegen war natürlich von beiden Hallen fasziniert gewesen und hatte sich über Kosten und mögliche Gewinne erkundigt, während sie die außergewöhnliche Kleidung der wenigen Frauen betrachtete, die wie sie die Männer begleiteten.
Mr Larsen hatte im Salon der Jacht Reiseführer und Programme ausgelegt, die Evelyn fasziniert durchgegangen war.
»Die Welt kommt nach Chicago«, hatte er lächelnd erklärt, »lassen Sie sich von den Wundern der Stadt beeindrucken.« Sie hatte im Illustrierten Führer durch die Weltausstellung und Chicago und einem Buch über die Columbian Exposition geschmökert. Aus ihnen wussste sie, dass es abgesehen von den großen Pavillons auch einen japanischen Garten und eine chinesische Pagode zu bestaunen gab, dazu Eskimos und ein Indianerlager sowie die allseits beworbenen Attraktionen des Midway Plaisance. Aber ihr Vater hatte diese Seiten lediglich überflogen und sich stattdessen auf die langweiligste der Ausstellungshallen konzentriert, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, was sie interessieren könnte.
Morgen jedoch, wenn auch die anderen Mitglieder ihrer Gruppe eintrafen, würden sie und Clementina die Männer ihren Maschinen überlassen und gemeinsam die Attraktionen des Woman’s Building erkunden. Ein Gebäude, ausschließlich von Frauen ersonnen, hatte Mr Larsen ihr erklärt, angefüllt mit weiblichen Schöpfungen, ausgestattet mit Wandgemälden, die die unterschiedlichen Lebensbereiche von Evelyns Geschlechtsgenossinnen feierten, außen geschmückt mit dem Werk einer Bildhauerin in Evelyns Alter.
Noch einmal blickte sie zu ihrem Vater hinüber, der ausgesprochen selbstzufrieden und weltmännisch wirkte, und überlegte, was sie selbst mit ihren neunzehn Jahren vorzuweisen hatte. Auf dem riesigen ländlichen Anwesen im Grenzgebiet zwischen Schottland und England, viele Kilometer von Edinburgh entfernt, verbrachte sie Wochen in der langweiligen Gesellschaft eines Zeichenlehrers und eines unsicheren Tutors, der ihr die klassische Literatur nahezubringen versuchte. Machte ihr Vater sich je Gedanken über ihre Gefühle oder ihre Zukunft? Oder ging er einfach davon aus, dass sie wie Clementina den Sohn irgendeines Nachbarn ehelichen und ihr Leben auf einem ähnlichen Anwesen wie ihrem eigenen verbringen würde, ohne je etwas von der großen weiten Welt mitzubekommen?
Wenn sie an die erbarmungslose Langeweile dachte, bekam sie es mit der Angst zu tun.
Begriff er denn nicht, dass es Langeweile gewesen war, die zu dem Zwischenfall geführt hatte?
Evelyn sah zu, wie die Spiegelungen auf dem Wasser sich in zackige Gebilde auflösten, wenn der Lichtstrahl sich der Walküre näherte. Einfach eine Freundschaft, nichts weiter, Folge ihrer Einsamkeit und wachsenden Frustration, ohne jede Bedeutung! Ihr Vater hatte schockiert sofort reagiert, sehr zu ihrer Freude, musste Evelyn zugeben, die sie sich allerdings lieber nicht anmerken ließ. Seit jenem grässlichen Tag, an dem sie sich in seinem Arbeitszimmer hatte rechtfertigen müssen, war kein Wort mehr über den Zwischenfall verloren worden, doch sie wusste, dass er sie nun mit Argwohn beobachtete.
Sie hörte ihn über eine Bemerkung von Mr Larsen lachen und schaute erneut in Richtung des verzauberten Ufers. Er beobachtete sie, ja, aber er sah nichts.
Die beiden Männer sprachen gerade davon, dass sie am folgenden Morgen das Electricity Buildung besichtigen wollten, bevor George und Clementina mit dem Zug eintrafen.
Mr Larsen hatte über Evelyns entsetzten Gesichtsausdruck geschmunzelt, als sie zum ersten Mal von diesem Plan hörte. »Wir werden uns auch das Midway Plaisance ansehen, das verspreche ich Ihnen, meine Liebe, und das Riesenrad von Mr Ferris. Sollen wir eine Fahrt damit wagen? Trauen Sie sich das?«
Sie hatte schmallippig gelächelt. Hielt er sie etwa für ein Kind, das man mit der Aussicht auf eine Leckerei abspeisen konnte?
Über den Dächern entdeckte sie nun das Riesenrad, erhellt von einer doppelten Reihe funkelnder Lichter. Ein erstaunlicher Anblick. Plötzlich konnte sie den Abend kaum noch erwarten. Aber die beiden unterhielten sich nach wie vor. Was hatten sie nur zu bereden? Rund um sie herum ereigneten sich finanzielle und politische Katastrophen, hatte man ihr erklärt, doch ihr Vater und Mr Larsen wirkten ruhig. Deswegen konnte sie eigentlich nur annehmen, dass sie keine ernst zu nehmenden Verluste erlitten hatten. Warum also die endlosen Gespräche?
»Es dauert nicht mehr lange, meine Liebe«, rief Mr Larsen ihr zu. »Bleiben Sie auf dem Posten. Der Magier sagt, wir sollen die Augen offen halten.«
Mr Larsen war Bankier, einer der wenigen Geschäftspartner ihres Vaters, die Ballantyre House aufsuchten. Wegen Bankgeschäften überquerte er den Atlantik regelmäßig einmal jährlich. Evelyn mochte ihn. Er war gesellig, sich selbst und anderen gegenüber großzügig, korpulent, sprach mit ihr über Bücher und Gemälde, fragte sie nach ihrer Meinung und versuchte, ihren Geschmack zu ergründen. Doch jedes Mal, wenn sie sich abmühte, ihre Gedanken zu formulieren, entführte ihr Vater ihn, um sich stundenlang mit ihm in seinem Arbeitszimmer zu vergraben oder auf der Terrasse bei Zeitungen und Zigarren endlos zu diskutieren. Die zwei sind dicke Freunde, hatte Evelyn die Haushälterin eines Nachmittags sagen hören, als sie den Tee zu ihnen hinausschickte.
Beim Blick auf die stahlgraue Oberfläche des Sees überkam Evelyn wieder dieses Gefühl der Übelkeit. Ihr Vater war hoch angesehen in der Grafschaft, ein Friedensrichter, der für die Königin Recht sprach.
Und Wilderer ihrer gerechten Strafe zuführte …
Evelyn schaute hinüber zu den Jachten, die in der Nähe vertäut waren, und begann, zur Ablenkung Bugspriete zu zählen. Achtzehn, neunzehn – es waren wohl zwanzig, eine kleine Flotte des New York Yacht Club, wie sie von Mr Larsen wusste. Sie zerrten an ihren Ketten wie nervöse Vollblüter, herausgeputzt mit Flaggen und Wimpeln, schick wie ihre Eigentümer. Der glänzende Lack reflektierte das Licht auf Messingrelings und hochglanzpolierte Decks, während der Geruch teurer Zigarren übers Wasser zu ihr herüberwehte. Vielleicht wurden dort ähnlich ernste Gespräche geführt, unterbrochen von Anweisungen an Bedienstete in Livree, die ihre Sorge, möglicherweise schon bald keinen Lohn mehr zu erhalten, hinter einer Maske der Dienstbeflissenheit verbargen.
»Was denkt die hübsche Evelyn wohl?«
Sie war die Altherrengalanterie des Bankiers gewöhnt, die er mit verschmitztem Blick und dem leicht singenden Akzent seines heimatlichen Aalborg präsentierte, als er sich zu ihr an die Reling gesellte. Sie schüttelte belustigt den Kopf.
Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie ihr Vater einen Zug an seiner Zigarre nahm und sie beobachtete. Stellte er sich diese Frage ebenfalls?
»Ich versuche, dem allen einen Sinn abzugewinnen«, erklärte sie. Diese Antwort würde sie auch ihrem Vater geben, falls er sich jemals die Mühe machte, sich zu erkundigen.
»Ah. Der Sinn …«
Kultiviertes Lachen drang von den anderen Jachten übers Wasser zu ihnen.
Evelyn deutete hinüber. »Wo ist die Panik, von der Sie reden? Die Verzweiflung …«
Mr Larsen schloss die Finger um die Reling und schaute ernst über die Reihe sich hebender und senkender Bugspriete zu der größten Jacht, der Morgan-le-Fey, die gelassen in ihrer Mitte ruhte. Sie sei vor der Flotte her durch den Erie-Kanal gefahren und gehöre dem Magier, der an diesem Abend ihr Gastgeber sei, hatte er ihr erklärt.
»In den Herzen der Männer da draußen herrscht Panik, meine Liebe …«, meinte Mr Larsen und zog eine Taschenuhr hervor, deren schwere Goldkette sich über seinen breiten Brustkorb spannte, bevor er hinzufügte: »… nur nicht in dem Organ, das bei dem Magier für solche Gefühle zuständig ist.«
Evelyns Vater lachte. »In den Augen von Niels Larsen sehe ich zum Glück auch keine Panik«, bemerkte er, legte den Kopf in den Nacken und blies blauen Zigarrenrauch in die Nachtluft, bevor er sich erhob, um sich zu ihnen zu gesellen.
»Das Geld für die Ausstellung«, meinte Evelyn, »diese Jachten und die Kleidung und der Schmuck … Woher stammt es, und wohin verschwindet es?«
»Das, meine Liebe«, antwortete der Bankier, »fragen diese Leute sich auch.«
Da wurde die Stille unvermittelt durch das laute Zischen und Knallen eines Feuerwerks gestört. Ein Dutzend Raketen schoss vom Bug der Morgan-le-Fey in den Himmel und zeichnete Lichtspuren in die Dunkelheit. Allgemeines Staunen. Wer auf den Achterdecks geruht hatte, erhob sich ehrfürchtig. Wenige Minuten später machte sich das erste Boot auf den Weg.
»Die Bittsteller schwärmen aus, um ihre Anliegen vorzutragen, und die Hungrigen, um sich zu laben …«, murmelte Evelyns Vater, während nun sie von Panik ergriffen wurde. Bei der ersten Salve erstarrte sie, klammerte, die Augen zugepresst, die Finger um die Reling, und ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, bevor es zu rasen begann. Ihr Atem ging flach und keuchend. Evelyn zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Um gegen ihre aufsteigende Übelkeit anzukämpfen, konzentrierte sie sich auf die dunklen Umrisse der Boote, die die Spiegelbilder der Jachten auf ihrem Weg zur Morgan-le-Fey durchschnitten. Der Nachthimmel wurde vom Licht der Raketen und Sternregen erhellt, und in der Luft lag der Geruch von Kordit.
* * *
Evelyn zitterte immer noch ein wenig, als man ihr aus dem Boot an Deck der Morgan-le-Fey half, und zuckte bei jeder neuen Rakete zusammen. Sie gehörten zu den letzten Gästen, die eintrafen, was ihnen bestimmt irgendeinen Evelyn unbekannten Vorteil verschaffte. An Deck drängten sich bereits modisch gekleidete, elegante Menschen. Nur wenige waren jünger als vierzig, dachte Evelyn. Sie beobachtete, wie sie sich unter den schwankenden Schatten der über ihnen befestigten Lampions unterhielten und sich Drinks und exotische Leckereien von den Bediensteten reichen ließen, die auf den Decks herumhuschten, um ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen. In ihrer Mitte hielt ein groß gewachsener, breitschultriger Mann Hof. Als er ihre Gruppe entdeckte, winkte er sie mit gebieterischer Geste heran.
Das also war der Magier …
Eigentlich heiße er Jeremiah Merlin und leite ein mächtiges Bankenimperium, hatte Mr Larsen Evelyn gesagt. »Er ist ein Finanzgenie von legendärem Ruf.«
»Ha!«, hatte ihr Vater verächtlich ausgerufen. »Ähnlich legendär wie der von Beelzebub. Sein Name ist ein Hohn.«
»Wieso?«, hatte sie gefragt.
»Der Merlin ist eine Falkenart, die angeblich Tauben fängt, Liebes, aber Jeb würde ich eher als Aasgeier bezeichnen.«
Larsen hatte gelacht. »Diese Ansicht solltest du heute Abend lieber für dich behalten, mein Freund.«
»Wenn es sein muss.«
Und so ging bei der Begrüßung durch ihren Gastgeber alles sehr höflich und gesittet vonstatten.
»Ist dies Ihre erste Reise nach Amerika?«, fragte Merlin Evelyn, berührte kurz ihre Hand und wandte sich wieder ihrem Vater zu, bevor sie antworten konnte. »Ihren Namen höre ich in letzter Zeit oft, Mr Ballantyre.« Das klang wie eine Frage. »Es gehen Gerüchte …«, fuhr er fort, und dabei wanderte sein Blick zwischen den beiden Männern hin und her.
Evelyns Vater reagierte mit einer Bemerkung über die prächtige Jacht, ein Ablenkungsmanöver, das ihrem Gastgeber eindeutig nicht gefiel.
»Gerüchte, Niels?«, hörte sie ihn murmeln, als sie sich entfernten und ein schmaler, besorgt wirkender Mann ihren Platz einnahm.
»Gerüchte gibt es immer, mein Freund.« Mr Larsen legte eine Hand auf Evelyns Arm und geleitete sie zur Reling, wo ein dunkelhäutiger Bediensteter ihnen etwas zu trinken brachte.
Evelyn betrachtete den Wirbel aus Menschen und Lichtern, der sich auch auf einer Bühne gut gemacht hätte.
Mr Larsen schmunzelte über ihre Miene. »Beeindruckend, nicht? Sechzig Meter helles Kiefernholzdeck, Mahagoniverschalungen und glänzende Messingverzierungen. Dazu Schonersegel …«, er blickte hinauf zu den Masten, »… obwohl ich das Schiff noch nie länger als eine halbe Stunde unter Segeln gesehen habe. Jeb hält eine Reisegeschwindigkeit von zwölf Knoten in der Stunde. Ihm ist klar, dass wir alle mit seiner Jacht nicht mithalten können. Soweit ich weiß, gibt es hier zehn große Kabinen, sechs Bäder, einen Billardraum, ein Musikzimmer, eine Bibliothek und ein Deck, groß genug für ein kleines Orchester und eine Tanzfläche.« Er hob sein Cocktailglas gegen das Licht und zeigte ihr den eingravierten Zauberstab mit Sternenbogen über dem Wappen des New York Yacht Club. Dann nahm er einen kleinen Schluck und sah Evelyns Vater über den Rand des Glases hinweg an. »Du wirst ihn im Auge behalten müssen, Charles.«
»Keine Sorge, das werde ich.«
»Und zwar ohne das geringste Mitleid.«
»Selbstverständlich.«
Als Evelyn den Blick hob, bemerkte sie, dass Mr Larsen Mr Merlin beobachtete. Dieser hatte den Bittsteller, der ihren Platz eingenommen hatte, weggeschoben und schüttelte einem anderen die Hand.
»Sein Vater war Metzger in Carlisle. Weißt du das?« Mr Larsen beugte sich über die Reling, um das Wasser des Sees zu betrachten.
Der Rest des Abends verlief als langweilige Abfolge höflicher Gespräche mit Geschäftsfreunden von Mr Larsen. Zu Evelyns Überraschung kannten viele ihren Vater oder zumindest seinen Namen, und es beeindruckte sie, welche Hochachtung sie ihm entgegenbrachten, während er sie ihnen, weltgewandt und selbstsicher wie eh und je, vorstellte. Sie wiederholte mit dem immer gleichen starren Lächeln ihre Antworten auf die immer gleichen Fragen und musste fast jedes Mal feststellen, dass man ihnen keinerlei Beachtung schenkte.
Irgendwann eilte ein kleiner rundlicher Mann zu ihnen. »Ballantyre! Was, zum Teufel, führt Sie hierher?« Das Licht der Lampions ließ seinen großen Brillantring funkeln.
»Fraser. Schön, Sie zu sehen«, begrüßte Evelyns Vater ihn und stellte ihn ihr als Geschäftspartner aus Perth vor, mit dem ihn finanzielle Interessen zu beiden Seiten des Atlantiks verbanden.
Fraser musterte Evelyn kurz, bevor auch er sie fragte, ob dies ihr erster Aufenthalt in Amerika sei, und sich ihrem Vater zuwandte. »Was, sagten Sie, führt Sie hierher, Charles?«
»Ich habe gar nichts gesagt.«
Der klein gewachsene Mann sah Mr Larsen, dann wieder Evelyns Vater mit einem verschmitzten Blick an. »Man hört Gerüchte, wissen Sie.«
»Gerade hat man mir erklärt, dass es immer Gerüchte gibt«, entgegnete Evelyns Vater.
Fraser wandte sich Evelyn zu. »Das letzte Mal habe ich Ihren Herrn Vater in einem Sitzungssaal in Edinburgh gesehen, in Gesellschaft einer Gruppe hartgesottener Calvinisten, die der festen Überzeugung waren, dass die Misshandlung und Vernachlässigung von Waisen ihnen Erlösung bringt.« Er schaute ihren Vater an. »Wie ist das Ganze ausgegangen? Haben die Herren den Heimleiter in Schutz genommen?«
»Er muss sich wegen des Mordes an dem Jungen vor Gericht verantworten.« Die Miene von Evelyns Vater wurde hart.
Fraser stieß einen Pfiff aus. »Tatsächlich? Ich dachte, sie finden eine Möglichkeit, die Sache unter den Tisch zu kehren.«
»Das haben sie versucht.«
Wieder einmal beschlich Evelyn dieses vertraute Gefühl der Verwirrung und des Schmerzes. Die Welt hielt viel von Charles Ballantyre und erachtete ihn als Mann von unerschütterlicher Integrität, als Verfechter einer Strafrechtsreform und als großzügigen Wohltäter, der sein Geld und seinen Einfluss zur Förderung gerechter Anliegen nutzte. So viel wusste sie.
Sie senkte den Blick.
Früher hatte auch sie viel von ihm gehalten …
* * *
Früher war ihr Verhältnis völlig anders gewesen, unkompliziert und von bedingungsloser Liebe geprägt. Als Kind kniete sie gern auf dem gepolsterten Sitz am Fenster des Musikzimmers von Ballantyre House, die Hände auf der von ihrem Atem beschlagenen Scheibe, und hielt nach ihm Ausschau an Tagen, an denen er zurückerwartet wurde. Wenn sie ihn dann sah, rannte sie mit wippenden Locken hinaus auf die kiesbedeckte Auffahrt, und er hob sie, sobald er von Zeus abgestiegen war, hoch in die Luft und drückte sie an sich oder, noch besser: Er zog sie zu sich auf den großen schwarzen Hengst hinauf und hielt sie fest, damit sie nicht herunterfiel. Wenn sie später auf dem Anwesen mit Pächtern und Farmern sprachen, beantworteten diese seine Fragen voller Respekt und Zuneigung. Und noch später, in der duftenden Abendluft am Fluss, hüpfte sie vor ihm her oder ging Hand in Hand mit ihm. Sie blieben stehen, um die Fische zu beobachten, die an die Oberfläche kamen, und seine Augen glänzten vor Vorfreude auf das Angeln am folgenden Tag, während er ihr Stellen zeigte, an denen sich das Wasser vielversprechend kräuselte. Wenn ein Reiher sich aus dem Schilf erhob, um mit bedächtigem Flügelschlag heimwärts zu fliegen, beschrieb er ihr, wie andere Kinder lebten, und erklärte ihr, dass viele von ihnen hungrig zu Bett gehen müssten, nicht die Schule besuchen könnten, keinerlei Möglichkeiten in der Welt hätten und Geld und Einfluss ein Privileg seien und dazu genutzt werden sollten, Hoffnung zu bringen. Sie lauschte und nickte und bemühte sich, die Komplexitäten einer Welt zu begreifen, vor der seine väterliche Hingabe sie schützte.
Und manchmal stellte sie ihm Fragen über James Douglas …
* * *
Bald schon verabschiedete sich Fraser. Während er das Deck entlangschlenderte und sich unter eine andere Gruppe von Gästen mischte, bemerkte Mr Larsen mit leiser Stimme: »Er streckt die Fühler aus.«
Evelyns Vater nickte.
»Was soll das heißen?«, fragte Evelyn, frustriert über die Angewohnheit der beiden, mit Blicken und rätselhaften Halbsätzen zu kommunizieren, deren Sinn sie nicht verstand.
»Nicht jetzt, Liebes«, murmelte ihr Vater, wandte sich ab und stippte seine Zigarre in einem Aschenbecher mit den Insignien der Jacht ab.
Doch Mr Larsen, der ihn nicht gehört hatte, erläuterte Evelyn mit gedämpfter Stimme, dass es einen Streik in einer Fabrik Frasers in New York State gegeben habe, bei dem mehrere Streikende schlimm verprügelt worden seien. Einer sei an den Folgen gestorben, der Zwischenfall habe hohe Wellen in der Politik geschlagen. Frasers inhumane Arbeitsbedingungen seien aufgedeckt, sein Umgang mit der Angelegenheit allgemein verurteilt worden.
Evelyn beobachtete, wie der klein gewachsene Mann sich erfolgreich in die Mitte der Gruppe vorarbeitete. »Man scheint ihm verziehen zu haben«, bemerkte sie.
»Der Schein trügt oft, Liebes«, entgegnete ihr Vater. »Und die Menschen haben ein gutes Gedächtnis.«
»Hätte er den Zwischenfall nicht verhindern können?«
Gerade schlug Fraser einem Mann auf den Rücken und lachte ziemlich laut.
»Damals hatte er gerade in Leith eine Auszeichnung für seine erfolgreiche Arbeit in den Slums erhalten«, sagte Evelyns Vater trocken.
»Hier wurde er von den Zeitungen als Heuchler empfangen«, meinte Mr Larsen.
Evelyn erhaschte noch den Blick ihres Vaters auf sie, bevor sie den Kopf senkte und mit den Knöpfen an ihren Handschuhen zu spielen begann. Das Wort »Heuchler« hing ätzend wie Giftgas zwischen ihnen und erinnerte sie an jene schreckliche Szene im Arbeitszimmer ihres Vaters.
* * *
Ein Monat zuvor
»Und wer ist die Frau, mit der du zusammen warst?«, fragte sie mit hochrotem Gesicht. Angriff war die beste Verteidigung, dachte sie.
»Das geht dich nichts an.«
»Jedenfalls keine Frau, die du zum Tee nach Hause einladen würdest, oder?«
»Nein, Schlaumeier.« Kurz blitzten seine Augen auf. »Aber ich bin kein neunzehnjähriges Mädchen, das einen Ruf zu verlieren hat und Glücksrittern zum Opfer fallen könnte. Und im Moment reden wir auch nicht von meinem Verhalten …«
»Glücksritter? Patrick war nicht hinter meinem Geld her!«
»O doch, meine Liebe. Auf die eine oder andere Art.«
»Nein!«
Ihre Wut machte Evelyn leichtsinnig.
»Und deine Freundin war nicht hinter Geld her?«
Er hob die Augenbrauen, und sie spürte, dass sie einen Vorteil errungen hatte.
»Das nenne ich Heuchelei, Papa.«
Es war, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. Er wurde blass. Sie sahen einander über einen Abgrund hinweg an, der tiefer war, als sie beide zugeben wollten. Dann verzog er das Gesicht.
»Ja, aber ich bin, anders als du, nicht mehr zu retten, mein Kind.«
* * *
Der Abend auf der Jacht endete mit einem Konzert, das, so vermutete Evelyn, hauptsächlich stattfand, um zu demonstrieren, dass Mr Merlins Behauptung, auf dem Deck sei genug Platz für ein ganzes Orchester, stimmte. Das teilte sie Mr Larsen mit gesenkter Stimme mit, der schmunzelnd ihre Hand drückte, während die mitreißende Melodie eines Strauß-Walzers erklang. Einige Paare tanzten. Erstaunlich, dachte Evelyn, dass diese eleganten Menschen tanzen und lachen konnten, während ihr Vermögen – falls das, was Mr Larsen ihr gesagt hatte, stimmte – sich in Luft auflöste. War das alles nur ein Spiel, und wenn ja, zu welchem Zweck? Trotz oder Verblendung? Oder meinten sie, hier, am Hof des Magiers, vor Katastrophen geschützt zu sein?
Sie entdeckte ihren Vater, der sich einige Zeit zuvor von ihnen entfernt hatte und sich nun mit ihrem Gastgeber unterhielt. Er stand halb hinter einer Säule, weswegen er den Bediensteten, der sich mit einem Silbertablett Mr Larsen näherte, nicht sehen konnte.
»Ein Telegramm für Mr Ballantyre, Sir, von der Walküre.«
Wenig später gesellte sich ihr Vater wieder zu ihnen, und Mr Larsen zeigte ihm das Telegramm. Evelyns Vater las es, runzelte die Stirn und reichte es Mr Larsen, der es ebenfalls überflog und ihm wortlos zurückgab.
Evelyn spürte Angst in sich aufsteigen. »Was ist, Papa?«
»Ach, etwas Geschäftliches, Liebes«, antwortete er, bevor er das Telegramm noch einmal las, es nachdenklich faltete und schließlich geistesabwesend den Falz mit Daumen und Zeigefinger nachzog. Als die Musik aufhörte, beugte er sich zu Mr Larsen vor. »Wir müssen den Mann finden, bevor jemand anders es tut. Es steht viel auf dem Spiel.«
»Aber wo sollen wir nach ihm suchen …?«
»Wenn überhaupt jemand ihn findet, dann Kershaw.«
»Dem vertraust du?«
»Er ist der beste Agent, den ich je hatte.«
Evelyn lauschte, als sie anfingen, sich über Verträge und Übereinkünfte, über Schürf- und Bodenrechtsregistrierungen zu unterhalten, und verstand kein einziges Wort.
»Das gefällt mir nicht«, schloss ihr Vater mit grimmiger Miene. »Die Sache ist nicht ganz koscher.«
Der Abend war verdorben. Evelyn blieb nichts anderes übrig, als enttäuscht zuzuhören. Geschäfte, Männersache. Auf der Rückfahrt zur Walküre wurde ihr klar, dass man sie vergessen hatte. Es gebe einen frühen Zug, teilte Mr Larsen ihrem Vater mit, der Charles zu einem Hafen bringen würde, von dem aus er das Dampfschiff über den See nehmen und Port Arthur einige Tage früher als die Jacht erreichen könne. Dort wäre er dann in der Lage, selbst festzustellen, wie die Dinge stünden.
Evelyn verließ das Boot mit verkniffenem Mund und machte sich auf den Weg nach unten. Erst jetzt schien ihr Vater sich zu erinnern, dass sie bei ihm war. Er ergriff ihren Arm, drehte sie zu sich herum und hob ihr Kinn mit dem Zeigefinger an.
»Es geht leider nicht anders, Liebes«, meinte er und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.
»Nein?«
Er verzog das Gesicht. »Nein …«
Mr Larsen bedachte Evelyn mit einem mitfühlenden Blick. »Wir kommen auch ohne ihn zurecht, das verspreche ich Ihnen. So kann ich Sie sogar verwöhnen, ohne Einwände Ihres Vaters befürchten zu müssen. Außerdem treffen morgen früh Ihre Freunde ein.«
»Und wenn Clementina da ist, musst du dir nicht mehr den Kopf über mich zerbrechen …« Evelyn bedachte ihren Vater mit einem Lächeln, das kein echtes Lächeln war, löste ihren Arm aus seinem Griff und ging unter Deck.
Zwei
Nachdem Evelyn die Kabinentür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich kurz dagegen und betrachtete ihr heruntergeklapptes Bett. Eine Bedienstete erhob sich mit müdem Blick von einem Stuhl, um Evelyns Anweisungen entgegenzunehmen. Evelyn ließ sich von ihr die Haken des Kleids lösen, das sie in New York erworben hatte, bevor sie sie mit einem freundlichen Nicken entließ.
Ausziehen konnte sie sich ja wohl allein …
Mr Larsens Jacht war nicht so groß und prächtig wie die von Mr Merlin, aber er sorgte dafür, dass es Evelyn an nichts fehlte. In ihrer Kabine befand sich eine eingebaute Frisierkommode, ein schönes Stück aus Walnussholz mit glänzenden Messinggriffen, an die sie sich nun setzte, um die Nadeln aus ihren Haaren zu entfernen und sich im Spiegel zu betrachten. Darin sah sie ein müdes, mürrisches Gesicht. Sie fuhr sich mit den Fingern durch ihre Mähne, schüttelte sie und begann sie auszubürsten, ohne auf die Tränen zu achten, die ihr in die Augen traten und die sie ihren heftigen Bürstbewegungen zuschrieb.
Ein rosafarbenes Stück Papier auf einem Silbertablett, mehr war nicht nötig gewesen, um ihren Vater wegzulocken, weg von ihr, die trotz seiner Versprechungen auch hier wieder nur eine Nebenrolle in seinem Leben spielte – wie zu Hause. Sie erhob sich, wusch sich, kletterte in das merkwürdige kleine Klappbett und zog die Quiltdecke bis zum Kinn hoch, musste aber feststellen, dass der seidige Stoff kaum Wärme bot.
Nach jenem Nachmittag in seinem Edinburgher Arbeitszimmer hatte er ihr verboten, das Haus ohne Begleitung zu verlassen. Bestürzt über seine Miene hatte sie es nicht gewagt, sich ihm zu widersetzen, während er hinter den Kulissen alles sehr schnell regelte und sie schließlich vor vollendete Tatsachen stellte.
»Nächsten Monat wirst du mich nach New York begleiten, Liebes«, hatte er ihr einige Tage nach dem Zwischenfall bei geschmortem Lamm zu ihrem Erstaunen mitgeteilt. »Sobald meine geschäftlichen Termine dort erledigt sind, nehmen wir den Zug nach Chicago und treffen Mr Larsen. Er will mit einer kleinen Flotte von Booten zur Weltausstellung und hat uns auf seine Jacht eingeladen. Die ganze Welt ist unterwegs nach Chicago, sagt er, also fahren wir auch hin.«
Er hatte sein Glas gefüllt, ihre Reaktion leicht belustigt registriert und auf ihren halb vollen Teller gedeutet. »Hast du keinen Hunger?«
Sie hatte ihr Fleisch geschnitten und sorgfältig gekaut, ohne ihm in die Augen zu blicken, damit er ihre Aufregung nicht bemerkte. Endlich würde sie noch etwas anderes von der Welt kennenlernen als Ballantyre House und Edinburgh. Und er würde sie mitnehmen, sie nicht zu Hause lassen.
»Wenn wir uns an all den Wundern sattgesehen haben, fahren wir weiter nach Kanada …«
Sie hatte die Stirn gerunzelt und gleichmäßig weitergekaut. Ihr Vater war an kanadischen Unternehmen beteiligt und hatte wie Mr Larsen in die dortige Eisenbahn investiert.
»… wo wir angeln gehen werden.«
Sie hatte geschluckt und ihn verwundert angesehen. »Angeln?«
»Ja, angeln«, hatte er wiederholt, »im besten Forellenfluss der Welt.« Er hatte die Hand ausgestreckt, um eine Kartoffel aufzuspießen. »Eine richtige Expedition mit Zelten, Kanus, Lagerfeuern und allem Drum und Dran. Und falls du das langweilig finden solltest, kannst du Clementina dein Leid klagen. Sie und George werden sich in Chicago zu uns gesellen und mit uns nach Norden fahren.«
Sie hatte ihn entgeistert angesehen. »Aber … Clementina in einem Zelt?«
Kurz hatten sie sich beide über die Vorstellung von der eleganten und ausgesprochen femininen Lady Clementina Melton in einem Zelt amüsiert.
»George ist begeistert von der Idee und hat es geschafft, Clementina davon zu überzeugen, dass es ihr Vergnügen bereiten wird. Sie leistet dir nicht nur Gesellschaft, sondern verleiht dir auch Respektabilität, die dir nicht sonderlich wichtig zu sein scheint.«
Dies war sein bisher deutlichster Verweis auf den Zwischenfall. Sie hatte trotzig das Kinn gehoben, worauf er sie mit grimmig-belustigter Miene musterte.
»Falls du dich nach Abenteuern sehnst, Liebes, wirst du die auf dem Nipigon leichter finden als hinter einer Hecke in den Castle Gardens.«
Danach hatte sie ihn in der Hektik der Reisevorbereitungen kaum noch gesehen. Während der Fahrt über den Atlantik war sie bei hohem Wellengang seekrank geworden.
Er hatte sie jeden Tag aufgesucht und sich mitfühlend erkundigt: »Du Arme, verträgst du das Geschaukle immer noch nicht?«
Als sie sich dann tatsächlich daran gewöhnt hatte, war bereits die Skyline von New York in Sicht gekommen.
Von dort aus waren sie hierhergefahren.
Und morgen würde er wieder aufbrechen …
Evelyn verschränkte die Hände hinter dem Kopf und betrachtete düster die Gipsdecke ihrer Kabine. Das Geschäft war der Herrscher über sein Leben, ein strenger, unnachsichtiger Herrscher. In New York war es wieder das Gleiche gewesen. Dort hatte er sie sofort nach ihrer Ankunft in die Obhut der Frau eines seiner Geschäftsfreunde gegeben, während er verschwand, um Dinge in der Stadt zu erledigen. Offenbar war alles im Voraus arrangiert worden. Dass er sie nicht informiert hatte, ärgerte sie.
Die Frau, eine Matrone um die vierzig, hatte sie unter ihre Fittiche genommen, sich über ihr Äußeres mockiert und war gleich mit ihr zum Einkaufen gegangen, um Evelyns ihrer Ansicht nach dürftige Garderobe zu ergänzen. Evelyn hatte das Angebot des luxuriösen Warenhauses, die adretten Verkäuferinnen und die eleganten Kundinnen mit großen Augen bestaunt, und ihre Begleiterin hatte sie ermutigt, das Geld ihres Vaters auszugeben, sie dabei allerdings so stark bedrängt und sich so große Vertrautheit angemaßt, dass Evelyn sich schon aus Prinzip weigerte.
Nun wünschte sie sich, weniger zurückhaltend gewesen zu sein …
Vielleicht hätten exorbitant hohe Ausgaben seine Aufmerksamkeit erregt, denn ihrem veränderten Aussehen und ihrer wachsenden Frustration war das nicht gelungen. Ihre neue Frisur und ihre modische Kleidung hatten ihm lediglich ein »Sehr hübsch, Liebes« entlockt. Ansonsten hatte er sie, wie alles, was sich außerhalb seiner eigenen Welt abspielte, kaum wahrgenommen. Seiner Welt der Geschäfte. Einer Männerwelt.
Sie drehte sich zur Seite, den Blick auf die mit Vorhängen geschmückten Bullaugen gerichtet. Etwas Geschäftliches, hatte er am Abend gesagt und wieder einmal diese unüberwindliche Barriere zwischen ihnen errichtet. Geschäfte schufen Wohlstand, und Wohlstand erkaufte Behaglichkeit. Sie waren sehr wohlhabend, das begriff sie, weswegen sich ihr Leben ausgesprochen behaglich gestaltete. Von ihr erwartete man nur, dass sie den Haushalt ihres Vaters schmückte, bis er sie irgendwann irgendeinem Mann zur Frau gab. Und Evelyn sah keine Fluchtmöglichkeit.
Er schien nie reden, richtig reden zu wollen, über die wichtigen Dinge, und manchmal war er monatelang nicht daheim. Selbst wenn er sich zu Hause aufhielt, war er für sie unerreichbar, vergrub sich mit Papieren in seinem Arbeitszimmer und gab Anweisung, ihn nicht zu stören. In den vergangenen Jahren hatte es sich bei ihm zu einer veritablen Besessenheit ausgewachsen, Reichtum anzuhäufen. Evelyns Ansicht nach war der ein dürftiger Ersatz für das, was sie früher einmal gehabt hatten und nun nicht mehr besaßen. Ihre Gedanken schreckten zurück vor gefährlichem Terrain und flüchteten sich auf das sicherere Gebiet des Kummers. Sie erinnerte sich, wie er vier Jahre zuvor eine versprochene Reise zur Weltausstellung in Paris abgesagt hatte und stattdessen nach Kapstadt gefahren war, von wo er mit exotischen Geschenken zurückkehrte, die ihren Schmerz nicht lindern konnten.
In letzter Zeit hatten sich nicht nur ihre Ressentiments gegen ihn verstärkt, ihr war auch aufgegangen, wie weitreichende Investitionen ihr Vater tätigte: In Südafrika war er an Goldminen beteiligt, in Kanada an Eisenbahnlinien. Sie begann außerdem zu begreifen, wie eng seine geschäftlichen Beziehungen zu Mr Larsen und seiner Bank waren. Der Bankier hielt sich immer häufiger in Ballantyre House auf. Vielleicht kamen sie in dem Haus in Edinburgh ebenfalls zusammen, obwohl Evelyn das bezweifelte. Edinburgh war der Ort, an dem ihr Vater seinen philanthropischen und Verwaltungstätigkeiten nachging, wo er das Theater besuchte und sich mit Freunden traf. Und mit seinen Frauen …
Sie lauschte auf das sanfte Lecken der Wellen am Rumpf der Jacht und überlegte, wann seine Besessenheit von geschäftlichen Dingen begonnen und ihr Verhältnis zueinander sich so drastisch verändert hatte. Und ihr kam jener Tag fünf Jahre zuvor in den Sinn, an dem der Wilderer erschossen worden war.
Drei
Columbian Exposition, Chicago, 1893
»Unglaublich, Mr Larsen!«
Larsen führte die gerade angekommenen Gäste in den Salon der Walküre, wo Lady Melton sich staunend umsah.
»Alles so ordentlich und elegant.«
Larsen verfolgte amüsiert, wie sie die Finger über die Möbel gleiten ließ und innehielt, um den Sitz ihres Hutes vor dem vergoldeten Spiegel zu überprüfen, bevor ihr Blick über die ledergebundenen Bücher in den Regalen wanderte.
»Findest du nicht auch, George?«
Ordentlich und elegant, so, so. Wie um Himmels willen hatte Ballantyre sie dazu überredet hierherzukommen?
»Meine Frau ist leider schrecklich neugierig«, meinte Melton mit einem entschuldigenden Lächeln. »Wenn Sie es ihr nicht ausdrücklich verbieten, schaut sie in alle Schubladen.«
Sir George Melton war schmal und kantig wie die meisten Engländer seiner Gesellschaftsschicht. Zurückhaltend, aber gewitzt, vermutete Larsen. Und mehrere, vielleicht sogar zehn Jahre älter als seine Frau. Larsen war dieser Typ Mann vertraut. Gentlemen wie er bewohnten englische Anwesen auf dem Land und kannten sich aus mit Sportgewehren, Kartenspielen und Frauen. Sie waren in der Lage, die ganze Nacht zu trinken und bei Tagesanbruch schon wieder auf dem Pferd zu sitzen.
Von Ballantyre wusste Larsen, dass Melton passionierter Angler war, und das genügte ihm.
»Fühlen Sie sich auf der Jacht wie zu Hause, meine Liebe«, sagte Larsen und verbeugte sich augenzwinkernd. »Evelyn freut sich schon auf Ihre Gesellschaft.«
Die Tochter seines Freundes bedachte ihn mit dem gleichen verkniffenen Lächeln, das sie bereits den gesamten Vormittag zur Schau trug. Zum Beispiel am Morgen, als sie neben Ballantyre am Bahnsteig auf den verspäteten Zug der Meltons gewartet hatte. Larsen waren die wiederholten kurzen Blicke seines Freundes auf die Bahnhofsuhr nicht entgangen. Am Ende war lediglich Zeit für eine hastige Vorstellungsrunde und ein paar kurze Erklärungen gewesen, während das Gepäck der Gäste entladen wurde.
Evelyn hatte mit versteinerter Miene dagestanden und nur wenig gesagt, als ihr Vater sich dafür entschuldigte, dass er sich so überstürzt von ihnen verabschieden musste.
»Schade, aber natürlich haben wir ein Auge auf Evelyn«, hatte Lady Melton gemeint und Evelyn freundlich bei sich untergehakt. »Leider entgeht Ihnen so die Fahrt über die Seen …«
»Aber nicht das Angeln, nehme ich an«, hatte ihr Mann trocken ergänzt.
»Sicher nicht.« Ballantyre hatte erneut einen Blick auf die Bahnhofsuhr geworfen und, den Mantel über dem Arm, seine Reisetasche in die Hand genommen. »Ich muss los. Noch einmal Entschuldigung, Clementina. Ich bin Ihnen sehr dankbar, und wenn es Ihnen gelingt, Evelyn dazu zu bringen, dass sie mir verzeiht, werde ich auf ewig in Ihrer Schuld stehen. Niels, was soll ich sagen …?«
»Ist nicht der Rede wert. Mach dich auf den Weg!«
Ballantyre hatte seine Tochter angesehen und abrupt die Reisetasche abgestellt, Evelyn zu sich herangezogen und gemurmelt: »Evie, Liebes, bitte hör auf, mich zu hassen.« Dann hatte er ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt.
Ein merkwürdig schmerzerfüllter Ausdruck war auf das Gesicht des Mädchens getreten. »Ich komme zum Abteil mit«, hatte Evelyn gesagt.
»Nein.« Ballantyre hatte sich von ihr gelöst und sie zu Lady Melton geschoben, bevor er seine Tasche vom Boden aufhob. »Ich muss mich beeilen.« Mit diesen Worten war er den Bahnsteig entlanggehastet und eingestiegen. Aus dem Zug hatte er ein einziges Mal gewinkt, eine Geste, die des Rauchs wegen, den die Lokomotive beim Anfahren ausstieß, kaum zu sehen war, und Evelyn hatte ihm mit halb erhobener Hand nachgeblickt.
Nun musterte Larsen sie, wie sie aus dem Fenster schaute, während Lady Melton sich weiter entzückt über den eleganten Salon äußerte. Bestimmt steckte hinter diesem Bruch zwischen Vater und Tochter mehr als ein Streit über einen halbwüchsigen Jungen aus dem Moor. Oder war das arme Mädchen etwa in den Burschen verliebt gewesen? Ballantyre hatte Larsen den Eindruck vermittelt, dass es ihm gelungen war, die Sache im Keim zu ersticken, bevor Schaden entstehen konnte.
Vielleicht war es am klügsten, Evelyn der Obhut ihrer Freundin zu überlassen, dachte Larsen und wandte sich George Melton zu.
»Das Ruderhaus und der Maschinenraum dürften Sie interessieren, Sir. Ich zeige Ihnen beides, während Evelyn Ihrer Frau hilft, sich hier häuslich einzurichten. Bevor wir an Land gehen, gibt es an Deck ein leichtes Mittagessen.« Er geleitete seinen Gast zur Tür. »Letztes Jahr habe ich eine neue Maschine einbauen lassen, so fahren wir schneller und ruhiger.«
Sobald die beiden weg waren, forderte Clementina Evelyn mit leuchtenden Augen auf: »Zeig mir alles, meine Liebe!«
Die Kabine der Meltons war selbstverständlich größer als die von Evelyn und genauso luxuriös eingerichtet.
»Faszinierend!« Clementina warf einen anerkennenden Blick auf den hübschen Schreibtisch und die Frisierkommode und bückte sich, um die Schubladen unter dem Klappbett in Augenschein zu nehmen. »Wie in einem Puppenhaus. Alles ist so praktisch.« Sie begutachtete die Stifte und das Briefpapier auf dem Tisch und stieß Entzückensschreie über die kleinen Luxusartikel aus, nahm Handspiegel und Bürsten, legte sie wieder weg und bewunderte eine Porzellanschale mit Rosenblüten. »Das wird sicher eine schöne Fahrt! Was für eine wundervolle Idee von deinem Papa, uns einzuladen!«
Ihr Tonfall ließ Evelyn stutzen. Wusste Clementina über den Zwischenfall Bescheid? Bei dem Gedanken wurde sie vor Entrüstung rot, und sie drehte sich weg, vorgeblich, um die Tür zu dem winzigen Bad und dem Wasserklosett zu inspizieren. Clementina schob sich an ihr vorbei und sah hinein. »Sogar eine Dusche gibt’s hier! Gütiger Himmel! Die muss George zuerst für mich ausprobieren, denn die in New York war schrecklich kompliziert!«
Clementina schwärmte weiter von den Wundern New Yorks, den hohen Gebäuden, Geschäften und Theatern, die sie besucht hatten, und den Menschen auf den Straßen, während sie die Hutnadeln löste, den Hut absetzte, ihre Haare glättete und den Hals reckte, um ihren Teint im Spiegel zu überprüfen.
»Ich hätte ewig dort bleiben können, du nicht? All die herrlichen Läden! Aber George hatte Angst, dass ich ihn in den Ruin treibe. Ich hatte ja keine Ahnung, dass die Jacht so luxuriös sein würde. Wie viel Geld diese Amerikaner zu haben scheinen!«
Sie inspizierte eine imaginäre Hautunreinheit mithilfe des silbernen Handspiegels.
»Dein Mr Larsen ist wirklich nett. George meint, er ist reich wie Krösus.«
Sie schlug die Hand vor den Mund und verzog verlegen das Gesicht, während sie Evelyn über den oberen Rand des Spiegels hinweg ansah. »Aber er ist ja auch Bankier.«
Ihr Mr Larsen? Was um Himmels willen dachte sie? Ihre Freundin erschien Evelyn größer und schmaler, als sie sie in Erinnerung hatte, und kantiger. Erwachsener. »Er ist ein alter Freund der Familie«, erklärte sie.
Clementina senkte den Spiegel und stieß ein glucksendes Lachen aus, das fast wie früher klang.
»Ach, Dummchen, so war das nicht gemeint! Der ist doch viel zu alt für dich. Daheim musst du uns einmal länger besuchen. Dann stelle ich dir alle möglichen Leute vor …«
Sie wusste also tatsächlich etwas, dachte Evelyn.
»… und wir überreden deinen Papa, dass er wieder Leute nach Ballantyre House einlädt. Seine Jagdgesellschaften waren legendär. Ich war damals noch zu jung dafür, aber George ist immer gern hingegangen.«
Dann hatten plötzlich keine mehr stattgefunden …
Clementina war auf einem Anwesen gerade einmal dreißig Kilometer von Ballantyre House entfernt aufgewachsen und hatte in ihrer Jugend, obwohl fünf Jahre älter als Evelyn, viel Zeit mit dieser verbracht. Doch schon bald war Clementina in die Höhe geschossen, hatte angefangen, ihre Haare hochzustecken, und sich innerlich von ihr entfernt. Ihre Ehe mit George Melton, mit dem sie in Richtung Süden, nach England gezogen war, galt allgemein als gut.
»Was hat Papa dir gesagt?«, fragte Evelyn.
Ihre Freundin zögerte und begann, die Kissen auf dem Bett aufzuschütteln.
»Wie meinst du das?« Clementina wandte sich wieder dem Frisiertisch zu, strich ihre Haare noch einmal glatt und sah Evelyn im Spiegel an.
»Du weißt ganz genau, wie ich das meine«, antwortete Evelyn. Clementina war nie eine gute Lügnerin gewesen. »Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, weißt du. Verrate mir, was er gesagt hat.«
Clementina zuckte mit den Achseln und setzte sich.
»Mein Gott, nur dass du mit den richtigen Leuten in Kontakt kommen und Gelegenheit haben sollst, etwas von der Welt zu sehen. Und er hat gefragt, ob wir euch begleiten wollen.«
Wieder stiegen Ressentiments in Evelyn hoch.
»Hat er behauptet, dass ich mich mit den falschen Leuten abgebe?«
»Tust du das denn?« Clementinas vielsagender Gesichtsausdruck veranlasste Evelyn, sich abzuwenden.
Inzwischen schämte sie sich für den Zwischenfall. Sich auf ein Treffen mit Patrick Kelly einzulassen war ein Fehler gewesen. Sie hatte erleichtert reagiert, als ihr Vater ihn nach seiner Entdeckung so abrupt entließ. Es war die eine Sache, sich während Ausritten auf dem Anwesen zu unterhalten, doch eine völlig andere, sich in Edinburgh heimlich mit ihm zu treffen, hatte sie feststellen müssen. Er hatte auf der Parkbank zu nahe bei ihr gesessen, sein Blick war zu unverblümt gewesen, und sie hatte nicht damit gerechnet, dass er ihre Hand nehmen würde. Letztlich war sie froh gewesen, als ihr Vater sich ihnen auf dem Kiespfad zwischen den hohen Lorbeerhecken näherte, trotz der Szene, die er ihr dann machte.
»Wer war denn der Glückliche?« Clementinas Augen funkelten neugierig, doch als Evelyn ihre Frage beantwortete, rief sie entsetzt aus: »Ein Stallbursche! Evie, was um Himmels willen hast du dir dabei gedacht? Das ist Wahnsinn und kann großen Schaden anrichten!«
Schaden! Evelyns Ressentiments verwandelten sich in Zorn. »Es war völlig harmlos. Wir haben uns unterhalten, in aller Öffentlichkeit …«
»In aller Öffentlichkeit!« Clementinas Entsetzen wuchs. »Evie! Hoffentlich hat euch niemand gesehen!«
»Und wenn, wäre es auch egal gewesen, weil ich keine Menschenseele in Edinburgh kenne.« Sie machte Anstalten zu gehen, doch Clementina hielt sie auf.
»Wenn du es unbedingt wissen willst: Dein Papa hat dein Verhalten in seinem Brief an mich als Fehleinschätzung bezeichnet und mich gebeten, dich sozusagen unter meine Fittiche zu nehmen, sobald wir wieder zu Hause wären. Er hat sich selbst die Schuld gegeben, nicht dir …«
Da klopfte es an der Tür, und man teilte ihnen mit, dass gleich das Mittagessen auf dem Achterdeck serviert werde.
»Es ist ja nichts passiert, und niemand weiß etwas, nicht einmal George.«
* * *
Larsen begrüßte seine junge Freundin, die sich unter dem gestreiften Sonnensegel am Achterdeck neben ihn setzte, mit einem Lächeln. Sie wirkte nicht mehr so blass, fand er.
»Herrlich!«, schwärmte Lady Melton gerade. »Was für ein Vergnügen! Alle waren unglaublich neidisch, als ich erzählt habe, dass wir zur Weltausstellung fahren. George interessiert sich natürlich eher fürs Angeln und legt Hardy’s Katalog kaum noch aus der Hand, seit wir die Einladung von Charles erhalten haben.«
»Ausstellungen finden immer wieder einmal statt«, meinte Melton schmunzelnd, »aber die Gelegenheit, am Nipigon zu angeln …«
»… ist etwas Einmaliges.« Larsen nickte und hob sein Glas. Er konnte den Mann gut leiden. »Allerdings hoffe ich, dass Sie nicht zu viel Geld für Ausrüstung ausgegeben haben. Die Forellen im Nipigon sind nicht sonderlich wählerisch, sie beißen eigentlich immer an. Das Schwierigere ist der Kampf danach. Da muss man entschlossen zupacken können.«
Er griff nach der Flasche, um Getränke für die Damen einzuschenken, als Melton erzählte: »Ich habe mir eine von diesen neuen Angelruten mit Stahlkern geleistet …«
Seine Frau wandte sich Evelyn zu. »Du hast ja keine Ahnung, was es beim Angeln alles zu bedenken gilt: Ruten, Schnüre, Fliegen. Wahrscheinlich ist dein Papa genauso schlimm wie George.«
»Verwendet er immer noch seine ganz speziellen Fliegen als Köder?«, erkundigte sich Melton bei Evelyn.
»Ich glaube schon«, antwortete sie.
Als sie nach einem scharf gewürzten Ei griff, sah Larsen wieder diesen merkwürdigen Schatten über ihr Gesicht huschen. Er lenkte das Gespräch zurück auf das Thema Weltausstellung, beschrieb die Konflikte bei Planung und Aufbau sowie die Auseinandersetzungen über die Hallen und Exponate. Dann neckte er Evelyn sanft wegen ihrer Meinung über das Mines and Mining Building und wurde endlich mit einem Lächeln belohnt.
»Geben Sie es zu, meine Liebe, Sie fanden es todlangweilig.«
»Natürlich«, sagte sie und hob ihr Kinn auf die ihr eigene aparte Art.
»Das kann ich mir vorstellen! Wo man doch auch all die hübschen Promenaden und Höfe bewundern könnte«, meinte Clementina. »Aber keine Sorge: Heute Nachmittag erkunden wir die ausführlich.«
* * *
Nach dem Essen brachte das Beiboot der Walküre sie durch den glänzend weißen Triumphbogen der Ausstellung zu der Anlegestelle für Besucher von der Seeseite.
»Die Schau feiert vier Jahrhunderte des Fortschritts seit der Landung von Kolumbus«, erläuterte Larsen, als sie am stillen Wasser des Bassins entlanggingen. »Der Zeitpunkt ist angesichts der aktuellen Ereignisse vielleicht nicht allzu geschickt gewählt, aber in schwierigen Jahren wie diesen fällt es vermutlich leichter zurückzublicken als nach vorn.«
»Ja«, pflichtete George ihm bei. »Manchmal wirkt die Vergangenheit weniger bedrohlich als die Zukunft.«
Tatsächlich? Evelyn drehte ihren Sonnenschirm, während sie den Brunnen am anderen Ende des Bassins betrachtete. Für sie stellte die Vergangenheit einen Ort dar, an den sie sich kaum jemals wagte.
Tags zuvor war sie mit ihrem Vater und Mr Larsen neben dem riesigen Brunnen gestanden, und ihr Vater hatte mit dem Daumen auf die kunstvoll gearbeiteten Skulpturen gezeigt.
»Was soll uns das sagen?«, hatte er gefragt. »Eine geflügelte Siegesgöttin, dazu ein paar kräftige rudernde Nymphen …«
»Das sind die Künste, die Wissenschaft und die Industrie, die das Gefährt voranbringen«, hatte Mr Larsen mit einem Lächeln in Richtung Evelyn erklärt. »Klassische allegorische Figuren, wie du sicher weißt, mein Freund.«
»Aha! Amerika in der Nachfolge Roms.«
»Genau.«
»Ist dir denn die Ironie nicht bewusst?« Ballantyre hatte sich abgewandt, um einer wohlgeformten Fessel nachzublicken, deren Besitzerin am Rand des Bassins entlangschlenderte.
Mr Larsen hatte die Augen verdreht und Evelyn bei sich untergehakt.
»Wieso ist Ihr Vater so zynisch, meine Liebe?«
Darauf hatte sie keine Antwort gewusst.
George wirkte beeindruckter, als ihr Vater es tags zuvor gewesen war. »Mich fasziniert die Größe.« Er nahm eine imposante vergoldete Statue in Augenschein, die sich aus dem Bassin erhob und die Einheit der Republik symbolisierte.
Auch dafür hatte Evelyns Vater am Vortag nur ein verächtliches Schnauben übrig gehabt.
»Einheit?«, hatte er gehöhnt. »Ich frage mich, was die Farmer der Prärie, die praktisch Sklaven der Versicherungsgesellschaften an der Ostküste sind, wohl dazu sagen würden. Und die Streikenden …«
»Mein Lieber«, Mr Larsens Augen hatten gefunkelt, »du machst es einem Führer durch die Ausstellung sehr schwer.«
»Tue ich das?«
Doch Evelyn, die dieser Seite von ihm schon lange nicht mehr begegnet war, hatte ihn erstaunt angesehen. Da war sie wieder, seine alte Leidenschaft …
Mr Larsen riss sie aus ihren Gedanken. »Wen kann ich für die Wunder des Midway Plaisance begeistern? Ich vermute, dass Lady Melton sich uns anschließen möchte, aber wie sieht es mit Ihnen aus, Sir?«
George schüttelte den Kopf und meinte, er werde den Weg zum Electricity Building allein finden und sich später auf der Jacht wieder zu ihnen gesellen.
Mr Larsen hakte die beiden Damen links und rechts bei sich unter und geleitete sie durch das Tor des Midway Plaisance.
»Wo wollen wir anfangen?«, fragte er. »Sollen wir zuerst die Kamele bestaunen oder die Männer in Seidengewändern, die vor dem Turkish Theatre, dem Türkischen Pavillon, Wasserpfeife rauchen? Oder darf ich Sie dem Anblick von Halbnackten aus einem samoanischen Dorf aussetzen?«
Das Midway Plaisance sei erst spät in die Ausstellung aufgenommen worden, teilte er ihnen mit, als sie den Hauptweg entlangspazierten, und bei den Besuchern ausgesprochen beliebt.
Doch am Ende des langen heißen Sommers wirkte alles ausgeblichen und schlaff. Evelyn, die in der Menge hin und her geschoben wurde, hatte schon bald genug von dem Lärm und der allgemeinen Geschäftigkeit, über die sich exotische klagende Musik und Rufe der Verkäufer legten, während über ihren Köpfen die Fahnen zahlreicher Nationen knatterten. Die hängenden Schultern der Händler und Aussteller zeugten von Müdigkeit, Langeweile und Gleichgültigkeit. Trotzdem versuchten sie Besucher in die Hallen zu locken und äfften die säuerliche Miene und das mürrische Stirnrunzeln derjenigen nach, die sich weigerten einzutreten. An etlichen Basaren und Verkaufszeilen hingen bereits Schilder mit der Aufschrift Ausverkauf, alle Waren zum halben Preis.
Sie betrachteten eine Gruppe von Kopf bis Fuß in dicke Felle gehüllter, in der Augustsonne schwitzender Eskimos, die halbherzig die Peitsche über ihren räudigen Schlittenhunden schwangen.
»Die armen Tiere …«, bemerkte Evelyn, als die Männer die Hunde, die mit heraushängender Zunge und mattem Blick dahintrotteten, zwangen, die Schlitten staubige Bahnen entlangzuziehen. »Sie sehen aus, als würden sie gleich tot umfallen, und die Männer auch …«
»Die Veranstalter der Ausstellung haben gedroht, ihnen nichts mehr zu essen zu geben, wenn sie keine Felle tragen …«
»Nein!«
»… weswegen die Eskimos vor Gericht gegangen sind.«
»Haben sie gewonnen?«, erkundigte sich Evelyn.
»Ein paar Zugeständnisse haben sie sich erkämpft, mehr nicht. Sie sind eben nur Exponate.«
Larsen führte sie zu einem Bereich, der einer Straße in Kairo nachempfunden war. Die Kamele und ihre Treiber waren mit bunten Roben und Decken ausstaffiert.
»Sie wollen reiten? Sonderpreis für hübsche Dame …«, fragte ein dunkelhäutiger Mann, der sehr nahe zu Evelyn herantrat, um an ihrem Ärmel zu zupfen. Dem Maul seines Kamels, das gleichmütig vor sich hin kauend auf spindeldürren Beinen wankte, entströmte grässlicher Gestank.
Mr Larsen gab dem Mann mit einer Geste zu verstehen, dass er sich entfernen solle.
Das Riesenrad jedoch war etwas ganz anderes. Evelyn wartete voller Vorfreude, während Mr Larsen die Fahrkarten für eine eigene Gondel löste. Von oben war der gesamte Komplex der Ausstellung mit ihren Hallen, Pavillons, Bassins, Seen und Kanälen wunderbar zu sehen. Evelyn schaute hinunter zur Kuppel des Moorish Palace, des Maurenpalasts, und hinüber zur grauen Fläche des Sees. Eine kühle Brise wehte durchs offene Fenster herein.
»Es ist wie ein Wunder!«, rief Clementina aus. »Was geschieht damit, wenn die Ausstellung vorbei ist?«
»Dann wird alles abgebaut.«
»Sämtliche Gebäude?«
»Sie würden den Winter nicht überstehen.«
»Aber …«
»Das Ganze ist eine Illusion. Stroh und Gips über Holz- und Stahlrahmen, dazu weiße Farbe und Blattgold. Nächstes Jahr um diese Zeit ist Jackson’s Lake wieder Sumpfland.«
Darüber dachte Evelyn nach, als die Gondel sie nach unten brachte. Illusion und Täuschung? Das schrille Lachen und die besorgten Blicke auf Jeb Merlins Jacht am Abend zuvor fielen ihr ein. Stroh und Gips, weiße Farbe und Blattgold …
Die Illusion verflüchtigte sich am Boden, wo ihnen der Schweißgeruch von Menschen, vermischt mit dem von Tierkot und fettigem Essen, entgegenschlug. Als sie aus der Gondel des Riesenrads stiegen, stellten sie fest, dass es schwül und drückend geworden war.
»Morgen, denke ich, sehen wir uns das Woman’s Building an«, bemerkte Mr Larsen und schob sie zu einem Tisch im Schatten. Er entfernte sich und kehrte kurz darauf gefolgt von einem Kellner zurück, der ein Tablett mit Limonade, gekühlt mit Eis aus einem riesigen Eiskeller, in der Hand hielt und ihnen Souvenirfächer reichte. Während sie an ihren erfrischenden Getränken nippten, einigten sie sich darauf, bald zur Jacht zurückzukehren.
Da ereignete sich ein kleines Drama. Der Rückweg führte sie an den Wigwams des Indianerdorfs vorbei. Evelyn blieb vor einer niedrigen, in eine Lücke gezwängten Holzhütte stehen und las den Text auf dem schäbigen Plakat, das daran hing. Hier wurde am 15. Dezember 1890 der Lakota-Häuptling Sitting Bull getötet, als er sich seiner Festnahme wegen der Planung eines blutigen Indianeraufstands widersetzte. An jenem Tag starben acht Polizeibeamte in Ausübung ihrer Pflicht.
»Und deutlich mehr Lakota-Sioux …«, murmelte Larsen.
»Erst vor drei Jahren!« In Clementinas Blick lag Panik.
Ein Mann in schmutziger Kleidung aus ungegerbtem Leder saß mit hängendem Kopf auf den Stufen der Hütte und scharrte mit einem Stock im Staub herum. War er auch Teil der Ausstellung?, fragte sich Evelyn. Da flog plötzlich die Tür der Hütte hinter ihm auf, und zwei kämpfende Menschen stürzten ins Freie, traten und bissen einander, fluchten und zerrten sich gegenseitig an den Haaren. Mit ihnen rollte eine leere Schnapsflasche heraus. Der Mann sprang von den Stufen auf und versuchte, die beiden zu trennen, doch sie stießen ihn weg, in die Menge Neugieriger, die sich inzwischen um sie geschart hatte. Er stolperte, verlor das Gleichgewicht, fiel gegen Evelyn, warf sie um und landete auf ihr.
Es geschah alles so schnell. Evelyn, die unter dem Gewicht des Mannes, eine Mischung aus abgestandenen Alkoholdünsten und seinem Körpergeruch in der Nase, nach Luft schnappend auf dem Boden lag, hörte einen Aufschrei. Fasziniert traten die Schaulustigen näher. Als der Mann sich aufrichten wollte, wurde er unsanft von Evelyn weggezerrt.
»Du schmutziges Vieh …!«
Dann ein Schlag, und der Mann landete auf dem Boden. Ein Fremder kniete neben Evelyn nieder und schob seine zusammengelegte Jacke unter ihren Kopf. »Alles in Ordnung?«
Benommen blickte sie in strahlend blaue Augen unter dichten blonden Haaren.
»Evelyn!« Mr Larsen hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt.
Als sie merkte, dass auch er neben ihr niederknien wollte, setzte sie sich, peinlich berührt über den Aufruhr, auf.
»Keine Sorge, mir geht es gut.«
Der blonde junge Mann half ihr auf die Beine, reichte ihr ihren Sonnenschirm und erkundigte sich noch einmal besorgt nach ihrem Wohlbefinden. »Ich suche Ihnen einen Platz im Schatten. Wollen Sie etwas trinken?«
»Wirklich, mir geht es gut.«
Da ertönte Gemurmel, und die Menge teilte sich. Der Indianer, dessen Gesicht und Hemd von seiner blutenden Nase rot waren, näherte sich ihr von Neuem.
»Bleib weg, verdammt …«
Evelyns Retter trat mit erhobener Faust einen Schritt vor, doch der Indianer sah ihn nur unverwandt an, bevor sein Blick zu Evelyn wanderte, er ihr den schmutzigen zerbrochenen Fächer reichte und sich stumm und würdevoll entschuldigte. Dann bahnten sich zwei Männer vom Sicherheitsdienst der Ausstellung, die jemand herbeigerufen hatte, einen Weg zwischen den Schaulustigen hindurch und packten ihn am Arm.
»Wir haben alles im Griff, Ma’am. Es ist nicht das erste Mal, dass es hier Schwierigkeiten gibt.« Einer von ihnen zog ein Paar Handschellen hervor.
»Nein, warten Sie …!«
Der Wachmann wandte sich Mr Larsen zu. »Wollen Sie ihn anzeigen, Sir?«
»Ich bin umgestoßen worden«, mischte sich Evelyn verärgert ein. »Natürlich will er das nicht!«
Der Indianer begann sich zu wehren.
»Nein, Freundchen«, ermahnte ihn der Wachmann. Dabei fielen ihm die Handschellen herunter.
Ohne zu überlegen, hob Evelyn sie auf und versteckte sie hinter dem Rücken.
Offenbar hatte der überraschte Wachmann seinen Griff gelockert, denn sein Gefangener löste sich von ihm, drängte sich zwischen den Schaulustigen hindurch und verschwand.
»Gut! Er hat ja nichts Schlimmes getan.« Evelyn gab dem Wachmann die Handschellen zurück und klopfte den Schmutz von ihren Röcken.
Die Schaulustigen schienen über das Ergebnis des Spektakels geteilter Meinung zu sein; als Evelyn sie mit einem wütenden Blick bedachte, begann sich die Menge aufzulösen.
Mr Larsen legte die Hand unter ihren Ellbogen. »Kommen Sie, meine Liebe. Danke, Officer, die junge Dame hat völlig recht.« Er wandte sich dem blonden Mann zu, der das Ganze interessiert beobachtet hatte. »Und danke Ihnen, Sir, für Ihr gut gemeintes Eingreifen.«