Das Erbe des Magierkönigs - Tochter des Lichts - Silvana De Mari - E-Book

Das Erbe des Magierkönigs - Tochter des Lichts E-Book

Silvana De Mari

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Beschreibung

Eine unbeugsame junge Heldin weist das Böse in seine Schranken

Die junge Prinzessin Mariel und ihre Tochter Hania sind in letzter Minute Hanias Vater, dem Herrn der Finsternis, entkommen. Doch der hat noch einen anderen Trumpf im Ärmel: es gibt ein weiteres Dämonenkind, einen gleichaltrigen Halbbruder, der die finsteren Pläne des Vaters vollenden soll. So bleibt Mariel und Hania keine andere Wahl, sie müssen zurück in ihre Heimat und die Königin warnen. Doch die Königin wird ermordet und Mariel gefangen genommen. Nun ist es allein an Hania, den Kampf gegen das Böse aufzunehmen ...

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Seitenzahl: 405

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SILVANA DE MARI

Das Erbedes Magierkönigs

DIE TOCHTER DES LICHTS

Aus dem Italienischen vonBarbara Kleiner

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Danke, Maurizio und ElenaS. D. M.

1. Auflage 2018

© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2017 Silvana De Mari

Die italienische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»Hania – La strega muta« bei Giunti Editore, Florenz

Vermittlung durch die MalaTesta Literaturagentur, Mailand

Übersetzung: Barbara Kleiner

Umschlagkonzeption: Geviert, Grafik & Typografie

unter Verwendung einer Illustration von © Bente Schlick

MP · Herstellung: UK

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-19687-5V001www.cbj-verlag.de

Für alle Kobolde,die in der leidvollenGeschichte der Weltihre schmerzliche Stimmeerhoben habenfür ihr zerbrochenes Leben.

1Schafe und Wölfe

Ardo war Kommandant der Südbrigade, ein aufrechter, tüchtiger Soldat, der zur Verteidigung einer ruhigen und staubigen Grenze abgestellt war. Seinen Sohn hatte er als jüngsten Soldaten, den man je gesehen hatte, in die Armee des Reichs der Sieben Gipfel aufgenommen, einen erst fünfjährigen Jungen. Der Kleine hieß Gartred, aber der Name war zu lang für einen solchen Dreikäsehoch von einem Soldaten, also wurde er Gari gerufen.

Nach dem Tod seiner Frau blieb Ardo nichts anderes übrig, als sein Kind mitzunehmen zum Schloss des Verlorenen Wassers, jenem alten Gemäuer, in dem die Soldaten zur Bewachung der Südgrenze untergebracht waren: eingestürzte Türme, verfallene Mauern unter einer gleißenden Sonne, die ihre Helme zum Glühen und die Seelen zur Verzweiflung brachte.

Gari war sein einziges Kind, hervorgegangen aus einer ruhigen, späten Ehe, die durch die Weisheit einer Heiratsvermittlerin zustande gekommen war. Diese hatte einen Mann und eine Frau verkuppelt, die beide ein Alter erreicht hatten, in dem es langsam peinlich wurde, dass niemand sie bisher gewollt hatte.

Ein Jahr vor Garis Geburt war die Heiratsvermittlerin im Schloss des Verlorenen Wassers aufgekreuzt, hatte nach dem Kommandanten gefragt und erklärt, sie würde sich nicht von der Stelle rühren, bis sie vorgelassen werde. Sie war eine der letzten Vertreterinnen des Volks der Zwerge. Ihre sehr hellen, grünblauen Augen leuchteten aus einem Faltengewirr hervor. Es hieß, ihr Volk besäße geheimes und beängstigendes Wissen, auch deshalb wagte niemand, sie zu verjagen, und so gelangte sie schließlich zu Ardo.

»Ich habe da eine Jungfer, die ist nicht schlecht«, sagte sie, als sie endlich vor ihm stand. »Eine Schäferin, ein anständiges Mädel.«

Die Heiratsvermittlerin war von winziger Gestalt, gehüllt in graue Schleier, und trug an den Handgelenken Armreife voller Glöckchen. Ihre Bewegungen waren so leicht wie die eines Sperlings, doch ihre Stimme war durchdringend und bestimmt, sodass sie in dem kahlen Raum nachdrücklich widerhallte.

»Ich habe nicht die Absicht, mir eine Frau zu nehmen«, antwortete der Kommandant kurz angebunden, wobei er sich fragte, wie dieses Weiblein die Wachposten an der Tür hatte überzeugen können, sie vorzulassen.

»Das ist Unsinn«, erklärte ihm die Heiratsvermittlerin höflich. »Jeder Mann braucht eine Frau. Niemand darf allein bleiben. Es ist besser zu zweit, wenn einer fällt, kann der andere ihm aufhelfen.«

»Meine Aufgabe ist hier. Mein Zuhause auch«, erwiderte er barsch, wobei er unter der Strenge zu verbergen suchte, dass ihre Worte einen nie ganz erloschenen Wunsch nach einem weniger kargen Leben geweckt hatten.

»Ihr bleibt hier und spielt den Helden, und sie bleibt bei sich zu Hause und hütet die Schafe, die sie ja nicht allein lassen kann, die armen Viecher. Ab und zu seht ihr euch. Einmal im Monat legt Ihr die Rüstung ab, sonst erschrecken die Schafe und geben keine Milch mehr, und geht Eure Frau besuchen. Es wird eine Ehe mit Intervallen, die funktionieren am besten, die Entfernung ist für eine Verbindung ideal: Es gibt nicht so leicht Streit, aus der Ferne erscheint der andere immer besser.«

»Ich bin verwundet worden«, sagte der Kommandant verlegen. Im Krieg der Zwei Winter vor fünfzehn Jahren hatte er einen Arm verloren. Und er hinkte. Weshalb er es nie gewagt hatte, einer Frau einen Antrag zu machen. Und dann war er von Jahr zu Jahr verzagter geworden.

»Verwundet ist nicht der richtige Ausdruck. Verwundet ist man, wenn man Blut verliert, aber danach ist der Mensch noch ganz. Ihr habt unterwegs Teile verloren. Das ist mehr als verwundet«, korrigierte ihn die Alte unerwartet sanft. »Doch Ihr habt einen guten Sold. Und dann, wenn ein Mann in der Schlacht Teile verloren hat, nimmt ihm das nicht viel. Kurzum, ich bin gekommen, Euch zu sagen, dass ich eine Jungfer habe, wenn auch kein Mädchen in seiner Blüte. Solltet Ihr sie nicht nehmen, nimmt sie keiner. Sie ist nicht mehr jung, aber ein oder zwei Kinder kann sie Euch noch schenken. Wollt Ihr sie?«

Bis zu diesem Morgen war der Kommandant sicher gewesen, dass er kinderlos sterben würde. Lang betrachtete er dieses merkwürdige Geschöpf, das vor ihm in einem Wirbel aus grauen Schleiern und Glöckchen Gestalt angenommen hatte, um ihm von einer Frau und einem Zuhause zu erzählen. Bis vor wenigen Stunden war all das undenkbar für ihn gewesen, doch nun erschien es ihm von Augenblick zu Augenblick immer begehrenswerter. Undeutlich wurde ihm klar, dass die Glöckchen etwas Faszinierendes hatten, vielleicht etwas Hypnotisches, und dass sie ein wichtiges Element in der Überzeugungskunst dieses uralten Weibleins sein mussten.

»Warum also nicht?«, fragte die Heiratsvermittlerin nach.

»Ja, warum nicht?«, murmelte er.

Das winzige Weiblein lächelte.

»Das macht vier Silbertaler«, teilte sie vergnügt mit.

»Vier Silbertaler? Vierzig Heller? Das ist verrückt. So viel kommt ja gar nicht infrage. Warum zum Teufel sollte ich Euch vier Silbertaler geben? Ich brauche nur in den Ort zu gehen und mir eine Jungfer mit drei Schafen zu suchen, und dabei spare ich mir auch noch die fünf Heller, die ich anständigerweise bereit war, Euch zu geben, weil Ihr Euch die Mühe gemacht habt, hierherzukommen.«

Als Antwort gab es einen wahren Wirbel von Gelächter und Glöckchengeklingel. Dem Kommandanten kam es nicht so vor, als hätte er etwas derart Erheiterndes gesagt.

»Man bezahlt für die Idee. Hätte ich sie nicht gehabt, Ihr hättet weiterhin ein Leben geführt, das mit rein gar nichts angefüllt ist, denn wo ein Mann keiner Frau begegnet, ist das rein gar nichts. Früher oder später werdet Ihr sterben, und wenn man stirbt, macht es einen Unterschied, ob da jemand ist, der unseren Tod beweint. Wenn Ihr geht, werdet Ihr dank meiner Hilfe Nachkommen hinterlassen. Das wird Eurem Tod Sinn verleihen und Eurem Leben Wert. An dem Tag, das versichere ich Euch, werdet Ihr froh sein um diese vier Silbertaler. Wenn man etwas, was an sich keinen Preis hat, teuer bezahlt, hat man in jedem Fall ein gutes Geschäft gemacht. Ihr müsst eine Frau und Nachkommen haben. Wenn der Herr der Finsternis erneut angreift, darf er uns nicht allein antreffen.«

»Dass es den Finsteren gibt, ist Altweiberglaube«, wandte der Kommandant ein.

»Ich bin eine alte Frau, sehr alt. Älter als alle Bäume, die Ihr je an Eurem Weg gesehen habt. Mein Gedächtnis ist älter als ihres. Macht Euch keine Illusionen. Der Herr der Finsternis wird angreifen. Er hat versucht, uns mit Gewalt zu nehmen, und ist gescheitert. Jetzt wird er es anders probieren. Ihr werdet sehen. Wenn der Bruder den Bruder verrät, wenn der Blick des Freundes scheel wird, dann wisst Ihr, dass der Wolf im Schafstall ist. Wenn der Finstere angreift, werdet Ihr froh sein um diese vier Silbertaler.«

»Ich werde auch froh sein, wenn es nur zwei sind, und selbst das ist noch verflucht teuer«, brachte der Kommandant schließlich hervor.

Das alte Weiblein gab nicht nach, es blieb bei den vier Silbertalern. Und das Geschäft wurde abgemacht.

Die Hochzeit wurde in aller Schlichtheit gefeiert.

In dem kleinen Haus, dem bescheidensten in einem verlorenen, mit Schafställen gesprenkelten Schäferdorf, herrschte meist eine stille Verlegenheit zwischen den beiden Eheleuten. Durch jede neue Abwesenheit des Kommandanten für die unnütze Bewachung eines staubigen und verschlafenen Grenzpostens wurde diese unweigerlich immer wieder erneuert.

Erst nach dem Tod seiner Frau wurde dem Mann bewusst, welch unfüllbare Lücke diese kleine schüchterne Frau hinterlassen hatte. Ihm fehlte das scheue Lächeln, mit dem sie ihm ein Schneckengericht in saurer Sahne auftischte, dessen Rezept nur sie kannte, die verlegene Zärtlichkeit ihrer Liebesbegegnungen, der Klang ihrer Stimme, wenn sie dem Kind zum Einschlafen komische Märchen erzählte.

Eines Tages, als der Kommandant in das Häuschen zurückgekehrt war, den Sack voller kleiner Geschenke, Bohnen, Nüsse, ein Stück blaues Leinen für ein neues Kleid, hatte ihn das verzweifelte Schluchzen seines Sohnes empfangen und der schwarze Schleier der Trauer.

Den Wert des Wassers erkennt man erst in der Wüste, und in der Gefühlswüste, zu der sein Leben nun mit einem Schlag geworden war, beschloss er, den Fehler, fern von der geliebten Person zu leben, nicht noch einmal zu machen.

Das Fieber hatte seine Frau hinweggerafft, während er abwesend war. Doch Gari würde er von nun an nicht mehr aus den Augen lassen, er würde ihn immer bei sich behalten.

Der Kommandant verriegelte das Haus, verkaufte die paar Schafe und den kleinen Schafstall und erklärte seinen verdutzten Untergegebenen und den fernen Vorgesetzten, dass der Junge ab jetzt Teil der Garnison sein würde: Es gab keine andere Möglichkeit, weil da weder Nachbarinnen noch Schwestern oder Schwägerinnen waren, denen man ihn hätte anvertrauen können. Er versicherte, dass Gari niemanden stören und das Leben der Soldaten in keiner Weise verändern würde.

Darin täuschte der Kommandant sich allerdings. Die Anwesenheit des Kindes war ein Hauch von Frühling, ein Funken Lebendigkeit, der neues Feuer entfachte. Der kleine Junge verhinderte die Verrohung, die in der Seele von Menschen aufkommt, wenn ihr natürlicher Drang, tätig und konstruktiv zu sein, brachliegt.

Als Gari in Begleitung seines Vaters in die Garnison kam, kannte er nur sein bisheriges ruhiges Leben in dem bescheidensten Haus eines bescheidenen Dorfes, wo die einzige Gesellschaft und der einzige Reichtum bescheidene Schafställe waren.

Da er nie etwas anderes gesehen hatte, erschien ihm das Leben in der Garnison prachtvoll: die Soldaten eine Zierde der Ordnung, ihre verrosteten Waffen ein Sinnbild an Macht, ihre aus gekochten Lederplättchen mit Schafsehnen zusammengenähten Panzer wie ein Beispiel an Geometrie und Schönheit. Ihre schlampigen Uniformen waren jedenfalls großartiger als die Lumpen der Dorfbewohner, die aufgestellten Hellebarden heldenhafter als die Mistgabeln, die zwei mageren Pferde unendlich viel größer und majestätischer als die Schafe und sogar als der einzige Esel im Dorf – das größte Tier, das Gari je gesehen hatte. So heruntergekommen die Garnison auch sein mochte, immerhin lag sie in einem Schloss.

»Ihr seid herrlich und großartig«, flüsterte der Junge, als er die Garnison zum ersten Mal sah, nachdem er sie lang mit halb offenem Mund betrachtet hatte, die Augen aufgerissen vor Staunen und bedingungsloser Bewunderung.

Dieser einzige Satz vollbrachte das, was Generationen von Kommandanten nicht einmal zu träumen gewagt hatten, was unablässig wiederholte Ermahnungen und Strafen nicht einmal im Ansatz zuwege brachten: Der verzückte Blick des Kindes half der gelangweilten Garnison, ihre Würde wiederzuentdecken.

All die in einer Friedenszeit unnützen Grenzwächter fühlten sich plötzlich aufgerufen, ein gutes Beispiel zu geben. Um der Bewunderung des Kindes gerecht zu werden, wurden sie aktiver. Unausweichlich entdeckten sie dabei, dass Tätigkeit im Grunde schöner ist als Nichtstun und das Streben nach Vollkommenheit glücklicher macht als das Sichergeben in Nachlässigkeit.

Das alte Schloss wurde vom Rost befreit, der nach und nach Hellebarden, Schwerter, Türangeln und ihre Kämpferseelen überzogen hatte. Denn auch wenn die Soldaten es vergessen hatten, sie waren einmal von Kampfesmut beseelt gewesen, der hell geleuchtet hatte an dem Tag, an dem sie beschlossen hatten, Waffen zu tragen. Der Rost begann also zurückzuweichen, er verlor eine Schlacht, die er schon für gewonnen gehalten hatte: Er wurde von Hellebarden, Türangeln und Schwertern und aus den Herzen vertrieben.

Sich dem Jungen so zu zeigen, wie er sie in jenem ersten Augenblick gesehen hatte, wurde den Männern zur zweiten Natur. Der Stahl wurde poliert, Messing ebenso, die Fußböden mit unglaublicher Regelmäßigkeit und rührender Gewissenhaftigkeit gefegt. Die nötige Ausbildung des Jungen beschäftigte alle Männer, sodass sie ihre eigenen Schwertkampffähigkeiten pflegten, bis sie glänzten wie das Messing und der Stahl.

Der Unterricht im Bogenschießen besserte die Küchenvorräte mit erlegten Schlangen, Mäusen und wilden Kaninchen auf. Die Übungen mit der Axt füllten den Hof mit ordentlichen Stapeln penibel gehackten Holzes. Sie brachten dem Jungen alles bei: Duellregeln, Ringen, die Kunst des Auskundschaftens, sogar Kriegsstrategien. Gari lernte, wo man im Fall eines Angriffs Männer verstecken konnte, welches gefährliche Sumpfstellen waren, die man mit Wagen und Pferd meiden musste, welche Pässe man schließen musste, um die Feinde in eine Lawine zu treiben.

Aufgabe der Brigade war es, den südlichen Zugang zur Himmelspforte zu schützen, das war der Pass, über den man in das runde Tal des kleinen Königreichs der Sieben Gipfel gelangte. Das Gebirge erhob sich im Norden und an klaren Tagen konnte man auch das großartige Grün an seinen Hängen erkennen. Noch weiter südlich von ihnen, die sie gerade noch zum Königreich gehörten, erstreckte sich eine Wüste mit steinernen Türmen, die der Wind geformt hatte. Die Wüste wurde nur von einem sehr grünen, schmalen Streifen unterbrochen, dem Tal der Sprudelnden Quellen, wo das Wasser reichlich floss und so gut war, dass der Aberglaube besagte, es besitze Heilkräfte gegen die Mächte des Bösen und helfe auch bei kleinen Beschwerden wie Blasen, Zahnweh und schlechten Träumen.

»Von wegen Aberglaube. Wären wir schlau gewesen, hätten wir uns ein wenig von dem Zeug beschafft und hätten es im Schloss gelagert, man weiß ja nie«, schnaubte Baio, der Vizekommandant und älteste Mann der Brigade, allerdings leise, um nicht womöglich doch Spott dafür zu ernten.

Nachdem sein Strategieunterricht abgeschlossen war, lernte Gari die Regeln des Rittertums kennen. Alle Männer miteinander erklärten ihm, dass man redlich kämpfen musste, dass man kämpfte, um das Königreich zu verteidigen, um Frauen und Kinder zu retten, das verlange die Ehre eines Kriegers.

Gari kam aus einem Schäferdorf, also erklärten sie dem Jungen mit entsprechenden Beispielen, was sie meinten: Das Königreich der Sieben Gipfel war der Schafstall, sie waren die Schäferhunde, man hoffte, dass die Wölfe nie kamen, doch wenn sie kamen, würden die Hunde sie aufhalten, wie sie es schon in der Vergangenheit getan hatten und auch in Zukunft tun würden. Sie alle hatten die Wölfe aufgehalten, schon früher zur Zeit von König Ari, und als der König gestorben war und sie allein gelassen hatte, hatten sie den Krieg der Zwei Winter geführt.

Ardo erzählte seinem Sohn die Geschichte dieses Krieges: »Wir unterstanden dem Befehl des Magierkönigs, des Vaters von König Ari, und wir waren siegreich. Ich war damals im Norden, zusammen mit Baio, dort in den Bergen haben wir die Barbaren zurückgeschlagen. Sie kamen in riesigen Horden. Mit dem Schwert waren sie nicht aufzuhalten, man brauchte die Axt. Mein Kommandant hieß Dartred, ein großer Kommandant, deshalb habe ich dich Gartred genannt. Deine Mutter hat das zu Gari abgekürzt. Hierher hat man mich geschickt, nachdem ich einen Arm verloren hatte. Um eine Axt zu schwingen, braucht man zwei Hände. Hier war der Krieg nicht so schlimm, ein Arm war da ausreichend. Baio hat mich begleitet, weil ich mich auf jemanden stützen musste, allein hätte ich es nicht geschafft.«

Die kleine Garnison blieb stark und mit großem innerem Zusammenhalt, wachsam und schlagkräftig. Gari wurde ein kleiner, aber perfekter Soldat. Sein einziger Fehler war, dass er keinen Fehler hatte. Er kannte keine Gleichaltrigen, hatte keine Ungerechtigkeit erdulden müssen und wusste deshalb nicht, wie man sich gegen Spott wehrt oder dass es nicht nur Schwarz und Weiß gibt, sondern auch Zwischentöne. Deshalb war Gari erfüllt von der Idee absoluter Vollkommenheit: Ein Befehl konnte nicht falsch sein, es konnte keinen Zweifel daran geben. Als einziger Weg zum Glück der Menschen führten nur Gleichmut, Gehorsam und die Freude daran, seine Pflicht zu tun.

Die Welt war schön, das Leben war einfach. Man brauchte nur die Befehle auszuführen, und zwar in der bestmöglichen Weise.

Die Erwartung eines Feindes wurde für den Jungen fast zur Obsession. In gewisser Weise war es eine Enttäuschung für Gari, dass sich keine Gelegenheit bot, seinen Heldenmut zu beweisen. Die Erzählungen seines Vaters und Baios über die Ereignisse des Krieges, der vor fast einem Jahrzehnt die Welt mit Blut überzogen hatte, wurden bei jedem Mal Erzählen mit neuen Einzelheiten angereichert. Diese stammten aus anderen Geschichten, die sie ihrerseits von ihren Vätern und Großvätern gehört hatten. In all diesen Erzählungen, die ergänzt, ausgeschmückt, aufgebauscht und erfunden wurden, stand die Südbrigade, die unter dem Befehl des alten Magierkönigs die feindlichen Heere an der Himmelspforte zurückgeschlagen hatte, im Mittelpunkt, gehüllt in eine goldene Aura der Tapferkeit und Tüchtigkeit.

Gari träumte von dem Augenblick, da er selbst würde kämpfen können. Er nahm die Gewohnheit an, jeden Tag noch vor Sonnenaufgang die Fahnenstange hinaufzuklettern, an der hoch oben auf dem Turm die Flagge wehte. Voller Hoffnung hielt dort Ausschau nach irgendeiner Gefahr, doch am Horizont zeigte sich nichts, keine Art von Feind.

Sein Vater und die Männer teilten seine Enttäuschung nie und erklärten ihm, wenn ihr Land ein Schafstall wäre, wären sie die Hunde, und den Schafen ginge es besser, wenn kein Wolf in der Nähe sei. Seinen Verstand überzeugte das schon, sein Kinderherz aber nicht. Da er in seinem Leben noch nie einen im Kampf gefallenen Toten gesehen hatte, fantasierte er weiter von den Truppen, die er aufhalten würde.

Seine ganze freie Zeit verbachte Gari mit Bogenschießen, die einzige kriegerische Disziplin, die er allein ausüben konnte, und außerdem die einzige, die den Kochtopf auffüllte. Jahr um Jahr wurde er ein immer besserer Bogenschütze, er konnte die Windrichtung einkalkulieren und wurde immer stärker, auch auf die Entfernung verlor er nicht an Präzision. Die ganze Garnison wurde nach und nach stolz auf ihn.

Doch dann kam jene höllische Nacht, als rote Meteore den Himmel überzogen und alle, die wagten, sie anzuschauen, mit solchem Grauen und Schmerz erfüllten, dass der Tod ihnen wie eine Erlösung schien.

Wie immer erwachte Gari bei Sonnenaufgang, um den Horizont abzusuchen, in der Hoffnung auf eine drohende Gefahr, doch er kam nicht bis zum Turm. Sein Vater hielt ihn im Hof auf und drückte ihn an sich, bedeckte seine Augen mit den Händen, damit er nicht an den Himmel schaute, doch einen Moment lang konnte Gari einen dieser seltsamen Himmelskörper in seinem ekelhaften Licht erkennen, und das blieb ihm für immer in Erinnerung. Der Junge begriff, dass sich ein furchtbarer Zauber über ihr kleines Königreich legte: Sie wurden angegriffen und konnten nichts dagegen tun. Baio wiederholte, dass es eine schöne Sache wäre, ein Fläschchen von dem Heiligen Wasser dazuhaben, und seine Worte fielen in entsetztes Schweigen. Gari fühlte, wie alle Freude aus seinem Herzen wich, ja jede Hoffnung darauf, wie damals, als seine Mutter gestorben war.

In den folgenden Tagen hofften alle auf eine Nachricht, die diesem Himmelsereignis einen Sinn geben und sie aufmuntern könnte, aber das Herz des Reiches, die Hauptstadt, blieb lange stumm und verschlossen. Dann endlich brachte ein Bote ein Pergament mit dem goldfarbenen Siegel der königlichen Mitteilungen.

Da waren eine schlechte Nachricht – der Magierkönig war tot – und eine gute Nachricht – Prinzessin Mariel war jetzt Herrscherin. Die Tochter von König Ari war bekannt für ihre Schönheit, voller Mut und Ehre, strahlend von Sanftmut und Ritterlichkeit. Gari fühlte, wie sein Herz sich mit Liebe zu ihr füllte, sie wurde für ihn zum Symbol für alles, was auf der Welt Wert hat: die Liebe seiner Mutter, der Duft des Windes auf den Hügeln, das Meckern der Schafe, der Glanz der Morgenröte: Alles floss ein in die Liebe zu ihr, die seine Kommandantin und Herrscherin war. Für sie würde er jederzeit sein Leben geben, ohne das geringste Bedauern, ja in dem Glücksgefühl, dass sein Leben kein besseres Ende finden könnte.

Das Leben ging derweil auch in der Garnison weiter. Ab und zu erschien am reglosen Horizont ein königlicher Bote mit einem Pergament, immer mit Siegel, aber dessen Farbe war von einem stumpfen und glanzlosen Ocker. In einer Botschaft wurde verlangt, das Fleisch in der Verpflegung zu reduzieren, um etwas einzusparen. In einer anderen wurde verlangt, die Pferde grasen zu lassen, um keinen Hafer mehr kaufen zu müssen. Man gewann den Eindruck, das Königreich verarme, steure langsam auf ein Ende im Elend zu. Aber vielleicht wurden auch nur sie von der Südbrigade als nicht wichtig genug angesehen, um etwas für sie auszugeben. Dann kam lange Zeit nichts, der Horizont blieb leer, und schließlich, an Garis siebtem Geburtstag, kam ein Bote mit einem Pergament mit blutrotem Siegel: ein militärischer Befehl.

Der Moment des Krieges war gekommen.

Gari betrachtete lang dieses Siegel, ohne den Blick davon abwenden zu können, bis sein Vater es erbrach und das Pergament aufrollte. Vielleicht würde er für Prinzessin Mariel kämpfen können, sie vor allen Feinden beschützen, für sie sterben können. Gari schwor beim Andenken seiner Mutter, dass er das tun würde.

Vor versammelter Mannschaft, die in dem kleinen, rein gefegten Hof angetreten war, verlas der Kommandant die sehr lange Botschaft, mit immer mehr Verzweiflung und Entsetzen in der Stimme.

Etwas Verrückteres konnte es nicht geben. Selbst in den absurdesten Träumen nicht, die man gegen Morgen träumt, wo nichts einen Sinn ergibt, alles schrecklich ist und die Naturgesetze aufgehoben scheinen wie in einem verkehrten Spiegel, wo Weiß Schwarz und Schwarz Weiß wird.

In dieser Botschaft stand, dass in der Meteornacht ein Dämon Prinzessin Mariel befallen und sie nun sein Kind ausgetragen habe. Die Prinzessin, auf der die Hoffnungen des Reichs ruhten, Erbin von Mut und Ehre, war darüber verrückt geworden. Sie hatte sich geweigert, das Dämonenkind zu töten. Also lautete der Befehl, die Prinzessin festzunehmen und ihr Kind, ein Mädchen, zu finden und zu töten.

Als die Stimme des Kommandanten verstummte, füllte das Gesumm der Fliegen die lang anhaltende Stille in der flirrenden Sonnenhitze.

Gari hatte einen trockenen Mund und trockene Augen, weil ein Soldat nicht weint, aber seine Seele war zerrissen und leer wie an dem Tag, als seine Mutter gestorben war. Die Wölfe kamen von außen, und er würde sein Blut vergießen, um sie aufzuhalten. Aber nein. Die Wölfe waren im Schafstall, als Schafe verkleidet. Der Auftrag war vor allem, die Kinder zu retten. Der Auftrag war vor allem, die Prinzessin zu retten. Das forderten Heldenmut, Glaube und Loyalität.

Doch nun war ein Bote mit einem blutroten Siegel erschienen und alles war anders.

Zum zweiten Mal musste Gari mit ansehen, wie seine Welt zusammenbrach. Zum ersten Mal war das beim Tod seiner Mutter gewesen, aber die Aussicht, ein Ritter zu werden, hatte die schreckliche Leere, die sie hinterließ, füllen können. Aber jetzt war das Rittertum selbst gestorben, Garis einziger Lebenszweck.

Er hörte seinen Vater, wie er Befehle erteilte, wo man Wachposten aufstellen musste, welche Patrouillen gegangen werden mussten. Nicht gegen feindliche Heere, nicht um einen Überfall abzuwehren, sondern gegen die Prinzessin und ihr Kind.

»Das dürfte so schwer nicht sein«, sagte der Kommandant schließlich.

Schwer vielleicht nicht. Aber grauenhaft.

Um diese Aufgabe zu erfüllen, sollte die Südbrigade mit der Ostbrigade zusammengelegt werden, die wesentlich stärker war. Sie würden dieser eingegliedert unter dem Befehl von Kommandant Kinnik.

Nachdem er diese Zeilen gelesen hatte, hielt Garis Vater inne, damit seine Leute Zeit hatten, ihre Bedeutung zu erfassen: Das Kommando der Südtruppen lag nicht mehr bei ihm, er würde nun ein Offizier wie alle anderen sein.

Langsam, Silbe für Silbe betonend, las er die letzten Anweisungen: Das Mädchen sei wunderschön, es sähe älter aus, als es war, der Komplize der Prinzessin hieße Dartred und sei schon gefangen genommen worden. Bei diesem Namen, Dartred, stockte Ardo, seine Stimme versagte, und er las noch einmal, bis er den Namen vollständig über die Lippen brachte.

Baio stand hinten im Hof bei Gari – der Älteste und der Jüngste nebeneinander.

»Was für ein Schwachsinn!«, murmelte er. »Dein Vater und ich haben mit diesem Dartred zusammen den Krieg im Norden geführt, das haben wir dir schon tausendmal erzählt. Wenn er nicht gewesen wäre, wären wir alle tot, und dann wäre auch das Reich untergegangen.«

2Eine Zelle so groß wie ein Sarg

Während er in einer Zelle, die kaum größer war als ein Sarg, darauf wartete, gehängt zu werden, hatte Dartred, der Krieger, Zeit, sein Leben zu überdenken. Er hatte ein erfülltes Leben gehabt, erfüllt von Liebe, Schmerz, Zärtlichkeit und Qual. Er war als Sohn eines Schmieds geboren, er war von Rastrid, dem König der Zwerge, in der Kunst der Metallverarbeitung unterwiesen worden und in der Kriegskunst von König Ari persönlich. Vielleicht liebte er deshalb dessen Tochter Mariel von Anbeginn an. Als die Prinzessin allein aus dem Königspalast geflohen war und sich vor allen verbarg, hatte er es bemerkt und war ihr gefolgt.

Als Dartred sie endlich erblickte, auf der Flucht, die Kapuze des indigoblauen Mantels ins Gesicht gezogen, verbarg sie etwas, nein, jemanden, ein Mädchen, ein wunderschönes stummes Mädchen mit einem Mal am Handgelenk: die Tochter des Herrn der Finsternis. Der wollte durch das Kind die Welt dem Untergang weihen, indem er die Prinzessin zwang, ihr eigenes Kind zu töten. Dann hätte das Böse endgültig Einzug in der Welt der Menschen gehalten.

Dartred hatte das herausgefunden und beschlossen, für Mariel zu kämpfen, mit ihr, an ihrer Seite und unter ihrem Befehl. So hatte sein aus den Fugen geratenes Leben endlich einen Sinn bekommen, ihr Knappe zu sein, sie um den Preis seines Lebens jeden Augenblick zu beschützen, war der einzige Lebensinhalt, ohne den seine Tage leer gewesen wären. Für die Prinzessin würde er sein Leben lassen. Und als nach und nach eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen entstand, war seine Bindung an sie total geworden.

Als Dartred sich in einer der Zellen der Stadt Kaam wiederfand, um dort seinen Tod am Galgen zu erwarten, war er verstimmt. Gehängt zu werden, aus der Welt zu scheiden genau in dem Augenblick, da du heftigst in ein Frau verliebt bist, die dich dringendst braucht, ist eine schwer zu ertragende Vorstellung. Zudem war die Zelle ein senkrechter Sarg, und obwohl er als Soldat Gewalt gewohnt war, graute ihm durchaus vor der Folter im Gefängnis.

Jedes Mal, wenn er Schritte auf dem Korridor hörte, krampfte sich sein Inneres vor Angst und Ekel zusammen, und immer schwerer fiel ihm das höhnische Lächeln, mit dem er seine Peiniger empfing. Er brauchte sein Leben so nötig wie nie und sie würden es ihm nehmen.

Wenn sie ihn umbrachten, würde er Mariel nicht mehr schützen können, die Tochter seines Königs. Doch auch wenn sie die Tochter eines Bettlers gewesen wäre, hätte sie ebenso jede Minute seines wachen Bewusstseins ausgefüllt. Nun aber, da sie ihn brauchte, konnte er nicht bei ihr sein, konnte nicht länger den verwegenen Traum träumen, ihr Mann zu werden.

Das Urteil war noch am Tag seiner Verhaftung ergangen, die Hinrichtung aber aus Gründen der Inszenierung und der öffentlichen Sicherheit um einen Monat aufgeschoben. Man musste der Bevölkerung Zeit lassen, sich auf das Spektakel vorzubereiten, und man musste sicher sein, hundertprozentig sicher, dass Mariel und ihre diabolische Tochter nicht mehr imstande waren, Schaden anzurichten, mithin an einem Ort waren, wo alle Gefährlichkeit gebannt war, nämlich sechs Fuß unter den Graswurzeln. Bis man diese Gewissheit hatte, behielt man ihn besser als Köder oder Geisel: Solange Mariel und ihre Tochter Hania am Leben waren, hatte Dartred einen gewissen Wert als Lebender. Dazu brauchten sie ihn lebend – aber nicht unversehrt, also ließen sie es an Prügel nicht fehlen.

Damit er sich über den Aufschub nicht zu sehr freute, hatte man Dartred in eine Zelle gesteckt, die ein Sarg war. Die Wände waren eiskalt und feucht, die Tür ging fast nie auf außer für jene, die ihn prügelten. Er konnte stehen oder sich hinhocken, aber im Hocken war wirklich wenig Raum, die Knie drückten ihm gegen den Brustkorb, und die Füße mussten nach innen gedreht werden, und dann waren da noch seine eigenen Ausscheidungen, also blieb Dartred stehen, solange er es aushielt. Im ersten Monat war Dartred so viel geschlagen worden, dass ihm sein legendärer Mut abhandengekommen war. Er konnte sich nicht einmal mehr erinnern, ein großer Krieger gewesen zu sein, genannt der Kühne, der im Krieg der Zwei Winter vor fünfzehn Jahren allein den Sieg herbeigeführt hatte. Er erinnerte sich nicht einmal mehr, dass er nie einem Kampf ausgewichen war, vor nichts Angst gehabt hatte. Jeder Schritt, der sich seiner Zelle näherte, ängstigte ihn, also wartete er reglos in der völligen Dunkelheit, die ihn umgab, dass die Zeit verging, und sein Geist verlor sich in immer sinnloseren Gedanken.

Er hatte jedes Zeitgefühl völlig verloren, als plötzlich die Glühwürmchen auftauchten.

Als das erste Tierchen in dem dunklen Verlies Gestalt annahm, blendete sein Schein Dartreds Augen, die nicht mehr ans Licht gewöhnt waren. In der totalen Finsternis leuchtet ein Glühwürmchen wie blendendes Licht.

Dann wurden die Glühwürmchen ein Heer, und er glaubte, sein Geist sei völlig abgeglitten. Sie kamen durch den winzigen Spalt der stählernen Tür und mussten durch die Gänge der Verliese geschwebt sein. Ein verrückter Ort für Glühwürmchen, sie mussten also von einem starken Willen gelenkt sein. Die Glühwürmchen setzten sich an die Zellenwand und bildeten folgenden Satz:

Halt durch, wir kommenM und H

Dartred verweilte lang bei den zwei Großbuchstaben. Wenn die Glühwürmchen wirklich existierten und nicht nur eine Ausgeburt seines durch Hunger und Durst geschwächten Geistes waren, dann bedeutete es, dass Hania besondere Kräfte hatte und sie für ihre Mutter einsetzte. Dadurch entstand wieder Hoffnung in ihm. Der Schmerz verschwand, die Angst auch. Er war wieder er selbst, Dartred, der Kühne. Seine Prinzessin war noch am Leben, und das dämonische Mädchen, das sie geboren hatte, kämpfte an ihrer Seite.

Lange betrachtete Dartred die Schrift, die sich plötzlich auflöste, als ob der Geist, der sie beherrschte, alle Macht verloren hätte. Eine riesige Bremse erschien vor ihm. Das reglose Schwarz ihres Körpers hob sich von dem vibrierenden Leuchten der Glühwürmchen ab.

Dartred dachte, auch die Anwesenheit einer Bremse in einem unterirdischen Verlies sei so merkwürdig wie die der Glühwürmchen. Er hatte keine Zeit, sich zu fragen, ob das Tier in Wirklichkeit existierte oder nur in seinem Wahn. Die Bremse prallte gegen seine Stirn, stach ihn und injizierte eine solche Menge an Gift und Schmerz, dass Dartreds Kopf heftig gegen die Wand hinter ihm schlug. Eine ganze Weile war Dartred benommen und fast froh, weil dieser Schlag auf den Hinterkopf dem Schmerz an der Stirn das Stechende genommen hatte, dieser Schmerz war unerträglich und erfüllte ihn mit einem so heftigen Ekel, wie er ihn noch nie empfunden hatte. Alles verlor an Bedeutung: seine Liebe zu Mariel, der Wunsch, am Leben zu bleiben.

Dartred blieb reglos, und die Angst, dass dieses Tier noch einmal angreifen könnte, krampfte seine Eingeweide zusammen. Er hatte ein Heer geführt, er hatte den schrecklichsten Tiger erlegt, hatte seine Prinzessin geschützt, eine fürchterliche Haft auf sich genommen: Das alles war ihm aber plötzlich vollkommen gleichgültig.

Wenige Momente später öffnete sich die Tür und in einer Wolke von Glühwürmchen erschienen Hania und Mariel.

»Ich bin gekommen, Euch zu befreien, Herr«, sagte die Prinzessin lachend. Ihre Augen leuchteten, sie war schöner denn je. Neben ihr stand das Mädchen, das gelöste Haar fiel ihr auf die Schultern, auch sie strahlte in einer neuen Schönheit. »Wir sind gekommen, Euch zu befreien«, berichtigte sich Mariel, »ich und meine Tochter gemeinsam.«

Er war frei. Sie war am Leben. Das Mädchen war gut geworden oder etwas in der Art.

Schnaubend brachte er heraus, dass er sich freue, und auch das kostete ihn Anstrengung. In ihm war alles nur Schmerz und Ekel. Alles andere, Mariel, Hania, am Leben und frei zu sein, all das war ein verschwommener, nicht zu erkennender Hintergrund.

3Prinzessin eines verlorenen Reichs

Mariel, Prinzessin des Königreichs der Sieben Gipfel, hatte ein Kind der Finsternis zur Welt gebracht, empfangen von einem Dämon, der sie und die Welt in Verdammnis stürzen wollte. Sie hatte einen Krieg gewonnen, der aussichtslos schien. Vor Kurzem war sie dem Herrn der Finsternis selbst in einem Duell gegenübergetreten, wäre fast zu Tode gekommen, am Ende aber hatte sie gesiegt, weil ihre Tochter an ihrer Seite kämpfte. Und Dartred mit ihnen.

Mariel wünschte, ihr Vater würde noch leben, er hätte sie gelobt und wäre stolz auf sie gewesen. Ihre Mutter gehörte dieser Welt noch an, und auch sie würde glücklich sein, wenn sie in wenigen Wochen davon erführe, sobald Mariel wieder daheim wäre.

Zweifelsohne glücklich. Etwas verwundert vielleicht über diese Tochter, die nach Hause kam, von Wind und Wetter gegerbt wie ein Bauer, mit Muskeln, die einem Fuhrmann alle Ehre machen würden, und mit einem Knappen bei sich, dem Sohn des Schmieds, der früher oder später, eher früher als später, die Rolle des Prinzgemahls einnehmen würde.

Sicherlich glücklich und auch verwundert wäre ihre Mutter, aber schlimmer wären die Amme und die Köchin. An die Hofdamen wollte Mariel gar nicht denken, doch sie hatte beschlossen, den tüchtigsten Kämpfer zu heiraten, dem sie auf ihrem Weg begegnet war, und das war nun einmal der Sohn des Schmieds. Damit mussten die bei Hof leben.

Mariel war Prinzessin und ein Ritter, sicher, aber auch eine Frau, der, als sie verfolgt und in Gefahr war, ein Mann zu Hilfe gekommen war, der ihr sein Leben und seine Kraft zu Füßen gelegt hatte, und das war wichtiger als die Abstammung. Sie wusste, dass ihre Mutter, die sie für tot hielt, voller Dankbarkeit für den Mann sein würde, der ihr Überleben ermöglicht hatte, und ihm seine Herkunft verzeihen würde. Doch da Mariel auch gesunden Menschenverstand besaß, wusste sie, dass sich jeder Dame und jedem Kavalier des kleinen Hofes die Haare sträuben würden, so groß Dartreds Verdienste auch sein mochten.

Aber die Herrscher von den Sieben Gipfeln übertrieben ohnehin immer ein bisschen mit ihrem Mut und dem Willen zum Außergewöhnlichen, sodass sie Gefahr liefen, unsympathisch zu wirken. Also half es, sich auch mal ein wenig nachlässig zu zeigen, mit einem Grasfleck auf dem hellen Kleid oder Schlamm an den neuen Schuhen, vor allem wenn der Schlamm und das Gras mit etwas Lebendigem oder Fröhlichem zu tun hatten. Wenn sie schon als Kämpfer für die Gerechtigkeit heimkehrte, der einen Dämon besiegt hatte, würde die Heirat mit dem Sohn des Schmieds eine harmlose Sünde darstellen, die denen Gesprächsstoff lieferte, die sonst missgünstig ihre Heldentaten beäugt hätten.

Mariel würde siegreich und im Triumph in ihr Königreich heimkehren. Der Palast, saubere Betttücher, große Kamine, die des Nachts Wärme spendeten, große gedeckte Tische, um die man an Regentagen und bei Kälte herumsaß. Die schrecklichen Monate der Flucht waren ebenso vorbei wie die Angst. Sie war Mariel von den Sieben Gipfeln, und sie hatte die Finsternis und die Dunkelheit besiegt, und nun war sie im Begriff, ihren Knappen zu retten, ihren Ritter, den künftigen Vater ihrer Kinder, den Prinzgemahl.

»Ich habe Euch Eure Axt mitgebracht«, sagte Mariel überschwänglich zu Dartred. »Sie war im Raum der Wachposten. Wir haben die Wächter mit extremer Leichtigkeit kampfunfähig gemacht, Hania hat Tausende Ratten auf sie losgelassen. Das war lustig, wisst Ihr? Wir haben die Axt rausgeholt und die Wachen in ihrem Raum eingeschlossen. Leider habe ich keine Ahnung, wo Euer Schwert ist. Kommt, könnt Ihr gehen?«

Dartred knurrte etwas. Er war nicht wiederzuerkennen. Er war nur noch Haut und Knochen, war schmutzig und stank erbärmlich, und es war etwas Erloschenes an ihm, etwas Krankes.

Er schleppte sich hinter ihr her. Das Mädchen trottete ihnen voraus. Die Türen öffneten sich eine nach der anderen. Hania legte ihr Händchen auf den Riegel, und sogleich ertönte unfehlbar das Klonk, womit der Mechanismus aufsprang.

Schließlich kamen sie zur letzten Tür: jenseits davon die Freiheit, das Leben.

Hania legte die Hand auf den Riegel und nichts geschah. Sie runzelte die Stirn und versuchte es noch einmal und noch einmal, doch das Schloss blieb reglos und stumm.

»Sie ist müde«, erklärte Mariel. »Erschöpft, sie kann nicht mehr.

Dartred nickte. Er hatte noch seine Axt in der Hand. Mit höflicher Geste schob er das Mädchen beiseite, aber er konnte die Waffe nicht heben. Ein paar Augenblicke verharrte er so, dann ließ er den Arm sinken und schüttelte den Kopf. Mariel nahm die Axt und schlug mit ganzer Kraft damit auf das Schloss ein. Die Tür zerbarst unter diesem Schlag. Wie Mariels Schwert entstammte die Axt der Werkstatt des Schmieds, Dartreds Vater, sie waren aus dem gleichen besonderen Stahl gemacht.

Die drei fanden sich außerhalb der Gefängnishöfe wieder, nichts mehr trennte sie von der kleinen Straße, die sich auf der einen Seite nach oben zum Zentrum des Städtchens hinaufschlängelte, auf der anderen Seite nach unten auf das große Tor zu, das Kaam nach außen begrenzte. Überall Bewaffnete. Man hatte die Qual der Wahl. Außerdem stank Dartred unerträglich.

»Wie wolltet Ihr hinauskommen? Ihr habt einen Plan, wie wir wegkommen, nicht wahr?«, fragte Dartred bissig. »Die Kerle hier sind eher reizbar, und wenn sie uns erwischen, während wir fliehen, sind sie bestimmt weniger pingelig als vorher. Statt wieder gefangen genommen zu werden, hätte ich es vorgezogen, meinen Hintern nicht aus dem Verlies fortzubewegen. Mein einziger Trost war, Euch gerettet zu haben. Jetzt seid Ihr gekommen und habt Euch wie ein dummes Huhn selbst in die Falle begeben. Vielleicht haben wir Glück und sie bringen uns alle hier um, ehrenvoll, mit dem Schwert.«

Mariel zuckte entsetzt zusammen wegen der rohen Aggressivität in Dartreds Worten. Da war etwas Erloschenes in Dartred, etwas Zerbrochenes, etwas Abfälliges und Verdorbenes.

»Ich habe auf Hania gehofft, einen Zauber, der uns vor allen schützt, aber das Mädchen ist zu müde«, rechtfertigte sie sich schwach.

»Ich hatte auf etwas weniger Dummes gehofft«, schnaubte Dartred. »Ich hätte mich lieber nicht aus meiner Zelle fortbewegt, mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, dort allein zu krepieren, in dem Wissen, dass wenigstens ihr zwei in Sicherheit seid.«

Sie kamen zu einem der Parks der Stadt, wo ein Brunnen plätscherte, und Dartred wusch sich ein wenig Schmutz aus den Kleidern und vom Körper, damit er nicht durch seinen Geruch auffiel, der ihn als Gefangenen auf der Flucht kenntlich machte. Dann hüllte er sich in Hanias Mantel, der ursprünglich seiner gewesen war. Schließlich machten sie sich auf den Weg zum großen Tor, das jeden Augenblick für die Geschäfte des Tages geöffnet werden würde.

Mariel war verwirrt. Der Herr der Finsternis war überwunden, geschlagen, vernichtet worden. Das Leben müsste nun ganz leicht und fröhlich sein. Sie fühlte, wie Müdigkeit sie überkam. Sie hatte sich über Straßen und durch Landstriche geschleppt, hatte gegen schreckliche Feinde gekämpft, sie war Geisel des Herrn der Finsternis gewesen, sie hatte seinem Blick standgehalten, hatte sein Feuer auf der Haut gespürt, sie war von dem Kind gerettet worden, das sie ins Verderben stürzen sollte und das sie zum Guten bekehrt hatte. Sie hatte gekämpft und hatte gesiegt, aber wo war ihr Preis? Warum ließ sie sich auf diese schwierige Flucht ein, mit dem Krieger, der nur noch ein hasserfüllter Haufen Verzweiflung war?

4Ein Mädchen aus Schatten

Hania war verwirrt, da stimmte etwas nicht, und was da nicht stimmte, war so riesig groß, dass sie nun auf einen Abgrund zusteuerten, so zielstrebig wie ein Fass, das einen Hang hinunterrollt.

Zum Glück kannte sie die unterirdischen Gänge. Ratten und Kakerlaken hatten ihr die Anlage und die Türen bis ins letzte Detail beschrieben und die Katzen und Tauben hatten ihr die Stadt durch ihre Augen gezeigt. Der Geist der Tiere war ihrem Geist ohne Weiteres zugänglich.

Hania bewegte sich wie der Führer eines grenzenlosen Heeres von winzigen, tödlichen Kriegern; und endlich waren sie draußen aus dieser verdammten Stadt Kaam. Hanias Geist, vor Müdigkeit bis zur Ohnmacht erschöpft, gewann wieder an Klarheit.

Da war ein Detail, das ihnen zugutekam: Noch suchte man sie nicht. Die Soldaten, die ihre Mutter und sie eingeschlossen hatten, saßen noch immer fest. Der Rest der Stadt war in Aufruhr wegen einer Frau königlicher Abstammung und eines kleinen Mädchens von etwa einem Jahr, das jedoch älter aussah: Alle dachten, das Mädchen sähe aus wie anderthalb, vielleicht zwei Jahre. Sie dagegen waren eine x-beliebige Familie von Bettlern, Vater Bettler, Mutter Bettlerin und die kleine Tochter Bettlerin, die aussah wie vier oder fünf.

Sie mussten nur ruhig, gelassen und wachsam bleiben. Eine x-beliebige Familie von zerlumpten Leuten, man würde sie ansehen, ohne sie wahrzunehmen. Die Kleider von allen dreien waren zerlumpt und verdreckt. Mariel und Hania stanken nach Ziegenkot, Dartred nach Menschenkot. Das schuf eine einheitliche Situation, und das war von Vorteil, denn es waren die Abweichungen, die Aufmerksamkeit erregten, außerdem wandten alle das Gesicht ab, um ihren Gestank nicht zu riechen. Wenn sie eines Tages beschließen sollte, ein Werk über Strategien des Überlebens zu schreiben, würde Hania nicht versäumen, einen ekelhaften Gestank zu empfehlen, vor dem die Menschen den Blick abwandten. Denn die Augen saßen gewöhnlich zu beiden Seiten der Nase, und sobald man diese wegdrehte, wandte man unausweichlich auch jene ab.

Es war alles sehr schwierig gewesen und Dartred hatte etwas Verletztes, Zerbrochenes. Sicher, in einem Verlies mit Schlägen traktiert zu werden, besserte den Charakter nicht, aber der Krieger hätte ein ganz klein wenig Freude empfinden, ein Fünkchen Dankbarkeit zeigen können.

Zwischen den Karren der Bauern hindurch, die in die Stadt strömten, um Pferde und Eier zu verkaufen, gelangten sie aus der Stadt hinaus, und als man die Hörner Alarm blasen hörte, waren sie schon weit weg, versteckt in einem der wenigen Wälder in dieser dürren Region. Endlich machten sie Rast. Der Augenblick fiel weniger gefühlvoll aus, als man sich erwartet hätte. Wenn sie etwas weniger gestunken hätten, hätten Mariel und Dartred sich wohl umarmen können. Wie die Dinge aber jetzt lagen, war daran gar nicht zu denken. Aber da war noch etwas anderes als der Gestank, was sie voneinander fernhielt.

»Hania ist ihrem Vater entgegengetreten, dem Herrn der Finsternis, sie hat sich auf meine Seite geschlagen und hat ihn vernichtet. Sie hat ihn zunichtegemacht. Die Welt ist von ihm befreit.«

Dartred nickte, nach wie vor zerstreut, gleichgültig, wenig überzeugt.

Die Nachricht war außergewöhnlich, herrlich, ein Wunder, eins von den Dingen, die man jahrelang feiert, doch von Begeisterung war kaum eine Spur zu sehen bei dem Soldaten. Und auch der Sieg schien nicht glänzend. Die Welt war nach wie vor böse und voller Bewaffneter, die wie gewöhnlich das Falsche taten. Die Himmel hätte voller Tauben sein müssen, die Wipfel voller Vogelgezwitscher, die Blumen hätten in aller Farbenpracht blühen sollen.

Sie hatten den Herrn der Finsternis besiegt – aber die Welt war schwierig und staubig geblieben.

Endlich betrachtete Hania Dartred genauer. Er hatte eine große rote Beule im Gesicht, so groß, dass sie die Hälfte der Stirn einnahm. Man hatte ihn mit Prügeln traktiert, das Nasenbein war gebrochen, Blutergüsse am ganzen Körper schillerten in allen Farbtönen von Schwarz bis Gelb, von Violett bis Orange, zu alldem kam noch der Schmutz, den er am Brunnen nur oberflächlich hatte abwaschen können. Die Beule aber beherrschte sein geschundenes Gesicht.

Hania sah ihn so lang an, dass er es bemerkte. Er fuhr sich mit der Hand über die Beule.

»Da war eine Bremse in meiner Zelle!«, erklärte er.

Mariel nickte.

»Sicher«, murmelte sie lächelnd. »Das kann passieren.«

Sicher, eine Bremse in einer Gefängniszelle, völlig normal. Sicher, es war alles gut. Sicher, das letzte Türschloss hatte sich nicht geöffnet, weil Hania müde war. Sicher, sie würden in Frieden und Freude leben in einer Welt voller Gesänge und Überfluss und sie würden betagt eines natürlichen Todes sterben.

Hania nickte nicht. Sie fluchte, allerdings nur im Geist, und sie verwandte dabei alle ihr bekannten Flüche, die sich dann freilich doch auf vier oder fünf beschränkten. Einer der vielen Gründe, weswegen es sie verdammt noch mal ärgerte, keine Stimme zu haben, war die Unmöglichkeit zu fluchen. Wäre sie dazu imstande gewesen, sie hätte ihre Wut auf das Schicksal und die Welt an Dingen ausgelassen, indem sie diese zertrümmerte und dagegen trat – Handlungen, die nur begleitet von lauten Flüchen sinnvoll waren. In der Stille machte man sich damit nur lächerlich. In ihrer Frustration hatte Hania nur einen Ausweg: eisigen Zorn, weil sie das einzige denkende Wesen in einer schwachsinnigen Welt war.

In unterirdischen Verliesen gab es keine Bremsen. Es gab keinen Grund, warum sich eine von ihnen von den weiten, lichtdurchfluteten Wiesen und den prachtvollen Ausscheidungen von Kühen, Pferden, Ziegen, Schafen und ein paar gutwilligen Hühnern abwenden und sich durch unendliche, dunkle und eiskalte Korridore in eine Zelle ohne Licht begeben sollte.

Auch Glühwürmchen gab es in unterirdischen Verliesen keine, wenn nicht jemand ihrem Geist befahl: in diesem Fall sie. Die Bremse bewies, dass Hanias Kontrolle über die kleinen Tiere in den Verliesen nicht vollkommen gewesen war, dass da ein anderer Geist vorhanden war, der dieselbe Fähigkeit besaß wie sie. Hania ging noch einmal alles in der Erinnerung durch, und schließlich bemerkte sie, dass es da einen blinden Flecken in ihrer eigenen Wahrnehmung gab: die Bremse, unter dem Diktat eines anderen Willens. Sie hatte nicht einmal das Brummen gehört. Sie suchte den Geist der Ratten, die die Verliese bevölkerten, und sie sah die Bremse mit ihren Augen: Sie hatten sie gesehen; sie hörte das Brummen, das sie gehört hatten, und dabei bemerkte sie, dass da noch ein zweiter blinder Fleck gewesen war. Eine der Ratten hatte sie übersehen. Und der Geist der anderen Ratten barg eine Wahrnehmung, die ihr verschlossen gewesen war: das Bild eines riesigen Mannes, der seinen hasserfüllten Blick auf Hania ruhen ließ, als sie versuchte, die letzte Tür zu öffnen. Es war ihr Vater. Ihr Vater war am Leben. Dessen böser Blick war ihnen gefolgt, als Dartred aus der Zelle kam

Ihr Vater lebte und gedieh. Vielleicht war er nicht allzu munter, wenn er sich in einen Nager in einem Gefängnis verwandelt hatte, aber er hatte jedenfalls den Ort gefunden, die Bremse und das Türschloss kontrollieren können – also hatte er noch einen Teil seiner Macht.

Hania erkannte: Dartred war vergiftet worden. Er hatte sich selbst verloren, er driftete ab in die Finsternis. Früher oder später würde er sterben, ein langer Todeskampf würde einem Leben voller Gleichgültigkeit und Groll ein Ende bereiten. Er war ein starker Mann, er würde nicht böse werden, aber er würde überflüssig und unerträglich sein.

Bis vor wenigen Stunden waren ihre Mutter und sie überzeugt gewesen, dass der Krieg zu Ende war und sie gewonnen hatten. Welche Naivität.

Der Krieg war nicht zu Ende, und sie waren nicht siegreich.

»Es ist alles gut gegangen«, murmelte Mariel, als müsse sie außer ihm vor allem sich selbst überzeugen.

Hania hockte sich auf den Boden und schlug mit der Faust auf die Erde, eine Geste, die sie benutzte, um zu widersprechen, es war eine schöne Bewegung, die sie ein wenig aus ihrer grenzenlosen Enttäuschung herausholte.

»Das heißt nein«, übersetzte Mariel.

»Es ist nicht alles gut gegangen, sicher nicht«, murmelte Dartred. Auch wenn der Herr der Finsternis ihm sein Gift injiziert hatte, war er doch der weniger Schwachsinnige von den beiden.

»Wir haben Euch sehr leicht befreien können«, beharrte Mariel auf ihrem Standpunkt.

»Ihr habt mich in einer Aktion befreit, die von allen für unmöglich gehalten wurde, sicher, und mithilfe von außergewöhnlichen Kräften, aber wir sind behindert worden und haben es nur um Haaresbreite geschafft. Ihr Vater lebt.«

Handfläche nach oben: die Geste, die Hania benutzte, um Ja zu sagen.

»Ihr Vater lebt«, räumte Mariel langsam ein. »Also hat er überlebt. Er ist nicht vernichtet worden. Aber er hat uns nicht zu sehr behindert! Er muss sehr schwach sein.«

Hania deutete auf die große Beule, die Dartreds Gesicht entstellte.

»Ihr Vater lebt«, wiederholte der. »Er ist sicherlich sehr schwach, aber beinah hätte er uns aufgehalten. Der Biss dieser Bremse war so heftig, dass ich mit dem Hinterkopf gegen die Wand geprallt bin und eine Weile ganz benommen war. Man hat mich mit Schlägen traktiert, aber dieser Biss war ein Schmerz, wie ich ihn noch nie verspürt habe. Der Herr der Finsternis ist ein Insekt geworden, aber auch so hat er nicht wenig Kraft. Das Schloss hätte uns aufgehalten: Zum Glück, Herrin, habt Ihr meine Axt aus dem Stahl der Zwerge mitgenommen.«

Hania fuhr mit dem Finger an der Schneide der Axt entlang, und das vermittelte ihr ein Gefühl von Frische und Grün, wie der Wind auf den Hügeln, wie wenn sie Mariels Schwert berührte. Es war nicht nur die Meisterschaft der Zwerge, nicht nur die Eigenschaft der Metalle. Es war ein Zauber darin. Die Axt besaß denselben Zauber wie Mariels Schwert, etwas Mächtiges und Grünes, etwas, was Verbindung zum Leben und zur Erde hatte. Deshalb war die Tür unter einem einzigen Hieb aufgesprungen. Früher oder später würde sie die Frage nach dem Zauber in dem Schwert und in der Axt formulieren können und eine Antwort erhalten. Selbst ihr Vater wusste nichts darüber.