Das Erbe des Magierkönigs - Der Aufbruch - Silvana De Mari - E-Book

Das Erbe des Magierkönigs - Der Aufbruch E-Book

Silvana De Mari

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Voller Magie und Liebe

Die kleine Hania ist die Tochter der blutjungen Kronprinzessin Mariel und damit ebenso wie diese Nachkommin des mächtigen legendären Magierkönigs. Dessen Geschlecht kämpft seit Generationen gegen die Übernahme des Landes durch den Dämonenkönig.

Und dessen nahender Herrschaft scheint nicht mehr allzu viel im Wege zu stehen. Der alte König ist tot und seine Tochter bekommt mit Hania ein Kind, das von Geburt an unter dem Einfluss des Dämons steht. Damit ist sie eigentlich zum Tode verurteilt. Doch Mariel liebt ihr Kind und flieht mit dem magisch begabten Mädchen quer durchs Land. Wird es ihrer Liebe gelingen, das Böse in seine Schranken zu weisen und das Königreich zu bewahren?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 347

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



SILVANA DE MARI

Das Erbedes Magierkönigs

DER AUFBRUCH

Aus dem Italienischen vonBarbara Kleiner

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Danke, Maurizio und ElenaS. D. M.
© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © 2015 Silvana De Mari Die italienische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel: »Hania – Il Cavaliere di Luce« bei Giunti Editore, FlorenzVermittlung durch die MalaTesta Literaturagentur, Mailand Übersetzung: Barbara Kleiner Umschlagkonzeption: Geviert, Grafik & Typografie unter Verwendung einer Illustration von © Bente Schlickwww.benteschlick.com MP · Herstellung: UK Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-19686-8V002
www.cbj-verlag.de

Für all jene,die gewagt haben,eine andere Geschichte zu leben,als die, die ihnenvorgeschrieben war.

1 Der Magierkönig

Eisig funkelten die letzten Sterne über dem Turm. Es war klirrend kalt, die Welt starrte von Raureif und auch die Seele des alten Magiers war von eisigem Grauen erfüllt. Bloß aus dem Hintergrund drang ein ruhiges, seliges Schnarchen bis zu ihm, von seinem Pagen, der im Turmzimmer neben dem Kamin schlief, in dem die letzte Glut verglomm.

Sogar in diesem schmerzlichen Augenblick konnte der alte Magier sich des Gedankens nicht erwehren, dass Dummheit wohl eine Art Federkissen ist, das den Schlaf der Törichten hütet.

Doch nur kurz konnte dies den Magier von der beklemmenden Wirklichkeit ablenken. Schwärme von schauerlichen rötlichen Meteoriten hatten die ganze Nacht hindurch den Himmel schraffiert. Uhus und Eulen waren verstummt, die Glühwürmchen hatten aufgehört zu leuchten, getötet von dem unerhörten Frost dieser Nacht, die eine Mittsommernacht hätte sein sollen.

Furchtbares Grauen hatte alle Wesen erfasst, die es wagten, sich diesem Anblick zu stellen, lähmender Frost drang ihnen bis in die Seele. Blanker Schmerz und grenzenlose Verzweiflung überfiel sie, verschont blieben nur jene, die sich in ihrem Schlaf nicht stören ließen.

Als der alte Magier bemerkte, dass die Bahnen der Meteoriten Buchstaben formten, Runen einer untergegangenen Sprache, blieb er stehen und studierte sie. Der Anblick ihrer Botschaft ließ das Grauen in seine Seele dringen und vernichtete sie, erfasste sein Herz und zerstörte es.

Sie war der Tod des alten Magiers.

Im ersten Morgengrauen waren die Meteoriten weniger geworden und dann verschwunden. Der Albtraum war vorbei. Ein Schein von Frieden senkte sich auf die Welt herab.

Der alte Magier war nicht sicher, ob er sich noch auf den Beinen halten konnte. Seine Augen brannten, der Mund war trocken, die Stirn glühend heiß.

Er war verzweifelt,

Die Sterne waren aufgezogen, die Galaxien hatten ihre ganze zerstörerische Macht aufgewandt, damit dieses finstre Wunder sich ereignen konnte: Tausende bösartig glimmende Lichter hatten den Menschen ihre vernichtende Botschaft gebracht. Auf die Entfernung waren sie winzig erschienen, aber dadurch nicht weniger grauenvoll.

Der Magier ging zu einem Krug, der in einer Ecke des Turms am Boden stand, und wollte sich Wasser in die hohle Hand gießen. Wasser könnte ihn vielleicht noch retten, sonst würde alles zu spät sein, nichts mehr könnte seinen baldigen Tod aufhalten. Doch in dem Gefäß waren nur Kakerlaken, fette weiße Würmer, Tausendfüßler, Dreck. Angewidert ließ der Magier den Krug los, sah, wie er zu Boden fiel und zerbrach. Die Würmer ringelten sich auf dem Boden aus gestampftem Lehm, dann lösten sie sich in dichtem, schmutzigem Rauch auf. Der alte Magier hatte das Gefühl, irgendwo in der Ferne ein eisiges Lachen zu hören.

Dieses letzte, infame und schändliche Wunder war sein Todesurteil. Wasser, das einzige Mittel gegen den Tod, war ihm versagt geblieben. Der Weg zum Brunnen war zu weit.

Es war das Ende, eine letzte Bestätigung, falls das noch nötig war und er in einer Anwandlung von Naivität wagen sollte, an der Existenz des Herrn der Finsternis zu zweifeln und daran, dass dieser dabei war, sein Vorhaben, die Welt in Verdammnis zu stürzen, in die Tat umzusetzen.

Der alte Magier wankte. In seiner Jugend war er König gewesen, durch seine Weisheit hatte er den Thron des Reichs erobert, der leer geblieben war, und hatte ihn in einer langen Reihe von Kriegen verteidigt, Kriege gegen bedrohliche, übermächtige Reiche, von denen sie auf allen Seiten umgeben waren.

Sechs seiner Söhne waren in diesen endlosen Gefechten umgekommen, Pestkrieg wurde er auch genannt, weil außer den Heeren auch die Seuche gewütet hatte, und Hungersnot und Tod.

Er hatte sechs Gräber ausgehoben, sieben mit dem seiner Gemahlin, die vor Gram gestorben war, und er hatte auf den Grabsteinen Inschriften anbringen lassen. Alle hatten sie in den Krieg ziehen müssen, sobald sie imstande waren, eine Waffe zu tragen, noch bevor sie das Glück der Ehe und der Vaterschaft erfahren konnten. Zu Staub waren sie wieder geworden, ohne etwas zu hinterlassen als die Erinnerung.

Sein siebter Sohn, der einzige, der diese schrecklichen Jahre überlebt hatte, errang den Sieg und war der herrlichste Prinz, den das kleine Königreich je gehabt hatte.

Der Magierkönig hatte abgedankt.

Damit der Sohn an seiner statt regierte, weil er ein viel größerer König war als er. So wie er der Magierkönig gewesen war, war sein Sohn der Ritter-König. Die Gesetze der Ehre waren in seiner Seele verwurzelt und leiteten ihn: Mut, Großzügigkeit, Schutz aller Benachteiligten und Bedürftigen.

Zwanzig Jahre lang hatte der Sohn des Magierkönigs regiert. Es waren die besten Jahre in der Geschichte des Reiches gewesen, eine Blütezeit, bis zu dem schrecklichen Tag, an dem er gestorben war, getötet durch den unerklärlichen Angriff eines weißen Tigers.

Nach seinem Tod hatten die bösen Nachbarn erneut angegriffen, doch es war ihren Kriegern gelungen, zurückzuschlagen.

Es folgten Jahre des Friedens nach diesem Krieg der Zwei Winter, aber jetzt versank die Welt erneut im Chaos.

Die umliegenden Nationen wurden immer anmaßender und eine Gemeinschaft der Verräter hatte in ihrem kleinen Königreich Fuß gefasst. In den südlichen Provinzen – weit weg von der Königsstadt – wurden die Gesetze vergessen, missachtet moderten sie unter Schichten von Staub und Spinnweben dahin.

In der Zeit seiner Herrschaft hatte sein Sohn sich mit einer jungen Prinzessin vermählt, Liria. Alle hatten gehofft, dass der junge König eine Schar Kinder haben möge, hingegen wurde ihm nur eine Tochter beschert. Prinzessin Mariel, geboren nach einer späten, schwierigen und zu kurzen Schwangerschaft. Ein Sohn als männlicher Thronfolger blieb ihm versagt. Mariel war jung, erst neunzehn und allein, hatte keinen Ehemann an ihrer Seite. Noch war keiner aufgetaucht, der von ihrem Rang und würdig gewesen wäre, sie zur Frau zu nehmen und ihr in den Regierungsgeschäften beizustehen.

Mehr denn je fehlte dem alten Magierkönig sein Sohn, nicht nur, weil die Sehnsucht ihn quälte und marterte, sondern weil er in diesem Augenblick einen jungen Mann mit Ehrgefühl gebraucht hätte, der Entscheidungen fällte, aber dieser Mann war nicht da, also musste er entscheiden.

Entscheiden, was nach dieser schrecklichen Nacht zu tun war. Er musste Alarm schlagen, musste alle warnen.

Schwankend gelang es dem Magier, die schmale Wendeltreppe hinunterzusteigen, die an der Außenwand des Turms entlanglief. Er fiel. Er rollte sich auf die Seite und stand wieder auf. Er blutete im Gesicht, an den Knien und Ellbogen. Er war ein zum Tode verurteilter Alter. Die Meteoriten anzusehen, hatte sein Herz zerstört, es tat seine letzten, unregelmäßigen Schläge.

Er kam am Fuß des Turms an, stieß die Holztür auf und trat in den großen Raum. Der Kamin verbreitete noch etwas Wärme. Am Boden ausgestreckt schlief sein Page.

Geschützt von den Mauern, seinem jugendlichen Alter, von seinem tiefen Schlaf, so abgrundtief wie seine Dummheit, schnarchte der Page; während das bevorstehende Ende der Welt verkündet wurde, schlief er fest und zufrieden wie ein Murmeltier.

Der Magier musste ihn wecken. Gern hätte er dies mit Fußtritten getan: Es brachte ihn auf, den Pagen schlafen zu sehen, während die Welt dem Abgrund entgegentaumelte. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, den Jungen mehr zu hassen als den Dämon der Finsternis, der die Welt in Dunkelheit und Leid stürzen wollte. Er würde ihn wecken und ihm sagen, er solle sein Pferd nehmen und eilen, ohne Halt zu machen, allen Bescheid geben: Das Schändlichste hatte sich ereignet.

In dieser Nacht hatte der Herr der Finsternis einer Frau ein Kind gezeugt.

Diese Kreatur konnte die Welt zerstören. Es würde Dürre geben, eine so glühende Hitze, in der alles vertrocknete und abstarb, es würde Hungersnöte geben und damit Krieg, denn wenn das Korn knapp ist, machen die Völker es einander mit Waffengewalt streitig. Auf den Leibern der Toten würden sich Schwärme von Fliegen niederlassen, mit ihrem Flug würden Seuchen ihre schwarzen Schwingen entfalten. Der Herr der Finsternis würde erneut versuchen, sich die Welt untertan zu machen, wie er es schon andere Male versucht hatte, doch da war er gescheitert, weil der Mut der Menschen ihm Einhalt geboten hatte. Der Mut der Menschen und ihre Einigkeit: Sie alle hatten gemeinsam gekämpft, hatten ihre Schwerter mit den Waffen von Trollen und Dämonen gekreuzt. Blut hatte die Erde getränkt. Die Klagen der Witwen und Waisen hatten sich über die Erde gelegt wie ein Nebelflor, aber die Heere der Dämonen der Finsternis waren stets aufgehalten worden. Jetzt würde Er auf eine uneinige und ins Elend gestürzte Welt treffen, auf eine schon verwundete Menschheit. Diesmal würde Er siegen.

Doch der alte Magier bekam Zweifel, denn er fragte sich: Warum sollte der Herr der Finsternis die roten Meteoriten schicken, die ihm, dem Magier, wenn auch um den Preis seines Lebens, erlaubten, seine Absichten und Pläne zu erkennen? Wenn man dunkle Ränke spinnt, um die Welt zugrunde zu richten, ist eine wesentliche strategische Maßnahme, das geheim zu halten. Er hingegen hatte Gelegenheit gehabt, Einblick in die Pläne des Herrn der Finsternis zu erlangen: Nach einer Nacht der Agonie würde er diesen Einblick mit dem Leben büßen, sicher, aber das hatte trotzdem keinen Sinn. Vielleicht war es, wie die Küchenmägde sagten, der Herr der Finsternis macht Töpfe, aber ohne Deckel, in seiner Magie fehlt immer ein Stück. Sehr gerissen, aber im Wesentlichen dumm, da Gerissenheit und Intelligenz beileibe nicht dasselbe sind, und seine Schläue ist nie vollständig.

Endlich begriff der alte Magier.

Der Herr der Finsternis wollte, dass die Sache bekannt würde. Er hatte die Botschaft zu eben diesem Zweck geschickt. Die Grausamkeit würde um sich greifen. Sobald man erfuhr, dass ein Ungeheuer in Gestalt eines Kindes empfangen worden war, wäre das Ergebnis die Verfolgung der Kinder. Wenn sich die Nachricht herumsprach, konnte es in der Panik dazu kommen, dass viele im Abstand von neun Monaten geborene Kinder hingemetzelt wurden. Und von ihren Verwandten gerächt wurden: weitere Tote, weiterer Hass. Das wäre der schlimmste aller möglichen Kriege, der totale Krieg aller gegen alle.

Der alte Magier musste Alarm schlagen und gleichzeitig alles verborgen halten. Wenn sich die Nachricht herumsprach, würde die Katastrophe eintreten.

Das war der Plan des Herrn der Finsternis: Entweder die Menschen erlaubten dem Ungeheuer in Gestalt eines Kindes, das er gezeugt hatte, zu leben, bis es sie zerstörte, oder sie töteten, um es zu vernichten, unschuldige Kinder und verloren dabei ihre Seele.

Der Herr der Finsternis wollte sie mit dem Rücken an der Wand sehen: Entweder sie verloren ihre Welt oder ihre Seele.

Der Magierkönig musste einen dritten Weg finden. Selbst in seiner dunkelsten Stunde wusste er, dass er ihn kannte. Er hatte eine letzte, wesentliche Botschaft erhascht. Das Neugeborene würde am linken Handgelenk ein Brandmal tragen, wie mit glühendem Eisen eingeprägt den roten Umriss eines der schändlichen Meteoriten. Der Magierkönig hoffte, mit diesem Wissen sie alle zu retten.

Er musste Königin Liria schreiben, sie warnen. Sicher, das war die richtige Idee. Sie würde zu handeln wissen.

Aber nur ihr, damit sie mit Weisheit und Mut das Neugeborene suchte, die Mütter befragte nach einer merkwürdigen Empfängnis außerhalb jeder Norm und Regel, die in jener Nacht stattgefunden hatte. Es war falsch, von einem »Neugeborenen« zu sprechen, denn in Wirklichkeit würde es eine schauerliche Kreatur sein, ein Ungeheuer, das böse Tier in Gestalt eines Kindes. Würde Königin Liria den Mut haben, ein Neugeborenes zu töten, oder jedenfalls eine Kreatur, die die Gestalt eines Neugeborenen hatte? Seine Schwiegertochter war eine so starke wie sanftmütige Frau. Ihr Leben wäre dadurch verdammt.

Der Magier fühlte wieder wie eine offene Wunde den Tod seines Sohnes, des Ritterkönigs.

Wenn er da wäre, wenn er am Leben wäre … Aber Wenns konnten die Welt nicht retten.

Wenn sein Sohn wenigstens weitere Kinder gehabt hätte außer seiner Enkelin, Prinzessin Mariel.

Wenn seine Enkelin, Prinzessin Mariel, einen ihrer und ihres Vaters würdigen Gemahl hätte!

Schon wieder verlor er sich in den Wenns.

Er musste die Welt retten und hatte dazu nur die Witwe seines Sohnes, die eine starke und kluge Frau war. Darauf musste er sich verlassen. Und auf sich selbst. Auf seine Fähigkeit, sie zu warnen.

Seine erste Idee, den Pagen zu wecken, der für die wenigen Bedürfnisse des alten Mannes zur Verfügung stand, und ihm alles zu erzählen, damit er es der Königin berichtete, war falsch, zu riskant. Zum Glück hatte er das noch rechtzeitig erkannt. Der Page hätte dann geplaudert, er hätte es seiner Cousine zweiten Grades, der königlichen Köchin, erzählt, die es ihrem Schwager, dem Jagdaufseher, weitererzählt hätte, der es wiederum seinem Schwiegervater, dem Schmied, erzählt hätte. Das Gemetzel wäre unaufhaltsam gewesen, denn im Lauf eines Mondes hätten selbst die Steine davon gewusst.

Der alte Magierkönig schleppte sich bis zu seinem Schreibpult, letztes Überbleibsel eines früheren, mäßigen Luxus in dem alten Turm, in den er sich zurückgezogen hatte. Er fand die Feder. Mit einer Anstrengung, die ihm ein Stöhnen entlockte, öffnete er das Tintenfass und entrollte ein Pergament. Schleier vor den Augen und mit zitternden Händen schrieb er seinen letzten Brief. Ein drückender Schmerz in der Brust wurde jeden Augenblick stärker. Sein Herz wollte stehen bleiben, sein Herz wollte brechen.

Meine geliebte Schwiegertochter,

geliebte Gemahlin meines geliebten Sohnes,

heute Nacht hat sich ein böser Zauber ereignet. Der Herr der Finsternis, der seit jeher auf unser Verderben sinnt, hat die Mächte des Bösen in Bewegung gesetzt, um ein schamloses Wunder zu wirken: Ein Kind von ihm hat im Schoß einer Frau unseres Reiches Gestalt angenommen.

Ein Kind von ihm, das nur eine Triebfeder des Bösen und also unsere Vernichtung sein kann. Seine Anwesenheit auf Erden wird jede Hoffnung auf Freude und Gedeihen zunichtemachen.

Um den Preis meines Lebens, das in diesen Augenblicken zu Ende geht, ist es mir gelungen zu sehen, dass jenes in dieser Nacht empfangene Wesen am linken Handgelenk wie mit einem Brenneisen eingebrannt die rötliche Silhouette eines Meteoriten tragen wird.

Diese Kreatur wird die Gestalt eines Kindes haben, aber es wird kein Kind sein, sondern die Ausgeburt des Bösen, also darf es nicht leben.

Ich weiß, was ich von Euch verlange. Ich bitte Euch, lasst meinen Tod nicht umsonst gewesen sein. Niemand darf etwas hiervon erfahren, sonst greifen Schrecken und Grausamkeit um sich, nur Ihr und meine geliebte Enkelin dürfen davon wissen.

Ich segne Euch.

Der alte Magier, der einst König gewesen war, unterschrieb den Brief, verschloss und versiegelte ihn, langsam und majestätisch floss der rote Lack, und er drückte den Siegelring hinein.

Endlich weckte er den Pagen.

»Bring das der Königin«, flüsterte er ihm zu. Der Junge stand auf, streckte sich gemächlich und gähnte.

Ein langes, langsames Gähnen.

»Was, mein Herr?«, fragte er verschlafen.

»Bring das der Königin«, stieß der alte Magier mit letzter Kraft hervor. »Ich liege im Sterben, bring das der Königin. Sofort.«

»Soll ich Hilfe holen?«, fragte der Page, plötzlich munter geworden, einen Moment lang war sein Gesicht beinahe intelligent. Einen Moment lang, gewiss.

Er war König gewesen, auch ein zornmütiger König, manchmal heftig, bei mancher Gelegenheit sogar grausam: Wie hatte es geschehen können, dass er als einzige Gesellschaft in seinem einsamen Alter diesen Pagen behalten hatte, den mit den meisten Pickeln gesegneten und mit dem geringsten Verstand ausgestatteten jungen Kerl, den das winzige Königreich zu bieten hatte?

Der alte Magier verabscheute diesen Pagen, er hatte ihn schon immer verabscheut, mit dem Alter war jedoch eine Art Schüchternheit über ihn gekommen, vielleicht Menschenfreundlichkeit, sodass er nie zu verlangen gewagt hatte, man solle ihn entfernen und durch einen etwas intelligenteren mit etwas weniger Pickeln ausgestatteten Jungen ersetzen.

Der alte Magier suchte die Torheiten zu verscheuchen und an seinen Gedankengang anzuknüpfen.

»Im Königspalast wirst du welche holen. Die Königin wird mir die nötige Hilfe schicken«, sagte der alte Magier. »Geh und halt dich nicht auf, bis du bei ihr bist. Das ist ein Befehl, ich bitte dich, es ist mein letzter Befehl, vielleicht der wichtigste, den ich dir je gegeben habe.«

Endlich begriff der Page. Stumm sah er ihn an, Tränen in den Augen.

»Gewiss, mein Herr«, murmelte er, nahm das Pergament und lief davon.

Der Alte schleppte sich zum Kamin, wo die letzte Glut noch glomm und vielleicht seine klammen Glieder wärmen würde. Er hockte sich auf den Boden, kauerte sich zusammen.

Der Schmerz in der Brust war schrecklich.

Er hatte getan, was er tun musste.

In den Händen eines pickeligen Dummkopfs lag die Nachricht, welche die Welt retten würde. Und sie würde ihr Ziel erreichen.

Der alte Magier war im Begriff, seinen Sohn wiederzusehen. Und sein Sohn würde sagen, dass er es gut gemacht hatte, dass er getan hatte, was er musste.

Sein Sohn war öfter uneins mit ihm gewesen, mehr als einmal. Er hatte ihn bezichtigt, mal zu verwegen zu sein, mal zu sehr darauf bedacht, die Menschheit in »hoch« und »niedrig« einzuteilen, denn ein unwürdiges Herz kann in einem Adelspalast geboren werden und ein tapferes Herz kann in einem missgestalteten Körper in elenden Lumpen schlagen.

Aber diesmal würde sein Sohn sagen, dass er es gut gemacht hatte. Auch dass er den pickeligen Tölpel bei sich behielt, statt sich zu beschweren: Sein Sohn würde das gutheißen. Deshalb hatte er den Pagen behalten, jetzt wurde ihm das klar.

Er konnte in Frieden sterben. Er war im Begriff, sie wiederzusehen. Alle. Alle sieben. Und ihre Mutter. Sie würden beisammen sein, in den endlosen Gefilden, unter grenzenlosen Himmeln.

Er hatte es gut gemacht,

Er konnte in Frieden sterben.

2 Mariel

In der grausigen Nacht, als die Meteoriten den Himmel schraffierten, war Mariel, Prinzessin des Königreichs der sieben Gipfel, von der Dunkelheit überrascht worden, während sie auf ihrem Pferd durch die letzten Ausläufer eines kleinen Wäldchens ritt. Das bestand ganz aus Kastanien- und Nussbäumen und war durchzogen von reinlichen Wegen, mit ein paar seltenen und schütteren Brombeer- und Rosenbüschen, die mit ihren Dornen die breiten und gepflegten Wege säumten.

Im Herbst aß man die Brombeeren, und im Frühling pflückte man die Rosen unter dem Gezwitscher von Vögeln, die zusammen mit Eichhörnchen und ein paar Uhus die einzigen Bewohner des Orts waren. Das Wäldchen lag nicht weit vom Königspalast entfernt, Mariel ging schon von klein an dorthin, und sie kannte sich dort aus wie im Küchenhof des Königspalasts. Hier hatte sie am Tag, als ihr Vater beerdigt wurde, beim Anblick der Eichhörnchen Trost gefunden, und vielleicht liebte sie den Ort deshalb so sehr. Und sollte sie aus irgendeinem unerfindlichen Grund die Orientierung verlieren, würde das Pferd sie nach Hause bringen, wie es das jedes Mal tat, wenn Mariel im Sattel hockte und ihren Träumen nachhing oder in ein Buch vertieft war. Dann war es das Pferd, das brav und geduldig den Weg zu den Stallungen einschlug, die auf den Küchenhof gingen, Herz des Königspalasts und des Reichs.

Dunkelheit brach herein, eine verrückte, nie gesehene Dunkelheit, sie verschlang die Seelen derer, die sie betrachteten, sie verschlang den Tag vor der Zeit.

Dunkelheit hüllte die Welt ein, und jede Hoffnung auf Licht schien unterzugehen. Die Tiere des Waldes wurden wild, der Wald selbst wurde wild, laut krachend barsten Bäume, Erdreich wurde aufgeworfen und bedeckte altvertraute Wege.

Das Pferd wurde wild, es warf Mariel ab und sprengte davon, auch das war noch nie da gewesen.

Der Himmel überzog sich mit Tränen aus Blut, der Anblick erfüllte die Seele mit Todesangst, die einem die Luft raubte und das Herz schmerzlich zusammenschnürte. Der Wald war nicht wiederzuerkennen in diesem infernalischen Licht, ein einziges Gestrüpp. Da traf Mariel im Wald auf eine Hütte, eine plötzlich aufgetauchte Zufluchtstätte, die sie weder vorher je gesehen hatte noch später wiederfinden konnte.

Es war ein seltsamer Ort; es war klar, dass er verzaubert war. Bis zu dieser Nacht war Mariel sich nicht sicher gewesen, ob Magie und Zauberei überhaupt existierten, im Grunde hatte sie da immer ihre Zweifel gehabt. Sicher, ihr Großvater war Magier, oder wenigstens behauptete er es und wurde dafür gehalten, aber die schmale Trennlinie, die zwischen Zauberei und Aberglauben verlief, war Mariels Ansicht nach nicht so klar und eindeutig. Vielleicht war die Ansicht, dass es eine Linie des Lichts gebe, die die Welt leitete, und eine der Dunkelheit, die versuchte, sie ins Verderben zu stürzen, nur eine Art, Gutes und Böses voneinander zu unterscheiden. Ihr Großvater hatte den Angriff des Tigers, der Mariels Vater, den Ritter-König, getötet hatte, oft als bösen Zauber bezeichnet. Lebten die weißen Tiger doch seit Jahrtausenden stolz und herrlich in ihrem eigenen Reich, und nie hatte man gehört, dass sie Menschen angriffen. Mariel hatte oft gedacht, dass es sich dabei um ein besonders wildes und grausames Tier gehandelt haben müsse.

In dieser Nacht kamen ihr Zweifel. Bösen Zauber gab es, Hexerei auch, es gab das Gute und es gab das Böse, und dieser verfluchte Ort war ein Auswuchs des unendlichen Dunkels, das seit jeher die Menschen ins Verderben stürzte, ihre Seele lähmte. Dieser Ort war Zauberwerk. Dieser Ort bedeutete Schmerz, schmutzige, schändliche Abscheu vor dem Leben selbst.

Mariel wollte die Hütte nicht betreten, aber sie hatte keine andere Wahl.

Sie war aus vollkommen glatten, ebenmäßigen Holzbrettern gemacht, es wirkte, als ob sie falsch wären, aus einem kalten und unbekannten Material.

Im Inneren herrschte absolute Dunkelheit. Sicher, in einer Hütte im Wald konnte die Dunkelheit nur absolut sein, sagte sie sich, wenn sie sich an diesen Albtraum erinnerte, Aber an diesem Ort herrschte eine besondere Dunkelheit, eine Dunkelheit, die jedes Licht verschluckte. Diese Dunkelheit war nicht die Abwesenheit von Licht, sondern dessen Gegenteil.

Mariel hatte keinen Feuerstein bei sich, aber sie war sicher, auch wenn sie einen gehabt hätte, sie hätte keinen Funken schlagen können.

Es roch nach gar nichts, weder nach feuchter Erde noch nach nassen Blättern, weder nach Pinienholz noch Harz. Nichts. Schlaf überkam sie, ihr war völlig klar, dass es ein unnatürlicher Schlaf war, Zauberwerk, aber er war unwiderstehlich.

Sie setzte alles daran, nicht nachzugeben, hielt sich auf den Beinen, schlug sich an den Wänden die Fäuste blutig, damit der Schmerz sie am Schlafen hinderte, aber es half nichts. Sie lief auch in die Nacht hinaus und hockte sich auf den Boden, aber das Grauen dieser Meteorite drang ihr in die Seele und zwang sie, wieder in die Hütte zurückzukehren, obwohl sie wusste, dass es eine Falle war.

Endlich überkam sie ein bleischwerer, einer Ohnmacht gleicher Schlaf. In der Morgendämmerung erwachte sie voller Grauen. Sie trat aus der Hütte und tat ein paar Schritte in den Wald, der Nebel verbarg die Wege, sie suchte nach Spuren des Pferds und aß einige Brombeeren gegen den Hunger. Sie ging ein paar Schritte im Nebel, und das war ausreichend, damit sie die verwunschene Hütte nicht mehr fand. Sie war verschwunden, vom Erdboden verschluckt.

Endlich ging die Sonne auf, wärmte die entsetzte Erde und löste den Nebel auf. Mariel fand sich im vertrauten Wäldchen aus Kastanien und Nussbäumen wieder. Sie machte sich auf den Weg, durchquerte Dörfer und kam an Bauerngehöften vorbei, wo das Grauen dieser verfluchten Nacht in Worten, Erzählungen und Seufzern aufflammte. Sie versuchte zu beschwichtigen und zu trösten, endlich kam sie zu dem kleinen mütterlichen Königspalast mit seinen rot, gelb und orange – in den Farben des Königsreichs – gestrichenen Mauern. Da wartete ihre Mutter auf sie, die Königin, fassungslos wegen ihrer Abwesenheit und angesichts des Grauens dieser Nacht. »Wo warst du, meine Tochter? Wo warst du nur? Dein Pferd ist ohne dich heimgekommen. Ich fürchtete um dich. Du warst im Freien in dieser tragischen Nacht. Die ganze Nacht über den Himmel zu betrachten, hätte dich getötet, wie es deinen Großvater getötet hat. Meine Angst war so grenzenlos wie meine Liebe zu dir. Ich schwor, sollte ich dich je wiedersehen dürfen, würde mich nichts als reines Glück erfüllen. Und doch spüre ich nun eisige Angst, die nicht einmal die Freude, dich anzusehen, vertreiben kann«, sagte die Mutter.

Die Königin war eine starke Frau. Mariel war nicht gewohnt, sie fassungslos und in Tränen zu sehen.

»Ich war in Sicherheit, Mutter«, stammelte sie. War sie das? War diese Hütte aus Grauen und Finsternis eine Zuflucht gewesen?

»Dein Großvater, der Magierkönig, ist tot«, wiederholte die Mutter, als sie sich endlich aus der Umarmung ihrer Tochter lösen konnte.

Mariel ließ sich zu Boden sinken bei dieser Nachricht und wegen der tödlichen Müdigkeit nach dieser irren Nacht. Ihre Amme war bei ihrem Erscheinen in die Küche geeilt und brachte ihr nun warme Milch und Fladenbrot. Mariel, die bis eben noch ein wütender Hunger geplagt hatte, fühlte sich von ebenso wütendem Abscheu übermannt.

Das Gefühl war grenzenlos, es durchdrang jede Faser ihres Seins mit dem Wunsch, nicht da zu sein, mit der Gewissheit, dass niemals mehr irgendetwas einen Wert haben könnte, dass ihr Leben bloß eine zu ertragende Last sei.

Mariel sah zu ihrer Mutter auf. Sie war noch immer schön, ihre Mama, trotz des schwarzen Witwenschleiers und der Traurigkeit im Blick.

»Dein Großvater ist tot. Die ganze Nacht hindurch hat er die Meteoriten angesehen, und das hat ihn getötet, doch er hat ihre grauenhafte Botschaft entziffern können. Wir kennen ihre Nachricht, und das verdanken wir seinem Opfer.«

Die Mutter verstummte. Sie sagte nicht, welches Geheimnis der Magier um den Preis seines Lebens entschlüsselt hatte. Mariel wagte zu fragen. Ihre Mutter hatte Mühe zu antworten, es war, als würden ihre eigenen Worte sie mit Abscheu erfüllen. Es war dieses eine Gefühl, das alles durchdrang, Mariel, ihre Mutter, die Welt.

In dieser Nacht hatte der Herr der Finsternis im Schoß einer Frau ein Kind gezeugt, damit die Menschheit verloren wäre.

3 Hania

Als sich das kleine Mädchen zum ersten Mal seiner Existenz bewusst wurde, fehlten bis zu seiner Geburt noch vier Monate.

Es befand sich im warmen Dunkel des Bauchs der jungen Frau, wohin ihr Vater, der Herr der Finsternis, sie gepflanzt hatte. Sie war die Tochter ihres Vaters. Das wusste sie. Es war eines der Dinge, die sie wusste, und basta.

Ihr ganzes Leben würde voll sein von Dingen, die sie wusste, und basta, Dinge, deren Kenntnis zugleich mit ihr entstanden war, diese Kenntnis war durch den Willen ihres Vaters bereits in ihr angelegt. Viele Dinge würden hinzukommen und sich damit vermischen, Dinge, von denen sie erfuhr, indem sie sie sah, hörte oder jemanden davon erzählen hörte. Das würde ihr erworbenes Wissen sein, das sich mit ihrem angeborenen Wissen verbinden würde. Das erste Element ihres angeborenen Wissens war, dass sie die Tochter ihres Vaters war, des Dunklen Herrn, des Königs der Abgründe, des Herrn der Finsternis.

Zu ihren zahllosen angeborenen Kenntnissen gehörte auch das Verständnis von Sprache.

Bis zu diesem Augenblick war der einzige Laut, der ihr aufkeimendes Bewusstsein erfüllt hatte, der Herzschlag jener jungen Frau gewesen, in der sie wohnte. Jetzt hingegen erklang deren Stimme: ein viel hellerer Laut als der Herzschlag. Bestimmt sprach die Frau seit eh und je, aber erst in diesem Moment war das Bewusstsein des Mädchens von einem formlosen Klumpen zu etwas geworden, das sie verstehen ließ, also Wahrnehmung, Bewusstsein und folglich Erinnerung besaß.

Die junge Frau verteidigte sich.

»Ich habe keinen Mann gekannt, Mutter, ich schwöre es Euch«, sagte sie.

»Mariel, meine Tochter! Du trägst ein Kind in dir, daran kann kein Zweifel mehr bestehen«, sagte eine andere Stimme, das Mädchen wusste, dass es eine Frauenstimme war. » Ich bin bereits in fortgeschrittenem Alter, und ich schwöre bei der Krone, die ich trage, dass meine Angst grenzenlos ist.« Die da redete, war eine alte Frau mit einer Krone auf dem Kopf. Also war sie eine Königin. Daraus folgte, dass jene junge Frau, die Mariel hieß und in deren Bauch sie lebte, als Tochter dieser Königin eine Prinzessin sein musste.

Wenigstens hatte ihr Vater Leute von Rang ausgewählt, allerhöchsten Adel: Sie wusste das zu schätzen. Es war schon schmählich genug, als Tochter, der allerhöchsten Finsternis inmitten dieser weinerlichen und im Wesentlichen dummen Menschheit ausgesetzt zu werden, da war ein gewisser Komfort zumindest tröstlich.

Dem Mädchen war der Begriff Mutter geläufig, aber es fiel ihm schwer, die junge Frau als ihre Mutter zu bezeichnen. Es hatte einen Vater und basta. Am Ende beschloss es, sie Mariel zu nennen und den Begriff Mutter nur wenn unbedingt nötig zu verwenden.

Der Geist des Mädchens spürte den Geist der Frau, in der sie sich befand, aber sie sah die Bilder nicht, die Mariel sah, zu ihr drangen nur die Geräusche, das Wehen des Windes durch die Bogenfenster, das Gurren der Tauben im Garten.

Das Mädchen wusste, was der Wind war.

Sie wusste, was Tauben waren.

Sie wusste, was Samt war.

Sie wusste, was Schwarz, Rot und Indigoblau waren.

»Mutter, ich schwöre es Euch, und Ihr müsst zugeben, dass ich immer den Mut zur Wahrheit hatte. Wenn ich mich mit einem Mann verbunden hätte, um dieses Kind zu empfangen, das sich nicht mehr verleugnen lässt, würde ich es sagen. Würde ich einen Mann so lieben, dass ich wünschte, mich mit ihm zu verbinden, würde ich das sagen. Wäre mir Gewalt oder Willkür angetan worden, hätte ich den Mut, meine verletzte Ehre zu rächen. Vater hat mich gelehrt, ein Schwert zu führen, Mutter, und Ihr wisst, dass ich imstande bin, es zu tun. Wagt nicht, mich der Lüge zu bezichtigen. Das gestatte ich nicht. Auch Euch nicht«, sagte die Frau, in deren Bauch sie sich befand.

»Dann erklär es mir«, ächzte die Königin.

Mit gebrochener Stimme erzählte Prinzessin Mariel ihr von jenem Ort, der Hütte, von der Dunkelheit, die dort herrschte.

»Ich glaube dir, meine liebe Tochter«, sagte die Königin, als sie endlich die Worte wiederfand. »Leider muss ich das. Ich wünschte von ganzem Herzen, es wäre nicht so. Wie du weißt, hat dein Großvater vor seinem Tod eine letzte Botschaft geschickt. Er hat das Grauen dieser verfluchten Nacht beobachtet und es hat ihn das Leben gekostet. Er hatte erfahren, was in jener grauenvollen Dunkelheit geschehen ist: Der Herr der Finsternis hat einer jungen Frau ein Kind eingepflanzt. Es war keine natürliche Zeugung, sondern etwas jenseits der Regeln des Lebens. Ich bitte dich, meine geliebte Tochter, sag mir, dass du mich belogen hast, dass du dich einem Mann zärtlich hingegeben hast, und ich wäre glücklich, überglücklich. Vor maßloser Freude würde ich im Hof des Königspalasts tanzen«, sagte die alte Mutter.

Das Kind im Leib der jungen Prinzessin erschrak. Die Königin zog es vor, Großmutter eines x-beliebigen Bastards zu werden, gezeugt von irgendeinem Tölpel, statt sich der Ehre zu erfreuen, sie, die Tochter des Herrn der Finsternis, in ihrer albernen Familie zu haben,? Das war entsetzlich. Auch peinlich. Und was schlimmer war: Es war dumm. Die Blödheit der Menschen, die sie ja geahnt hatte, übertraf ihre schlimmsten Erwartungen. Gekrönte Häupter mochten sie ja sein, ihre Mutter und diese krächzende Krähe da, aber schlau kein bisschen. Sie war mit Idioten verwandt. Man musste der Realität ins Auge sehen.

Die Prinzessin verharrte lange in betroffenem Schweigen. Dann brach sie in Schluchzen aus.

»Dieses Kind muss getötet werden«, murmelte die Königin mit tonloser Stimme.

Getötet? Die Rede war von ihr! Der wahre Feind war also die Krähe. Die Frau, in deren Schoß ihr Vater sie gepflanzt hatte, war zu dumm und wäre von allein nicht darauf gekommen.

»Dein Großvater, mein Schwiegervater, der alte König, der Vater deines Vaters, hat in der Nacht der Meteoriten deren Botschaft entschlüsseln können und hat dafür sein Leben geopfert. Niemals hätte ich gedacht, dass die Jungfrau aus der Prophezeiung du sein könntest. Mit Schaudern werden wir dieses Verbrechen begehen, meine geliebte Tochter, aber wir werden es begehen. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses Kind auf die Welt kommt, denn es würde sie zerstören. Nur als Neugeborenes ist es nackt und wehrlos, und wir werden es töten. Denn etwas anderes können wir nicht tun. Dann verhüllen wir unser Haupt und beweinen unser grausames Geschick, Mörderinnen des eigenen Blutes zu sein, aber die Welt wird gerettet sein«, sagte die alte Mutter.

Das Kind verspürte Angst und eisigen Schrecken. Sein gerade erst entstandenes Bewusstsein trübte sich, es hörte nicht viel außer dem verzweifelten Weinen der beiden Frauen, die sich umschlungen hielten.

Sie umarmten sich und trösteten sich gegenseitig.

Sie dagegen war allein mit ihrer Ohnmacht, ihrer Furcht, ihrer grenzenlosen, wehrlosen und schrecklichen Einsamkeit.

Sie war verloren in einer feindlichen Welt. Einer dummen Welt. Dafür, sie umzubringen, waren sie bereit, traurig und unter schwarzen Schleiern zu leben. Sie brauchten sie nur am Leben zu lassen, dann konnten sie fröhlich sein, sich in Grün kleiden, in Lila und Indigoblau, Hellblau oder was immer sie wollten. Ihr Vater war nicht da, um sie zu verteidigen, sie war schutzlos und allein dem Tod ausgeliefert, alleingelassen in einer Welt, wo Gedankenlosigkeit und Trägheit regierten.

Sie wollte leben. Das war noch so etwas, was sie wusste, es war in ihr angelegt, sie wusste es und basta, seit jeher. Sie wollte geboren werden und leben.

Geboren werden war grauenhaft! Nicht, dass darauf zu warten, schön gewesen wäre. Das Kind war wie betäubt von den Gedanken des schwangeren Menschenmädchens, das sie nur mit größtem Widerwillen Mutter nannte. Die junge Frau war der absolute Gegenpol zur kosmischen Herrlichkeit ihres Vaters, des Herrn der Finsternis und des Betrugs. Diese Mutter hatte eine entsetzliche Neigung zum Säuseln. Sie säuselte angesichts von Sonnenauf- und -untergängen, angesichts der Sonne, angesichts von gewöhnlichen Tagen, selbst wenn es eiskalt oder unerträglich heiß war.

Aber das Schlimmste war, immer in Wasser getaucht zu sein: Das Kind hasste Wasser, es war ein tief sitzender Hass, unvorstellbar, absolut, kosmisch. Im Wasser zu sein, war einfach ekelhaft.

Doch Geborenwerden war schlimmer. Eine schreckliche Erfahrung. Das verhasste Nass verschwand, aber sie hatte kaum Zeit, darüber erleichtert zu sein, als die Wände ihrer Welt anfingen, sich um sie zusammenzuziehen und sie so auf eine Öffnung hin zu schieben, die ganz offenbar zu eng war.

In diesem Augenblick wurde ihr zum ersten Mal klar, was für eine dumme Gans ihre Mutter war. Ihr unentwegtes Schmachten vor der wunderbaren Schönheit der Natur, der Schönheit der Schöpfung war weit mehr als lächerlich. Es war nicht nur bodenlos affektiert, es war auch bodenlos falsch. Dass die Natur vollkommen sei und die Schöpfung bewundernswert – nur ein von reinster, vollkommenster, umfassendster Idiotie umnebeltes Gehirn konnte dergleichen zusammenfantasieren. Dieser widerwärtige Geburtsvorgang war ersonnen, von jemandem, den diese junge Frau die wunderbare und vollkommene Mutter Natur nannte? Dann gab es da nur zwei Möglichkeiten: Entweder war Mutter Natur idiotisch oder sie hasste die Menschheit, denn in Gebären und Geborenwerden lagen nur Schrecken und Schmerz. Mutter Natur hasste sicherlich sie, das Kind, aber auch ihre Mutter, die wirklich nicht den Anschein machte, sich zu vergnügen.

Bis zum unglückseligen Moment ihrer Geburt hatte sich das Problem des Atmens nicht gestellt. Das Kind kannte das Wort, sicher, es kannte sie alle, jedes jemals vom Menschengeschlecht geprägte und verwendete Wort war in seinem Kopf mit seiner Bedeutung abgespeichert. Bis zum Augenblick seiner Geburt war das Wort »atmen« nur eins der mehr oder weniger interessanten, mehr oder weniger wichtigen Wörter für das Kind gewesen,. In diesem Moment aber wurde ihm klar, was Atmen bedeutete, beziehungsweise, was es bedeutete, nicht atmen zu können. Es musste atmen, und zwar bald. Das Verlangen nach Luft wurde so groß, dass es sogar den Schmerz übertraf, der jeden Zoll seines wie in einer Klemme feststeckenden Körpers quälte. Damit das Kind atmen konnte, musste sein Kopf durch eine Öffnung, deren Durchmesser entschieden kleiner war als sein Kopfumfang. Die Schreie seiner Mutter gellten ihm in den Ohren, die konnte schreien, sie hatte Luft und konnte atmen, und nahm sich trotzdem heraus sich zu beschweren.

Da war noch eine Stimme neben der ihrer Mutter, die zwischen einem Schmerzensschrei und dem nächsten ertönte.

»Liebe Hebamme, dank dir für deinen Beistand«, säuselte ihre Mutter. »Euer liebes Gesicht ist mir ein großer Trost.«

Die zweite Stimme kam also von der Hebamme. »Hebamme«: Frau die bei der Geburt hilft. Da war also jemand, der ihrer Mutter half. Zum Glück. Wenigstens würde diese Tortur bald ein Ende haben.

»Nur Mut, Prinzessin Mariel, nur Mut«, sagte die Hebamme.

Mut, Prinzessin Mariel? Ihr, dem Kind ging es wirklich dreckig. Warum machte ihr niemand Mut? Das Kind hatte schreckliche Angst, so groß wie der Schmerz oder wie das Gefühl, absolut allein zu sein, ohne jemanden, der ihm sagen konnte, was es tun konnte. Seine Wut wuchs. Die Wut war etwas Gutes, sie übertönte die Angst. Und auch der Schmerz ließ etwas nach.

»Es muss schrecklich sein für Euch«, fuhr die Hebamme fort. »Wirklich schrecklich. Geburtswehen sind für alle Frauen schwer auszuhalten.«

Geburtswehen sind für alle Frauen schwer auszuhalten? Die Geburtswehen sind schlimm für alle? Was sollte das heißen? Wem konnte in diesem Augenblick an der Universalität des Problems etwas liegen? Konnte die sogenannte Hebamme sich nicht ihren Titel verdienen und etwas tun, damit sie hier herauskam und atmen konnte, statt abgedroschene Allgemeinplätze von sich zu geben? Vielleicht etwas Intelligentes?

Vielleicht gab es in diesem Königreich ein Gesetz: Vielleicht brachten sie die Intelligentesten um, damit die übrigen Mitglieder der Truppe nicht negativ auffielen. Deshalb wollten sie sie umbringen. Das hatte alles seine Logik.

»Doch wir haben wenigstens den Mann, durch den unsere Kinder auf die Welt kommen, gekannt und gewählt, während Ihr …«, die Hebamme verstummte mit einem Schluchzen.

Während Ihr? Wie konnte sie es wagen? Was erlaubte sie sich? Ihre Mutter hatte die allerhöchste Ehre, die Tochter des Dunklen Herrn, des Herrn der Finsternis, des Herrn der Ängste und des Schattenreichs in sich zu tragen statt das Kind eines x-beliebigen Sterblichen, der im Lauf der Zeit Haare und Zähne verlieren würde.

»Presst langsam«, flehte die Hebamme. »Oder Ihr reißt Euch auf.«

Presst langsam? Sie musste atmen. Sie musste hinaus. Wenn diese verdammte Hebamme, statt trostlosen Unsinn zu plappern, eine elementare Sache gemacht hätte, nämlich einen kleinen Schnitt am äußeren Ende des Kanals, durch den sie hindurchmusste, anzubringen, maximal daumenlang, sodass der Spalt, den sie durchqueren musste, größer wurde als ihr Kopfumfang, hätten sie und ihre Mutter davon profitiert. Die Mutter hätte aufgehört zu jammern und sie hätte endlich anfangen können zu atmen. Die ihr bekannte Definition des Wortes Hebamme, »diejenige, die bei der Geburt hilft«, war offenbar vollkommen falsch. Richtig wäre »diejenige, die überhaupt nichts unternimmt und Blödsinn redet, während die Geburt ganz allein vor sich geht, ohne ein Minimum an effektiver Hilfe«.

Unter äußerster Anstrengung, die ihr einen Schrei entlockte, konnte ihre Mutter sie schließlich auf die Welt bringen. Zusammen mit einem Schwall frischen Bluts, das ebenfalls eklig war, glitt das Kind aus ihrem Körper. Endlich konnte es atmen. Es stieß ein Gebrüll aus und hoffte, es möge all seinen Groll, seinen Hass, seine schreckliche Wut zum Ausdruck bringen, es hoffte, es möge durch die Mauern dringen und allen verraten, wie besonders es war.

»Das Weinen von Neugeborenen ist doch bei allen gleich«, murmelte die Hebamme traurig.

Nein, niemand hatte erfahren, wie besonders sie war. Ihre Wut hatte niemanden erschreckt, keiner hatte sie gespürt.

Na ja.

Wenigstens konnte sie atmen.

Die Hebamme nahm Mariel das Kind ab.

Das kleine Mädchen sah sie sich an. Die Frau war von furchterregender Hässlichkeit: rot angelaufenes Gesicht, Äderchen auf den schlaffen Wangen, Tränensäcke, tief liegende Augen, ein schauerliches behaartes Muttermal, violette Knollennase. Unter den Dingen, die das Kind wusste, seit jeher wusste, die es wusste und basta, war die Unterscheidung zwischen Schön und Hässlich. Die Hebamme war hässlich wie die äußeren Blätter am Kohlkopf, die man wegwirft, wie die Flügel einer uralten Fledermaus, wie der Schlamm, der unter den Schuhen festklebt.

Euer liebes Gesicht, hatte ihre Mutter gesäuselt. Das liebe Gesicht der Hebamme und die Intelligenz von Mutter Natur – die passten zusammen, wie füreinander geschaffen! Wenn ihr Vater, der Herr der Abgründe, kommen und die Welt in Finsternis hüllen würde, bliebe wenigstens die schauerliche Hässlichkeit der Hebamme verborgen und würde niemanden mehr stören: Ein glorreicher Tag würde das sein.

»Verzeiht, meine junge Herrin«, flehte die Hebamme mit zitternder Stimme. »Verzeiht, ich muss den Befehl ausführen.« Sie betonte das scharfe Doppel-S von muss. »Ich muss es tun, meine junge Herrin, nicht nur, weil es ein Befehl ist, sondern auch, weil die Welt zugrunde geht, wenn ich es nicht tue. Und wir alle auch: Ihr, ich, meine Kinder, Eure Mutter, alle Menschen. Alle Dinge. Ich werde tun, was ich versprochen habe. Ich habe keine zwei Gesichter.«

Sinnloser Satz. Sicher hatte sie keine zwei Gesichter. Hätte sie noch ein anderes gehabt, hätte sie bestimmt nicht dieses hier getragen.

Ihr Vater hatte sie in einer Welt ausgesetzt, die von idiotischen Verrückten bevölkert war, die sinnlose Dinge sagten und sie umbringen wollten. Und sie im Körper eines Neugeborenen war unfähig, irgendetwas zu tun, außer ein verzweifeltes Weinen auszustoßen, das aber niemanden sonderlich zu interessieren schien.

Die Hebamme hob das Kind hoch. Der kleine Körper war voller Blut, und instinktiv hüllte die alte Frau es in ihren Schal, damit ihm nicht kalt wurde. Das Mädchen war beeindruckt von dem kompletten Mangel an Logik in diesem Verhalten. Sie waren im Begriff, sie umzubringen, und sorgten sich, dass ihr kalt wurde. Unentwegt schwafelten sie von ihrer unendlichen Güte und doch waren sie im Begriff, sie umzubringen, ein Verhalten, das sogar Stachelschweine, Schakale und Kanalratten als Beleidigung jeder Ethik abgelehnt hätten.