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Ein ehemaliger Offizier wird Jahrzehnte nach der Wende mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Er soll auf die Suche nach einem technischen Dokument gehen, welches 1989 im Gebiet der ehemaligen Heeresversuchsanstalt in Peenemünde zufällig entdeckt wurde und in den Wirren der Wende in Vergessenheit geriet. Nun sorgt es für hektische Aktivitäten unter den damaligen Akteuren, einer von ihnen verschwindet spurlos, die ermittelnden Polizisten werden von oben ausgebremst. Mittendrin Pia, die junge Deutsch-Schwedin, auf der Suche nach ihrem Vater, die von einem mysteriösen Mann verfolgt und angegriffen wird. Ein polnischer Besucher der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora erkennt seinen Großvater auf einem Foto aus Peenemünde. Was haben diese Ereignisse miteinander zu tun? Peenemünde, der Harz und Schweden sind Handlungsorte dieses Thrillers. Die Jagd nach dem Dokument mündet in spektakuläre Ereignisse in Peenemünde und im Harz.
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Seitenzahl: 536
Veröffentlichungsjahr: 2024
Rainer Höll
Das Erbe von Peenemünde
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Impressum neobooks
Rainer Höll
Das Erbe von Peenemünde
Der schwüle Sommer prallt an der Entschlossenheit des Mannes ab. Staub wirbelt um die Ecken der Gebäude, nur wenige Körner finden Halt in den trockenen Blättern der Bäume und Büsche, die vom einstigen Urwald noch übrig sind. Der Mann kneift die Augen zu einem winzigen Spalt zusammen, nur Umrisse der Umgebung dringen noch zu ihm, reichen zur Orientierung. Den Sand in den Ohren nimmt er nicht wahr.
Sein Entschluss steht fest. Er wird sich nicht einem ungewissen Schicksal ausliefern und diesen Ort so schnell wie möglich verlassen. Der Plan dafür ist nur ein lockeres Gerüst, das Ziel jedoch bestimmt sein Handeln. Er muss auf günstige Umstände warten, deren Eintreffen er nicht beeinflussen kann. Und hofft darauf, dass es bald geschieht.
Geduld!
Er hasst und liebt dieses Wort, es richtet ihn auf und nagt an seiner Zuversicht. Wie lange wird er es aushalten? Die Gefahr, dass seine Vorbereitung entdeckt wird, ist groß, und gleichbedeutend mit seinem Tod. In einem sicheren Versteck hat er verborgen, was ihm den Weg nach draußen ermöglichen wird.
Zwei Kostüme.
Die lästigen Sandkörner in der Luft des sterbenden Tages lenkt er auf den Zweifel, der ihn jeden Abend ein winziges Stück schwächer machen will.
Weg damit.
Seit Tagen schon hebt sich seine Hoffnung, denn fast jede Nacht warnen die Sirenen vor feindlichen Flugzeugen.
Wessen Feinde?
Die dann jedoch das Gebiet nur überfliegen, auf ihrem Weg nach Süden, nach Stettin oder Berlin. Seine Kameraden berichten, dass ein Jahr zuvor alle von einem Angriff überrascht wurden, als die Flugzeuge ihre Bombenlast bereits hier abwarfen. Auf die Gebäude und Versuchsanlagen, auf Prüfstände und Fertigungshallen, auf die Unterkünfte der vielen Menschen, die voller Enthusiasmus hergekommen waren.
Oder unter Zwang.
Er ist vorbereitet auf sich erfüllende Hoffnung. Wartet täglich mit dem Dunkelwerden auf ein erlösendes Signal. Auf die Lebensgefahr für ihn und die anderen Menschen in seiner Umgebung. Auf das Ende dessen, was hier geschieht.
Der Schrei der Sirene trifft unvermittelt sein Ohr, fegt den Sand beiseite und zaubert mit diabolischem Ton ein Lächeln auf sein Gesicht.
Wieder Warten auf erlösende Gefahr!
Entschlossen begibt er sich so unauffällig wie möglich in Richtung der Fertigungshalle. Die wenigen Menschen sind erfasst von einer Mischung aus gespannter Hoffnung, dass die Flugzeuge auch dieses Mal weiterfliegen, und der Furcht vor plötzlich detonierenden Bomben.
Die Hoffnung stirbt mit einem ohrenbetäubenden Krachen. Der ersten Explosion folgen rasch weitere, ohne erkennbare Pausen.
Nun gilt es.
Der Mann achtet auf nichts anderes als auf seinen gedanklich oft gegangenen Weg, eilt zu dem kleinen Nebengebäude der großen Halle, öffnet die Hintertür und dann den Vorratsraum, schiebt die Tür hinter sich zu, sperrt den Bombenlärm aus, der kaum noch zu hören ist. Unter einem Regal holt er den abgenutzten Jutesack hervor, greift hinein und zieht die Uniform an.
Die hinderlichen Gedanken darüber, wie tollkühn sein Plan ist, ohne jegliche Hilfe von hier fort zu kommen, verschwinden vollständig in dem Schlund aus Detonationen ringsumher. Seine jugendliche Kraft und sein klarer Verstand sind die Trümpfe, auf die er sich verlässt. Der Explosionslärm macht ihn sicher, dass die Menschen um ihn herum andere Sorgen haben als auf ihn zu achten.
Er öffnet rasch die Tür, um nach oben ins Freie zu stürmen – und steht unvermittelt einem Mann gegenüber.
Instinktiv deutet er aus dessen Verhalten, dass dieser ähnlich lichtscheue Absichten hat wie er selbst.
Jetzt muss alles sehr schnell gehen.
Geübt durch das Leben in ständiger Gefahr reagiert er als erster und will sein Gegenüber einfach beiseiteschieben.
Das Echo kommt unerwartet und heftig. Er erhält einen kräftigen Stoß vor die Brust, kann sich nicht halten und fällt auf die Treppe zurück, der Hinterkopf prallt gegen die Betonwand.
Höllischer Schmerz durchschneidet das so kräftige Band der Hoffnung. Seine schreckgeweiteten Augen sehen noch einen fliehenden Mann.
Finsternis und Stille ergreifen ihn und geben ihn nie mehr frei.
TEIL I
Die junge Frau kämpft sich durch den aufkommenden warmen Nieselregen, stellt ihm eine wetterfeste Jacke und eine Kappe mit extra breitem Schirm entgegen. Aufmerksam schaut sie sich um, empfängt mit allen Sinnen die Eindrücke der Umgebung. Katzenhaft bewegt sie sich an diesem Sonntag durch das urwüchsige Gelände. Elegant – und darauf bedacht, nicht gesehen zu werden. Der Regen legt einen zusätzlichen sichtschützenden Schleier in den Wald.
Es ist ihr zweiter Besuch an diesem Ort, in einem für die Öffentlichkeit gesperrten Bereich. Nach einigen Monaten Pause weilt sie nun zu einem halbjährigen Praktikum am Museum Peenemünde im äußersten Norden der Insel Usedom.
Sie versucht erneut, sich dieses Gebiet in seiner früheren Form vorzustellen, als eine Anhäufung von hohen Gebäuden, großzügigen Betonstraßen, S-Bahn-Schienen, Bunkern und Prüfständen für verschiedene Tests. Als ein Industriegelände neuester Generation mit weltbewegenden technischen Ergebnissen - so schwärmen viele noch heute.
Als eine gewaltige Todesfabrik - widersprechen andere.
Dunkler Mischwald wechselt sich mit meterhohen Betonresten ab. Das undurchdringliche Gewirr aus dicht gewachsenen Sträuchern, Gräben, kaum sichtbaren Löchern im Beton und sumpfigem Waldboden macht zusätzliche Verbotsschilder überflüssig. In ein solches Gelände würde sich kein Zufallsbesucher hineinwagen, und andere kümmern sich nicht um Schilder.
Ein mit Wasser gefüllter, sich selbst überlassener Betongraben prägt das Bild zur Linken. Regentropfen hinterlassen auf der Wasseroberfläche ihre feinen Spuren, einzelne Wellenkreise verschwimmen zu einem abstrakten eintönigen Bild.
Wie ein Fremdkörper wirkt der feucht glänzende granitene Gedenkstein, auf dessen Vorfläche Pia Bergner auch dieses Mal frische Blumen sieht. „Abschußstelle der A 4-Raketen“, liest sie leise für sich die nüchterne Inschrift. Solche Raketen brachten unter dem Namen V 2 Zerstörung und Leid über die Bevölkerung, waren aber gleichzeitig die Keimzelle des globalen Weltraumprogramms nach dem großen Krieg.
Pia nimmt die Herausforderung an, in dem Gemenge von baulichen Resten und widersprüchlichen Wertungen ihre eigene Position zu finden. Diese Obsession bestimmt ihr Denken, seit sie ein gutes Jahr zuvor Nils Pettersson traf, einen jungen Schweden, auf dessen elterlichem Hof 1944 eine verirrte A 4-Rakete niederschlug.
Sie wurde nach England transportiert, als erste ihrer Art von den westlichen Alliierten genauestens untersucht und mangels Vergleichsmöglichkeit als „Lufttorpedo“ bezeichnet.
Nun sieht sich Pia wieder der übermächtigen historischen Dimension gegenüber.
Und erschrickt.
Was ist nur mit mir los?
Sie reagiert auf jedes leiseGeräusch. Statt Routine spürt sie eine wachsende Unsicherheit, ja Furcht. Als wenn das, was früher hier geschah, auf unheimliche und bedrohliche Weise durch jeden Eindringling zum Leben erweckt wird.
Wie als kleines Mädchen im dunklen Wald hinter ihrem Heimatdorf gleitet sie hinein in eine angstvolle Passivität, blickt sich Schutz suchend um.
Ganz anderen Mut zeigte sie gut zwanzig Jahre zuvor, als sie gerade achtzehnjährig ihre Heimat an der deutschen Ostseeküste verließ und allein den Boden eines fremden Landes betrat, das zu ihrer Wahlheimat wurde - Schweden.
Die schlanke dunkelblonde Frau will sich aus der klaustrophobischen Enge des Blicks genauso befreien wie aus der schmerzhaften Klammer der Geschichte und wendet sich in Richtung des Strandes. Nach wenigen Metern schimmert ihr über der undurchdringlichen Schilffläche das Wasser der Ostsee entgegen. Die Insel Greifswalder Oie mit dem Leuchtturm hat sich im Sprühregen versteckt.
Sofort überkommt sie die Erinnerung an ihren ersten Besuch an dieser Stelle. Damals wurde sie von der Ehrfurcht beherrscht, allein an diesem Ort zu weilen, ohne jemanden um Erlaubnis gefragt zu haben. Und hat daraus eine neue Lebensmotivation entstehen lassen.
Zeit, die aufkommende Schwäche abzuschütteln und sich dem eigentlichen Ziel zu widmen.
Ihrem Auftrag.
Pia holt die verblichenen Karten aus der Jackentasche, die sie vor ihrer Abreise aus Schweden erhalten hat, beugt sich darüber, um sie vor dem Regen zu schützen. Sie tastet sich vorsichtig am Rand eines Plattenwegs entlang und vergleicht immer wieder die Karte mit ihrem Standort. Eine der Übersichten ist nach einem Luftbild von 1954 erstellt worden. Erst jetzt wird Pia klar, dass zu jener Zeit das Überfliegen dieses Gebietes durch westliche Flugzeuge wohl eher nicht der internationalen Rechtsnorm entsprach. Das zweite Blatt ist ein Satellitenfoto aus dem Jahr 1984, wie auf dem Randtext in englischer Sprache zu lesen ist. Seitdem hat sich hier offenbar kaum etwas verändert. Aufmerksame Blicke nach links zeigen ihr die Reste des Gebäudes, welches die nächste Orientierungsmarke darstellt. Vor ihr liegt ein Bereich von etwa zwanzig Metern unüberschaubaren Gemischs aus Fundamenten, Armierungseisen und dichtem Gebüsch. Sie wendet sich nach rechts, um vielleicht den gefahrvollen Bereich umgehen zu können. Vorsichtig überquert sie eine ebene Fläche ohne nennenswerten Bewuchs. An den meisten Stellen haben es weder Gras noch Moos vermocht, den Beton nach Jahrzehnten endlich zu bedecken. Rutschiger Untergrund zwingt zu besonderer Vorsicht.
Pia gelingt es immer noch nur mühsam, die Einflüsterungen aus der unheimlichen Kulisse von sich fernzuhalten. Oder ist es doch ein Zeichen? Ein Bauchgefühl? Warnung vor realer Gefahr?
Wie als Antwort auf diese Fragen trifft das leise Knacken eines Astes im selben Moment ihre Wahrnehmung wie der sich unweit von ihr zwischen den Bäumen bewegende Schatten. Instinktiv geht Pia in die Hocke, versucht, die Umgebung zu sondieren, ohne selbst aufzufallen.
Zu spät.
Blankes Entsetzen kriecht von Pias Füßen den Körper hinauf und macht sie bewegungsunfähig.
Keine zwanzig Meter vor ihr richtet sich ein Mann zu voller Größe auf und blickt ihr direkt ins Gesicht, fixiert ihre Augen. Dunkles fast schulterlanges Haar und ein dichter Vollbart umrahmen ebenso dunkle, stechende Augen. Der Mann hebt die linke Hand, spreizt den Zeigefinger ab, bewegt ihn vor seiner Kehle langsam von rechts nach links und steht dann plötzlich völlig bewegungslos da.
Nur wenige Sekunden dauert Pias Schockstarre. Dann wirkt der Selbsterhaltungstrieb. Sie dreht ihren Kopf schnell hintereinander in beide Richtungen. In den Augenwinkeln erkennt sie hinter sich einen Strauch, will ihn als Deckung nutzen, dreht sich um und macht einen großen Satz, weg von der unheimlichen Erscheinung, als der Boden unter ihr nachgibt.
Der Schreck gewinnt die Oberhand, lässt alle ihre Gedanken erstarren, hindert sie an einem rettenden Sprung zur Seite. Instinktiv will sie sich festhalten und schrammt mit ihren Unterarmen an der Betondecke entlang, die sie gerade abwärts durchquert.
Der Sturz in die Tiefe findet schon bald ein Ende, ein kurzes Stauchen der Beine verbindet sich fast zeitgleich mit einem platschenden Geräusch. Sie hat wieder festen Boden unter den Füßen, die jedoch komplett von Wasser bedeckt sind.
Nur langsam bekommt sie ihre Gedanken und ihren Körper wieder unter Kontrolle. Sie scheint unverletzt, der Stoff der Jacke bewahrt ihre Arme vor Verletzungen, hat sich selbst dabei geopfert.
Pia sondiert ihre neue Umgebung. Ein Stück des alten Betonfundaments hat sich durch das Betreten vollständig gelöst und den Weg Pias in die Tiefe verursacht. Tageslicht beleuchtet spärlich einen fast quadratischen Raum von etwa fünf Meter Seitenlänge. Die Wände sind bedrohlich dunkel und feucht. Auch wenn Pia vorher auf Komplikationen eingestellt wurde, fühlt sie sich plötzlich hilflos wie als kleines Mädchen. Schnell wird ihr bewusst, dass keinerlei Hilfe zu erwarten ist und sie selbst einen Ausweg finden muss.
Einer plötzlichen Eingebung folgend geht der nächste Blick nach oben zu ihrer Einsturzöffnung. Reglos und angstvoll wartet sie darauf, dass der Unbekannte ihr vielleicht folgen würde und sie dann …
Sie schafft es nach gefühlten drei Minuten Stille mühevoll, den Gedanken hier abzubrechen.
Die junge Frau nestelt ihre Taschenlampe aus der Jackentasche und leuchtet in den Raum, immer noch in der Befürchtung, dass der Mann plötzlich hinter ihr auftaucht. An einer der Seiten erkennt sie eine weitere Öffnung. Doch die Wasserfläche zu durchwaten, scheint ihr zu gefährlich. Sie blickt sich nach etwas um, mit dem sie die Tiefe des Wassers testen kann. Der Gedanke, dass sich unter diesem Raum ein mit Wasser gefüllter weiterer befinden könnte, jagt ihr Angst ein. Doch nirgends ist ein passender Gegenstand erkennbar. Unschlüssig verharrt Pia, begreift, dass sie als erstes einen Weg hinaus finden muss. Sie kann zwar mit nach oben ausgestreckten Armen ihr Durchbruchsloch erreichen, aber wie dann weiter? Springen und sich dann mit einem kräftigen Klimmzug befreien, dass ist das Bild, das ihr an dieser Stelle aus vielen Filmen in den Sinn kommt. Genau wie die Unmöglichkeit in der Praxis.
Erneut leuchtet sie in Richtung der zweiten Wandöffnung, glaubt, dahinter auch Licht von oben erkennen zu können.
Dann fasst sie einen Entschluss. Vorsichtig bewegt sie sich in Richtung der Wand, die der Öffnung am nächsten liegt. Mit einem Bein prüft sie den Untergrund, bevor sie das Gewicht darauf verlagert und alles wiederholt. Dann weiter an der Wand entlang in Richtung der Öffnung. Zentimeterweise überwindet Pia die Strecke, immer mit der Furcht, mit dem ersten Fuß ins Bodenlose zu treten. Dann endlich hat sie die Öffnung erreicht. Sie blickt hinein, leuchtet mit der Taschenlampe. Es ist ein kleinerer Raum von etwa zwei Metern Seitenlänge.
Pia ist erleichtert, als sie in dem Raum kein Wasser auf dem Boden erblickt. Eine Stahltür hängt an nur noch einem Band. Das wichtigste erkennt sie erst jetzt: Die stark zerstörte Treppe, die aus dem Raum direkt nach oben führt. Eine kleine Öffnung am oberen Ende der Treppe lässt Tageslicht nach unten. Hoffentlich in die andere Richtung auch den schlanken Körper einer sportlichen Frau, denkt Pia sofort.
Sie steigt über eine Schwelle und betritt den kleinen Raum, leuchtet nochmals den gesamten Bunker aus. Allmählich verdrängt der Entdeckergeist die Angst aus ihrem Kopf. Wer mag wohl als letztes vor ihr hier gewesen sein, und wann? Neben dem Treppenaufgang liegt ein Geröllhaufen, über den Pia den Lichtkegel führt. Locker liegen Betonreste aufgeschichtet, durchsetzt von Erde und kleinen Gewächsen. Daran hat sehr lange bestimmt niemand etwas bewegt. Unmittelbar daneben kommt eine Anhäufung von Erde zum Vorschein. Neugierig leuchtet Pia in die Ecken des Bunkers – und fährt zurück.
Sie erkennt in dem Gegenstand, der auf dem Erdhaufen liegt, einen menschlichen Unterarmknochen samt rechter Hand.
Unwillkürlich geht sie davon aus, dass dieser Knochen schon lange hier liegen muss. Dennoch blickt Pia sich erschrocken um, sucht einen möglichen Täter, denkt sofort wieder an den dunkelhaarigen Mann zwischen den Bäumen. Minuten später hat sie sich beruhigt, geht näher heran und sieht unter dem Gemisch aus Erde und Geröllresten noch mehr Bestandteile eines menschlichen Skeletts.
Fragen erfassen Pia mit kalten Händen.
Wie lange liegen die Knochen hier?
Was tun?
Wie hier herauskommen?
Den Fund melden?
Wenn ja, wem?
Die Gedanken überstürzen sich, Pia versucht sie zu sortieren. Dann handelt sie.
Hubert Bellmann schaut auf seine Armbanduhr und federt sich mühelos aus dem bequemen Sessel in der kleinen Wohnung am Rande der Stadt Wolgast. Er startet seinen täglichen Aktionsmodus, nimmt zwiespältig die Routine in Kauf, die ihn lähmt, seinem Tag aber auch ein festes Gerüst gibt.
Zärtlich streichelt er die Schulter seiner Frau, die am Herd ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgeht, nicht zum Schaden seiner selbst. Carola dreht sich um, nimmt Huberts weichen Blick und den gehauchten Kuss entgegen. Sie kann sich auch nach zehn Jahren Ehe noch täglich daran erfreuen, welches Glück sie mit diesem Mann hat. So klug, so stark, so verständnisvoll, und so dankbar, wenn er sich aus ihren Armen löst, aus ihrem Schoß auf sein Bett in einen friedlichen Schlaf zurückrollt. Immer wieder zeigt er ihr seine Wertschätzung dafür, dass sie ihm alle Wünsche von den Augen abliest. Fast alle, denn sie muss sich eingestehen, dass sie diesen Mann nicht vollständig begreift. Manchmal hat sie den unbestimmten Eindruck, dass er etwas vor ihr verbirgt. Es kann aber auch daran liegen, dass er ihr eben einfach überlegen ist. So wie ein Mann sein soll. Und sie redet sich ein, dass es sie nicht stört.
„Ich bin pünktlich zurück“, vernimmt sie seine Stimme, deren dominante Tonlage er nur dann ablegt, wenn er ihr tief in die Augen schaut. Hubert Bellmann nimmt erfreut ihre unterwürfige Zuneigung entgegen und umarmt sie mit kräftigen Händen. Spürt ihren weichen Körper mit den festen Brüsten, ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit ergreift einen Teil seiner Seele, blendet die andere Seite aus.
Seine Frau blickt auf die Wanduhr in der Küche, die jede volle Stunde mit einem anderen Vogelruf verkündet, fragt dann nicht einmal, wohin er gehen will, denn sie weiß es.
Der Winter 2023 hatte genügend Zeit, sich in den vielen kleinen Ecken der Wolgaster Altstadt festzusetzen. Er umwob den Straßenschmutz mit nassem Weiß, das sich schon nach kurzer Zeit dem grauen Farbmix der Jahrhunderte anpasste. Voller Energie schaffen es die Sonnenstrahlen in diesen Maitagen, sich gegen die monatelang bestimmende Wolkendecke zu behaupten. Bis vor kurzem mussten sie ihre sanft wachsende Kraft für die letzten Schneereste aufwenden. Nun verheißt die zweistellige Temperatur einen kleinen Vorgeschmack auf kommende Wärme, lässt die Gemüter der Menschen eine Spur heller werden.
Die blonde Verkäuferin des Cafés an der Marktecke sieht die Sonne als Bestätigung ihres angeborenen Optimismus, stellt kurz vor 11 Uhr, als der im leichten Dunst noch schwach leuchtende Himmelsball sich durch die Wolken wühlt und erfolgreich über die Dächer hinweg das Rathaus umrundet, mutig zwei Tische mit Stühlen auf das holprige Pflaster. Sie hofft auf Sonnen- und Kuchenhungrige. Besonders auf ihre Stammgäste.
Hubert Bellmann durchquert wie fast jeden Wochentag zur selben Zeit dynamisch die schattig-enge Wilhelmstraße mit den vielen Schaufenstern, ohne einen Blick darauf zu werfen. Er kennt sie alle. Ist wütend auf das, was er sieht. Weil er sich das meiste nicht kaufen kann oder will. Weil er selbst keine Lust hat, auch nur einen verdammten Gedanken daran zu verschwenden. Weil ihn jede Art von Dummheit stört. Weil er spürt, wie wenig Verstand und Mühe die meisten Inhaber für ihre Fenster zur Welt verwenden.
Die erste Frühjahrswärme nimmt er nebenbei zur Kenntnis.
Wie immer nutzt er kurz vor dem Marktplatz eines der Schaufenster als Spiegel, betrachtet seinen über 60-jährigen Körper mit Stolz. Schlanke Hüften und breite Schultern als Ergebnis ständiger Bemühungen, schon in seiner Schulzeit. Seit Jahren schon treibt er Kampfsport. Als Training und Frustabbau gleichermaßen. Kurzes graues Haar und wache blaue Augen machen ihn zu einem beliebten Blickmotiv für Frauen unterschiedlichen Alters. Und für neidvolle Männer, sogar jüngere. Der feste Glaube an sich selbst, daran, dass die frühere Zufriedenheit wiederkommt, hält ihn am Leben.
Seine Gedanken wandern oft mehr als zwanzig Jahre zurück, einige Kilometer den Peenestrom abwärts, der die Insel Usedom vom Festland trennt. Nach Peenemünde, wo die Ostsee den Pilotenblick aus den startenden und landenden Jagdflugzeugen aufnahm, manchmal begleitet von auslaufenden grauen Kampfschiffen der benachbarten Flottille der Volksmarine.
Damals war Hubert Bellmann als Herr über eine MiG 23 noch etwas wert, seine Uniform trug er stolz, hatte es sogar schon zu geflochtenen Schulterstücken geschafft und stand kurz vor dem zweiten Stern. Er genoss seine Frau Dagmar, ihre Glut - im Bett oder wo immer es sie beide überkam, ihren trainierten Körper, ihre Art, wie sie zu ihm aufschaute. Nicht nur wegen ihrer geringeren Körpergröße.
Mit dem Ende des Standorts kam sein Absturz. Das, was er selbst bei einem Pilotenkollegen real mit ansehen musste, geschah bei ihm auf andere Art.
Die große Hoffnung mit einem Autohaus, der rasante Niedergang nach dem Betrug des Partners, der Berg von Schulden aus der Insolvenz, der ihn nie wieder auf die Beine kommen ließ, die damit verbundene Kriminalisierung nach den Gesetzen des Rechtsstaates. Der letzte Begriff bekam in seinen Gedanken deutliche Anführungszeichen, er muss ein verächtliches Lachen unterdrücken.
Immer bewegte er sich am Rand des Abgrunds, im Wechsel zwischen innerem Aufruhr und Resignation, ständig getrieben von den Umständen. Umschulungen, die meist kurzen Tätigkeiten in staatlich geförderten Projekten, die Konflikte mit dummen Menschen, die ihm sagen wollten, was er zu tun oder zu lassen hatte. Die Enttäuschung, als dann auch Dagmar ihn für einen der neuen Werftmanager aus Bremen verließ. Einfach so!
Er begrüßt die blonde, etwas kompakte Verkäuferin Sylvana mit vertrautem, lächelndem Nicken, das sofort erwidert wird. Dann stutzt er, schaut erstaunt auf die beiden Außentische und setzt sich an einen von ihnen. Warum nicht den Frühling herausfordern, denkt er bei sich.
„Ja, wie immer“, beantwortet Hubert Bellmann die fragend erhobenen Augenbrauen von Sylvana, mit denen sie ihr Lächeln begleitet.
Genau fünf Minuten später steht eine große Tasse Cappuccino vor ihm auf dem Tisch. Hubert Bellmann freut sich auf seine tägliche Gewohnheit, schließt die Augen und genießt vor allem den ersten heißen Schluck, der unter dem Schaum auf seine Lippen wartet. Die Tasse ruht in beiden Händen knapp vor seinem Mund. Er ist ganz bei sich, sperrt alle anderen Eindrücke aus.
„Gestatten Sie, Genosse Major?“
Die ironisch gefärbte kräftige Stimme kommt von links hinten und Hubert Bellmann erschrickt so sehr, dass er sich verschluckt. Durch die Erschütterung läuft die volle Tasse über, ehe Hubert sie auf den Tisch stellen kann. Der Angesprochene wendet sich hustend um und erblickt mit weit aufgerissenen Augen einen etwa gleichaltrigen Mann. Der platziert seinen massigen Körper ungefragt auf den Stuhl gegenüber und schaut Hubert herausfordernd in die Augen.
„Lange nicht gesehen und deshalb nicht wiedererkannt, stimmt‘s?“
Bellmann überlegt nur kurz, dann hat er ihn identifiziert. Daher auch die Anrede mit seinem früheren Dienstgrad. Die letzte Begegnung beider Männer liegt mehr als zwanzig Jahre zurück. Zu diesem zeitlichen Abstand in Jahren passt die Gewichtszunahme des Mannes in Kilogramm, wie Hubert schadenfroh mit einem schnellen Blick abschätzt.
Die geglückte Überraschung löst einen Strudel von Gefühlen und Gedanken bei Hubert Bellmann aus. Bevor diese sich den Weg über die Stimmbänder nach außen bahnen können, fragt der Neuankömmling weiter.
„Wie geht es Dir?“
Hubert bemerkt an der Kürze der Frage und am Tonfall das Fehlen früherer Vertrautheit – und das Wissen über seine Situation. Misstrauen ergreift ihn. Er widersteht der Versuchung, über die vergangenen beiden Jahrzehnte zu sprechen. Verachtung gegenüber Wolfgang Schwarz baut sich auf, dem Mann, der früher in der Hierarchie über ihm stand und der jetzt diese Distanz offenbar noch vergrößern will. Er kneift die Augen zusammen und blickt genauso herausfordernd zurück.
Kriminalhauptkommissar Arne Bock schaut abwechselnd aus den beiden Fenstern seines Eckbüros auf Ampelkreuzung und Wohngebiet. Dann setzt er sich in seinen Bürostuhl, betrachtet die nüchtern gefärbten Wände und begrüßt erfreut lächelnd, wie bei einem Blick in den Spiegel, seinen wieder erwachten Jagdinstinkt. Auslöser ist das Foto auf seinem Bildschirm. Einbrüche und Diebstähle bestimmen hier nahe der polnischen Grenze das Tagesgeschäft. Die Aufklärungsquote ist niedrig, der Zorn der Betroffenen umso höher, der politische Druck von allen Seiten nimmt zu. Bis es ein halbes Jahr zuvor gleich zwei Todesfälle innerhalb eines Monats gab, von denen einer ein Unfall war und der andere bisher nicht aufgelöst werden konnte.
Beides nagt immer noch am Selbstbewusstsein des Kommissars. Dabei schienen die Ermittler zunächst an der Oberfläche eines großen Falles zu kratzen, der nach seiner, Arnes, fester und auch nach außen kommunizierter Überzeugung, mit beiden Ereignisse verbunden sein könnte.
Vielleicht sieht er jetzt eine neue Chance vor sich. Auf dem Bildschirm – und gleich auch persönlich.
Fast zwei Jahre arbeitet er im neu erbauten Polizeirevier Wolgast vor den Toren der Insel Usedom. Durch Vermittlung seines Großvaters konnte er bereits bald nach seiner Versetzung hierher ein kleines Haus im Wolgaster Ortsteil Mahlzow mieten, der sich jenseits der Brücke auf der Insel Usedom befindet. Und nun ist das Heim eigentlich für ihn allein zu groß. Drei Monate bewohnt er es bereits ohne seine Frau und die beiden gemeinsamen Kinder. Kerstin hat die Kinder mit nach Berlin zurückgenommen hat, ihrem gemeinsamen früheren Wohnort.
Zusammen mit so einem windigen Typen aus dem Rheinland!
Dabei war er, Arne, selbst schon dabei, sich innerlich von seiner Frau zu trennen, die weder mit seinem Großvater noch mit der norddeutschen Mentalität klarkam. Die Entscheidung zur Trennung hätte natürlich von ihm selbst kommen sollen, kommen müssen. Dass er diesen Kerl als nicht gut für seine Exfrau und vor allem für seine Kinder hält, ist Ergebnis seiner typisch männlichen Sicht, wie er sich schließlich sogar selbst eingestehen musste.
Nicht ohne sanfte Mitwirkung seiner Kollegin Rita Mesing.
Innerlich hat er sich jedoch weder von allen getrennt, noch hegt er Hoffnung auf eine Heilung des gestörten Verhältnisses. Ein Schwebezustand, den er mit Nähe zur vertrauten Region zu kompensieren versucht. Und durch die Telefonate mit seiner ältesten Tochter Leoni. Die Zehnjährige hat vor einigen Wochen ihr erstes Smartphone erhalten und ist damit nicht mehr auf die Zustimmung ihrer Mutter angewiesen, wenn sie mit ihrem Vater sprechen will. Es ist Arnes wichtigster Draht zu seiner früheren Familie. Er akzeptiert die Trennung als endgültig, will parallel dazu aber den eigenständigen Kontakt zu seiner Tochter aufrechterhalten. Und natürlich für sie eine eigene Motivation schaffen, mit ihm in Kontakt zu bleiben.
Vielleicht wird er sie später einmal fragen, wen sie mehr mag, ihn oder ihre Mutter.
Oder auch nicht.
Arne konzentriert sich jetzt auf die Art Ersatzfamilie, mit der er als Kind bereits Erfahrungen sammeln konnte, besser gesagt, musste.
Nach dem Tod seiner Eltern innerhalb nur eines Jahres war der damals siebenjährige Arne von den Großeltern in Karlshagen auf Usedom aufgenommen worden. Er hatte diese schöne Insel bald liebgewonnen.
Sein Großvater Reinhard Henkelmann mit seiner imposanten Uniform wurde mehr als ein Ersatzvater. Der geht mittlerweile auf die achtzig zu, ist aber noch sehr aktiv, wie er während der Rettung eines Deiches ein halbes Jahr zuvor unter Beweis stellte. Manchmal nach Arnes Empfinden sogar zu aktiv.
Nun also erneut eine echte Herausforderung, ein Hinweis auf dunkle Machenschaften, nicht weit entfernt von der Stelle, an der vor einem halben Jahr eine Leiche gefunden wurde.
Das Foto auf dem Bildschirm zeigt eindeutig menschliche Knochen. Wie immer verspürt Arne eine besondere innere Spannung vor dem ersten Gespräch eines Falles. Der vorliegende erfordert offenbar nun aber wirklich, größer zu denken, mögliche Verbindungen zu finden. Zu dem rätselhaften Tod von Dieter Bornhöft, dem früheren Kommandeur des Jagdfliegergeschwaders Peenemünde. Dessen Leiche wurde vier Wochen nach seinem Verschwinden während eines Hochwassers angeschwemmt, er war erwürgt und dann erst im Wasser abgelegt worden. Der Gedanke daran, dass es keinerlei weitere Spuren und Hinweise zu diesem Fall gibt, löst bei dem Kommissar bis heute die gewohnte Kettenreaktion aus. Unzufriedenheit zieht ihn ein Gefälle hinab, mit dem dadurch ausgelösten Schwung wird wie bei einer Achterbahn neue Energie frei. Meist ist es Arne bisher gelungen, auf dem Scheitelpunkt der Bahn anzuhalten und Entscheidungen zu treffen.
Bald nach Beginn seiner Tätigkeit in Wolgast ordnete er seine eigenen Fähigkeiten deutlich oberhalb des Niveaus seiner Kollegen ein. An Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. Seine manchmal etwas herablassende Art wird hin und wieder mit Gegenwehr konfrontiert, aber insgesamt fühlt er sich in seiner Rolle immer wohler.
Es ist Arnes zweite Begegnung mit der Frau, die den Knochenfund gemeldet hat. Aus dem ersten Treffen hat er den Schleier eines Geheimnisses gespeichert.
Ein halbes Jahr zuvor war Pia Bergner zusammen mit seinem Großvater und anderen an der Rettung eines Hochwasserschutzdeiches beteiligt, manche Hintergründe verbergen sich bis heute im Dunkeln, darunter auch das Agieren seines Großvaters.
Die Begegnung mit Pia Bergner war damals zu sehr von den dramatischen Umständen bestimmt, so dass die Weiblichkeit der jungen Frau bei Arne kaum in Erinnerung geblieben war. Er ist sich noch nicht endgültig darüber im Klaren geworden, ob sein elementar männliches Streben, sich zu attraktiven Frauen hingezogen zu fühlen, ein Recht aus seiner Privatsphäre ist oder ob es so manche Ermittlung beeinflussen kann.
Oder beides.
Meist lässt er einfach der Situation ihren Lauf. Und genießt die dabei auftretende Spannung.
Entgegen seiner Gewohnheit muss er nun das erste Gespräch allein führen. Seine ältere Kollegin Rita Mesing hat zwei Tage Enkel-Urlaub, in den sie sich mit unverhohlener Freude verabschiedete, und die dritte im Bunde, die junge Enya Lepel, ist auf einem Lehrgang des BKA für Internetrecherche. Sie kam zum Jahresbeginn für den sechzigjährigen Siegfried Reuschel, der aufgrund einer dienstlichen Verfehlung in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet wurde.
Er kann aber nicht auf Rita Mesing warten, dazu ist dieser Fall offenbar zu dringlich.
Enya Lepel!
Mittlerweile hat Arne Bock akzeptiert, dass manche Eltern Vorbilder für die Namensgebung ihrer Kinder haben, die in der Familiengeschichte nicht unbedingt verankert sind, aber deren Prominenz oder Fähigkeit vielleicht auf das Kind abfärben soll. Arne hatte es sich jedoch gleich zu Beginn verkniffen, die junge Frau um eine Gesangsprobe zu bitten.
Dass der Nachname auf das jahrhundertealte pommersche Adelsgeschlecht derer von Lepel zurückgeht, erfuhr er erst von Enya selbst.
Die junge Frau konnte ihre beiden älteren Mitstreiter immer öfter mit Kenntnissen über mögliche Recherche im Netz und so manchen unkonventionellen Gedankengang verblüffen. Respekt vor dem höheren Dienstalter und selbstbewusstes Pochen auf eigene Fähigkeiten hielten sich schließlich die Waage.
Nach kurzem Klopfen öffnet sich die Tür, der Diensthabende begleitet den Gast und verabschiedet sich mit einem Nicken.
Pia Bergner betritt unsicher den Raum, Arne Bock kommt ihr entgegen und ist bemüht, seine bei ihrem Anblick deutlich aufgehellte Stimmung nicht über Gebühr nach außen dringen zu lassen.
Pia mustert den Polizisten und bemerkt den Glanz in seinen Augen. Auch bei ihr ist von der ersten Begegnung kaum etwas über den Ermittler im Gedächtnis geblieben, zu sehr war sie damals mit einem anderen Mann beschäftigt.
Sie versucht, ohne verräterische Augenbewegungen den gesamten Bereich des Sichtfeldes zu speichern. Ein attraktiver Mann, etwas jünger als sie selbst, nur wenig größer, dunkle volle Haare, die Gesamterscheinung kann gerade noch als schlank durchgehen. Er bekommt sofort einen Platz auf Pias Plus-Konto für Männer.
Das hilft ihr über die große Unsicherheit hinweg, mit der sie in dieses Gespräch geht, denn sie muss zwei Eigenschaften bewusst aussperren, auf die sie bei sich selbst immer stolz war: Offenheit und Ehrlichkeit.
Sie sieht sich dazu durch ihren Auftrag gezwungen.
Der Polizist begrüßt sie mit einem kräftigen Händedruck und stellt sich vor. „Frau Bergner, ich freue mich, Sie wiederzusehen. Wir hatten ja schon miteinander zu tun. Ich bin nun für die Untersuchung des Knochenfundes zuständig und habe viele Fragen an Sie, lassen Sie uns beginnen.“
„Sehr gerne.“ Pia überspielt ihre aufkommende Unsicherheit, die sie bei jedem Kontakt mit deutschen Behörden befällt. Eine Erklärung dafür liegt vielleicht in ihrer Vergangenheit. Der Kommissar scheint ihr jedoch diese Befürchtung durch sein stetiges Lächeln nehmen zu wollen.
„Es zieht Sie also wieder hierher auf die Insel Usedom. In welcher Funktion sind Sie jetzt am Museum Peenemünde?“
Der Ton lässt keinen Zweifel an der Berechtigung der Frage aufkommen.
„Das ist also eine Zeugenvernehmung? Nennt man das so in Deutschland?“, fragt Pia zurück.
Arne Bock reagiert erstaunt.
„Ich würde es eher als ein Gespräch betrachten. Sie sind ja keine Beschuldigte. Und ob es überhaupt einen Zeugen für diesen Fall gibt, der vielleicht nicht mal einer ist, weiß bisher niemand. Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihnen das nicht gleich gesagt habe.“
„Das ist ja sehr beruhigend für mich“, gibt Pia zurück, „hoffentlich kann ich Ihnen helfen.“
„Ich würde es mir sehr wünschen.“ Das Lächeln des Kommissars ist jetzt auf den Mund beschränkt.
Nun muss Pia jede Formulierung abwägen.
„Es ist ein befristeter Aufenthalt von sechs Monaten, im Auftrag des Schwedischen Instituts wie schon vor einem halben Jahr.“ Auf Bocks fragende Miene hin ergänzt sie. „Dieses Institut ist für die kulturellen Außenbeziehungen Schwedens verantwortlich, also Auslandspropaganda, wenn Sie so wollen.“
Bocks schweigender Blick fordert deutlich noch mehr Erklärung. Sie hält der Augenbegegnung stand und setzt fort.
„Die Umstände meines ersten Aufenthaltes vor einem halben Jahr…“ hier zögert Pia und lächelt ihren Gegenüber verstehend an, denn Bock kam ja selbst auf das Thema zu sprechen, „haben leider die vollständige Erfüllung meiner damaligen Aufgaben verhindert, so dass es in gewissem Maße eine Fortsetzung ist. Und gleichzeitig eine Erweiterung mit neuen Möglichkeiten im Bereich der deutsch-schwedischen Kontakte. Sie haben vielleicht von der internationalen Konferenz gehört, die vor einigen Tagen in Peenemünde beendet wurde. Da ging es um die weltweite Bedeutung von Standorten der Raumfahrtgeschichte.“
Arne Bock nickt während Pias Worten. „Und die Erkundung des Geländes gehört auch zu ihren Aufgaben?“, lenkt er das Gespräch auf das eigentliche Thema.
Pia bemerkt den Unterton, mit dem der Ermittler auf die Motivation ihres Gangs ins Sperrgebiet anspielt. Sie spult nun, immer noch lächelnd, die vorbereitete Legende ihrer eigenmächtigen Tour ab.
„Wie Sie vielleicht noch wissen, lebe ich seit über zwanzig Jahren in Schweden. Dort bin ich auch als Journalistin tätig und habe dabei gelernt, dass die persönliche Anschauung durch nichts zu ersetzen ist. Waren Sie schon einmal am Prüfstand VII, dem Startort der ersten Rakete?“, setzt Pia mit einer Frage fort.
Bock registriert das selbstbewusste Auftreten der Deutsch-Schwedin.
„Ja, war ich, und kann Ihre Intentionen nur bestätigen.“
Arne bemerkt seine sachfremden, aber männlich-angenehmen Gedanken zum Thema persönliche Anschauung, kann sie aber kontrollieren und kommt zum Thema.
„Sie haben vorgestern bei einer solchen Erkundungstour diese Knochen gefunden. Schildern Sie doch bitte genau, wie es dazu kam. Auch wenn sie das meinen Kollegen bereits erzählt haben.“ Bock zeigt ihr das Foto, welches von den Beamten aufgenommen wurde, die von Pia sofort informiert worden waren.
Pia nutzt die Sekunden des Blicks auf das Foto, um ihre Gedanken zu sammeln.
„Ich habe eine Person im Gelände bemerkt, die wohl selbst nicht gesehen werden wollte. Wahrscheinlich ein Raubgräber, das Problem kennen Sie bestimmt.“
„Natürlich. Leider kommen die wenigsten dieser Fälle zur Anzeige, weil kaum einer dieser Leute erwischt wird“, erklärt Bock unaufgefordert.
„Das habe ich mir gedacht und den Mann verfolgt, um ihn zur Rede zu stellen. Leider erfolglos. Vielleicht habe ich damit etwas leichtsinnig gehandelt?“, fügt Pia kokett hinzu und spürt zunehmende Sicherheit.
„Die Reaktion solcher Leute ist schwer vorauszusehen“, entgegnet Bock, ohne auf Pias vertraulichen Ton einzugehen.
„Es war also ein Mann.“ Bock blickt auf ein Blatt Papier, das kurz zusammengefasste Ergebnis der ersten Befragung am Fundort.
„Hundertprozentig sicher bin ich nicht, aber Statur und Laufstil deuteten darauf hin. Und ein Kapuzenshirt, das sieht man bei Frauen eher selten.“
Arne Bock reagiert wortlos und taxiert unverhohlen die Frau.
„Würden Sie den Mann wiedererkennen?“
Pia überlegt einige Sekunden, um ihrer Antwort die nötige Glaubwürdigkeit zu geben. „Ich habe sein Gesicht nur ganz flüchtig gesehen, also nein, eher nicht.“
Sie kann aus der Miene des Kommissars nicht ablesen, ob er ihr glaubt.
„Und was geschah dann?“
„Bei der Verfolgung im Regen bin ich auf dem feuchten Untergrund ausgerutscht und in das Loch gestürzt, in dem ich die Knochen entdeckt habe.“
Pia schildert die genauen Umstände des Knochenfundes und wie sie sich aus der misslichen Lage befreien konnte.
„Ich habe sofort meinen Chef im Museum informiert, der mir den Rat gab, mich direkt an die Polizei zu wenden.“
„Das war eine gute Entscheidung. Von Ihnen beiden.“
Arne Bock zögert kurz, ehe er eine weitere Frage stellt. „Haben Sie selbst mit Ihrem Handy auch Fotos von den Knochen gemacht? Und von dem fliehenden Mann?“
Pia ist vorbereitet und antwortet sofort. „Der Mann war so schnell verschwunden, da konnte ich nicht mehr reagieren. Von den Knochen ja, ist das denn nicht erlaubt?“
Sie versucht, in ihren Blick so viel Unschuld wie möglich zu legen. Nachdenklich blickt Bock der jungen Frau in die Augen, sucht nach Verunsicherung.
„Wie alt die Knochen sind und ob sie auf ein Verbrechen hindeuten, wird gerade untersucht. Ich mache Sie darauf aufmerksam, vor allem im Hinblick auf Ihre journalistischen Ambitionen, dass eine eigenmächtige Verwendung oder gar Veröffentlichung der Fotos zu Problemen führen könnte. Soweit, von Ihnen die Löschung zu verlangen, will ich nicht gehen, abgesehen davon, dass es dafür keine juristische Handhabe gibt. Ich schätze Sie aber so ein, dass Sie für meine Bitte Verständnis haben.“
„Natürlich werde ich nichts tun, was die Ermittlungen erschwert“, fällt ihr zunächst ein. Sie merkt aber sofort an der Reaktion, dass dem Ermittler diese Antwort nicht genügt.
„Ich werde mich an Ihre Vorgaben halten“, ergänzt sie und fügt eine Frage hinzu. „Werde ich denn darüber informiert, wenn die Herkunft der Knochen geklärt ist? Ein solcher Fund ist bestimmt nicht alltäglich und ich will mein journalistisches Interesse erst gar nicht verhehlen.“
„Es spricht nichts dagegen, wenn ich Sie darüber zu gegebener Zeit ins Bild setze. Wenn es die Umstände und der Verlauf der Ermittlung erlauben.“
Unverhofft schließt er eine Frage an. „Wann können wir denn eine gemeinsame Vor-Ort-Begehung machen?“
Pia zögert nur einen kurzen Moment, ehe sie antwortet. Sie registriert, dass der Kommissar das nicht als Bitte formuliert. „Von mir aus jederzeit. Nennen Sie mir einfach einen Termin.“
„Danke, das werde ich kurzfristig tun.“
Ohne Unterbrechung fährt er fort. „Wissen Sie, dass unweit der Knochenfundstelle im Wasser eine Leiche gefunden wurde? Vor etwa einem halben Jahr, da waren Sie doch auch gerade hier.“
„Ich glaube, ich erinnere mich. Gibt es denn da einen Zusammenhang?“
„Das wüssten wir auch gern“, kommt die knappe Antwort von Arne Bock, der die junge Frau bei ihrer Antwort aufmerksam mustert und dann einen Moment schweigt.
„Ich denke, ich habe im Moment keine weiteren Fragen. Und sie sind ja noch eine Weile hier, wie Sie sagen.“
Pia kann das kaum sichtbare Lächeln des Mannes nicht richtig einordnen.
„Vielen Dank, dass Sie gekommen sind und sich meinen neugierigen Fragen gestellt haben.“
Arne Bock steht auf und beendet damit das Gespräch.
Auch Pia erhebt sich, erwidert den kräftigen, aber nicht aufdringlichen Händedruck des Polizisten.
Als sie das Zimmer verlassen hat, erschrickt sie über ihre Worte zum Abschied.
„Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen gesprochen zu haben.“
Genau diese Worte sind es, die noch andere Regionen bei Arne Bock aktiv werden lassen. Er hat eine Frau vor sich, die ihn herausfordert, die nicht alles von sich preiszugeben scheint, die eine subtile erotische Energie verströmt.
Erst später, beim sachlichen Werten aller Fakten des Falles, beschleicht ihn das Gefühl, dass ihm die junge Deutsch-Schwedin nicht die ganze Wahrheit über ihren Aufenthalt im Sperrgebiet erzählt haben könnte. Manche ihrer Formulierungen kamen ihm wie einstudiert vor. Nun ist er gespannt auf das Ergebnis der Untersuchungen zum Alter der Knochen. Und hält eine Verbindung mit dem Todesfall Bornhöft immer noch nicht für völlig abwegig, auch wenn es dafür bisher keinerlei Anhaltspunkte gibt.
Die Untersuchung der Fundstelle hat außerdem ergeben, dass in dem unterirdischen Hohlraum eine der Wände offenbar erst sehr viel später gemauert wurde als der Rest. Es war der Leiter der Spurensicherung, dem diese Tatsache aufgefallen war. Er schätzte den Zeitpunkt nach dem verwendeten Material etwa auf die achtziger Jahre. Das geht die junge Schwedin natürlich nichts an, steht aber möglicherweise in Beziehung zum Knochenfund.
Diesen Platz sollten wir im Auge behalten.
Pia ist nicht vollständig sicher, ob sie die Umstände des Fundes glaubhaft darstellen konnte. Sie darf keinerlei Hinweise für ihren inoffiziellen Auftrag aus Schweden hinterlassen, von dem bei ihrem ersten Praktikum noch keine Rede war. Offenbar sollte sie damals erst getestet werden. Sie muss die Stelle des Knochenfundes erneut untersuchen, denn ungefähr dort wurde ein Ziel des Auftrags aus Schweden vermutet, was ihr erst nach ihrem Missgeschick wieder bewusst wurde. Das bedeutet jedoch eine gründliche Vorbereitung, denn die eben dargelegte Legende kann sie kein zweites Mal vorbringen.
Pia hat sich fest vorgenommen, ihren Auftrag an die erste Stelle ihrer Prioritätenliste zu setzen. Dessen Ziel kann sie zwar nicht vollständig einordnen, er korrespondiert aber offensichtlich mit ihren persönlichen Ambitionen bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit Peenemündes.
Dieser aktuelle Auftrag würde ihr alles abverlangen.
Wirklich alles? Will sie das überhaupt?
Der Zwischenfall im Sperrgebiet hat bei ihr eine erste Skepsis aufkommen lassen, gegen die sie immer noch ankämpft. Von möglichen Gefahren für Leib und Leben – diese Formulierung fällt ihr in diesem Moment ein – war nicht die Rede. Das Grübeln darüber, ob dieses plötzliche Auftauchen des Mannes nur Zufall war und er sie einfach erschrecken wollte, oder ob es auf sie ganz persönlich gezielt war, ließ sie seitdem nicht mehr los. Denn seine Geste war nicht zu missdeuten.
Sie sitzt in ihrem kleinen Volvo auf dem Parkplatz vor der Polizeidienststelle, will einen Moment zur Ruhe kommen und schließt die Augen.
Urplötzlich erblickt sie einen dunkelbärtigen stämmigen Mann vor sich, er führt seine linke Hand zum Hals.
Sie reißt die Augen auf und sofort sind alle ihre Sinne wieder wach. Mit großer Erleichterung sieht sie einen Passanten auf das Auto zukommen, der freundlich lächelt und überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihrer Begegnung der unheimlichen Art im Wald hat.
In diesem Moment spürt Pia, wie zwei ihrer Erinnerungen zu einer einzigen verschwimmen. Die Augen des Kommissars und die des unheimlichen Mannes am Prüfstand VII.
Bereits zum dritten Mal sitzt er regungslos auf dem starken Ast am Rand des Bergwaldes. Neugier treibt ihn hierher, denn ungewohnte Laute und rätselhafte Bewegungen sind für den Neuankömmling eine Herausforderung. Er beobachtet sie zur selben Tageszeit wie bei den ersten beiden Malen.
An dem riesenhaften Berg mit den vielen weißen Wänden und unzähligen kleinen Kerben hat er eine Stelle ausfindig gemacht, die seinen Erfahrungsschatz bereichern kann. Eventuelle Beute sieht er nicht, aber das Zusammenspiel von kaum sichtbaren Toren und Gegenständen, mit denen die Besucher regelmäßig kommen, interessiert ihn. Mögliche Gefahren für sich selbst blendet er aus, dafür hat er noch kein Gefühl.
Eigentlich ist es eine Nachtzeit, kurz vor dem Wechsel des Tages. Die Dunkelheit ermöglicht nur geübten Augen wie den seinen, alles zu registrieren. Sogar in die Welt der deutschen Sprichwörter haben diese Augen Einzug gehalten. So fielen ihm zwei unscheinbare schwache Lichtquellen auf, die abwechselnd sichtbar wurden und wieder völlig verschwanden. Augen eines Artgenossen oder eines Beutetieres konnten es nicht sein, dafür lagen sie zu weit auseinander.
Das Tor in seinem früheren Zuhause war viel kleiner und nicht unter Felsen und Gestrüpp verborgen. Die mehrmals am Tag kommenden großen brummenden Gegenstände, die dann die trippelnden Wesen ausspuckten, sahen auch anders aus als die Geräte, die er in diese geheimnisvolle Öffnung hinein- und wieder herausfahren sieht.
Die wollen offenbar nicht gesehen und bemerkt werden.
Der junge Luchs wurde viele Kilometer nördlich von hier an den Rabenklippen geboren, im einzigen Luchsgehege im Harz, in der Nähe von Bad Harzburg. Nach der Auswilderung erfasste ihn der Übermut. Er ahnt nur die Existenz anderer Artgenossen, die dabei sind, den Harz in Reviere aufzuteilen. Noch ist er keinem von ihnen begegnet. So streift er unbekümmert durch das überschaubare Gebirge mit den dichten Wäldern, auf der Suche nach einem Ort, der zu seinem Revier werden könnte, ohne dass er weiß, dass er ein solches braucht. Es ist die Natur, die ihm die Handlungen vorgibt. Die ihm sagt, dass er mit seiner ausgeprägten Witterung ein Weibchen sucht, für eine Begegnung, die eine ungeahnte Vorfreude auslöst.
Warum auch immer.
Das kleine Gerät am Band um seinen Hals spürt er kaum noch, es stört ihn auch nicht.
Hier am südlichen Rand des Harzes gefällt es ihm gut, warum soll er hier nicht bleiben?
Das Ungestüme der Jugend erfasst ihn, nur noch selten denkt er an sein früheres Gehege zurück, das ihm den Weg in die Freiheit versperrte.
Dennoch zog es ihn immer wieder in die Nähe seines alten Geheges zurück. Zu groß ist die Neugier und sind die Herausforderungen, die auf ihn zu warten scheinen.
Als Joachim Heyde am Vormittag die Stadt wieder erreicht hat, fährt er in ein abgelegenes Stück Straße hinein, hält an und ruft sich das bisherige Geschehen ins Gedächtnis.
Der unverhoffte Besuch seines früheren Kameraden Hubert Bellmann am Vorabend nach nur kurzfristiger telefonischer Anmeldung hat ihn mit aller Macht in seine Vergangenheit zurückbefördert, die er längst hinter sich glaubte. Sie hatte ihn jahrelang in Ruhe gelassen.
Nach dem unvermeidlichen Austausch der Lebensgeschichten nach dem Ende der NVA brachte Hubert mit entschlossenen Worten sein eigentliches Anliegen vor. Er formulierte es mit großer Selbstverständlichkeit, so als wenn er, Joachim, es geradezu erwartet hätte.
Doch er selbst hat clever reagiert, wie er sich im Nachhinein bestätigt.
Wie in alten Zeiten.
In der kurzen zur Verfügung stehenden Reaktionszeit gelang es Joachim, die Reflexe zu nutzen, die er in den vergangenen Jahren in der Versicherungsbranche erworben hatte.
Das Verhältnis von Aufwand und Nutzen – und Verhandlungsgeschick.
Dazu kam noch der Gedanke an eine mögliche Gefahr, denn Bellmanns fast nebenbei angedeuteter Hinweis auf ein gemeinsames Erlebnis in der Vergangenheit blieb ihm nicht verborgen.
Parallel zu diesen Gedanken entwickelte sich zwar spontan eine positive Haltung dazu, die er jedoch nicht nach außen dringen ließ. Schließlich gelang es ihm, seinen Gast im Ungewissen lassen. Zunächst musste er sich selbst einen Überblick über die Situation und mögliche Lösungen verschaffen. Und das sehr schnell.
Unmittelbar nach dem Besuch am Abend war er direkt in die Harzberge nach Altenau zu seinem Ferienhaus gefahren, schaffte die Strecke in der Rekordzeit von weniger als einer halben Stunde und hatte dabei sorgfältig darauf geachtet, dass ihm der Gast nicht folgt.
Dennoch wartete er einige Minuten ab, ehe er hastig das Haus betrat. Sofort ging er in den Keller und nahm die große Werkzeugkiste aus dem Regal. Dann entfernte er auch die beiden Kästchen links und rechts daneben. Zwei kleine Schrauben wurden nun sichtbar. Mit dem bereit liegenden Schraubendreher löste er die kleine Holzplatte an der Rückwand des Regals. Der Blick in den Hohlraum trieb seinen Puls in die Höhe.
Er war leer.
So leer wie unmittelbar danach der Speicher seines Gehirns, in dem er sonst Reaktionen und Argumente bereithält. Für alle Ausreden seiner Gesprächspartner, die sich vor dem Abschluss eines Versicherungsvertrages drücken wollen.
Er musste sich setzen, nutzte dafür die Werkzeugkiste, deren unebene Oberfläche er nicht einmal wahrnahm.
Im Schnelldurchlauf durchquerten verschiedene Möglichkeiten sein Hirn, wer das, was hier lag, von seinem Platz genommen haben könnte.
Er selbst?
Nein, daran würde er sich erinnern.
Seine Frau?
Warum sollte sie das tun, ohne ihn zur Rede zu stellen?
Ein unbekannter Dieb?
Der müsste es schon genau darauf abgesehen haben. Und wissen, dass es existiert.
Bei dem Gedanken daran fröstelte er.
Angestrengt überlegte er, wann er das letzte Mal das Versteck kontrolliert hatte. Es muss mehrere Jahre zuvor gewesen sein.
Das Entsetzen über das leere Fach rief bei Joachim Heyde das Bedürfnis nach sofortiger Ablenkung hervor, die vielleicht sogar mehr sein könnte. Er nahm sein Telefon zur Hand. Nach dem kurzen Gespräch lächelte er voller Erwartung, schloss hastig das nun leere Versteck, verließ das Haus, stieg in sein Auto und fuhr los. Nach Erreichen der Bundesstraße 4 in Torfhaus bog er nicht nach links in Richtung seines Wohnortes Bad Harzburg ab, sondern nach rechts.
Der Gedanke an die darauf folgenden Stunden hellte seine Stimmung merklich auf, doch nur für einen kurzen Moment.
Nun, am Vormittag danach, muss er versuchen, die Zeit zu nutzen, hat aber noch keine tragfähige Idee dazu. Er hofft, dass aus der Begegnung der letzten Nacht für ihn ein Ausweg entsteht, der aber auch nicht sofort begehbar wäre.
Und dann bliebe schließlich noch ein Schuss ins Blaue, in das Dunkelblau der Vergangenheit.
Um andere unnötige Komplikationen zu verhindern, ruft er sofort seine Frau an.
Die Sonne zeigt an diesem Freitagvormittag im Mai viel Selbstbewusstsein, als sie das Kalkmassiv des Kohnsteins am Südrand des Harzes anstrahlt. Sie dringt jedoch nicht in das Innere vor, hat es in der jahrtausendealten Geschichte des Berges noch nie vermocht. Unzählige Stollen durchschneiden das uralte Gestein. Sie sind nicht wie anderenorts durch Wasser entstanden, bilden keine besucherlockenden Tropfsteine an den Decken. Sie riefen Tropfen anderer Art hervor, solange, bis die Tränendrüsen der Menschen versiegten, die den Berg durchwühlen mussten.
Nach dem ersten Bombenangriff auf Peenemünde im Sommer 1943 wurde die Produktion der V-Waffen hierher in sichere Stollen verlagert. Unter unmenschlichen Bedingungen hielten die Häftlinge die Produktion der Vernichtungswaffen aufrecht. Pias Gedanken an die Forschungen in Peenemünde mit ihren weltbewegenden technischen Ergebnissen werden hier auf brachiale Weise mit den Attributen einer gewaltigen Todesfabrik konfrontiert. Es ist das Gegenstück zur damaligen Heeresversuchsanstalt Peenemünde.
Dr. Konrad Lemberg-Heusel, der Leiter der Gedenkstätte des früheren KZ Mittelbau-Dora, informierte Pia persönlich über das Konzept der Einrichtung. Schon längere Zeit besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Museum Peenemünde und der Gedenkstätte bei Nordhausen. Das Gespräch zwischen dem erfahrenen Historiker und der ambitionierten Hobbyforscherin endete für beide Seiten unterhalb der Erwartungen. Pia hatte das Gefühl, vom Leiter der Einrichtung nicht richtig ernst genommen zu werden, während sie diesen als in politischer Korrektheit gefangenen Funktionärstyp einordnete.
Vielleicht hätte sie zuerst durch die Gedenkstätte gehen sollen.
Beim Gang über das weitläufige Gelände des ehemaligen Lagers wird Pia wie von einem Magneten in die Vergangenheit gezogen, jedoch auf völlig andere Art als in Peenemünde. Jeder Gedanke, mit dem sie sich die damalige Umgebung vorstellt, lässt sie aus Selbstschutz in die entgegengesetzte Richtung federn. Sie schafft es nicht, ihre Ergriffenheit vom Prüfstand VII an diesen Ort zu übertragen. Vor allem von dem kleinen Gebäude des ehemaligen Krematoriums konnte sie sich erst mit viel Mühe lösen – körperlich und emotional. Dazu trugen auch die zahlreichen individuell gestalteten Gedenktafeln bei, die auf Initiative von Nachkommen der Opfer dort angebracht wurden.
Langsam bewegt sich Pia nun zum Abschluss ihres Besuches durch die Ausstellung im modernen Gebäude auf der Anhöhe. Die Ausstellungsstücke in den Vitrinen, darunter auch Exponate aus Peenemünde, färben die Eindrücke noch dunkler, die sich der jungen Frau während des Gangs über das Gelände bemächtigt haben. Erst jetzt erfasst sie vollständig das verzweigte Geflecht von Peenemünde.
Wenn das ihre Mutter sehen könnte.
Ihre Heimat ist die Ostseeküste in der Nähe von Rostock, wo sie allein mit ihrer Mutter aufwuchs. Mit 18 Jahren löste sie sich aus der erdrückenden Obhut, verließ Deutschland und stürzte sich in das vor allem in Nordostdeutschland als Paradies verklärte Schweden. Mit ihrer Mutter versöhnte sie sich erst auf deren Sterbebett, kaum mehr als ein Jahr zuvor.
Durch Nils Pettersson und dessen Begeisterung für die auf seinem schwedischen Hof niedergeschlagene Rakete wurde Pia auf das Problem der Janusköpfigkeit wissenschaftlicher Entwicklung gestoßen – und davon gepackt. Sie kam über Nils in Kontakt mit dem schwedischen Luftwaffenmuseum in Linköping und lernte dort den Pensionär Rune Alfredsson kennen, der offenbar Teil eines Netzwerkes von besonders nationalbewussten Schweden ist. Er vermittelte ihr bereits das erste Praktikum ein halbes Jahr zuvor.
Vor der jetzigen Tätigkeit in Peenemünde bekam sie zu ihrem großen Erstaunen einen Auftrag, der offenbar nicht im Licht der grenzenlosen schwedischen Öffentlichkeit erscheinen sollte. Ihre erste, wohl etwas naive Reaktion darauf war verhaltene Freude.
Unter dem Eindruck der heutigen Erlebnisse drängen sich jedoch Zweifel in Pias anfängliche Euphorie über das große Vertrauen, dass in sie gesetzt wurde. Die Atmosphäre eines Treffens in Stockholm mit Rune Alfredsson und einem seiner Mitstreiter nach Beendigung ihres ersten Praktikums wertete sie im Nachhinein als sehr konspirativ mit einem Hang zum Gespenstischen. In diesem Moment nimmt sie sich vor, noch gründlicher darüber nachzudenken.
Mitten in ihre Gedanken hinein vernimmt sie erregte Worte aus einer Gruppe polnisch sprechender Besucher, wie sie sofort erkennt. Einer von ihnen zeigt auf ein Foto der Ausstellung und wiederholt eine Aussage, seine Stimme wird immer lauter und erregter. Pia kann das Ende des Disputs nicht verfolgen. Sie weiß noch nicht, dass sie nur wenige Tage später wieder damit konfrontiert werden würde.
Nachdem Pia im Café des Hauses eine Kleinigkeit zu sich genommen hat, versucht sie schon auf dem Weg zu ihrem Auto, sich wieder in die unmittelbare Gegenwart einzufügen.
Sie setzt sich in ihren Volvo und genießt wie so oft das Gefühl des Geborgenseins in diesem klitzekleinen Stück ihrer vertrauten neuen Heimat Schweden.
Hier wähnt sie sich unangreifbar. Sogar für plötzlich auftauchende dunkelhaarige Männer.
Nein, sie will jetzt nicht an diese Begegnung erinnert werden.
Nach wenigen Augenblicken findet sie ihre Fassung wieder, streicht einige Haare aus dem Gesicht und stellt sich gedanklich auf das unmittelbar bevorstehende Geschehen ein.
Pia blättert dazu im Straßenatlas. Eine etwa fünfzig Kilometer lange Fahrt quer durch den Harz liegt vor ihr. Sie nutzt den Atlas immer als Ergänzung zum Navigationsgerät. Das bewahrt sie vor möglichen Eskapaden der Elektronik, von der sie bereits einmal in einen schließlich am Ende gesperrten Forstweg geführt wurde.
Das bevorstehende Wochenende hat sie für ein Vorhaben geplant, welches ihr bisheriges Leben wohl erneut verändern wird. Sie gibt die Adresse, die sie wenige Tage zuvor erhalten hatte, in das Navigationsgerät ein.
Eine Spur zu den Anfängen ihres Lebens erwies sich während ihres ersten Aufenthaltes in Peenemünde als Sackgasse. Der Name ihres Vaters, den ihr die Mutter erst auf dem Sterbebett offenbart hatte, war falsch. Und gerade unter der Adresse, die sie noch heute ansteuern wird, soll der Richtige zu finden sein.
Unverhofft muss sie gegen aufkommendes schlechtes Gewissen kämpfen. Was ist schon ihre private Sorge gegen die eben erlebte Weltgeschichte? Und das ohne Übergang?
Sie gewinnt und verliert den Kampf.
Pia fühlt sich in einem Zustand, den Psychologen als Identitätskrise bezeichnen würden. Die Männerfeindschaft ihrer Mutter, die sie wohl zumindest stückweise geerbt hat, verhinderte bisher eine dauerhafte Beziehung, was sie als völlig unbefriedigend empfindet. Der Kontakt zu ihrem Vater soll ihr auch dabei helfen, zu sich selbst zu finden.
Und dann endlich zu einem Mann in ihrem Leben.
Pia verlässt den Parkplatz der Einrichtung, auf dem sie auch erstaunlich viele Autos mit dänischen und holländischen Kennzeichen registriert.
Darauf, dass der Harz für beide Länder das nächstgelegene nennenswerte Gebirge ist, kommt sie in diesem Moment nicht.
Die Ausfahrt aus der Gedenkstätte ist kurvenreich, sie muss sich konzentrieren. Am Berghang zur Linken nimmt ein Geröllhaufen ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Es ist offenbar ein früherer Stollenzugang, der bewusst auf diese Weise verschlossen wurde.
Sie denkt daran, dass der Leiter ihr von einem Stollen erzählt hat, der auch für Besucher zugänglich ist, allerdings nur im Rahmen einer Führung.
Der Berg verbirgt offenbar viele Geheimnisse.
In einer Kehre am Berghang stutzt sie. Hat sie sich verfahren? Der Weg geradeaus ist zwar breit und gut befahrbar, wird aber plötzlich durch auffällig dicht gewachsenes Gebüsch versperrt. Durch die mit Maigrün besetzten Blätter erkennt sie mit ihren Luchsaugen - so die früheren Worte ihrer Mutter - einen rot-weiß gestrichenen Schlagbaum.
Hier muss es früher wohl weiter gegangen sein.
Sie wendet, findet bald die richtige Ausfahrt und stellt sich gedanklich auf die bevorstehende Tour ein. Durch viele Kehren geht es nach Norden. Klare Sicht gibt den Blick auf Berge frei, die auffällig oft von Burgen und Schlössern gekrönt sind. „Deutsche Teilung bis 1989“, liest sie nach halber Strecke auf einem großen braunen Schild an der Bundesstraße 4.
Pia taucht in die Umgebung ein, lässt sich fallen, spürt, wie das waldreiche Gebiet ihre Gedanken filtert, so dass allmählich nur Freude und Erwartung bleiben. Mit Mühe konzentriert sie sich auf das Fahren. Durch den bevorstehenden Besuch wächst allmählich ihre innere Erregung.
Bis zu diesem Zeitpunkt hat sie sich nicht entschließen können, ihren Besuch anzukündigen, zu groß ist die Unsicherheit, wegen einer falschen Reaktion des Gesuchten das Vorhaben aufgeben zu müssen.
Die lange Abfahrt von Torfhaus ist so steil und kurvenreich, dass sie das Auto abbremsen muss. Das löst in ihr eine Reaktion aus, die sie gerade jetzt nicht gebrauchen kann.
Der unmittelbar vor ihr liegende Weg geht steil nach unten.
Und sie muss bremsen.
Sind das unheilvolle Vorboten? Soll sie ihr Vorhaben im letzten Moment stoppen?
Ehe sie zu einer Entscheidung kommt, passiert sie das rechterhand gelegene große Harz-Hotel und hat damit das Ziel Bad Harzburg am unmittelbaren Nordrand des Harzes erreicht. Dann übernimmt das Navigationsgerät das Kommando.
„Biegen Sie rechts ab in den Kaiser-Friedrich-Weg. Ziel auf der linken Seite nach 200 Metern“, meldet sich dessen blecherne Männerstimme. Pia sieht sich sofort nach einer Parkmöglichkeit um, fährt an die Seite und hält den Volvo an. Sie orientiert sich aus dem Auto heraus, liest die Hausnummer des ihrem Parkplatz gegenüberliegenden Gebäudes. Es ist die Nummer 20, ihr Ziel, die Nummer 21, muss also unmittelbar danach kommen.
Pia klammert sich krampfhaft an das Lenkrad.
Hallo Papa.
Nein, ausgeschlossen.
Sind Sie, ääh … bist du der, den ich suche?
Sie lacht laut auf, aus Ärger und Verlegenheit. Noch vor dem dritten Versuch bricht sie die Albernheiten ab, sammelt ihre Gedanken, lässt sie wieder los. Dann steigt sie entschlossen aus dem Auto.
Zunächst ist sie verwirrt, als nach der 20 die 22 folgt, doch dann erkennt sie das kleine Schild zwischen beiden Häusern, das auf die schmale Zufahrt zum Haus Nummer 21 verweist. Mit unsicheren Schritten bewegt sie sich vorwärts, steht dann plötzlich vor der Haustür, muss jetzt klingeln – oder weggehen.
„M. Glambach, J. Heyde“, liest sie auf dem Schild über der Klingel. Sie zögert immer noch, zu gewaltig erscheint dieser Schritt zurück, in den frühestmöglichen Anfang ihres Lebens.
Ist es auch eine Zukunft?
Pia hebt langsam die rechte Hand zum Klingelknopf, als sich die Tür bereits öffnet. Pia erschrickt.
Eine Frau steht vor ihr. Im Unterbewusstsein läuft bei Pia der Personencheck ab.
Knapp über 50, halblange dunkle Haare, passable Figur im eleganten Kostüm, dezentes Makeup, durchdringender Blick aus klugen braunen Augen.
Sie blickt Pia zunächst fragend an, scheint dann zu verstehen.
„Ach, Sie habe ich ja ganz vergessen, ich bitte um Entschuldigung.“
Pia reagiert nicht, ist völlig verwirrt. Das bemerkt jetzt auch die Frau.
„Oder sind Sie nicht von der Polizei?“
„Ich… nein, bin ich nicht, warum sollte ich?“
Das Klappen von Autotüren an der Straße nimmt Pia nicht wahr, bemerkt nur, dass die Hausherrin an ihr vorbei nach hinten sieht. Dort nähern sich eine Frau und ein Mann, beobachten neugierig die Szenerie, können sie nicht deuten und bleiben zögernd vor dem Hauseingang stehen. Die Frau fragt, von Pia zur Hausherrin blickend: „Frau Monika Glambach?“
„Das bin ich“, antwortet die Hausbewohnerin mit energischer Stimme.
„Und ich bin Hauptkommissarin Dankert von der Kripo Goslar, das ist mein Kollege Oberkommissar Mertens.“ Der Genannte nickt nur als Gruß. „Sie haben Ihren Partner, Herrn …“ die Kommissarin blickt kurz auf das Türschild „Heyde heute früh als vermisst gemeldet. Wir hatten gerade in der Gegend zu tun und haben dazu ein paar Fragen an Sie.“ Lautlos führt sie innerlich den Gedanken weiter: Obwohl wir ja immer etwas Zeit verstreichen lassen, ehe wir aktiv tätig werden.
Monika Glambach blickt jetzt auf Pia, sie weiß ja immer noch nicht, was die Frau hier will, die sie zunächst für eine Polizistin gehalten hat. Auch die beiden Beamten sehen Pia fragend an.
Die erfasst instinktiv die Situation.
„Ich sehe schon, es ist jetzt sehr ungünstig, ich komme dann ein anderes Mal wieder“, sagte sie hastig an Monika Glambach gewandt. Mit einem „Auf Wiedersehen“ verlässt sie den Ort.
Die drei stehen gebliebenen Personen schauen sich ratlos gegenseitig an.
„Wer war das denn?“, fragt die Polizistin wohl aus beruflicher Neugier, als Pia außer Sicht ist.
„Ich habe keine Ahnung, die Frau stand plötzlich vor der Tür.“
Hauptkommissarin Kerstin Dankert wechselt mit ihrem Kollegen einen kurzen Blick und wendet sich dann an Monika Glambach.
„Gehen wir hinein?“
„Äh, entschuldigen Sie, das hat sich erledigt. Mein Mann hat sich heute Vormittag gemeldet, es ist alles in Ordnung.“
„Soso, und darüber waren Sie so glücklich, dass Sie vergessen haben, uns sofort darüber zu informieren?“ reagiert die Kommissarin nach kurzer Überlegung, aber wohl ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten.
Monika Glambach ist sich nicht sicher, ob das ironisch oder ehrlich gemeint ist und vergisst zu antworten.
„Na dann freue ich mich für Sie, und wir haben zum Glück für den Steuerzahler noch nichts unternommen.“
Die Hausherrin lächelt gezwungen. „Ich bitte nochmals um Entschuldigung“.
„Hoffentlich hat er Ihnen auch gesagt, wo er war.“
Mit dieser sarkastischen Bemerkung dreht sich die Polizistin um und folgt ihrem Kollegen, der bereits kopfschüttelnd dabei ist, in das Auto einzusteigen.
Monika Glambach blickt ohne Erfolg zur Straße, in der Hoffnung, die fremde Frau noch dort zu sehen. Sie bemüht sich vergeblich, den Besuch einzuordnen und begibt sich zurück ins Haus.
Sobald Pia außer Sichtweite ist, beschleunigt sie ihren Schritt und lässt sich völlig aufgelöst in ihren Autositz fallen.
Sie muss das eben Erlebte rekonstruieren.
Das Überraschungsmoment ist nun dahin, sie weiß noch nicht, wann sie den verunglückten Besuch nachholen wird. Jetzt erst realisiert sie, weshalb die Beamten dort aufgetaucht sind.
Joachim Heyde wird von seiner Partnerin vermisst!
Was hat das zu bedeuten? Wird sie wieder in dubiose Vorgänge hineingezogen wie schon in Peenemünde?
Kaum hat sie den aufwühlenden Besuch in der Gedenkstätte aus ihren Gedanken verdrängt, schiebt sich ein neues Problem in ihre innere Ordnung, dessen Dimension sie nicht erfassen kann. Dieser Tag bringt ihr nicht die lange erhoffte Antwort, sondern wirft unerwartet ganz neue Fragen auf.
Mitten in ihre Gedanken hinein platzt ein Geräusch. Pia ist so vertieft, zuckt zusammen, erst nach einigen Sekunden erkennt sie den Laut als den neuen Klingelton ihres Handys. Sie sucht es in ihrer Handtasche, schaut auf das Display – und hebt erstaunt die Augenbrauen.
Der Name des Anrufers wird angezeigt: Andreas Schmidt.