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Ein Hochwasserschutzdeich im Norden Usedoms soll zurückgebaut werden, die Bevölkerung wehrt sich, das Land will auf illegale Weise vollendete Tatsachen schaffen. Eine Frauenleiche wird entdeckt und erst mithilfe einer Geheimakte des LKA identifiziert. Ein rätselhaftes Symbol taucht mehrfach auf und macht den gerade neu gewählten Bürgermeister der Ferieninsel Usedom zum Tatverdächtigen, der gleichzeitig spurlos verschwindet… Eine junge Deutsche, die seit langem in Schweden wohnt, wird ins Museum Peene-münde geschickt, mit sehr verschiedenen Aufträgen. Das Erbe der Heeresversuchsanstalt Peenemünde birgt noch heute Konfliktstoff; der erste Raketenstart von 1942 wird spektakulär nachgespielt, ein Direktor muss seinen Hut nehmen… In Peenemünde, einem der historisch bedeutsamsten Orte Deutschlands, zeigt sich die Vergangenheit lebendiger als manchem lieb ist.
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Seitenzahl: 583
Veröffentlichungsjahr: 2024
Rainer Höll
Flut über Peenemünde
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Flut über Peenemünde
10. März 1970
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Epilog
Mai 2013
Impressum neobooks
Gewehr anlegen und fest in die rechte Schulter drücken. Linkes Auge zukneifen. Mit dem rechten Auge Kimme und Korn suchen, das Korn in die Mitte des Dreiecks der Kimme ausrichten. Den Atem anhalten und den Zeigefinger am Abzug langsam nach hinten ziehen.
KLACK.
Ein Lächeln umhüllt den Jungenkörper vom Kopf bis zur Mitte, hebt ihn in angenehme seelische Höhen.
Luftgewehr absetzen, Ladehebel nach oben schnappen lassen, ruckartig nach hinten ziehen, nach vorne drücken und wieder abklappen. Schnell muss es gehen, damit die weiche Bleikugel unversehrt aus dem Magazin kommt. Einen Zielpunkt suchen, abdrücken und - wieder schmückt eine kleine Mulde das Einerlei des gelben Wandputzes.
Seinen Mitstreiter nimmt er kaum wahr, vermeidet es instinktiv, in dessen Nähe zu schießen.
Die kleine Turnhalle verwandelt sich in eine eigene, beherrschbare Welt. Der Junge gleitet in einen Rausch. Tausende Jahre menschlicher Entwicklungsgeschichte überlagern alles das, was er in sechzehn Lebensjahren an Denkmustern erworben hat.
Sein Spiegelbild verbirgt sich unsichtbar irgendwo in seinem Kopf. Es zeigt im Wechsel einen vollbärtigen Krieger mit Lendenschurz und einen Ritter in voller Rüstung.
Beide Schützen bemerken, wie ein etwa zehnjähriger Junge die Halle betritt, halten kurz inne, ehe sie einfach weitermachen.
Der Junge wird wie von einem Magneten in diese Welt hineingezogen. Die Einschussgeräusche faszinieren ihn, verwandeln sich in seinen Ohren in die Schüsse von Häuptling Tokeih-ito im Freiheitskampf der Dakota gegen die weißen Siedler.
Er blickt begeistert zu den beiden Älteren und sieht sich die Einschusslöcher an.
Vollkommen unerwartet trifft ein scharfer Schlag sein Gesicht. Mit der rechten Hand greift er dorthin. Er stutzt, blickt auf klebrig-rote Fingerspitzen.
Ein etwa drei Millimeter breiter Blutfaden rinnt aus einer Wunde direkt unterhalb des linken Auges langsam nach unten.
Die beiden Jugendlichen durchschlagen bei ihrem Fall aus großer Höhe ihre gewohnte Existenzebene und landen weit darunter in einem Chaos der Gefühle.
Mehr als 50 Jahre später
ER krallt sich in den Ast neben seinem Horst auf der hundertjährigen Eiche am Waldrand. Schickt mit ruckartigen Kopfbewegungen einen prüfenden Blick in die Umgebung. Die dicke Rinde ist schon von den Spuren seiner Vorfahren gezeichnet, bereits verwachsene Narben werden von neueren überkerbt.
Eine immer noch angenehm wärmende Herbstsonne leuchtet ihm entgegen und taucht die vor ihm liegende Schilffläche in gleißendes Licht.
Als größter Vogel des Ostseeraums hat ER an seinem Sitz keinen Platz, um die zweieinhalb Meter Flügelspannweite zu entfalten.
Der Seeadler von Peenemünde muss sich dazu mit kraftvollen Flügelschlägen erheben und beginnt den Rundflug über sein Revier. Seit Jahren schon beherrscht ER auch den nahen Flugplatz mit den großflächigen Betonfeldern, denn von dort starten anstelle der früheren MiG 23 fast nur noch Kleinflugzeuge. Mit leichten Kopfbewegungen lässt ER den Blick hinüberschweifen zu den kleinen Inseln Ruden und Greifswalder Oie. Wie ein Reflektor leuchten die hellsandigen Steilufer der großen Nachbarinsel Rügen im Norden.
ER fliegt nach Süden. Dort trennt der deichgeschützte Peenestrom die Insel Usedom vom Festland.
Kaum ein anderer heimischer Vogel kann so ausdauernd segeln. Das erleichtert es den Menschen, ihn anhand seines Flugbilds deutlich von anderen Greifvögeln zu unterscheiden. Im Takt des auffrischenden Windes schwingt ER seine Gedanken Jahrhunderte zurück, zu Revierkämpfen der Menschen – und zu Hochwasser.
Die Flut kam immer von Westen, von der Peene.
Nach dem ersten großen Krieg erhielt der Peenestrom endlich einen Deich. Der schützte nicht nur die einheimischen Pommern vor Hochwasser, denn innerhalb kürzester Zeit traten an die Stelle kleiner lehmwändiger Fischerhütten des Dorfes Peenemünde hohe und großflächige Häuser aus Ziegel und Beton. Sie prägten das Bild des gesamten Inselnordens. Blutgefäßen gleich verbanden Betonstraßen und Schienen die vielen neuen Gebäude zu einem Geflecht voller Bewegung, trugen Fahrzeuge, die bis dahin hier niemand kannte.
Die Vorfahren des Adlers bekamen Konkurrenz vom neuen Flugplatz, die aber zum Glück auf andere Beute aus war. Unsichtbar und in weiter Ferne. Sie nahmen von ihrem Horst aus den Flug der ersten Rakete in den Weltraum nicht wahr, denn solche Höhe überstieg ihre Möglichkeiten selbst bei günstigsten Windbedingungen.
Beim Segeln über dem Peenestrom erregt ein einzelnes menschliches Wesen am Ufer die Aufmerksamkeit des Seeadlers.
Das gewohnte Bild reißt ihn aber nicht aus seiner Ruhe. Es unterscheidet sich sehr vom Anblick der vielen Menschen am Rande des Flugplatzes, die er Tage zuvor als Eindringlinge in sein Revier misstrauisch beäugte. In gebührender Höhe flog er damals über die verdächtige Stelle. Schrille, einige Minuten andauernde Geräusche unbekannter Herkunft hatten ihn dann erschreckt. Schnell war er mit Hilfe kräftiger Flügelschläge zu seinem Horst zurückgekehrt und konnte sich nur langsam wieder beruhigen.
Deshalb sah er nicht, wie danach ein einzelner Mensch, der das Treiben aus einem Versteck heraus beobachtet hatte, den Weg zum Wald in Richtung der nahen Ostsee einschlug. Er kannte jeden Meter, denn einst war er hier der Hausherr.
Zielstrebig marschierte der hochaufgeschossene Mann zum Schilfgürtel am Strand. Seine schnellen Schritte und die flüssigen Bewegungen hätten jeden Beobachter dazu bewogen, ihn deutlich jünger als Anfang siebzig zu schätzen.
Er glaubte sich unentdeckt.
Unverhofft wurde er eines besseren belehrt, als ihm jemand von hinten ein Tuch auf das Gesicht presste und Sekundenbruchteile später zwei kräftige Arme schraubstockgleich seinen Körper bewegungsunfähig machten. Als ihm dann Schlaufen um die Fußgelenke gelegt wurden, lag er schon tot am Boden. Der mit kräftiger Statur ausgestattete Mörder zog ihn fast mühelos hinter sich her wie einen gerade gefällten und entästeten Baumstamm, wählte den Weg durch das Schilf ins flache Wasser der Ostsee.
Noch am späten Abend des 3. Oktober 2012 meldete Ingrid Bornhöft ihren Mann Dieter, den früheren Kommandeur des Jagdfliegergeschwaders in Peenemünde, als vermisst. Die sofort eingeleitete Suche blieb eine erfolglose Formsache. Ingrid hatte keine Ahnung, wohin ihr Mann wollte, deshalb wusste niemand, wo er zu finden sein könnte.
Und nicht alle bedauerten sein Verschwinden.
Die hohen Bäume stellen sich mit fest verankertem Wurzelgeflecht erfolgreich dem stärker werdenden Wind entgegen. Sie schwanken dabei wie ein Boxer im Ring, der mit taktischen Meidbewegungen seine Standfestigkeit bewahrt. Ihre rauschende Kulisse ist mit herbstgefärbten Blättern durchsetzt. Dunkle Fichten und breit ausladende Buchen wechseln sich mit meterhohen Betonresten ab. Ein Gemisch aus dicht gewachsenen Sträuchern, wassergefüllten Gräben und sumpfigem Waldboden unmittelbar neben dem Weg macht Verbotsschilder überflüssig.
Pia Bergner kämpft auf ihrem geliehenen Fahrrad mit zusammengepressten Lippen verbissen gegen die holprigen Betonschwellen, die schon vor Jahrzehnten so unwegsam gelegt wurden, um Fahrzeuge von diesem Weg fernzuhalten. In unvorhersehbaren kurzen Abständen durchbrechen schmale Sonnenstrahlen das Gewirr der Natur und zwingen Pia, die Augen zusammenzukneifen.
Die zu geringe Sattelhöhe des Fahrrads erweist sich dagegen als das kleinere Übel. Pia schwankt zwischen der gefühlten Sicherheit des fahrenden Zweirads und der Möglichkeit, die düstere Umgebung näher an sich heranzulassen, wenn sie sich auf das Schieben verlegt. Schließlich entscheidet die Trägheit der Bewegung, sie tritt einfach weiter.
Das gesamte Gebiet ist für die Öffentlichkeit gesperrt. Im Entdeckungsfall würde sie sich auf ihren Status berufen, auch wenn sie aus ihrer Wahlheimat Schweden nur zu einem Praktikum an das Museum Peenemünde gekommen war.
Kurz vor Ende ihres vierten Lebensjahrzehntes stehend, hat Pia das Ebenbild einer dieser energischen Frauen in den nordischen Ländern angenommen, deren Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfundfünfzig schwer zu schätzen ist. Mittelblonde halblange Haare passen sich der schlanken Figur an, die pro Lebensjahr höchstens hundertgrammweise mit Altersgewicht umgeben wurde. Ein kurzer Pferdeschwanz mogelt sich aus der hinteren Öffnung des graugrünen Basecaps mit dem breiten Schirm.
Das ebenmäßige Gesicht ist ein Abbild ihrer bisherigen Existenz, vereint die durchlebten Höhen und Tiefen gleichermaßen. Optimismus und Zuversicht standen am Anfang ihres Lebens in Schweden. Beides ist vielleicht vom Vater geerbt. Aber sie weiß nicht, ob es sich so verhält, denn sie hat ihren Vater nie kennengelernt.
Diese Höhen ihres Daseins sahen sich oft gezwungen, unerwarteten Nackenschlägen den Weg in ihre Mimik zu versperren, und gewannen schließlich die Oberhand über ihre von ersten Falten geprägten Züge.
Nicht lange nach dem achtzehnten Geburtstag war Pia, die gerade offen gewordene Grenze nutzend, von ihrem Wohnort nahe der deutschen Ostseeküste aus häuslicher Enge nach Schweden geflüchtet. Ein verzweifelter Schritt, mit dem sie die erdrückenden Liebesketten ihrer Mutter sprengte. Dass damit auch viele andere Gefühle auf der Strecke blieben, wurde ihr erst später bewusst.
Gerade in jener Zeit hatte die traditionell schwärmerische Sicht des deutschen Nordostens auf das nördliche Nachbarland einen Höhepunkt erreicht, mit nicht nur scherzhaft gemeinten Vorschlägen, sich lieber mit Schweden als mit Westdeutschland zu vereinen. Denn noch knapp 200 Jahre zuvor herrschten die Nachfolger des berühmten Schwedenkönigs Gustav II. Adolf in dieser Region. Genau der, welcher unweit von Pias Standort 1630 seinen Fuß erstmals auf deutschen Kriegsboden gesetzt hatte.
Erst die Erfahrungen im neuen Land gaben Pias Urteil über ihre Mutter eine sehr viel breitere Farbpalette als das ursprüngliche Grauschwarz.
Alle Gedanken an ihre deutsche Heimat wurden lange Jahre bestimmt von den Beziehungen zu ihrer Mutter, die sie nur ein einziges Mal besuchte – an ihrem Sterbebett wenige Monate zuvor. Nach ihrem Vater hatte sie die Mutter immer gefragt. Zunächst laut und fordernd, später mit stummen und vorwurfsvollen Blicken. Die Mutter übertrug ihrerseits die nie endenden und ganz selten laut ausgesprochenen Vorwürfe gegen Pias Vater wegen dessen Flucht aus der Verantwortung auf alle Männer. Ihre untergründige Absicht, damit auch Pias Bild vom anderen Geschlecht zu prägen, blieb nicht ohne Wirkung.
Erst beim letzten Besuch gab die Mutter Pia nicht nur den Namen des Vaters preis, sondern schilderte auch ihre sehr kurzen Begegnungen mit ihm.
Der Zwang zur Rücksichtnahme und das schlechte Gewissen, die Mutter verlassen zu haben, verschwanden bei Pia mit deren Tod in der Unendlichkeit.
Eine plötzliche Leere war die Kehrseite. Immer öfter kam Pia sich vor wie ein namenloses Sandkorn am Ostseestrand, an dem sie einst entstanden war. Sie spürte den Drang, sich neu zu orientieren, sehnte sich nach einer erfüllenden Aufgabe für ihr Dasein.
Und nach Informationen über ihren Vater. Zunächst will sie einfach nur wissen, wer er ist. Ob daraus eine verspätete Vater-Tochter-Beziehung entstehen würde, lässt Pia offen.
Der wichtigste Antrieb für ihre Reise hierher auf die Insel Usedom liegt jedoch in der Geschichte.
Und genau dorthin ist sie an diesem Tag unterwegs: zum Prüfstand VII der ehemaligen Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Von hier aus startete am 3. Oktober 1942 die Rakete A 4 erstmals erfolgreich bis an die Grenze des Weltraums. Unter dem Namen Vergeltungswaffe V 2 sollte sie den deutschen Kriegserfolg aus dem Feuer reißen, kam dazu jedoch zu spät. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zum weltweiten Vorbild für alle späteren Raketen, auch zum Kristallisationskern für den Mondflug.
Die noch erkennbaren Reste des legendären Raketenstartplatzes wurden zum Ziel, ja zur Pilgerstätte aller Peenemünde-Enthusiasten, deren persönliche Motive durchaus unterschiedlich sind.
Pia ruft sich den Beginn ihres Interesses für Peenemünde ins Gedächtnis, einige Monate zuvor in Schweden. Von einem jungen Mann hörte sie die unglaubliche Geschichte einer über Schweden abgestürzten Rakete A 4, nur wenige hundert Meter neben dem Hof seiner Familie, in einem kleinen Dorf mitten im Wald. Ein außer Kontrolle geratener Testflug im Juni 1944.
Seitdem fühlt Pia sich von diesem Thema gefangen und umarmt, genau wie von Nils in den verschiedenen Momenten ihrer leidenschaftlichen Begegnungen. Beides verschmolz zuweilen sogar, ohne dass Pia es wahrnahm.
Sie war gefesselt davon, mit welcher Begeisterung Nils Pettersson von diesem Ereignis berichtete, das seine Familie hätte auslöschen können. Er sah nur die technische Leistung, ein Fluggerät über eine solche Entfernung schießen zu können.
Als Erste in der Welt.
Und ausgerechnet neben den Hof seiner Familie.
Kurz nach dem Tod ihrer Mutter spürte Pia schon bald, wie aus dieser zufälligen Begegnung nicht nur ihre Beziehungsfähigkeit zu einem Mann wiederbelebt wurde. Raketen in Peenemünde - dieses Thema eroberte sich in ihrem Denken allmählich immer mehr Raum. Aus dem Enthusiasmus ihres Liebhabers erwuchsen bald neue, nachdenkenswerte Dimensionen. Ihr Job als freie Journalistin gab ihr nicht zuletzt in Ermangelung fester Aufträge die nötige Zeit, um tiefer nach Literatur über diese Zeit zu graben. Dabei stieß sie immer öfter auf einen Widerspruch. Die aktuelle Literatur ordnete, wie von unsichtbarer Hand gesteuert, die Bewertung der technischen Leistungen fast in jedem Fall der verbrecherischen Absicht der Peenemünder Entwicklungen unter.
Pia suchte instinktiv nach einer Alternative zu Entweder-Oder. Sie begab sich auf die Spur von Sowohl-als-auch, fühlte hier eine große Herausforderung auf sich zukommen.
Dabei kam ihr sehr gelegen, dass Nils ihr eine Tätigkeit im schwedischen Luftwaffenmuseum Linköping vermittelte, in dem auch ein Raketenteil aus Peenemünde ausgestellt ist. Dort traf sie auf dessen inzwischen pensionierten Initiator Rune Alfredsson, der ihr wiederum dieses Praktikum im Museum Peenemünde verschaffte. So kam sie wie zufällig kurz nach dem Jubiläum des ersten Raketenstarts hierher.
Hin und wieder trifft Pia auf den Gedanken, der sich wie ein Parasit festgesetzt zu haben scheint: Will ich wieder in Deutschland leben? Obwohl sie ihn jedes Mal verscheucht, sogar mit hörbaren Zischlauten, wenn sie allein ist, lässt er sich nicht abschrecken.
Pia nähert sich ihrem Tagesziel und erreicht die entscheidende Weggabelung. Sie steigt ab und lehnt das Fahrrad, sich aufmerksam umblickend, an einen Baum. Bedächtig und ehrfurchtsvoll bewegt sie sich zu Fuß weiter, blickt dabei auf eine Skizze, die den Ort zu seiner aktiven Zeit darstellt.
Ein mit Wasser gefüllter, der Natur überlassener Betongraben begrenzt den Weg zur Linken – die frühere Abgasschurre. Deutlich erkennbar sind die Reste des ovalen irdenen Dammes, der den gesamten Prüfstand einst umgab. Bei jedem Schritt ist Pia sorgfältig bemüht, nichts von dieser so tot und unbeweglich erscheinenden und dennoch auf ganz eigene Art überlebenden Vergangenheit zu zerstören.
Die freudige Erwartung, endlich diese Stelle hautnah zu erleben, wird durch die gespenstische Umgebung gedämpft. Ehrfurcht gebiert Distanz. Sie fühlt die Last der damaligen Epoche, kommt sich vor wie ein unerwünschter Eindringling in eine Dimension, die an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft stößt.
Die Umgebung klemmt die Frau zwischen zwei entgegengesetzte Pole. Eine schwer zu definierende Bedrohung legt sich auf ihr Gemüt, in dem sich dennoch das Magnetfeld der Historie behauptet. Diffuse Furcht, die sie längst in der Kammer ihrer Kindheit eingeschlossen glaubt, kämpft gegen die unüberwindliche Magie des Geschehens vor Jahrzehnten.
Wie ein Fremdkörper ragt ein granitener Gedenkstein empor, auf dessen Vorfläche frische Blumen liegen. „Abschußstelle der A 4-Raketen“, so die nüchterne Inschrift. Darüber eine stilisierte Rakete. Pia setzt sich dem Stein gegenüber auf eine Graskante und schließt die Augen. Sie versucht, den Lärm und den Anblick eines Raketenstarts gedanklich in ihre reale Umgebung zu versetzen.
Ein unmittelbar vor ihr ertönendes Geräusch lässt Pia zunächst verharren.
Nein, es ist kein Raketenstart. Es ist eine menschliche Stimme!
Das waren wir.
Pia schreit leise auf.
Die vermutete Rakete vor ihr erweist sich als ein groß gewachsener Mensch.
Ein Mann.
Pia springt auf, will weglaufen, sich vor der unheimlichen Erscheinung in Sicherheit bringen.
Und wird von dem Mann aufgefangen, der sie einfach freundlich anlächelt.
„Keine Angst, Frau Bergner.“
Pia löst sich heftig von ihm und erkennt dann den Verwaltungsleiter des Museums, Bernd Hoffmann.
Nur langsam beruhigt sie sich.
„Ich meine, der Stein und die frischen Blumen hier, das waren wir. Der Heimatverein Peenemünde.“
Pia blickt ihren Begleiter wortlos an.
„Sie können ganz beruhigt sein, und die kleine Tour ins Gelände ist für die Tätigkeit im Museum wichtig. Ich hätte Sie aber auch begleiten können.“
Nur weg hier!
Trotz Hoffmanns in ihrem Sinne formulierter Erklärung für ihren Aufenthalt fühlt Pia sich ertappt, als wenn jemand in ihre ureigensten Gedanken geblickt hätte.
Jetzt lächelt sie auch, und gewinnt ihre Fassung wieder.
„Hab mich ganz schön erschreckt. Aber vielleicht sollten wir uns mal ausführlich über das Thema unterhalten, ich komme dann auf Sie zu.“
Auch Bernd Hoffmann will Pia nicht noch mehr in Verlegenheit bringen und nickt bestätigend.
„Dann werde ich meine Tour mal fortsetzen, es gibt ja noch mehr interessante Stellen hier in der Region“, sucht Pia einen eleganten Abgang.
„Passen Sie auf sich auf, Frau Bergner.“
Pia versucht vergeblich, aus dem Klang der Stimme mehr herauszuhören als den gut gemeinten Ratschlag.
Mit dem Gewicht der neuen Eindrücke kehrt sie nach überwundenem Schreck zu ihrem Fahrrad zurück. Sie kann nur erahnen, was diese Last für ihre unmittelbare Zukunft bedeutet.
Ja, ich war dort.
Das jedenfalls wird sie künftig sagen können, wenn sie nach dem Raketenstartplatz gefragt wird. Sie wirft einen Blick zurück, schafft einen neuen Platz für das Historische dieses Ortes im Register ihrer persönlichen Erinnerungen.
Ein anderer Gedanke ergreift sie.
War Bernd Hoffmann wirklich nur zufällig hier, oder hat er sie verfolgt?
Die Antwort bleibt offen, hinterlässt aber eine Angriffsfläche für Unerwartetes.
Pia versucht, solche Gedanken zu verdrängen.
Für die Rückfahrt zu ihrer Unterkunft in der Ferienanlage An der Düne wählt sie einen längeren Umweg nach Westen an den Peenestrom. Sie verlässt das gesperrte Gelände durch das sogenannte Polanski-Tor, das der Volksmund nach dem bekannten Filmregisseur benannte, der 2009 im Sperrgebiet einen Film drehte.
Nach wenigen Kilometern auf dem asphaltierten Flughafenring erreicht sie die gesuchte Einfahrt. Aus einer Eingebung heraus versteckt sie sich in der nächsten offenen Lücke im Gebüsch und beobachtet die Einfahrt. Als ihr auch nach zehn Minuten niemand folgt, setzt sie ihren Weg fort. Sie umkurvt meterbreite wassergefüllte Löcher und holpert erneut über nachlässig verlegte Betonschwellen, ehe sie ihr Ziel erreicht. Eine von vielen sandgefüllten Mulden, Betonresten und Baumstümpfen durchsetzte Grasfläche dringt hier in den lockeren Baumbestand vor. Sie reicht bis ans Wasser, dessen von der Mittagssonne gespiegelte Wellen der stärker werdende Wind in kurzen Abständen ans Ufer schlägt.
Pia kann immer noch keinen anderen Menschen entdecken, sucht eine windgeschützte Mulde und lässt sich auf ihrer Isomatte nieder. Schon nach wenigen Sekunden liegt sie auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Beim direkten Blick in die gerade den Zenit durchquerende Sonne schließen sich ihre Augen. Der Versuch, die zurückliegenden Eindrücke Revue passieren zu lassen und zu sortieren, scheitert in einem Labyrinth von Dimensionen.
Eine Abfolge kurzer heller Schreie reißt Pia aus ihrer Trance. Nach instinktiv abwehrenden Handbewegungen blickt sie nach oben und erkennt den Ursprung der Laute.
Majestätisch segelt der Seeadler über dem Ufer. Die wie zwei ausgefranste Schals wirkenden Schwingen erstrecken sich bewegungslos zu beiden Seiten des Körpers. Der Vogel zieht seine Kreise ohne jeglichen Flügelschlag, immer enger werdend, über genau diesem Fleck Erde, den die Einheimischen als Nordstrand bezeichnen. Das Tier scheint ein bestimmtes Ziel in seinem scharfen Blick zu haben. Pia schaut sich um, nimmt jedoch nichts Auffälliges wahr.
Ohne Vorwarnung ergreift eine plötzliche Entschlossenheit Pias Gedanken. Vielleicht ist die Souveränität des großen Vogels der Auslöser dafür.
Ich muss mich in jeder Umgebung behaupten!
Pia spürt einen scheinbar unverhofft aufkommenden starken Tatendrang, der aber wohl in ihrem bisherigen Leben bereits vorhanden war und nur durch andere Dinge unterdrückt wurde. Zum Beispiel durch die vielen kleinen Jobs, die sie in Schweden annahm, um sich über Wasser zu halten, sie aber nicht wirklich forderten. Oder die zahlreichen unverbindlichen Beziehungen zu Männern – und sogar zu einer Frau.
Ihr Selbstbehauptungswille nimmt wie von Geisterhand gelenkt eine konkrete Form an. Pia blickt sich um, vergewissert sich nochmals, keinen unerwünschten Beobachter außer dem Adler zu haben. Dann begibt sie sich unmittelbar ans Ufer, entledigt sich mit schnellen Bewegungen ihrer Kleidung und legt sie einigermaßen geordnet auf einen Haufen. Gerade als sie sich ins Wasser bewegen will, ruft ihre Nacktheit ein ganz elementares Gefühl auf.
Vielleicht beobachtet mich ja doch jemand?
Diese Vorstellung schreckt sie plötzlich nicht mehr, sondern löst sogar ein wohliges Gefühl aus. Mit dem Gesicht zum Wind, die Sonne auf dem Rücken, hebt sie die Arme zur Seite, steht wie im Windkanal.
Sie spürt plötzlich, wie zwei Hände sich auf ihrem Körper bewegen.
Ihre eigenen.
Als die Hände ihre vollen Brüste umfassen, schließt sie die Augen. Auch dann noch, als sie die Kurven ihres Körpers weiter abwärts verfolgen, Gesäß und Oberschenkel leicht massieren und sehr zufrieden sind mit dem, was sie dort spüren. Und natürlich, als die rechte Hand, von unten kommend, sich zwischen ihre Beine legt.
Ich bin eine schöne Frau.
Lautlos und dennoch kraftvoll formen ihre Lippen diese Worte, geben dem neuen Selbstbewusstsein eine willkommene Ergänzung.
Mit langsamen Schritten begibt sie sich in den Peenestrom. Pia lächelt, als sie das herbstkalte Wasser an ihren Waden fühlt. Die Temperatur erinnert sie an die auch im Sommer kühle Ostsee des Kalmarsunds zwischen der Insel Öland und dem schwedischen Festland. Dort, wo sie Nils Pettersson zum ersten Mal traf.
Die Kühle des Peenestroms wird zum Sinnbild aller Hindernisse, die sich ihr in Zukunft in den Weg stellen würden.
Pia geht so weit ins Wasser, bis nur noch der Kopf herausragt. Triumphierend schaut sie sich um, sträubt sich erfolgreich gegen den Reflex zur sofortigen Rückkehr an Land.
Geschafft!
Langsam und ohne zu zittern verlässt sie das Wasser mit einem Gefühl innerer Stärke. Erst jetzt sucht sie instinktiv nach ihrem Handtuch. Mit festen Bewegungen trocknet sie sich ab, lässt ihren Blick einen kurzen Moment über ihre beiden noch ganz frischen Tattoos auf den Oberarmen schweifen.
Sie legt ihre Kleidung an und genießt mit einem Rundblick ihren Triumph über das kalte Wasser als Sinnbild einer unbarmherzigen Natur.
Nach wenigen Sekunden holt sie der Schrei des Adlers in die Wirklichkeit zurück. Er fliegt inzwischen noch tiefer, wie sie erstaunt und ehrfürchtig feststellt. Pia ist davon so vollständig gefesselt, dass sie nichts von dem bemerkt, was ringsherum geschieht.
Joachim Walter sitzt entspannt in seinem Ohrensessel und ist dabei, den Tag in feierabendlicher Ruhe ausklingen zu lassen.
Am späten Vormittag hatte er das freundliche Herbstwetter zu einer sportlichen Radtour genutzt. Mit Rücksicht auf den starken Westwind fuhr er zunächst waldgeschützt in Richtung Peenemünde, wandte sich am Deich des Peenestroms nach Süden, um dann von Wolgast aus mit dem Wind im Rücken nach einer Viertelstunde das Ostseebad Zinnowitz zu erreichen. Über Trassenheide ließ er schließlich die Tour durch den Wald gemächlich enden und hatte sich bei einem ausgiebigen Bad wieder regeneriert.
Dann setzte er sich in seinen Lieblingsplatz, um die Gemütlichkeit seines Heims zu genießen.
Die Möblierung des Raums ist spärlich: zwei Sessel, ein zweisitziges weich gepolstertes Sofa und zwei kleine Tischchen auf Rollen, genau richtig, um darauf Whiskyglas, Obstteller oder ein Buch abzulegen. Die Wände sind mit hellen beigefarbenen Strukturtapeten versehen, deren Relief sich im Schatten der Stehlampe leicht abzeichnet.
In dieser beruhigenden Atmosphäre versuchte Joachim, alle unangenehmen Ereignisse der letzten Zeit zumindest zeitweilig aus seinen Gedanken zu schütteln, probierte es mit der gewohnten Zeitschriftenlektüre. Aber wie so oft fielen ihm dabei die Augen zu.
Als seine Frau Erika betont laut das Zimmer betrat, schreckte Joachim hoch. Sie war in ein legeres Kostüm aus zwei verschiedenen, zueinander passenden Blautönen gekleidet, wie Joachim nebenbei registrierte. Gewohnheitsmäßig erwartete er von ihr keine wirkliche Unterstützung.
Das hatte Erika auch gar nicht vor.
„Oh, habe ich dich geweckt?“, fragte sie mit kaum verhohlener Ironie. „Jaja, ältere Herren brauchen ihre Ruhe. Entschuldige bitte, ich vergaß es.“ Joachim lächelte in sich hinein, ehe er erwiderte: „Vor allem, wenn sie mit so vitalen und merklich jüngeren Frauen zusammenleben.“ Erfreut registrierte er seine gewohnte Angriffslust und betrachtete die Kleidung seiner Frau mit gespieltem Interesse.
Erika Walter ist gerade zwei Monate jünger als Joachim, mehr als einen Kopf kleiner und trotz aller Bemühungen immer noch schwerer. Das Kostüm soll nach außen hin diese Tatsachen zumindest abschwächen.
Beide haben sich an die gegenseitigen Nadelstiche gewöhnt, es gehört mittlerweile zum Ritual ihres Zusammenlebens. Sie wahren nach außen den Schein der Ironie, meinen es jedoch im Inneren wohl viel ernster, als sie es sich selbst eingestehen wollen.
Erika freut sich auf ihre Rolle als First Lady der Insel Usedom. Damit verbindet sie aber keine erneute innere Annäherung an ihren Ehemann. Im Gegenteil, sie würde diese Situation ausnutzen, um ihre Freiheiten auszuweiten.
Jovial verabschiedete sie sich gleich wieder: „Bye, großer Chef“, wie sie ihn seit der gewonnenen Wahl nennt, „ich bin dann mal weg, kann spät werden, wie du weißt.“
Joachim dachte gar nicht erst darüber nach, ob sie ihm vielleicht schon früher ihr Ziel für diesen Abend mitgeteilt hatte.
Von seinem Lieblingsplatz aus betrachtete er sein Spiegelbild in den großen Glasscheiben des Wintergartens. Die dahinter liegenden Peenewiesen am Rande von Karlshagen sind in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen.
Am Tag zuvor ist er als erster Bürgermeister der neu geschaffenen Gemeinde Insel Usedom in sein Amt eingeführt worden. Ausgerechnet er, ein Zugereister. Stolz erfüllt ihn.
Es ist kein Gefühl der Überraschung, denn schon lange sieht er sich für eine verantwortungsvolle Aufgabe wie geschaffen. Seit vielen Jahren schon hatte er Gelegenheit, seine Fähigkeiten mit denen anderer in seinem Umfeld zu vergleichen. Zunächst zaghaft in seinem Inneren wachsend, drang sein Selbstbewusstsein immer forscher auch nach außen. Ohne Scheu nutzte er verschiedene Gelegenheiten, sein Licht nicht erst in den Schatten eines Scheffels geraten zu lassen. Dafür in den Sichtkreis verantwortlicher Politiker. Das brachte wenig Freunde, dafür umso mehr Neider hervor. Nicht einmal der Ruf eines überheblichen Gernegroß konnte an seinem Ego kratzen.
Nun sieht er sich am verdienten und zumindest vorläufigen Ende einer langen Beamtenkarriere. Der Posten ist ihm wie auf den Leib geschneidert. Genügend intellektueller Abstand zu den Abgeordneten, die eigentlich seine Funktion kontrollieren sollen, und vor allem zu den Leitern der ihm unterstellten Ämter, deren Eignung dafür in den meisten Fällen offenbar die genügend feste Verankerung vor Ort ist.
Bürgermeister!
Erster unter vielen ihm Ungleichen, ein deutsches Amt mit jahrhundertelanger Tradition, Bestandteil von Chroniken und Verewigung durch ein Porträt an der Rathauswand, gefragter Autor von Grußworten, die er meist nicht einmal selbst formulieren muss.
Mit diesen Gedanken lenkt er die noch ganz frische Erinnerung an seine Amtseinführung am Tag zuvor wieder in angenehme Bahnen. Denn das ist bitter nötig.
Als Ort der Festlichkeit hatte der frisch gewählte Amtsträger das große Hotel Baltischer Hof in Zinnowitz gewählt. ARGUS-TV aus Wolgast zeichnete die gesamte Veranstaltung auf. Zum Abschluss der Zeremonie füllten seine würdevollen Worte den Raum, wurden von den modern gefärbten Wänden in jeden Winkel geworfen, so dass sich keiner der Anwesenden ihnen entziehen konnte.
„Ich versichere Ihnen, dass ich meine ganze Kraft in den Dienst der neuen Gemeinde Insel Usedom stellen werde.“
Mitten hinein in den einer Sinfonie ähnelnden Nachklang ertönte plötzlich eine Dissonanz mit schmerzhafter Frequenz.
„Herr Bürgermeister, wie stehen Sie zu den neuen Plänen, den Deich am Peenestrom abzureißen?“ Im Saal erstarben sämtliche Geräusche. Die knisternde Spannung des Augenblicks entlud sich wie durch einen Funkenschlag zu einem Nichts. Walters Gemütszustand sank wie ein Stein, die Gesichtszüge entgleisten und blieben in dieser Position für Sekundenbruchteile eingefroren. Seine Verhaltensreflexe als Beamter waren schnell wieder aktiv und zauberten ein Lächeln in seinen Blick, das aber um die Augen einen großen Bogen machte. Fieberhaft suchte er nach der passenden Reaktion.
Der Moderator der Feier kam ihm zuvor, erhob sich würdevoll und sandte einen energischen Blick zu dem Zwischenrufer.
„Herr… ich kenne leider Ihren Namen nicht, haben Sie bitte Verständnis dafür, dass heute keine Fragestunde vorgesehen ist.“
Hier griff Joachim Walter aber schon ein. „Herr Henkelmann, ich kann Sie beruhigen, bitte kommen Sie im Anschluss zu mir.“
Walter kennt den ehemaligen Offizier als Vorsitzenden des Heimatvereins Peenemünde.
Der Moderator löste die Situation auf, indem er die Anwesenden zum Büffet in den Nebenraum bat. Auf dem Wege dorthin trat ein elegant gekleideter etwa sechzigjähriger Mann zu Walter und sprach ihn direkt an. „Einen Moment bitte, Herr Walter.“ Er überreichte ihm seine Visitenkarte und blickte ihm in die Augen. Walter murmelte leise den Namen vor sich hin. „Erich Bernecker, Referent der Staatskanzlei…“, um dann mit fester Stimme zu fragen: „Was kann ich für Sie tun?“ Bei den letzten Worten blickte er sein Gegenüber neugierig an.
Bernecker ignorierte die Frage. „Ich habe mit Ihnen gleich nach dieser Veranstaltung noch zu reden.“ Damit wandte sich Bernecker wieder ab, gerade rechtzeitig, um den Zwischenrufer Reinhard Henkelmann, der an Walter herantrat, nicht mithören zu lassen.
„Bitte entschuldigen Sie meine etwas forsche Art, aber was können Sie mir denn auf meine Frage antworten?“
Walter hatte sich wieder völlig unter Kontrolle, schaute Henkelmann mit entschlossener Miene an.
„Sie können gänzlich unbesorgt sein, ich kenne keine solchen Pläne. Mich würde aber interessieren, woher diese Gerüchte kommen. Gerade in meiner neuen Funktion habe ich ein großes Interesse daran, jegliche Unruhe zu vermeiden. Und ich hege übrigens große Wertschätzung für die Arbeit Ihres Vereins“, fügte er hinzu, ohne zu merken, dass es eine Floskel für solche Gelegenheiten war.
„Sie werden in jedem Fall noch von mir hören.“ Nach einigen erstaunten Augenblicken drehte sich Henkelmann mit diesen knappen Worten um und ließ den Bürgermeister einfach stehen.
Joachim Walter kennt die früheren Pläne zum Deichrückbau. Nachdem jedoch eine rasch gebildete Bürgerinitiative unter Vorsitz eben dieses Reinhard Henkelmann einen Sturm der Entrüstung dagegen entfaltete, wurde das Projekt in der Landeshauptstadt Schwerin sofort gestoppt.
Was dann aber dieser Herr Bernecker zum Ende der Veranstaltung von ihm forderte, wird ihn in den kommenden Tagen noch sehr beschäftigen, dessen war sich Joachim Walter sicher. Offenbar wollen seine politischen Gönner in der Landeshauptstadt nun ihre Ernte einbringen.
Plötzlich wird seine Aufmerksamkeit durch Bild und Worte auf den nebenbei laufenden Fernseher gelenkt. Er glaubt, seinen Augen nicht zu trauen und verfolgt aufmerksam das Geschehen. Sofort beendet seine Stimmung den beginnenden Aufwärtsgang. Die sparsamen optischen Eindrücke erfassen seine Gedanken, pressen sie zusammen und versetzen sie nach der Öffnung in sehr lange nicht gekannten Aufruhr.
Das erste Bild zeigt verschwommen und undeutlich eine Wasserleiche, bei beginnender Dunkelheit aufgenommen. Zunächst erwacht Joachims Verantwortungsgefühl als neuer Amtsträger.
Weiß die Polizei schon davon?
Das setzt er wie selbstverständlich voraus, obwohl der Kommentator davon nichts erwähnt.
Die darauf folgende Einstellung zieht ihm dann ganz langsam den Boden unter den Füßen weg. Die Umrisse der weiblichen Leiche werden etwas genauer gezeigt, das Gesicht aber bewusst ausgespart. Schemenhaft kann man in der dunklen Umgebung eine Schulter der Leiche erkennen. Das nächste Bild zeigt in aller Deutlichkeit ein Tattoo auf dieser Schulter.
Bei Joachim baut sich zwischen dem Bild und eigenen Erinnerungen eine Verbindung auf, die wie ein Stromstoß wirkt. Seine Gedanken geraten schlagartig ins Chaos. Nach dem Ende der Sequenz zum Leichenfund, die der Moderator mit spektakulären Vermutungen untermalt, schaltet Joachim Walter den Apparat aus.
Er schließt für einen Moment die Augen. Die soeben gesehenen Bilder kanalisieren sich wie in einem Trichter, der ungestüme Ausfluss bringt ihn schon nach weniger als einer Minute sprunghaft auf die Beine. Die Muße für Entspannung ist in den unkontrollierbaren Weiten des Abendhimmels jenseits der großen Fenster verschwunden.
Zu allem Überfluss meldet sich genau in diesem Moment sein Handy. Die Mobilfunknummer ist ihm nicht bekannt.
Ehe er darüber nachdenken kann, wer der Anrufer sein könnte, hat er das Gespräch bereits angenommen.
„Herr Walter, zur Sicherheit noch einmal. Falls sie es nicht bemerkt haben, in der Brusttasche Ihres Jacketts befindet sich ein kleiner Datenträger. Bewahren Sie ihn gut auf und warten Sie auf weitere Anweisungen.“
Der Anrufer beendet das Gespräch, ehe Joachim Walter antworten kann. Zumindest hat er die Stimme erkannt.
Warum ruft dieser Mensch gerade jetzt an? Ist das wirklich Zufall? Oder haben etwa die gerade laufenden Fernsehbilder von ARGUS-TV mit der gestrigen Veranstaltung zu tun?
Wie von einem Reflex getrieben begibt sich der Bürgermeister zum Fenster und sucht auf seinem Grundstück nach unerwünschten Besuchern.
Niemand ist zu sehen.
Eine innere Entscheidung bahnt sich ihren Weg. Hastig und voller Unruhe zieht er sich an und verlässt sein Haus. Er steigt in seinen Dienst-BMW und fährt los.
Laut polternde Geräusche drängen sich in die wohlige Wirkung der zärtlichen Männerhände auf ihrem Körper. Die gerade begonnenen Lustschreie verwandeln sich plötzlich in metallischen Lärm. Als sie gegen die unangemessene und lautstarke Behandlung protestieren will, ist ihr Mund wie zugeschnürt. Dann erst erwacht Erika Walter, blickt sich um und begreift, dass ihr Traum zuende geht. Und dass es Donnerstag ist.
Denn sie wird vom Müllauto aus dem Schlaf gerissen. Pünktlich gegen sieben Uhr ersetzt das Fahrzeug jeden Wecker in der schmalen Straße, in der solche Geräusche auch um die Ecke durch das hintere Fenster dringen.
Wie als Fortsetzung der angenehmen Traumsequenzen lässt sie beide Hände über ihren Schlafanzug gleiten. Schwitzige Feuchte beendet den Versuch und sie kommt endgültig in der Wirklichkeit des Morgens an.
Der Abend in ihrer monatlichen Frauenrunde hatte für Erika erst weit nach Mitternacht sein Ende gefunden, die Stimmung war wie immer prächtig. Eine Mischung aus älteren und jüngeren, in Partnerschaft und alleine lebenden Frauen, einheimischen und zugereisten, sorgte für die nötige Atmosphäre, jede konnte ihre Erfahrungen aus dem - oder ohne das - Zusammenleben mit Männern beitragen.
Nach einigen weiteren Minuten des Zögerns ergibt sich Erika in das Unausweichliche und wälzt sich aus dem Bett. Schemenhaft drängt sich die ockerfarbene Wand ihres Schlafzimmers in den Blick. Bei gutem Willen begründet sie die Tatsache getrennter Schlafzimmer gerne als Zeichen von Individualität, eine andere Sicht würde das als Spiegelbild ihrer Ehe bezeichnen. Joachim und sie haben sich damit arrangiert, von wem der Vorschlag kam, weiß jetzt keiner von beiden mehr.
Mit genau der Laune versehen, die jemand hat, der zu früh und nicht freiwillig einen viel zu kurzen Schlaf beenden muss, bewältigt sie mit noch unsicheren Schritten die Treppe nach unten in die Küche.
Das nächste Mal lasse ich das letzte Glas Rotwein weg, erinnert sie sich an den abgedroschenen Spruch.
In Erwartung eines frischen Morgenkaffees öffnet Erika die Tür zur Küche - und wird enttäuscht. Die Kaffeemaschine ist leer, ganz entgegen der Gewohnheit von Joachim, etwas mehr Kaffee aufzusetzen, als er trinken will. Diese kleine Gefälligkeit wuchs mit den Jahren in seinem Verständnis zu einer selbstlosen Tat gegenüber seiner Ehefrau heran, kurz bevor er meist gegen 6.30 Uhr das Haus in Richtung seines Büros verlässt und sich dabei bemüht, keinen unnötigen Lärm zu machen.
Erika will schon ihre Enttäuschung mit der zu ihrer Laune passenden akustischen Stärke entfalten, besinnt sich aber und steigt die Treppe wieder hinauf.
Vielleicht hat der ältere Herr ja einfach verschlafen.
Die gute Stimmung vom Vorabend gewinnt wieder an Boden. Sie will ihren Ehemann ausnahmsweise einmal sanft aus dem ganz bestimmt zu langen Schlaf holen und den kleinen Triumph auskosten. Leise öffnet sie Joachims Schlafzimmertür und - sieht ein unberührtes Bett!
Die Möglichkeit, dass Joachim nach dem Aufstehen selbst das Bett gerichtet hätte, schließt sie aus, das war ihm noch nie passiert.
Eigentlich müsste ich jetzt beunruhigt sein, denkt Erika Walter.
Doch solche Emotionen haben sich schon lange aus ihrem Zusammenleben verabschiedet. Ihr erster Gedanke ist die Frage, bei welcher Frau er wohl die Nacht verbracht hat. Nach einem nirgends ausgesprochenen Agreement, das Attribut gentleman´s findet sie dabei unpassend, fragt sie nicht nach, wenn so etwas passieren sollte. Allerdings hatte sich Joachim bis jetzt immer die Mühe gemacht, eine Begründung für ein Fortbleiben über Nacht zu finden, die wohl in den meisten Fällen sogar gestimmt hat.
Wird wohl übermütig, der Bürgermeister.
Dennoch kann Erika Walter die Überlegungen zum Grund der Abwesenheit ihres Ehemannes nicht einfach abschalten. Schon aus Prinzip.
Vielleicht wurde er gestern unerwartet in Anspruch genommen und musste auswärts übernachten? Je mehr sie darüber nachdenkt, desto weniger glaubt sie an diese Möglichkeit, denn bei ihrem Aufbruch am gestrigen Abend gab es dazu keinerlei Anzeichen.
Warum ruft sie ihn nicht einfach auf seinem Handy an?
Diesen Gedanken verwirft sie sofort. Das würde ja so wirken, als würde sie ihn vermissen. Nein, diesen Triumph gönnt sie ihm nicht.
Mitten in ihre ungeordneten Gedanken mogelt sich ein Geräusch mit regelmäßig wiederkehrenden Tönen. Erika stutzt und orientiert sich. Dann weiß sie, es ist das Telefon auf der Kommode im Flur des Hauses.
Na also, hat der Herr also ein schlechtes Gewissen!
Das Display zeigt eine nicht gespeicherte Mobilfunknummer. Erika drückt zögernd den Button für die Gesprächsannahme und meldet sich mit fragendem Tonfall.
„Walter?“
Kriminalhauptkommissar Arne Bock fährt mit Schwung auf den Parkplatz, steigt aus und schlägt fast übermütig die Autotür zu. Begleitet von einem besitzergreifenden Blick auf das Gebäude betritt er so gelöst wie lange nicht den modernen, quaderförmigen Bau der neuen Polizeidienststelle an einer belebten Kreuzung in Wolgast, dem Tor zur Insel Usedom. Nach dieser Nacht mit ihren verschiedenen Facetten fühlt er sich von elementarem Tatendrang getrieben.
Endlich eine Herausforderung!
Sein Büro betritt er nur, um die kleine Schultertasche auf einem Stuhl zu deponieren und eilt dann sofort ins Zimmer des Dienststellenleiters zum morgendlichen Rapport. Polizeidirektor Hartmut Westphal hat aus dem Bericht der Nacht bereits Kenntnis von dem Leichenfund am Peenestrom und den ersten Untersuchungsergebnissen.
Wie erwartet erhält Bock wenige Minuten später auch offiziell die Verantwortung für den Vorgang „Wasserleiche Peenestrom“. Es ist nicht sein erster Fall als leitender Ermittler, aber der bisher wichtigste. Unsicherheit lässt der schlanke dunkelhaarige Mann mit dem klitzekleinen Bauchansatz gegenüber Polizeidirektor Westphal nicht aufkommen.
Westphal hat die nötige Größenanpassung seiner Uniform wohl mit Mühe solange hinauszögern können, bis die grüne von der blauen Dienstkleidung abgelöst wurde, wie Arne Bock mit innerem Schmunzeln feststellt.
Erst seit einem guten Jahr ist der Dreiunddreißigjährige hier in der nordostdeutschen Provinz.
Es ist gleichzeitig eine Rückkehr in die Vergangenheit.
Arne wurde nach dem Tod seiner Eltern von seinen Großeltern Ursula und Reinhard Henkelmann aufgenommen, wechselte zwangsläufig von seiner Schule in Berlin nach Karlshagen, einem Ort, der von gleich zwei Militärdienststellen dominiert wurde. Sowohl die Angehörigen der Volksmarineflottille als auch die des Jagdfliegergeschwaders wohnten größtenteils in diesem Badeort. Arne ist jedenfalls fasziniert von der Uniform seines Großvaters, eines Volksmarineoffiziers, und von den Möglichkeiten der Ostseeküste für sich und seine gleichaltrigen neuen Freunde.
Bis dann im Teenageralter die Ernüchterung eintrat und außerdem sein Heimatland von der Bildfläche verschwand. Zumindest sah es sein Großvater so. Dessen Blick auf die Welt wurde von Arne zunehmend kritischer gesehen, ohne dass er selbst zunächst eine Alternative erkennen konnte.
„Ich setze großes Vertrauen in Sie, Bock“, macht ihm Westphal Mut. „In der Vermisstensache Bornhöft kommen wir ja im Moment nicht weiter, sie steckt immer noch in der Sackgasse, ohne verwertbare Hinweise. Also volle Kraft auf diesen Fall. Zunächst haben Sie die Kollegin Mesing und den Kollegen Reuschel als Unterstützung, sie sind bereits informiert. Heute Abend erwarte ich Ihren ersten Bericht.“ Als Arne schon erfreut glaubt, Westphal wäre am Ende seiner Rede, setzt dieser nach einer kleinen Pause mit nachdenklichem Gesicht fort.
„Sind sie regelmäßiger Konsument von ARGUS-TV?“
Als Arne verneint und bekennt, von diesem kleinen Regionalsender nur gehört zu haben, legt ihm Westphal einige Fotos auf den Tisch. Sofort erkennt Arne darauf die Wasserleiche, die erst am Abend zuvor entdeckt wurde.
Fragend blickt er seinen Vorgesetzten an. „Ermitteln wir jetzt zweigleisig?“
Westphals Antwort ist von einem hintergründigen Lächeln untermalt.
„Diese Fotos zeigte ARGUS-TV bereits gestern Abend, zusammen mit Spekulationen über den Fundort. Das muss zu einer Zeit gewesen sein, als wir noch gar nichts von der Leiche wussten. Ihre Unkenntnis zeigt mir aber, dass die Reichweite dieses Senders wohl doch nicht so groß ist wie er selbst immer behauptet. Aber egal. So geht das natürlich nicht. Nehmen Sie sich diese Leute unbedingt vor. Vielleicht steckt sogar mehr dahinter als Sensationsgier.“
Arne Bock hebt die Augenbrauen, nimmt die Fotos an sich und sortiert innerlich bereits die Reihenfolge seines Vorgehens.
„Und noch was, Bock. Zwei solche Fälle so kurz hintereinander sind nicht gerade Alltag hier. Ich gehe davon aus, dass wir, ich meine damit wir alle, ohne die großen Brüder vom LKA klar kommen. Sie wissen ja wie die sind. Oder glauben zu sein.“
Mit einem kumpelhaft gemeinten Lächeln schickt Westphal seinen Ermittler auf den Weg.
Das spurlose Verschwinden des früheren hohen Offiziers aus Peenemünde hat einige Tage lang Wellen geschlagen, seitdem verlieren sich die Reaktionen in Mutmaßungen und Gerüchten ohne Substanz. Arne vermutet jedoch etwas Großes hinter dieser Vermisstensache, ja er wünscht es sich sogar, natürlich nur aus beruflichem Ehrgeiz. Vielleicht gibt es sogar eine Verbindung zwischen beiden Fällen?
Das wäre doch der richtige Anspruch an einen aufstrebenden Kommissar, für den sich Arne ohne den geringsten Zweifel hält.
Zurück in seinem Büro lässt er die Ereignisse des gestrigen Abends nochmals Revue passieren. Die Aktion des Senders rückt zunächst etwas nach hinten, aber mit deutlichem Erregungspotenzial.
Der Kommissar hat den unerwarteten Einsatz am Vorabend zwar nicht mit Freude aufgenommen, aber professionell reagiert. Er fühlt sich herausgefordert, denn Leichenfunde sind in dieser Gegend fernab von den Metropolen nicht gerade alltäglich.
Gegen 20 Uhr wurde von einem anonymen Anrufer der Leichenfund mit genauer Ortsangabe gemeldet. Der Anrufer war männlich, er benutzte eine der beiden noch vorhandenen Telefonzellen in Karlshagen. Die Stimme klingt verstellt, wie die Aufnahme des Gesprächs zeigt. Aber eine aufwändige Analyse hat nur dann Sinn, wenn es eine Vergleichsprobe gibt.
Arne Bock kann einen neidvollen gedanklichen Seitensprung zu den fast flächendeckenden Überwachungskameras in amerikanischen Krimiserien nicht vermeiden, verschiebt ihn dann aber schnell in seinen externen Speicher.
Bock begab sich nach dem Anruf zusammen mit dem Bereitschaftsteam unverzüglich an die Fundstelle, den Nordstrand bei Peenemünde. Der Finder sprach von einer weiblichen Leiche, also kam der vermisste Dieter Bornhöft nicht in Frage. Arne Bock weiß immer noch nicht, ob ihn das beruhigte oder enttäuschte.
Alles an dem Anruf sprach für Glaubwürdigkeit, so dass die Spurensicherung sofort mitkam, um eventuellen Zeitverlust zu vermeiden. Die ersten Untersuchungen sollten am heutigen Morgen bei Tageslicht fortgesetzt werden.
Die Leiche, deren Umfeld vom transportablen Scheinwerfer sorgfältig ausgeleuchtet wurde, wies einige Besonderheiten auf.
Arne sah zunächst einen unbekleideten weiblichen Körper unter einem Busch im flachen Wasser liegen. Beim näheren Hinsehen konnte er kein Gesicht erkennen. Große Teile des Schädelknochens lagen frei und spiegelten gespenstisch das helle Mondlicht wider. Die ursprünglich wohl blonden, mittellangen Kopfhaare erschienen durch ihre Nässe dunkel. Der schlanke Körper ließ vermuten, dass die Frau eher zu den jüngeren ihrer Art gehörte.
Zwei Auffälligkeiten registrierte er: der rechte Arm der Leiche war mit einem dünnen Plastikseil am Busch befestigt. Und auf beiden Oberarmen war ein Tattoo zu erkennen. Nach den wichtigsten Umfelduntersuchungen wurde die Leiche ohne Verzögerung in die Rechtsmedizin der Greifswalder Universität transportiert.
Mit einem innerlichen Lächeln verabschiedet sich der Kommissar von den Erinnerungen des Vorabends und platziert sich selbst wieder in der Gegenwart.
Als er bei einem Blick aus dem Fenster die Spurensicherer vom Fundort eintreffen sieht, geht er ihnen entgegen. Deren Leiter Erwin Meister ist nicht erstaunt darüber, mit welcher Ungeduld er von Arne Bock schon auf dem Korridor empfangen und zu den Ergebnissen ausgefragt wird. Ein solch drängendes Verhalten ist er gewohnt, hat seine übliche souveräne Reaktion darauf eingestellt.
„Willst du einen neuen Rekord bei der Ermittlungszeit aufstellen, lieber Arne?“
Arne Bock mag den in sich ruhenden Meister Erwin, so sein liebevoller Spitzname, der oft mit klugen Hinweisen die Ermittlungen befördert. Und fühlt sich von dem Spurensucher ebenfalls ernst genommen, trotz des Unterschieds an Alter und Erfahrung.
Wir wissen, was wir aneinander haben.
„Ach nein, du warst bestimmt vor wenigen Sekunden noch beim Chef“, fügt Meister mit wissender Miene etwas leiser hinzu.
„Ich will dir nur den Weg in mein abgelegenes Eckbüro ersparen und dir jetzt gleich die Chance für einen entspannenden Morgenkaffee geben.“
Beide lächeln wortlos, geben damit ihrem gegenseitigen Respekt Ausdruck. Arne nimmt die Unterlagen entgegen und vertieft sich in seinem Büro in die mageren Ergebnisse. Danach bittet er Rita Mesing und Siegfried Reuschel zu sich.
Schon nach der kurzen Dienstzeit in Wolgast fühlt er sich seinen älteren Kollegen überlegen. Doch bislang ist er noch auf die längere Berufserfahrung und vor allem die gute Milieukenntnis seiner Mitstreiter angewiesen.
Er schaut sich in dem nüchtern und zweckmäßig eingerichteten Büro um. Durch die Lage an der Ecke des Gebäudes hat er gute Aussicht in zwei Richtungen, die im Winkel angeordneten Fenster geben dem Raum ein helles Erscheinungsbild. Ein Foto seiner Familie steht an der linken Schreibtischecke. Kein Stück Papier, das nicht gerade benutzt wird, verhindert den Blick auf die Schreibtischunterlage.
Als Rita Mesing und Siegfried Reuschel zusammen sein Büro betreten, nehmen sie ohne Aufforderung am Beratungstisch Platz, auch Bock setzt sich hinzu. Mit einem kurzen prüfenden Blick in die Gesichter der beiden Kollegen will Arne sofort die Rangordnung klar machen und beginnt mit einer betont förmlichen Einleitung. „Also liebe Kollegen, wir werden gemeinsam diesen Fall zu lösen haben, im bewährten Teamgeist. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.“
„Ich denke, wir freuen uns auch darauf, nicht wahr, Siegfried?“ Siegfried Reuschel nickt nur abwesend. Rita Mesings Bemerkung ist sehr sachlich gehalten, so dass Arne auch bei größter Mühe keine Ironie heraushören kann. Trotzdem bleibt er misstrauisch. Mit Recht, wie er sogleich vernimmt.
„Du wirst uns sicher gleich über die ersten Untersuchungsergebnisse informieren, oder?“
Arne lächelt den Sarkasmus von Siegfried Reuschel weg, der offenbar Probleme damit hat, ihn als Autorität zu respektieren.
„Treffer. Aber woher weißt du das?“
Nach dem kleinen Auftaktscharmützel beginnt Arne seine Zusammenfassung.
Auch die sorgfältige Untersuchung am Peenestrom durch die Spurensicherung bei Tagesanbruch hat keinerlei Ergebnisse gebracht, die Schlussfolgerungen in irgendeine Richtung zulassen. Von den vielen Reifenspuren sind keine isoliert oder als jüngeren Datums identifiziert worden. Der Sand war zu locker, um Spuren zu bewahren. Eventuelle Handlungsabläufe können deshalb nicht rekonstruiert werden. Das Umfeld des Fundorts wurde nach Blutspuren untersucht, allerdings ohne Erfolg. Sie wären aber auch sehr leicht nachträglich zu beseitigen gewesen. Den Obduktionsbefund aus Greifswald erwartet Arne Bock nicht vor dem Abend.
Als er gerade über die Sendung von ARGUS-TV sprechen will, betritt ein Beamter nach kurzem Klopfen das Büro und übergibt Arne eine Mappe.
„Hier. Von der Uni Greifswald.“
„Jetzt schon?“, staunt Bock mit Blick auf seine Armbanduhr und bedankt sich. Ein solches Tempo sind die Polizisten von der Greifswalder Rechtsmedizin nicht gewohnt. Sie können nicht wissen, dass gerade in diesen Tagen der Bereitschaftsdienst mit ständiger Anwesenheit im Labor getestet wird. Mangels anderer Arbeit bekam die diensthabende Ärztin die Leiche noch vor Mitternacht auf den Tisch, und hatte zusammen mit sogar zwei Assistenten die gesamte Nacht nur für dieses eine Untersuchungsobjekt zur Verfügung. Arne Bock nimmt die Blätter an sich und überfliegt sie. Er zieht das Studium bewusst in die Länge und lässt seine beiden Kollegen dabei wortlos zusehen, spürt ihre Neugier ebenso wie ihren Unmut darüber. Dann blickt er beide mit unschuldiger Miene an, als ob alles selbstverständlich wäre und fasst das Obduktionsergebnis zusammen.
„Das Alter der Frau wird auf dreißig bis vierzig Jahre geschätzt. Todesursache ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Genickbruch durch die Einwirkung stumpfer Gewalt auf die Halswirbelsäule. Durch das Fehlen von Blutspuren konnte diese Tatsache bei bloßer Anschauung nicht erkannt werden.“
Siegfried Reuschel hakt hier ein.
„Gibt es genauere Hinweise, auf welche Weise die tödliche Verletzung entstanden sein kann?“
Arne sucht in den Papieren nach einem Ansatz, die Frage zu beantworten.
„Nein, dazu gibt es keine Aussage.“ Er fährt fort.
„In der Lunge war kein Wasser. Die Frau muss also in die Peene gelegt worden sein und war zu diesem Zeitpunkt schon tot. Das am Gesichtsknochen fehlende Gewebe wurde eindeutig post mortem entfernt. Ursache wahrscheinlich Tierfraß, da an den sehr unregelmäßigen Wundrändern keine Spuren menschlicher Werkzeuge oder Instrumente feststellbar sind.“
„Tierfraß?“ Rita erstaunt diese Aussage. „Würde ein Tier nicht zunächst … andere Stellen bevorzugen?“ Sie zögert, sucht nach einer möglichst wenig makabren Formulierung. „Ergiebigere?“
„Ich kann mich nicht so gut in einen Aasfresser hineinversetzen“, gibt Arne zurück, während er seine Mundwinkel leicht nach außen zieht.
„Weisen denn die Bissspuren auf ein bestimmtes Tier hin?“ Auch Siegfried beteiligt sich an der Rätselei.
„Nein.“
In diesem Moment fällt Arne der Seeadler ein, den er bei seinen Besuchen auf der Insel regelmäßig beobachten kann. Er will jedoch die Spekulationen nicht weiter auffächern. „Die Spurensicherung hat übrigens keine Hinweise darauf ergeben, ob der Tatort in der Umgebung oder ganz woanders zu vermuten ist. Wir haben also viele Lücken zu füllen“, stellte Arne fest.
„Den Zeitpunkt des Todes datiert die Pathologin auf den 30. Oktober zwischen 12 und 24 Uhr. Es ließ sich nicht mit ausreichender Genauigkeit feststellen, wie lange die Frau schon tot war, ehe sie ins Wasser gelegt wurde. Daher die lange Frist.“ Arne unterbricht kurz, registriert die Anspannung seiner Mitstreiter und setzt fort.
„Und“, Arne hebt die Augen und sieht mit der Gewissheit in die Runde, jetzt mehr Aufmerksamkeit zu erregen, „die Frau hatte nicht lange vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr. Spermaspuren wurden sichergestellt, eine DNA-Analyse des Sekrets, und natürlich der Frau selbst, sind bereits in Arbeit.“
Dem Bericht liegen die Abbildungen von zwei Tattoos bei, die auf den Oberarmen der Toten noch recht gut zu erkennen sind. Arne schließt den Bericht mit dem Hinweis, dass weder im Bundesland noch bundesweit eine Vermisstenmeldung vorliegt, auf die das Äußere der Leiche passen würde. Das hat eine entsprechende Anfrage bereits unmittelbar nach dem Leichenfund ergeben.
Mit entschlossener Miene und lauter Stimme setzt Arne Bock zu einem kurzen Resümee an.
„Fassen wir zusammen. Weibliche unbekannte Leiche, dreißig bis vierzig Jahre alt, Todesursache Genickbruch durch stumpfe Gewalt, der Handlungsablauf kann nicht sicher rekonstruiert werden. Die Begleitumstände sprechen dafür, dass die Tat zumindest nicht am Fundort verübt wurde. Verwertbare Spuren außer dem handelsüblichen Plastikseil, eine Wäscheleine, wurden nicht gefunden.“
„Wenn es überhaupt eine Straftat war“, meldet Siegfried Reuschel Bedenken an.
Fragend blicken die anderen beiden zu ihm. Siegfried erkennt, dass er die ohne große Überlegung hervorgebrachte Äußerung begründen muss.
„Und wenn jemand einfach die Leiche gefunden und dort festgebunden hat, damit sie nicht wegtreibt?“
Arne Bock ist für einen Moment unsicher, wie er dieser völlig absurden Vermutung des älteren Kollegen begegnen soll. Ein kurzer Blick zu Rita Mesing zeigt ihm, dass auch sie die Bemerkung mit großer Skepsis aufnimmt.
„Du liest zu viel Fachliteratur, Siegfried“, entschließt Arne sich für unverbindliche Ironie, um einen offenen Streit aus dem Weg zu gehen. Reuschel jedoch bleibt bei seinem Zweifel. „Solange wir keinen eindeutigen Beweis für eine aktive Tötungshandlung haben, müssen alle Möglichkeiten offen bleiben. Die Frau kann ja schließlich auch gestürzt sein.“
Nach kurzer Pause kommentiert Rita betont sachlich mit ausdruckslosem Gesicht: „Und der ehrliche Finder hat sie dort platziert und wollte ein Wegtreiben verhindern?“ Arne verkneift sich jeden Kommentar.
Siegfried Reuschel pflegt den Ruf eines Querulanten, der selbst nahe liegende Tatsachen immer wieder in Frage stellt. Seine Kollegen bekamen den Eindruck, er mache das aus Prinzip, um Aufmerksamkeit zu erregen. Manche schieben es darauf, dass er mit allen Karriereambitionen mehr oder weniger freiwillig abschließen musste und sich in den zehn verbleibenden Jahren bis zu seiner Pensionierung etwas Narrenfreiheit leisten will. Als Ausgleich für verpasste Chancen, denn 1989 stand er auf dem Sprung zu höheren Aufgaben bei der Bezirksbehörde der Volkspolizei. Andererseits ist er bemüht, den Bogen nicht zu überspannen und seinen Status nicht aufs Spiel zu setzen. Und damit das erst vor wenigen Jahren bezogene Eigenheim an der Wolgaster Spitzenhörnbucht, mit einem unvergleichlichen Blick auf Peenestrom und Klappbrücke.
Arnes Strategie ist es, die positive Seite dieser Pedanterie zu nutzen, den Genauigkeitswahn. Wenn möglich vermeidet er unnötige Konfrontation, hat schon mehrfach durch Ignorieren so manche destruktive Äußerung von Siegfried Reuschel ins Leere laufen lassen. Eine persönliche Beziehung konnte er zu Siegfried bisher nicht herstellen, zu oft musste er die kleinen Nadelstiche gegen seine Autorität abwehren.
„Gut, wir kommen hier nicht weiter und müssen warten, bis die Identität der Leiche festgestellt wird. Und das kann ohne Vermisstenmeldung und Registrierung der DNA mühsam werden. Bevor ich zu einer besonders perfiden Sache komme“, setzt er nach einer kleinen Kunstpause voller Energie hinzu, „möchte ich, dass wir auf keinen Fall das Verschwinden von Dieter Bornhöft aus dem Blick verlieren. Es gibt zwar keine vordergründigen Hinweise auf einen Zusammenhang, aber auch nichts, was diesen völlig ausschließen kann.“
Die skeptischen Blicke der beiden Kollegen sprechen Bände, was Arne nicht beeindruckt.
Ich werde es euch zeigen.
Rita Mesing wertet für sich das forsche Agieren ihres jugendlichen Chefs. Ihre lange Dienstzeit hat zu einer inneren Ruhe geführt, die sich positiv auf das Klima im Team auswirkt. Sie ist immer noch froh, 1990 in die neugeordnete Polizei übernommen worden zu sein, hat nun mit über fünfzig sämtliche Karriereambitionen aufgegeben und gestaltet ihr Leben mit der Familie so, dass alle damit zufrieden sein können. Sogar ihre Kollegen und Vorgesetzten. Dabei ist sie nicht selbstgenügsam, sondern nahm so manche Weiterbildungsmöglichkeit wahr. Rita geht in der Ermittlungsarbeit auf und blickt mit immer kürzerer Distanz und wachsender Vorfreude allmählich auch nach vorn zum Ende ihres Berufslebens. Sie ist professionell genug, zu Arne Bock aus dem Altersunterschied kein mütterliches Verhältnis abzuleiten. Gleichzeitig registriert sie, dass ein zaghaftes Anwachsen gegenseitigen Vertrauens zwischen ihr und ihm oft durch seine Arroganz behindert wird. Sie zeigt nachsichtiges Verständnis für dessen Zwang, den Chef herauskehren zu müssen, auch wenn es nicht ihrer Anforderung an Charakter entspricht. Rita fühlt sich außerdem keineswegs zu alt für Weiblichkeit, wird dazu beim morgendlichen Blick in den Spiegel sogar immer wieder ermuntert.
Sie war schon oft erfolgreich darin, subjektive Empfindungen aus ihren Ermittlungen herauszuhalten, auch eventuelle Vorbehalte gegenüber Kollegen. So auch jetzt. Dennoch hätte sie nach den markigen Worten des jungen Chefs mehr erwartet. Zum Beispiel Aufgaben zur genaueren Klärung des persönlichen Umfelds des Finders, oder weitere Vermutungen, die sich aus der Auffindesituation der Leiche ergeben könnten. Doch Siegfried Reuschel ist für sie der falsche Adressat für solche Überlegungen, die sie zunächst für sich behält, aber bei Gelegenheit vorbringen würde.
Oder soll sie gleich mit Westphal darüber reden?
Sie entscheidet sich vorerst dagegen, will dem jungen Überflieger noch weitere Chancen geben.
Mittlerweile hat Arne Bock sich gesammelt, blickt ankündigend in die Runde und fragt seine beiden Kollegen, ob sie die Sendungen von ARGUS-TV zur Kenntnis nehmen.
„Müssen wir das etwa? Aus beruflichen Gründen?“
Rita versucht zunächst, ihre Geringschätzung auf diese Weise zum Ausdruck zu bringen.
„Es wäre in diesem Fall nützlich gewesen“, entgegnet Arne.
Schließlich bricht es aus ihm heraus. Er wirft die Fotos von Westphal auf den Tisch und nennt in kurzen Worten die Herkunft.
„Was erlauben die sich?“, ruft er erbost aus. „Wollen wohl Sheriff spielen. Oder die Quoten steigern?“
Der Kommissar dreht seine Stimme in solche Höhen, dass sogar Rita Mesing und Siegfried Reuschel erstaunt die Augenbrauen heben, ein Grinsen aber gerade noch vermeiden können.
Rita hat dabei die größten Probleme, denn ihr fallen plötzlich wie aus heiterem Himmel die Namen Trappattoni und Strunz ein.
In der Sache sind sie sich jedoch ziemlich einig, sie empfinden den vorabendlichen Bericht von ARGUS-TV über die Wasserleiche als Affront gegen die Polizei. „Wenn sie uns wenigstens vorher darüber informiert oder uns zumindest die Aufnahmen zur Verfügung gestellt hätten. Aber so beeinflusst das eindeutig unsere Ermittlungen. Und nicht positiv!“
Arnes Stimme wird nicht leiser. „Was von solchen Fällen an die Öffentlichkeit kommt, bestimmt doch wohl immer noch die Polizei. Und kein Hobbydetektiv.“
Rita und Siegfried sehen sich an, lächeln in seltener Einmütigkeit jetzt offen über den Gefühlsausbruch ihres Chefs.
„Für euch ist das wohl völlig normal?“ Arnes Erregung ebbt nicht ab, als er die Reaktion seiner Kollegen bemerkt.
Seine beiden Kollegen kennen so manches Beispiel aus der Zusammenarbeit mit ARGUS-TV, das ihnen bei Ermittlungen geholfen hatte. Besonders nachdem Daniela Wollmann drei Jahre zuvor dem bis dahin etwas verschlafenen Provinzkanal neues Leben eingehaucht hatte. Natürlich können sie den Alleingang des Lokalsenders nicht gutheißen, sie kennen aber den Ehrgeiz der TV-Leute und zeigen mehr Verständnis für diese Aktion, als es die Vorschrift hergibt.
„Weißt du, Arne, lass uns mit der Frau Wollmann über die Sache reden. Vielleicht kann daraus eine produktive Zusammenarbeit werden. Die Aufnahmen stammen mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Täter, und das allein ist doch schon eine bemerkenswerte Tatsache.“
„Noch wissen wir ja gar nicht, ob es überhaupt einen Täter gibt“, wirft Siegfried mit hartnäckiger Penetranz ein. Rita stutzt nur kurz, ehe sie fortsetzt.
„Aber es gibt wohl jemand, der die Leiche am Busch befestigt hat und für diese … Tat … verantwortlich ist, falls du jetzt zufrieden bist, Siegfried. Wenn es wirklich der Täter war, der fotografiert hat, will er offenbar, dass alles an die Öffentlichkeit kommt. Warum auch immer. Und ARGUS-TV hat eine wachsende Reichweite, das kann uns bestimmt noch helfen. Scharfes Schießen heben wir uns für später auf. Und das Wort Pressefreiheit sagt dir doch auch etwas, oder?“
Rita wirft ihren gesamten weiblichen Charme in die Waagschale, kann sich aber den Seitenhieb auf den Jüngeren nicht verkneifen.
Arne Bock zögert, schluckt die spitze Schlussbemerkung, versucht sich zu beruhigen. Er ist ganz und gar nicht mit einer solchen nachgiebigen Haltung einverstanden.
„Ihr scheint diese Cheftante wohl ganz gut zu kennen.“
Ohne darauf einzugehen, meldet sich Siegfried Reuschel zu Wort. „Es ist ja auch noch zu klären, ob der anonyme Anrufer vielleicht sogar derjenige ist, der die Bilder dem Sender zur Verfügung gestellt hat. Dazu werde ich der … Cheftante mal auf den Zahn fühlen. Wann genau ist denn der Anruf hier eingegangen, Arne?“
Als Arne Siegfrieds Frage widerwillig als berechtigt eingestuft und die Antwort in seinen Unterlagen gefunden hat, entschärft ein weiteres Klopfen die Spannung. Der Diensthabende tritt ein und blickt in die Runde. Sein Gesichtsausdruck kündigt eine gewichtige Information an.
„Hier, gerade angekommen, vielleicht interessiert euch das“. In der Gewissheit, dass es für die Kriminalisten interessant sein würde, legt er ein Blatt Papier auf den Tisch und verlässt den Raum. Arne Bock ist gedanklich noch im Ärger gefangen und ignoriert das Blatt zunächst.
Siegfried Reuschel greift spontan danach, liest sich den Text durch und sieht seine Kollegen an. Plötzlich packt ihn der Übermut und er sagt trocken: „Nehmt euer Zeug!“
Er beißt sich auf die Zunge, denn die Bemerkung aus einer bekannten US-Krimiserie steht ja nur dem Chef zu. Dann liest er den beiden die Meldung vor.
Erika Walter wartete nach der Nennung ihres Namens voller Spannung darauf, wer sich als der unbekannte Anrufer erweisen würde.
„Und hier ist Frau Birkhahn, ich bin Politesse und gerade in der Ostseestraße unterwegs. Ihre Telefonnummer habe ich bei meinem Büro erfragt. Hier steht ein blauer BMW mit geöffneter Heckklappe, gehört der nicht Ihrem Mann?“
Gleich nach dem Anruf der Politesse brach Erika Walter auf. Während der kurzen Fahrt versuchte sie die aufkommende Unruhe zu bekämpfen, ist um eine halbwegs positive Erklärung bemüht, die sich irgendwo in tiefer Vergangenheit verbirgt. In einer Zeit, in der sie Joachim als energischen und durchsetzungsstarken Kerl mit manchmal verrückten Ideen kannte. Joachim wird doch wohl nicht am Strand übernachtet haben, was um diese Jahreszeit sogar zu zweit alles andere als ein Vergnügen wäre, für das man auf ein Bett verzichtet.
Vielleicht klärt sich am Auto alles auf.
Sie hielt neben dem BMW an, steigt aus und betrachtete die immer noch geöffnete Heckklappe. Das Fahrzeug steht dicht an den Büschen, so dass von der Straße aus beim Vorbeifahren die offene Klappe kaum zu erkennen ist.
Erika konnte auf den ersten Blick im Kofferraum nichts Auffälliges erkennen und wollte gerade die Heckklappe schließen.
Da erst erkannte sie einen kleinen, eingetrockneten roten Fleck auf der Bodenmatte.
Es dauerte einige Augenblicke, bis ihr Hirn realisiert, welchen Ursprung dieser Fleck eigentlich nur haben kann. Nun wollte sie Gewissheit haben. Sie suchte in der Kontaktliste ihres Telefons den Namen ihres Mannes, drückte auf das grüne Symbol - und vernahm schon nach wenigen Sekunden die oft gehörte, nun besonders widerwärtig klingende Frauenstimme:
Der gewählte Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar.
Blitzartig lösten sich alle in vielen Jahren erworbenen Urteile und Vorurteile über Joachim in Luft auf, wurden sofort vom starken Wind in Richtung Strand getrieben.
Dann wählte sie die 110.
Sofort danach bahnte sich ein furchtbarer Gedanke den Weg.
Dass Joachim nie mehr wiederkommen würde.
Als Siegfried Reuschel mit dem Verlesen der Meldung fertig ist, blicken sich die drei Ermittler nachdenklich an. Arne Bock ergreift die Initiative. „Noch ein Verschwundener. Und wieder aus der regionalen Prominenz. Ist der Bürgermeister nicht gerade neu gewählt worden?“
Den triumphierenden Blick kann er seinen beiden Mitstreitern nicht ersparen.
Ein Zusammenhang mit der Wasserleiche ist aus den knappen Informationen nicht herauszulesen. Dennoch sieht sich Arne nun im Zugzwang. Ohne greifbaren Grund legt er sich fest. „Das kann kein Zufall sein.“
Rita reagiert sofort. „Vermutest du etwa einen Serientäter, Arne?“
„Im Moment können wir gar nichts ausschließen“, ignoriert er Ritas Ironie und lässt gleichzeitig seiner Entschlusskraft freien Lauf. „Nimm du dein Zeug“, wendet er sich an Siegfried und setzt nach vielsagender Pause fort, „und geh zu ARGUS-TV, versuche mehr über die Fotos und deren Urheber herauszubekommen. Aber kein Wort von dem neuen Vermisstenfall. Vorerst. Und du, Rita, sag Erwin Meister Bescheid, wir fahren sofort los, ich brauche dich als Frau zu Frau.“
Jetzt wird´s richtig spannend.
Diese Worte kann Arne Bock gerade noch in seine Gedanken versenken.