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Der Hintergrund Die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns verfolgt Pläne, einen Hochwasserschutzdeich im Norden der Insel Usedom für Renaturierungsmaßnahmen zurückzubauen, entgegen einer Vielzahl von sachlichen Argumenten und gegen den geschlossenen Widerstand der Bevölkerung. Gegenstand von Auseinandersetzungen ist auch die Konzeption des Museums Peenemünde. Mit einem Deichrückbau würde ein großer Teil der weltweit bedeutenden Denkmallandschaft rings um das Museum (das Gelände der ehemaligen Heeresversuchsanstalt), der Überflutung preisgegeben und damit der Denkmalwert des Standortes irreversibel beschädigt. Die fiktive Handlung Joachim Walter, Bürgermeister der Gemeinde Insel Usedom, wird mit Deichrückbauplänen konfrontiert. Verdeckt agierende Vertreter der Landesregierung wollen vollendete Tatsachen schaffen und erpressen den Bürgermeister. Dann wird dessen Geliebte tot aufgefunden. Walter versteckt sich und wird vom LKA aus Angst vor Enthüllung verfolgt. Mehrere Adressaten erhalten ein mysteriöses Symbol, die örtliche Polizei steht vor einem Rätsel. Hauptkommissar Arne Bock fühlt sich durch das LKA in die Irre geführt. Er gerät in familiären Konflikt mit seinem Großvater, einem ehemaligen NVA-Offizier, der als Vorsitzender der Bürgerinitiative "Gegen Deichrückbau" offenbar auf der Seite des geflüchteten Bürgermeisters steht. Joachim Walter begreift erst, als er entführt wird, dass seine Vergangenheit ihn eingeholt hat. Eine Katastrophe bahnt sich an, denn während eines Sturmhochwassers soll der Deich zerstört werden. Die Pläne dazu stammen jedoch aus dunklen Zeiten …
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Seitenzahl: 510
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Rainer Höll
Flut über Peenemünde
Thriller mit realem Hintergrund
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
10. März 1970
2012 1 Mittwoch, 31. Oktober, 11.00 Uhr
2 Mittwoch, 31. Oktober, 11.30 Uhr
3 Mittwoch, 31. Oktober, 20.30 Uhr
4 Donnerstag, 1. November, 7.55 Uhr
5 Donnerstag, 1. November, 16.10 Uhr
6 Donnerstag, 1. November, 19.05 Uhr
7 Freitag, 2. November, 7.00 Uhr
8 Freitag, 2. November, 9.05 Uhr
9 Freitag, 2. November, 9.15 Uhr
10 Freitag, 2. November, 11.55 Uhr
11 Freitag, 2. November, 12.30 Uhr
12 Freitag, 2. November, 15.30 Uhr
13 Freitag, 2. November, 16.45 Uhr
14 Freitag, 2. November, 18.45 Uhr
15 Samstag, 3. November, 7.50 Uhr
16 Samstag, 3. November, 8.30 Uhr
17 Samstag, 3. November, 9.05 Uhr
18 Samstag, 3. November, 9.15 Uhr
19 Samstag, 3. November
20 Samstag, 3. November, 10.30 Uhr
21 Samstag, 3. November, 10.35 Uhr
22 Samstag, 3. November, 11.05 Uhr
23 Samstag, 3. November, 12.00 Uhr
24 Samstag, 3. November, 12.05 Uhr
25 Samstag. 3. November, 16.35 Uhr
26 Samstag. 3. November, 17.30 Uhr
27 Sonntag, 4. November, 9.30 Uhr
28 Sonntag, 4. November, 10.30 Uhr
29 Sonntag, 4. November, 14.00 Uhr
30 Sonntag, 4. November, 15.55 Uhr
31 Sonntag, 4. November, 16.15 Uhr
32 Sonntag, 4. November, 18.00 Uhr
33 Sonntag, 4. November, 18.10 Uhr
34 Sonntag, 4. November, 21.15 Uhr
35 Montag, 5. November, 7.50 Uhr
36 Montag, 5. November, 9.35 Uhr
37 Montag, 5. November, 9.50 Uhr
38 Montag, 5. November, 10.00 Uhr
39 Montag, 5. November, 10.05 Uhr
40 Montag, 5. November, 10.15 Uhr
41 Montag, 5. November, 10.35 Uhr
42 Montag, 5. November, 10.55 Uhr
43 Montag, 5. November, 11.10 Uhr
44 Montag, 5. November, 11.15 Uhr
45 Montag, 5. November, 11.30 Uhr
46 Montag, 5. November, 12.00 Uhr
47 Montag, 5. November, 12.30 Uhr
48 Montag, 5. November, 13.15 Uhr
49 Montag, 5. November, 14.05 Uhr
50 Montag, 5. November, 16.05 Uhr
51 Montag, 5. November, 17.15 Uhr
52 Montag, 5. November, 17.30 Uhr
53 Montag, 5. November, 18.05 Uhr
54 Montag, 5. November, 18.45 Uhr
55 Montag, 5. November, 19.15 Uhr
56 Montag, 5. November, 19.30 Uhr
57 Montag, 5. November, 21.00 Uhr
58 Montag, 5. November, 21.30 Uhr
59 Dienstag, 6. November, 5.50 Uhr
60 Dienstag, 6. November, 6.30 Uhr
61 Dienstag, 6. November, 6.40 Uhr
62 Dienstag, 6. November, 6.40 Uhr
63 Dienstag, 6. November, 7.05 Uhr
64
65
66
67
68 Dienstag, 6. November, 8.15 Uhr
69
70
71 Dienstag, 6. November, 9.30 Uhr
72
73
74
Epilog Mai 2013
Impressum neobooks
KLACK.
Eine einzige Fingerbewegung am Abzug und die Kugel klatschte gegen die Wand. Schnell nachladen, grob zielen, abdrücken – und wieder blieb im hellgelben Putz eine kleine Mulde zurück.
Eine kleine Turnhalle verwandelte sich in eine beherrschbare Welt. Nicht einmal seinen Mitstreiter nahm er noch bewusst wahr, vermied es jedoch, in dessen Nähe zu schießen.
Er glitt in einen Rausch. Tausende Jahre menschlicher Entwicklungsgeschichte verdrängten das, was er in sechzehn Lebensjahren an Denkmustern erworben hatte.
Plötzlich betrat ein etwa zehnjähriger Junge die Halle.
Die Schüsse faszinierten ihn, erinnerten an das Pfeifen der Kugeln im Indianerfilm. Er sah sich die Einschusslöcher in den Wänden an, blickte begeistert zu den Schützen.
Vollkommen unerwartet traf der scharfe Schlag sein Gesicht. Mit der rechten Hand griff er an die Stelle – sie färbte sich rot.
Ein etwa drei Millimeter breiter Blutfaden rann aus einer Wunde direkt unterhalb des linken Auges langsam nach unten.
Er schickt vom Ast neben seinem Horst auf der hundertjährigen Eiche am Waldrand einen prüfenden Blick über die Umgebung. Die scharfen Krallen geben ihm Halt in der schon von den Spuren seiner Vorfahren gezeichneten Rinde. Eine immer noch angenehm wärmende Herbstsonne taucht die vor ihm liegende Schilffläche in gleißendes Licht.
Mit zweieinhalb Metern Flügelspannweite und einem respektablen Hakenschnabel gilt er als der größte Vogel des Ostseeraums.
Der Seeadler von Peenemünde erhebt sich mit kraftvollen Flügelschlägen und beginnt den Rundflug über sein Revier. Seit Jahren schon beherrscht er auch den nahen Flugplatz, denn von dort heben anstelle der früheren MiG 23 fast nur noch Kleinflugzeuge ab. Er lässt den Blick hinüberschweifen zu den kleinen Inseln Ruden und Greifswalder Oie. Wie ein Reflektor wirken die hellsandigen Steilufer der großen Nachbarinsel Rügen im Norden. Er fliegt nach Süden zum Deich des Peenestroms.
Im Takt des ruhigen Segelns im mäßigen Wind schwingen seine Gedanken Jahrhunderte zurück, zu Hochwasser – und zu Revierkämpfen der Menschen.
Die Fluten kamen immer von Westen, von der Peene, dem schmalen Fluss zwischen der Insel Usedom und dem Festland.
Nach dem ersten großen Krieg erhielt der Peenestrom endlich einen Deich. Der schützte bald nicht nur Peenemünde vor Hochwasser. An die Stelle kleiner lehmwändiger Fischerhütten des Dorfes traten hohe und großflächige Gebäude aus Ziegel und Beton. Blutgefäßen gleich verbanden Straßen und Schienen die vielen Gebäude, trugen Fahrzeuge, die bis dahin hier niemand kannte.
Die Vorfahren des Adlers bekamen Konkurrenz vom neuen Flugplatz, die aber zum Glück auf andere Beute aus war.
Den Flug der ersten Rakete in den Weltraum sahen sie von hier aus nicht mehr, denn solche Höhe überstieg ihre Möglichkeiten bei Weitem.
Aufmerksam betrachtet er das einzelne Wesen am Ufer des Peenestroms, genau an dem Platz, der ihm gerade erst eine neue Erfahrung über mögliche Beute gebracht hatte.
Das verwirrt ihn auf ähnliche Weise wie Tage zuvor die vielen Menschen am Rande des Flugplatzes. Im großen Bogen flog er damals über die verdächtige Stelle. Schrille, einige Minuten andauernde unbekannte Geräusche hatten ihn dann erschreckt. Schnell war er zu seinem Horst zurückgekehrt, konnte sich nur langsam wieder beruhigen.
Deshalb sah er nicht, wie danach ein einzelner Mann, der das Treiben aus einem Versteck beobachtet hatte, den Weg zum Wald in Richtung Ostsee einschlug. Er kannte jeden Meter, denn einst war er hier der Hausherr.
Zielstrebig marschierte der Mann zum Schilfgürtel an der Ostsee, glaubte sich unentdeckt.
Unverhofft wurde er eines besseren belehrt, als ihm jemand von hinten ein Tuch auf das Gesicht presste und Sekundenbruchteile später zwei kräftige Arme schraubstockgleich seinen Körper bewegungsunfähig machten. Als ihm dann Schlaufen um die Fußgelenke gelegt wurden, war er schon tot. Sein Mörder zog ihn hinter sich her wie einen Baumstamm, wählte den Weg durch das Schilf ins flache Wasser der Ostsee.
Am folgenden Tag, dem 4. Oktober 2012, meldete Ingrid Bornhöft ihren Mann Dieter, den früheren Kommandeur des Jagdfliegergeschwaders in Karlshagen, als vermisst. Die sofort eingeleitete Suche blieb eine erfolglose Formsache, denn niemand wusste, wo er zu finden sein könnte.
Die hohen Bäume hielten mühelos dem stärker werdenden Wind stand, bildeten eine schwankende, rauschende Kulisse, die mit herbstgefärbten Blättern durchsetzt wurde. Dunkle Fichten und breit ausladende Buchen wechselten sich mit meterhohen Betonresten ab. Ein Gemisch aus dicht gewachsenen Sträuchern, wassergefüllten Gräben und sumpfigem Waldboden unmittelbar neben dem Weg machte Verbotsschilder überflüssig.
Pia Bergner nahm mit ihrem Fahrrad auf den holprigen, jahrzehntealten Betonschwellen die unmittelbare Umgebung als einengende Bedrohung wahr und fühlte sich dennoch wie von einem Magnetfeld angezogen. Eine diffuse Furcht, die sie längst in der Kammer ihrer Kindheit eingeschlossen glaubte, kämpfte gegen die unüberwindliche Magie der Geschichte.
Das gesamte Gebiet war für die Öffentlichkeit gesperrt. Im Entdeckungsfall würde sie sich auf ihren Status berufen, auch wenn sie aus ihrer Wahlheimat Schweden nur zu einem Praktikum an das Museum Peenemünde gekommen war.
Kurz vor Ende ihres vierten Lebensjahrzehntes stehend, hatte Pia das Ebenbild einer dieser energischen Frauen in den nordischen Ländern angenommen, deren Alter zwischen fünfundzwanzig und fünfundfünfzig Jahren schwer zu schätzen ist. Mittelblonde halblange Haare passten sich der schlanken Figur an. Das ebenmäßige Gesicht verbarg die Enttäuschungen ihres Lebens, Optimismus und Zuversicht sorgten regelmäßig für einen Ausgleich und gewannen schließlich die Oberhand über ihre von ersten Falten geprägten Züge.
Nicht lange nach dem achtzehnten Geburtstag war sie, die gerade offen werdende Grenze nutzend, aus ihrem Wohnort nahe der deutschen Ostseeküste aus erdrückender häuslicher Enge nach Schweden geflüchtet.
Die Gedanken an ihre Heimat wurden danach dominiert von den Beziehungen zu ihrer Mutter, die sie allein im Haus zurückließ und nur ein einziges Mal besuchte – an ihrem Sterbebett wenige Monate zuvor. Ihren Vater hatte sie nie kennengelernt, und erst beim letzten Besuch seinen Namen erfahren. Schon bald darauf wurde Pia in eine neue Gefühlswelt hineingeschoben. Der Zwang zur Rücksichtnahme und das schlechte Gewissen, die Mutter verlassen zu haben, lösten sich auf.
Die Kehrseite war eine plötzliche Leere. Immer öfter kam sie sich vor wie ein namenloses Sandkorn am Ostseestrand, an dem sie einst entstanden war. Pia spürte den Drang, sich neu zu orientieren, sehnte sich nach einer erfüllenden Aufgabe für ihr Dasein. Seit einigen Wochen glaubte sie, zumindest den Weg dorthin gefunden zu haben.
Der führte für sie an diesem Tag zunächst direkt in die Geschichte: zum Prüfstand VII der ehemaligen Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Von hier aus startete 1942 die Rakete A 4 erstmals bis an die Grenze des Weltraums. Unter dem Namen Vergeltungswaffe (V) 2 sollte sie den deutschen Sieg aus dem Feuer reißen, kam dazu jedoch zu spät.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zum weltweiten Vorbild für alle Raketen, auch zum Kristallisationskern für den Mondflug. Die noch erkennbaren Reste des legendären Raketenstartplatzes waren das Ziel aller Peenemünde-Enthusiasten.
Pias freudige Erwartung, endlich diese Stelle persönlich hautnah zu erleben, wurde durch die gespenstische Umgebung getrübt. Ehrfurcht gebar gleichzeitig Distanz. Sie fühlte die Last der damaligen Epoche, kam sich vor wie ein unerwünschter Eindringling in eine Dimension, die an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft stieß.
Pia rief sich den Beginn ihres Interesses für Peenemünde ins Gedächtnis, der nur wenige Monate zurücklag. Von einem jungen Mann hörte sie die unglaubliche Geschichte einer im Juni 1944 über Schweden abgestürzten Rakete A 4, nur wenige hundert Meter neben dem Hof seiner Familie, in einem kleinen Dorf mitten im Wald. Seitdem fühlte Pia sich von diesem Thema gefangen und umarmt, genau wie von Nils in den verschiedenen Momenten ihrer leidenschaftlichen Begegnungen. Beides verschmolz zuweilen sogar, ohne dass Pia es wahrnahm.
Sie war gefesselt davon, mit welcher Begeisterung Nils Pettersson von diesem Ereignis berichtete, das seine Familie hätte auslöschen können. Er sah nur die technische Leistung, ein Fluggerät über eine solche Entfernung schießen zu können.
Als Erste in der Welt.
Und ausgerechnet neben den Hof seiner Familie.
Nun war Pia an der entscheidenden Wegbiegung angekommen, stieg ab und lehnte das Fahrrad an einen Baum. Langsam bewegte sie sich zu Fuß weiter, blickte dabei auf die Skizze, die den Ort zu seiner aktiven Zeit darstellte.
Ein mit Wasser gefüllter, der Natur überlassener Betongraben begrenzte den Weg zur Linken. Deutlich erkennbar die Reste des irdenen Dammes, der den gesamten Prüfstand einst umgab. Bei jedem Schritt fühlte Pia eine Furcht, etwas von dieser so tot und unbeweglich erscheinenden und dennoch auf ganz eigene Art überlebenden Vergangenheit zu zerstören.
Wie ein Fremdkörper ragte der granitene Gedenkstein empor, auf dessen Vorfläche frische Blumen lagen. „Abschußstelle der A 4-Raketen“, so die nüchterne Inschrift. Darüber eine stilisierte Rakete.
Pia ließ die Umgebung auf sich wirken, schloss dann die Augen. Sie blickte erneut auf das Papier und wandte sich in Richtung des Strandes, der von dieser Stelle nur zu erahnen war. Nach wenigen Metern erreichte sie den Waldrand. Ihr Blick reichte über eine ausgedehnte Schilffläche auf das Wasser der Ostsee. Zum Greifen nahe stand die Insel Oie mit dem Leuchtturm wie ein Wächter im Meer.
Der heikle Auftrag ihres schwedischen Mentors Rune Alfredsson drängte sich in den Vordergrund. Denn es war genau diese Richtung, in der sich einer seiner „Wünsche“ nach brisanten, bisher nur gerüchteweise vorliegenden Informationen befinden sollte. Der pensionierte Mitarbeiter des schwedischen Luftwaffenmuseum in Linköping hatte ihr nicht nur das Praktikum mit einer offiziellen Legende verschafft, sondern sie mit Aufgaben versehen, deren Tragweite Pia nur schwer abschätzen konnte. Sie waren ebenso lichtscheu wie die vielen Raubgräber in Peenemünde. Die anfängliche Skepsis Pias, als sie von diesen Aufgaben hörte, wich schnell einer motivierenden Neugier.
Unmittelbar vor ihren Füßen bemerkte sie eine schmale, offenbar vor einiger Zeit entstandene Gasse im Schilf. Auf einem halben Meter Breite zeigten die Halme mit den Spitzen in Richtung Ostsee, hatten sich aber fast vollständig wieder aufgerichtet. Pia folgte dem noch schwach sichtbaren Pfad, konnte kaum über die Schilfspitzen sehen, die vom Wind in Richtung Meer gebogen wurden. Bei ihrem Gang stellte sie sich vor, wie jemand ein flaches Boot oder einen ähnlich geformten Gegenstand durch das Schilf zieht.
Der auffrischende Westwind hatte das flache Wasser vom Ufer weg getrieben und Pia konnte auf der feuchten Sandbank noch fast fünfzig Meter weiterlaufen. Sie blieb stehen und blickte sich um, bis sich ihre Gedanken wieder geordnet hatten.
Auf dem Rückweg im Schilf wurde ihre Aufmerksamkeit durch einen blitzenden Gegenstand geweckt. Sie hob ihn auf und hatte einen kleinen Ansteckbutton in der Hand. „Heimatverein Peenemünde“ las sie dort halbkreisförmig über dem Bild einer Rakete. Von diesem Verein hatte Pia bereits gehört, er arbeitete eng mit dem Museum zusammen. Den Button nahm sie zunächst gedankenlos an sich. Bis plötzlich ihre Gedanken übermütige Sprünge machten, wohl angefeuert von der alle Normen sprengenden Atmosphäre. Und getrieben von erneut aufkommender Furcht.
Wer hat diesen Button hier verloren? Und warum war der schmale Durchgang offenbar nur in eine Richtung benutzt worden?
Die Zeitungsmeldung an einem ihrer ersten Praktikumstage über den vermissten ehemaligen Offizier fiel ihr ein.
Als ihre Fantasie schließlich mit ihr durchzugehen drohte und sie sich vorstellte, dass der Button von einem menschlichen Körper stammte, der durch das Schilf…
Weiter kam sie nicht und brachte sich selbst durch ein halblautes kopfschüttelndes Lachen wieder in die Gegenwart zurück. Als wenn sie die Furcht abgeworfen hätte.
Für die Rückfahrt entschloss sie sich zu einem kleinen Umweg an den Peenestrom. Sie erreichte nach wenigen Kilometern auf der asphaltierten Ringstraße die gesuchte Einfahrt, umkurvte meterbreite wassergefüllte Löcher, bis sie am Ziel war. Eine von vielen Löchern durchsetzte Grasfläche reichte fast bis ans Wasser, dessen Wellen der stärker werdende Wind in kurzen Abständen ans Ufer schlagen ließ. Pia suchte sich eine windgeschützte Mulde und setzte sich auf ihre Isomatte. Beim direkten Blick in die Nachmittagssonne schlossen sich ihre Augen. Die anstrengende Radtour steuerte ein Übriges bei.
Ein heller Schrei holte Pia aus ihrem Traum. Neugierig blickte sie nach oben und erkannte den Vogel.
Majestätisch segelte der Seeadler über dem Ufer. Die wie ausgefranste Schals wirkenden Schwingen erstreckten sich trotz des Windes bewegungslos zu beiden Seiten des Körpers. Der Vogel zog seine Kreise, immer enger werdend, über genau diesem Fleck Erde, den die Einheimischen als Nordstrand bezeichneten. Das Tier schien ein bestimmtes Ziel in seinem scharfen Blick zu haben. Pia schaute sich um, nahm jedoch nichts Auffälliges wahr.
Müde von den vielen Eindrücken und der anstrengenden Radtour entschloss sie sich zum Heimweg. Der Adler flog inzwischen noch tiefer, wie sie erstaunt und ehrfürchtig feststellen musste. Pia blieb an ihrem Fahrrad stehen und blickte zu ihm empor. Sie war davon so vollständig gefangen, dass sie nichts von dem bemerkte, was ringsherum geschah.
Je tiefer die Stiefel im taunassen Gras versanken, desto mehr stieg die Stimmung von Hans Waldeck. Er ignorierte die ins Gesicht schlagenden nassen Zweige. Seine kleine gedrungene Gestalt bewegte sich geschmeidig und fast unhörbar durchs Revier. Alle seine Sinne waren auf Empfang gestellt. Besser noch als früher jedes technische Gerät in seinem Cockpit konnte Hans sofort auf alles reagieren, was sich in seiner Umgebung tat. Er ging förmlich auf in der Umgebung, die er während seiner Dienstzeit beim Jagdfliegergeschwader immer besser kennen und schließlich lieben gelernt hatte. Seine treue Hündin Dina bekam wie immer den Vorzug vor Falko, dem jungen Husky-Rüden. Dessen stahlblaue, durchdringende Augen flößten zwar Respekt ein, er war jedoch für die Jagd nicht geeignet. Zu wild, zu schwer zu beherrschen.
Die Hündin mit ihrem dunkelbraunen glatten Fell fühlte sich ganz in ihrem Metier. Sie war in ihre Rolle hineingewachsen, als Gehilfin ihres Herrn, mit der Aufgabe, Wild sofort zu bemerken und unauffällig zu signalisieren, damit der Jäger sich auf das Waidwerk konzentrieren konnte.
Endlich hatte Hans wieder Zeit und Muße und vor allem beste Bedingungen für sein größtes Hobby. Der klare sonnige Tag hatte gutes Büchsenlicht für den Abend angekündigt. Das wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen.
Schießen war schon immer eine Passion im Leben von Hans Waldeck. Das Gefühl, wie Auge, Kimme, Korn und Finger am Abzug eins wurden, den richtigen Moment abwarteten, das Ziel trafen, mit wenig Kraft, aber viel Konzentration fatale Wirkung erzielten, faszinierte ihn seit seiner Kindheit. Das eingespielte Paar aus Jäger und Hund näherte sich lautlos dem Schilf am Ufer des Peenestroms, bewegte sich jetzt in nördliche Richtung immer nahe am Wasser. Allmählich wurde das Gelände etwas freier und damit trockener. Der Nordstrand, eine etwa hundert Meter breite Lücke im ansonsten baumbestandenen Ufer, wurde im Sommer gern als Badestelle genutzt. Dina beschleunigte jetzt ihre Schritte und lief zielstrebig in Richtung Wasser. Lächelnd gönnte Hans seiner treuen Hündin dieses Vergnügen. Ja, sie kennt die Gegend genauso gut wie ich, dachte er, und konnte zu seiner Freude keine andere Person entdecken.
Plötzlich zog Dina beharrlich und ungeduldig an der Leine. Weder der Gegenzug von Hans Waldeck noch sein kaum hörbar gezischtes Kommando „Platz!“ zeigten Wirkung. Hans war kurz davor, ungeduldig zu werden, bisher hatte er sich immer auf seine Hündin verlassen können, ihr Gehorsam war Garant für ihr gutes Verhältnis.
Hans gab dem Zug der Hündin schließlich nach und ließ sie, die Leine jedoch straff haltend, laufen wohin sie wollte. Gleichzeitig suchte sein Blick sorgfältig die Umgebung ab und er lauschte auf jedes Geräusch.
Kein Mensch. Vielleicht ein totes Tier, vermutete er.
Direkt am Ufer blieb die Hündin vor einem Busch stehen und blickte zu Hans auf, ohne Laut zu geben. Ihre Augen schienen zu sagen: Hier ist etwas für mich, für dich, also für uns.
Hans sah sich immer noch ergebnislos um, was auch Dina bemerkte. Sie spürte, dass ihr Herr einen deutlicheren Hinweis brauchte und versenkte ihre Schnauze direkt in den Busch. Sie suchte etwas, fand es schließlich – und zog daran. Hans nahm seine Taschenlampe zu Hilfe, leuchtete so unauffällig wie möglich – und dann erstarrte er vor Schreck.
Dina hatte eine menschliche Hand zwischen ihren Zähnen. Er ließ den Lichtschein über die Wasseroberfläche unmittelbar neben den Ästen des Busches gleiten, musste näher treten und leuchtete direkt von oben ins Wasser, um die Reflexion zu vermeiden. Er sah einen unbekleideten menschlichen Körper im flachen Wasser liegen, konnte ihn aber nicht im Ganzen beleuchten, musste es schrittweise tun. Das Licht der Taschenlampe zeigte ihm, dass er hier die Leiche einer Frau gefunden hatte.
Dina ließ auf das entsprechende Kommando die Hand wieder los, war völlig verunsichert. Nicht nur wegen dieses ungewohnten Fundes mit dem unbekannten Geruch, der keinem der ihr bekannten Beutetiere entsprach, sondern auch wegen der Reaktion ihres Herrn. Vorsichtshalber blieb sie einfach sitzen und wartete, was passieren würde. Hans lobte seine Hündin mit leisen Worten.
Als der schmale Schein der Taschenlampe schließlich den Kopf der Toten traf, der sich zwischen den Gräsern am Ufer verborgen hatte, erschrak Hans erneut.
Er sah kein Gesicht.
Große Teile des Schädelknochens leuchteten gespenstisch hell im Mondlicht. Die ursprünglich wohl blonden Kopfhaare erschienen durch ihre Nässe dunkel.
Und noch etwas erkannte er: der rechte Arm der Leiche war mit einem dünnen Plastikseil an dem Busch befestigt.
Hans Waldeck versuchte, seine Gedanken zu ordnen, zwang sich zur Ruhe, strich seiner Hündin über Kopf und Rücken.
Plötzlich erschrak er und blickte sich hastig um. Wenn nun…
Hans schoss durch den Kopf, die Person, die für die Leiche verantwortlich war, könnte noch in der Nähe sein und ihn beobachten.
Aber Dina zeigte keinerlei Anzeichen dafür, dass ihre empfindliche Nase die Witterung eines anderen Lebewesens wahrgenommen hätte. Das beruhigte Hans schließlich. Er war es gewöhnt, in allen Situationen selbständig zu handeln. Doch nun fühlte er sich herausgefordert. Er nahm sein Mobiltelefon aus der Innentasche der winddichten Jacke und wählte die 110. Nach dem Telefonat blieb ihm nichts übrig, als der Bitte des Beamten zu folgen und an Ort und Stelle zu warten.
Erste Überlegungen suchten sich den Weg, er versuchte, eventuelle Zusammenhänge herzustellen. Doch auch ein nochmaliges vorsichtiges Ableuchten der Leiche mit der Taschenlampe brachte kein Ergebnis. Er wusste nicht, wer die tote Frau war. Hans Waldeck hatte den Berufsweg eines Offiziers hinter sich, das Sterben war dabei immer gegenwärtig. Der Tod des Gegners, des Kameraden, der eigene – obwohl der Verdrängungsreflex immer besser funktionierte. In seinen fünfundzwanzig aktiven Dienstjahren hatte Oberstleutnant a.D. Hans Waldeck nicht einen einzigen Toten zu Gesicht bekommen.
Und nun die Frau ohne Gesicht. Hilflos.
Endgültig.
Zu den Tieren, die durch Schüsse aus seinem Jagdgewehr ihr Leben beendeten, zog Hans Waldeck keinerlei Parallelen. Ihn bedrückte am meisten, dass er in dieser Situation nichts unternehmen konnte und durfte. Auch Dina war verunsichert, schmiegte sich leise jaulend an die Beine ihres Herrn.
Eine knappe halbe Stunde später näherten sich zwei Fahrzeuge. Hans gab wie vereinbart Lichtzeichen, die Polizeifahrzeuge hielten, die Beamten stiegen aus, nahmen die Personalien des Zeugen auf und baten ihn, noch zu warten. Dann nahmen sie den Fundort in Augenschein und sperrten ihn weiträumig ab.
Nach wenigen Minuten stellte sich einer der Beamten, kaum älter als dreißig Jahre, als Hauptkommissar Arne Bock vor.
„Herr Waldeck, ich denke, wir nutzen die Gelegenheit und Sie beantworten mir gleich einige Fragen zum Fund der Leiche.“
Sie setzten sich dazu in eines der beiden Einsatzfahrzeuge.
Der Kommissar hatte mit gemischten Gefühlen diesen unerwarteten Einsatz am späten Abend aufgenommen. Er konnte dafür zwar eine Verabredung nicht einhalten, fühlte sich jedoch herausgefordert, denn Leichenfunde waren in dieser Gegend fernab von den Metropolen nicht gerade alltäglich.
Er taxierte den Jäger unverhohlen und versuchte, ihn in eine seiner bevorzugten Kategorien einzuordnen. Dabei bemerkte er, wie sein Gegenüber ihn ebenfalls eindringlich musterte. Bock entschloss sich zu einer betont sachlichen Strategie, baute auf die Bereitschaft des Zeugen.
„Schildern Sie bitte zunächst genau, wie Sie die Leiche gefunden haben.“
Hans Waldeck begann eine ausführliche Beschreibung seiner Pirsch. Bock unterbrach ihn nicht, obwohl er manchmal kurz davor war, den Redefluss des Jägers zu kanalisieren. Erst am Ende fragte der Kommissar nach.
„Ihr Jagdrevier ist doch bestimmt ziemlich groß“, was Waldeck durch ein Nicken bestätigte. „Wie oft sind Sie denn hier unterwegs? Und wann war es das letzte Mal?“
Hans Waldeck überlegte nur kurz. Er war ein sehr genauer Mensch und führte Buch über seine Pirschjagden. „Das war vor genau drei Wochen, aber leider erfolglos.“
„Können es auch vier Wochen gewesen sein? Vielleicht am dritten Oktober?“
Aus der Reaktion auf solche Überraschungsfragen hatte Bock schon oft neue Erkenntnisse gewinnen oder die Befragten verunsichern können. Schließlich war an dem betreffenden Tag ein Mensch verschwunden. Doch dieses Mal hatte er kein Glück. „Ausgeschlossen, da war ich gar nicht auf der Insel.“ Hans Waldeck blickte den Kommissar fragend an, der aber darauf nicht reagierte.
„Gut.“ Arne Bock ließ offen, ob er Waldeck glaubte und fragte weiter. „Ist Ihnen während des Weges hierher etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“
„Nein, gar nichts. Die Leiche ist ja offensichtlich an den Fundort transportiert worden, was sich aus der Befestigung am Busch schließen lässt. Und die Zufahrt ist für jeden erreichbar, die Einheimischen kennen den Weg zum Nordstrand.“
Bock lächelte innerlich über den Hobbydetektiv, der offenbar vor ihm saß. Der erste Eindruck sprach für übereifrig.
„Haben Sie Ihr Haus zu Fuß verlassen?“
„Nein, da würde ich zu viel Zeit verlieren. Ich bin mit dem Auto bis zum Peenemünder Hafen gefahren, zur nördlichen Zufahrt. Außerdem muss ich ja meine Strecke“, er hielt kurz inne, und übersetzte dann aus der Jägersprache, „also meine Jagdbeute irgendwie transportieren.“
„Haben sie vielleicht während Ihrer Pirsch Fahrzeuggeräusche aus Richtung der Fundstelle gehört, oder ist Ihnen auf dem Weg zum Hafen ein Fahrzeug entgegengekommen?“
„Nein, auch da muss ich Sie enttäuschen. In der kurzen Zeit, die ich von Peenemünde bis zum Abzweig Richtung Hafen brauchte, habe ich überhaupt kein Fahrzeug gesehen. Und während der Jagd ist mir aus Richtung Nordstrand keinerlei Geräusch aufgefallen. Auch meiner Dina nicht.“ Bei diesen Worten klopfte Hans Waldeck der neben ihm sitzenden Hündin anerkennend auf die Schulter.
Bis hierher entsprachen die Antworten durchaus den nicht sehr hohen Erwartungen des Kommissars, der die nächste Frage nach kurzem Zögern anschloss.
„Wer wusste davon, dass Sie heute zur Jagd gehen würden?“.
Hans Waldeck überlegte bei dieser Frage.
„Meine Frau natürlich, und wie üblich der Revierförster. Um unerwünschten Überraschungen vorzubeugen, informiere ich ihn jedes Mal, meist im Laufe des jeweiligen Tages.“
„Sagen Sie ihm auch, wohin genau Sie gehen werden?“
„Ja, soweit ich das vorher absehen kann. Manchmal wechsle ich auch den Standort im Laufe der Pirsch. Das ist wie beim Pilze sammeln. Sammeln Sie Pilze?“ Bock war viel zu sehr auf die Befragung konzentriert, um darauf einzugehen.
„Wenn jemand sieht, dass Sie um diese Zeit das Grundstück mit dem Auto verlassen, kann er sich dann denken, wohin Sie fahren?“
Endlich begriff Hans Waldeck. „Sie meinen, mich könnte jemand beobachtet haben?“
„Genau das meine ich. Und?“
„Schon möglich“, sagte Hans leicht zögernd und dachte darüber nach, wer ihm vor der Abfahrt über den Weg gelaufen war. Seine Augen verrieten jedoch nichts.
„Darauf habe ich nicht geachtet. Natürlich geht der normale Mensch nicht davon aus, unter Beobachtung zu stehen.“
Der normale Mensch sicher nicht, dachte Bock aus einer Eingebung heraus.
„Auch wenn die Frage angesichts des Zustandes der Leiche makaber klingt, haben Sie den Eindruck, diese Frau gekannt zu haben?“
„Nein, den Eindruck habe ich nicht“, kam die exakte Antwort.
Zielführende Fragen hatte der Kommissar im Moment nicht mehr. Der Zeuge schien wirklich nicht mehr zu wissen, als er ihm entlocken konnte. Dennoch blieb bei Bock ein Rest Skepsis, wie immer bei solchen Befragungen.
„Gut, Herr Waldeck, zunächst danke ich Ihnen für die Hilfe. Sie können dann gehen. Falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte, was uns weiter bringt, hier ist meine Karte. Und Sie werden sich bestimmt für weitere Fragen unsererseits bereithalten.“
Bock verwendete das Wort uns absichtlich in doppeldeutigem Sinne, denn er hatte sehr wohl den Ehrgeiz Waldecks bemerkt, als Partner anerkannt werden zu wollen.
„Selbstverständlich, Herr Kommissar“, erwiderte Hans mit innerlich zufriedenem Lächeln.
Die Leiche wurde nach einer vorläufigen Untersuchung des Umfelds geborgen und abtransportiert, mit dem Tageslicht am kommenden Morgen sollte die gründliche Untersuchung weitergehen.
Hans Waldeck begab sich auf dem kürzesten Weg zu seinem Auto. Für die Jagd war ihm die Lust vergangen, das Büchsenlicht auch zu schwach geworden. Enttäuschung über den misslungenen Jagdabend ergriff den Mann.
Plötzlich aufkommende Befürchtungen, welche Konsequenzen sein Fund für ihn persönlich haben würde, wollte er verdrängen, was ihm jedoch nicht gelang.
Als er seinen Hof erreicht hatte, dachte Hans Waldeck nochmals an die Fragen des Beamten. Ob der etwa meinte, gerade ich sollte gestern Abend an genau dieser Stelle die Leiche finden? Eine andere Erklärung fiel ihm nicht ein. Aber wer sollte das arrangieren können? Er hielt es für ein zu gewagtes Gedankenexperiment dieses jugendlichen Ermittlers.
Und die Frage nach dem dritten Oktober machte ihn erst nachträglich stutzig, als er sich daran erinnerte, dass sein ehemaliger Vorgesetzter genau an diesem Tag verschwunden war, was natürlich für Aufsehen gesorgt hatte. Der Schuss des Kommissars ins Blaue hinein bedeutete also, es gab noch immer keine Spur.
Als Arne Bock kurz vor Mitternacht nach Hause kam, lag das neu bezogene Haus im Wolgaster Ortsteil Mahlzow im Dunkeln, seine Frau Kerstin schlief schon.
Er ging leise in sein Arbeitszimmer, fuhr den Laptop hoch und loggte sich in seinen Chat ein. Er hatte Glück, die Nutzerin mit dem Nick Zauberfrau war noch online, obwohl sie sich schon für eine frühere Zeit verabredet hatten. Die folgenden Minuten gaben Arne die Gewissheit, dass seine Fähigkeiten, auf die besonderen Bedürfnisse von Frauen die richtigen Worte zu finden, sich immer mehr verbesserten. Er würde diese Zauberfrau wohl nie treffen, kannte nichts von ihr als Worte. Die Umrisse und das Profil ihres Körpers entstanden nach seinen Wünschen ausschließlich in der eigenen Fantasie. Als er sich völlig in den Umgang seiner Hände mit der vollendeten Weiblichkeit und deren rauschhafte Reaktion versenkte, genoss er wie schon so oft diese faszinierende archaische Form der Erotik.
Kriminalhauptkommissar Arne Bock schlug fast übermütig die Autotür zu und betrat so gelöst wie lange nicht den modernen, quaderförmigen Bau der neu erbauten Polizeidienststelle an einer belebten Kreuzung in Wolgast. Er fühlte sich von elementarem Tatendrang getrieben.
Endlich eine Herausforderung!
In seinem Büro deponierte er nur die kleine Schultertasche und schlenderte sofort ins Chefzimmer des Dienststellenleiters zum morgendlichen Rapport. Wie erwartet erhielt er wenige Minuten später auch offiziell die Verantwortung für den Vorgang, wie es amtsdeutsch hieß, „Wasserleiche Peenestrom“. Es war nicht sein erster Fall als leitender Ermittler, aber der bisher schwerwiegendste. Unsicherheit ließ der schlanke dunkelhaarige Mann mit dem klitzekleinen Bauchansatz gegenüber Polizeidirektor Hartmut Westphal nicht erkennen.
Westphal hatte den Wechsel von der grünen zur blauen Uniform gleich zu einer Größenanpassung genutzt, was Arne Bock nur ein Schmunzeln entlockte. Nach seinem Verhalten als Chef der Dienststelle zu urteilen, strebte Westphal offenbar an, dass diese Position in Wolgast nicht die letzte seiner Laufbahn werden sollte. Arne Bock behielt seine Meinung dazu lieber für sich. Erst seit einem Jahr war der Dreiunddreißigjährige hier in der nordostdeutschen Provinz. Nach der Ausbildung hatte er sich zunächst dagegen gewehrt, in diese abgelegene Region versetzt zu werden, was vor allem an seiner Familiengeschichte lag. Als Kind war der kleine Arne aus seinem Wohnort Berlin regelmäßig zu Besuch auf Usedom. Arne gewann damals diese schöne Insel lieb. Und die schmucke Uniform seines Großvaters Reinhard Henkelmann, der ihm noch mehr zur vertrauten Bezugsperson wurde, nachdem sein Vater tödlich verunglückt war.
Später kam der jugendliche Arne allmählich in Konflikt mit dem früheren Idol. Was als normale Distanzierung eines Teenagers zur älteren Generation begann, verstärkte sich noch, als sein Großvater die neuen Bedingungen nach der politischen Wende völlig ablehnte. Arne suchte nach einer eigenen Meinung über die untergegangene DDR, erkannte neue Möglichkeiten und geriet so manches Mal in eine fruchtlose Diskussion mit dem Ex-Offizier.
Mit wachsender Reife setzte Arne auf die Vernunft beider Seiten. Erfolgreich, wie sich bald zeigte. Er stellte schließlich selbst den Versetzungsantrag nach Wolgast und begann sich seinem Großvater wieder zu nähern.
Vom Umzug an die Küste war seine Frau Kerstin zunächst begeistert. Schon bald hatte sie ihre Entscheidung aber bereut. Ihre bayrische Heimat rangierte hier an der Ostsee unter den beliebtesten deutschen Dialekten eher im hinteren Viertel, und ihre Schüler vor allem in den mittleren Klassen waren dieser Tatsache gegenüber mindestens ebenso rücksichtslos und ungebildet wie so mancher Erwachsene. Sogar als „Schwäbin“ wurde sie bereits denunziert. Und die immer noch enge Verbindung von Arnes Großvater zu seinem früheren Staat ging ihr bald nur noch auf die Nerven.
Ergebnis war schließlich eine sich verstärkende Distanzierung, verbunden mit einer immer mehr körperlosen Partnerschaft mit Arne, wozu auch die noch sehr betreuungsbedürftigen Kinder ihren Teil beitrugen.
„Ich setze großes Vertrauen in Sie, Bock“, hatte ihm Westphal Mut gemacht. „In der Vermisstensache Bornhöft kommen wir im Moment nicht weiter, sie steckt immer noch in der Sackgasse, ohne verwertbare Hinweise. Also volle Kraft auf diesen Fall. Zunächst haben Sie die Kollegin Mesing und den Kollegen Reuschel als Unterstützung, sie sind bereits informiert worden. Heute Abend erwarte ich Ihren ersten Bericht.“
Das spurlose Verschwinden eines früheren hohen Offiziers aus Karlshagen hatte einige Tage lang Wellen geschlagen, danach verloren sich die Reaktionen in Mutmaßungen und Gerüchten ohne Substanz. Arne vermutete jedoch etwas Großes hinter dieser Vermisstensache, ja er wünschte es sich sogar, natürlich nur aus beruflichem Ehrgeiz.
Zunächst befasste er sich mit den vorliegenden Informationen des Vorabends und ließ auch sein Gespräch mit Hans Waldeck nochmals Revue passieren. Als die Spurensicherer gegen 9 Uhr vom Fundort eintrafen, staunte deren Leiter Erwin Meister nicht schlecht, mit welcher Ungeduld er von Arne Bock noch auf dem Flur empfangen und zu den Ergebnissen ausgefragt wurde.
„Willst du einen neuen Ermittlungszeit-Ergebnisrekord aufstellen, lieber Arne?“ Arne Bock mochte den in sich ruhenden Erwin Meister, der oft mit klugen Hinweisen die Ermittlungen beförderte.
„Ich will dir nur den Weg in mein abgelegenes Eckbüro abnehmen und dir jetzt gleich die Zeit für einen entspannenden Morgenkaffee ohne Zeitdruck geben.“
Beide lächelten wortlos, gaben damit ihrem gegenseitigen Respekt Ausdruck. Arne nahm die Unterlagen entgegen und vertiefte sich in die mageren Ergebnisse. Danach bat er die beiden ihm zugeteilten Kollegen zu sich.
Schon nach kurzer Dienstzeit in Wolgast fühlte er sich seinen älteren Kollegen überlegen. Doch bislang war er noch auf die lange Berufserfahrung und vor allem die gute Milieukenntnis seiner Mitstreiter angewiesen.
Er schaute sich in dem nüchtern und zweckmäßig eingerichteten Büro um. Durch die Lage an der Ecke des Gebäudes hatte er gute Aussicht in zwei Richtungen, die im Winkel angeordneten Fenster gaben dem Raum ein helles Erscheinungsbild.
Als Rita Mesing und Siegfried Reuschel zusammen sein Büro betraten, nahmen sie ohne Aufforderung am Beratungstisch Platz, auch Bock setzte sich hinzu.
„Also liebe Kollegen, wir werden gemeinsam diesen Fall zu lösen haben, im bewährten Teamgeist. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.“
Diese förmliche Einleitung hielt Arne Bock für angemessen, um seine Rolle als Chef von vornherein klarzustellen.
„Ich denke, wir freuen uns auch darauf, nicht wahr, Siegfried?“ Siegfried Reuschel nickte nur abwesend. Rita Mesings Bemerkung war betont sachlich gehalten, so dass Arne auch bei größter Mühe keine Ironie heraushören konnte. Trotzdem blieb er misstrauisch. Mit Recht, wie er sogleich vernahm.
„Du wirst uns sicher zuerst über die Befragung am Fundort der Leiche informieren, oder?“
Arne reagierte schnell, lächelte den Sarkasmus von Siegfried Reuschel weg, der offenbar Probleme damit hatte, ihn als Autorität zu respektieren.
„Fangen wir lieber von vorne an“, fasste Arne zusammen.
Auch die sorgfältige Untersuchung am Peenestrom durch die Spurensicherung bei Tagesanbruch hatte keinerlei Ergebnisse gebracht, die Schlussfolgerungen in irgendeine Richtung zuließen. Von den vielen Reifenspuren waren keine isoliert oder als jüngeren Datums identifiziert worden. Und der Sand war zu locker, um Spuren zu bewahren. Eventuelle Handlungsabläufe konnten deshalb nicht rekonstruiert werden. Das Umfeld des Fundorts wurde nach Blutspuren untersucht, allerdings ohne Erfolg. Sie wären aber auch sehr leicht nachträglich zu beseitigen gewesen. Den Obduktionsbefund aus Greifswald erwartete Arne Bock nicht vor dem Abend.
Dann erst gab Arne den Inhalt des Gesprächs mit Hans Waldeck wieder.
„Ach, ein Edeladler ist also auch im Spiel“, entfuhr es Siegfried Reuschel nach Nennung des Namens. Arne stutzte kurz, als er auf diese Weise erfuhr, dass der Jäger ein früherer Offizier war. Den neidvoll-anerkennenden Kosenamen für Piloten kannte er von seinem Großvater.
Er musste schnell wieder die Kontrolle zurückgewinnen.
Ein Beamter betrat nach kurzem Klopfen das Büro und übergab Arne eine Mappe.
„Hier. Von der Uni Greifswald.“
„Jetzt schon?“, staunte Bock und bedankte sich. Ein solches Tempo waren die Polizisten von der Greifswalder Rechtsmedizin nicht gewohnt. Sie konnten nicht wissen, dass gerade in diesen Tagen der Bereitschaftsdienst mit ständiger Anwesenheit im Labor getestet wurde. Mangels anderer Arbeit bekam die diensthabende Ärztin die Leiche noch vor Mitternacht auf den Tisch, und hatte die gesamte Nacht zur Verfügung. Arne Bock nahm die Blätter an sich und überflog sie. Er ließ dabei seine beiden Kollegen einfach zusehen, spürte ihre Neugier ebenso wie ihren Unmut darüber. Dann blickte er beide an, als ob alles selbstverständlich wäre und fasste das Obduktionsergebnis des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Greifswald zusammen.
„Das Alter der Frau wird auf dreißig bis vierzig Jahre geschätzt. Todesursache ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Genickbruch durch die Einwirkung stumpfer Gewalt auf die Halswirbelsäule. Durch das Fehlen von Blutspuren konnte diese Tatsache bei bloßer Anschauung nicht erkannt werden.“
Siegfried Reuschel hakte hier ein.
„Gibt es genauere Hinweise, auf welche Weise die tödliche Verletzung entstanden sein kann?“
Arne suchte in den Papieren nach einem Ansatz, die Frage zu beantworten.
„Nein, dazu gibt es keine Aussage.“ Er fuhr fort.
„In der Lunge war kein Wasser. Die Frau muss also schon tot gewesen sein, als sie in die Peene gelegt wurde. Das am Gesichtsknochen fehlende Gewebe wurde eindeutig post mortem entfernt. Ursache wahrscheinlich Tierfraß, da an den sehr unregelmäßigen Wundrändern keine Spuren menschlicher Werkzeuge oder Instrumente feststellbar waren.“
„Tierfraß?“ Rita erstaunte diese Aussage. „Würde ein Tier nicht zunächst … andere Stellen bevorzugen?“ Sie zögerte, suchte nach einer geschickten Formulierung. „Ergiebigere?“
„Ich kann mich nicht so gut in einen Aasfresser hineinversetzen“, gab Arne zurück, während er seine Mundwinkel leicht nach außen zog.
„Geben denn Bissspuren Anhaltspunkte auf ein bestimmtes Tier?“ Auch Siegfried beteiligte sich an der Rätselei.
„Nein.“ Arne fand dafür im Bericht keinen Ansatz.
In diesem Moment fiel ihm der Seeadler ein, den er bei seinen Besuchen auf der Insel regelmäßig beobachten konnte. Er wollte jedoch die Spekulationen nicht weiter auffächern. „Die Spurensicherung hat übrigens keine Hinweise darauf ergeben, ob der Tatort in der Umgebung oder ganz woanders zu vermuten ist. Wir haben also viele Lücken zu schließen“, stellte Arne fest.
„Den Zeitpunkt des Todes datiert die Pathologin auf den 30. Oktober zwischen 12 und 24 Uhr. Es ließ sich nicht mit ausreichender Genauigkeit feststellen, wie lange die Frau schon tot war, ehe sie ins Wasser gelegt wurde. Daher die lange Frist.“ Arne unterbrach kurz, registrierte die Anspannung seiner Mitstreiter und setzte fort.
„Im Blut fand sich ein Alkoholgehalt von 0,5 Promille, passend dazu im Magen Reste von Rotwein. Über die Sorte steht hier nichts.“
Keiner nahm das Lächeln von Arne auf.
„Und“, Arne hob die Augen und sah mit der Gewissheit in die Runde, jetzt mehr Aufmerksamkeit zu erregen, „die Frau hatte nicht lange vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr. Spermaspuren einer Person wurden sichergestellt, eine DNA-Analyse des Sekrets, und natürlich der Frau selbst, sind bereits in Arbeit.“
Dem Bericht lagen die Abbildungen von zwei Tattoos bei, die auf den Oberarmen der Toten noch recht gut zu erkennen waren. Arne schloss den Bericht mit dem Hinweis, dass im gesamten Bundesland bisher keine Vermisstenmeldung vorlag. Das hatte eine entsprechende Anfrage bereits unmittelbar nach dem Leichenfund ergeben.
Mit entschlossener Miene und lauter Stimme setzte Arne Bock zu einem kurzen Resümee an.
„Fassen wir zusammen. Weibliche unbekannte Leiche, dreißig bis vierzig Jahre alt, Todesursache Genickbruch durch stumpfe Gewalt, der Handlungsablauf kann nicht sicher rekonstruiert werden. Die Begleitumstände sprechen dafür, dass die Tat zumindest nicht am unmittelbaren Fundort verübt wurde. Verwertbare Spuren außer dem handelsüblichen Plastikseil, eine Wäscheleine, wurden nicht gefunden.“
„Wenn es überhaupt eine Straftat war“, meldete Siegfried Reuschel Bedenken an.
Fragend blickten die anderen beiden zu ihm.
„Und wenn jemand einfach die Leiche gefunden und dort festgebunden hat, damit sie nicht wegtreibt?“
Arne Bock war für einen Moment unsicher, wie er dieser offenbar völlig aus der Luft gegriffenen Vermutung des älteren Kollegen begegnen sollte. Ein kurzer Blick zu Rita Mesing zeigte ihm, dass auch sie die Bemerkung nicht ernst nahm.
„Du liest zu viel Fachliteratur, Siegfried“, entschloss er sich für unverbindliche Ironie. Reuschel jedoch blieb bei seinem Zweifel. „Solange wir keinen eindeutigen Beweis für eine Tötung haben, müssen alle Möglichkeiten offen bleiben. Die Frau kann ja schließlich auch gestürzt sein.“
Siegfried Reuschel pflegte den Ruf eines Querulanten, der selbst nahe liegende Tatsachen immer wieder in Frage stellte. Seine Kollegen bekamen den Eindruck, er mache das aus Prinzip, um Aufmerksamkeit zu erregen. Manche schoben es darauf, dass er mit allen Karriereambitionen mehr oder weniger freiwillig abschließen musste und sich in den zehn verbleibenden Jahren bis zu seiner Pensionierung etwas Narrenfreiheit leisten wollte. Als Ausgleich für verpasste Chancen, denn 1989 stand er auf dem Sprung zu höheren Aufgaben bei der Bezirksbehörde der Volkspolizei. Andererseits war er bemüht, den Bogen nicht zu überspannen und seinen Status aufs Spiel zu setzen. Und damit sein erst vor wenigen Jahren bezogenes Eigenheim an der Wolgaster Spitzenhörnbucht, mit einem unvergleichlichen Blick auf Peenestrom und Klappbrücke.
Arnes Strategie war es, die positive Seite dieser Pedanterie zu nutzen, den Genauigkeitswahn. Wenn möglich vermied er unnötige Konfrontation, hatte schon mehrfach durch Ignorieren so manche destruktive Äußerungen von Siegfried Reuschel ins Leere laufen lassen. Eine persönliche Beziehung konnte er bisher zu Siegfried nicht herstellen, zu oft musste er die kleinen Nadelstiche gegen seine Autorität abwehren.
„Gut, wir kommen hier nicht weiter und müssen warten, bis die Identität der Leiche festgestellt wurde. Und das kann ohne Vermisstenmeldung und Registrierung der DNA mühsam werden“, beendete Arne Bock die Runde.
Rita Mesing verließ zusammen mit Siegfried Reuschel das Zimmer ihres Chefs. Sie hatte schon zu einer Bemerkung über das forsche Agieren des jungen Kommissars und die tollkühne Vermutung ihres Kollegen angesetzt, ließ es jedoch sein, als sie das teilnahmslose Gesicht an ihrer Seite wahrnahm.
Arne begab sich zu seinem Chef Hartmut Westphal und informierte ihn über den Stand der Dinge. Westphal nahm die Information wortlos mit einem eher als Skepsis zu deutendem Kopfnicken entgegen, was Arne mit einem Anflug von Trotz als neue Herausforderung annahm.
Die eben vernommenen Beiträge seiner Kollegen waren ja auch eher dürftig und ideenlos. Er musste einfach höhere Forderungen stellen, ohne dabei selbst als hilflos zu erscheinen.
Wieder in seinem Büro angekommen, blickte er auf seinen PC und spürte plötzlich ein Verlangen, sich in den Chat einzuloggen. Aber auf dem polizeilichen Computer war das ausgeschlossen.
Der Mann ging durch die Heringsgasse in Wolgast. Seine Kappe hatte er tief ins Gesicht gezogen, der weit nach vorne ragende Schirm gab ihm Schutz. Er wollte in der beginnenden Dämmerung nicht erkannt werden. Trotz der für diese Jahreszeit milden Witterung trug er dünne Handschuhe. Sein Leben war seit einigen Jahren einem einzigen Ziel untergeordnet. Dabei folgte er einem lebendigen Plan, der den sich ständig wechselnden Bedingungen angepasst wurde, ohne kalkulierbaren Weg. Nur Richtung und Eckpunkte waren vorgegeben.
Gerade in diesem Augenblick dachte er daran, wie er als Jugendlicher selbst Labyrinthe entwickelt hatte, die für seine Familie und seine Freunde nicht immer leicht zu knacken waren. Es kam eben darauf an, viele Spuren zu legen, den Benutzer des Labyrinths solange wie möglich in der Hoffnung zu wiegen, auf dem richtigen Weg zu sein. Aber die größte Leistung sah er darin, jemanden im Ungewissen darüber zu lassen, dass der viel versprechende Anfang des gesuchten Weges in einem Labyrinth enden würde. Die Ansprüche an seine Fähigkeiten wuchsen mit der zurückgelegten Wegstrecke. Er genoss solche Erfolgserlebnisse zwischendurch.
Den ersten Teil seiner Aufgabe hatte er bereits absolviert, blickte jedoch mit gemischten Gefühlen auf ihn zurück. Er verlief nicht ganz nach seinem eigenen Plan. Nun war er auf dem zweiten unterwegs, obwohl ihn der erste noch nicht völlig in Ruhe ließ. Das beeinflusste den zweiten Teil auf manchmal unangenehme Weise. Schließlich sah er es aber als besondere Herausforderung, der er sich gewachsen zeigen würde.
Von jetzt an würde er die Kreise enger ziehen, Fallen stellen, Schlingen legen. Schließlich würde er sein Wild zur Strecke bringen. Als das Wort Kreis seinen gedanklichen Fokus passierte, kam ihm eine Idee.
Der Mann bog in die Herzogstraße ein, schlenderte einige Meter in nördliche Richtung, blickte sich unauffällig um. Als er auf der Höhe des Büros von ARGUS-TV war, zog er schnell einen kleinen Papierumschlag aus der Innentasche seines Mantels und ließ ihn im Briefkasten des Senders verschwinden, schloss die Klappe danach leise, um jede Aufmerksamkeit zu vermeiden.
Joachim Walter hatte an diesem Tag keine Lust, wahlweise mit der schwer vorhersehbaren Kochlust seiner Ehefrau oder den Tücken einer zeitaufwändigen eigenen Speisezubereitung in der heimischen Küche zu kämpfen. Vorsichtshalber hatte er sich deshalb auf der Heimfahrt einen Dönerteller gegönnt. Gleich nach der Ankunft in seinem Haus war er auf seinem Lieblingsplatz, dem großen Ohrensessel, versunken und betrachtete sich selbst in den großen Glasscheiben des Wintergartens. Die dahinter liegenden Peenewiesen am Rande von Karlshagen waren in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen. Er fühlte sich am Ende dieses Arbeitstages zerschlagen, spürte eine ungewohnte Leere im Kopf. Das Alter verlangte wohl seinen Tribut, wie ihm auch das Spiegelbild bestätigte.
Im seinem Büro am Marktplatz der Stadt Usedom, die der Insel einst den Namen gab, stand heute das Telefon nicht still. Die Gedanken an den Grund dafür beherrschten ihn immer noch und hatten den Triumph seiner Laufbahn völlig in den Hintergrund gedrängt.
Joachim Walter wurde zwei Tage zuvor als der erste Bürgermeister der neu geschaffenen Gemeinde Insel Usedom in sein Amt eingeführt. Ausgerechnet er, ein Zugereister. Stolz erfüllte ihn. Als Ort der Festlichkeit hatte der frisch gewählte Amtsträger das große Hotel Baltischer Hof in Zinnowitz gewählt.
Die Gedanken an den Weg zu diesem Amt schufen das Gerüst für ein beinahe melancholisches Wohlgefühl, mit dem er den Festakt bestritt. Das Bewusstsein, im letzten und wohl bedeutendsten Abschnitt seines Berufslebens angekommen zu sein, erfüllte jede Faser seines Körpers.
Der Regionalsender ARGUS-TV aus Wolgast zeichnete die gesamte Veranstaltung auf. Zum Abschluss der Zeremonie füllten seine würdevollen Worte den Raum, wurden von den modern gefärbten Wänden in jeden Winkel geworfen, so dass sich keiner der Anwesenden ihnen entziehen konnte. „Ich versichere Ihnen, verehrte Anwesende, dass ich meine ganze Kraft…“, die beiden letzten Worte artikulierte er auch mit einer solchen, „in den Dienst der neuen Gemeinde Insel Usedom stellen werde.“
Mitten hinein in den einer Sinfonie ähnelnden Nachklang ertönte plötzlich eine Dissonanz mit schmerzhafter Frequenz.
„Herr Bürgermeister, wie stehen Sie zu den neuen Plänen, den Deich am Peenestrom abzureißen?“ Im Saal breitete sich schlagartig Stille aus. Die knisternde Spannung des Augenblicks entlud sich wie durch einen Funkenschlag zu einem Nichts. Walters Gemütszustand sank wie ein Stein, die Gesichtszüge entgleisten und blieben in dieser Position für Sekundenbruchteile eingefroren. Seine Verhaltensreflexe als Beamter waren schnell wieder aktiv und zauberten ein Lächeln in seinen Blick, das aber um die Augen einen großen Bogen machte. Fieberhaft suchte er nach der passenden Reaktion.
Der Moderator der Feier kam ihm zuvor, erhob sich würdevoll und sandte einen energischen Blick zu dem Zwischenrufer.
„Herr… ich kenne Ihren Namen leider nicht, haben Sie bitte Verständnis dafür, dass heute keine Diskussion vorgesehen ist.“
Hier griff Joachim Walter aber schon ein. „Herr Henkelmann, Ich kann Sie beruhigen, bitte kommen Sie im Anschluss zu mir.“
Walter kannte den ehemaligen Offizier als Vorsitzenden des Heimatvereins Peenemünde.
Der Moderator löste die Situation auf, indem er die Anwesenden zum Büffet in den Nebenraum bat. Auf dem Wege dorthin trat ein elegant gekleideter etwa sechzigjähriger Mann zu Walter und sprach ihn direkt an. „Einen Moment bitte, Herr Walter.“ Er überreichte ihm seine Visitenkarte und blickte ihm in die Augen. Walter murmelte leise den Namen vor sich hin. „Erich Bernecker, Referent der Staatskanzlei…“, um dann mit fester Stimme zu fragen: „Was kann ich für Sie tun?“ Bei den letzten Worten blickte er sein Gegenüber neugierig an.
Bernecker ignorierte die Frage. „Sie müssen unter allen Umständen dieses Gerücht über einen Deichabriss aus der Welt schaffen, ich werde darüber gleich nach dieser Veranstaltung noch mit Ihnen reden.“ Damit wandte sich Bernecker wieder ab, gerade rechtzeitig, um den Zwischenrufer Reinhard Henkelmann, der an Walter herantrat, nicht mithören zu lassen.
Dieser sprach den neu gewählten Bürgermeister an: „Bitte entschuldigen Sie meine etwas forsche Art, aber was können Sie mir denn auf meine Frage antworten?“
Walter hatte sich wieder völlig unter Kontrolle, schaute den Fragesteller mit entschlossener Miene an.
„Sie können gänzlich unbesorgt sein, ich kenne keine solchen Pläne. Mich würde aber interessieren, woher diese Gerüchte kommen. Gerade in meiner Funktion habe ich ein großes Interesse daran, jegliche Unruhe zu vermeiden. Und ich hege übrigens große Wertschätzung für die Arbeit Ihres Vereins“, fügte er hinzu, ohne zu merken, dass es eine Floskel für solche Gelegenheiten war.
Skeptisch blickte Henkelmann Joachim Walter ins Gesicht, konnte aber keinerlei Unsicherheit darin erkennen.
Er hatte die Information aus ganz sicherer Quelle und wusste nun, dass sein Gegenüber entweder nichts davon wusste oder log. Beides sprach nicht für ihn.
„Vielen Dank für diese Antwort, ich werde mich bemühen, Ihnen dazu die nötigen Informationen zu geben. Sie werden in jedem Fall noch von mir hören.“
Mit diesen Worten drehte sich Henkelmann um und ließ den Bürgermeister stehen. Joachim Walter kannte frühere Pläne zum Deichrückbau. Nachdem jedoch 1999 die rasch gebildete Bürgerinitiative unter Vorsitz eben dieses Reinhard Henkelmann einen Sturm der Entrüstung dagegen entfaltete, wurde das Projekt in der Landeshauptstadt Schwerin sofort gestoppt.
Walter sah in den Worten Henkelmanns eine Bestätigung für Gerüchte, von denen er gehört hatte. Er musste unbedingt die Aktionshoheit und die nötige Übersicht über diese Angelegenheit zurückgewinnen.
Missmutig sah er Erich Bernecker auf sich zukommen. Sporadische Kontakte mit dieser Art von Beamten gab es je nach Bedarf, sie hatten bisher seiner Karriere nicht geschadet. Dennoch beugte sich Walter nur widerwillig solcher „indirekten Demokratie“, wie er es in höflicher Abwandlung für sich bezeichnete. Bernecker kam ohne Umschweife auf den Punkt.
„Sie kennen die Erfahrungen mit dem ersten Versuch, dieses Projekt umzusetzen.“ Walter schwieg dazu mit eisiger Miene. Bernecker setzte fort. „Wir haben uns jetzt für einen anderen Weg entschieden. Details sind noch nicht festgelegt. Die Absichten haben aber offensichtlich schon den Weg nach außen gefunden, deshalb muss ich zu Ihnen jetzt ganz offen sein.“ Er ließ unausgesprochen, wer mit „wir“ gemeint war, Walter war sich jedoch darüber ziemlich sicher. „Mit dem Projekt sind wichtige Landesinteressen verbunden.“ Walter hörte immer noch schweigend zu, neugierig auf die Begründung. Der herablassende Tonfall in Berneckers Worten widerte ihn an. „Sie wissen, dass die Europäische Natur-Stiftung sich sehr für die Renaturierung von ehemaligen Moorgebieten einsetzt. Eine beträchtliche Summe an Fördermitteln kann im Zusammenhang damit ausgereicht werden.“
Walter lächelte still in sich hinein, denn aus kurzzeitiger Tätigkeit in der Landesvertretung bei der EU in Brüssel kannte er Manuela Wellers, eine Mitarbeiterin dieser Stiftung. Und ihre Kontakte, an deren private Ausweitung er sich besonders gerne erinnerte, waren seitdem nie ganz abgerissen.
„Auf diese finanziellen Mittel wollen und können wir nicht verzichten, zum Wohle der Region“, setzte Bernecker fort. „Ihnen sollte auch klar sein, in welchem Maße die gesamte Insel Usedom davon profitieren kann. Das ist übrigens nicht schlecht für Sie als Amtsträger. Voraussetzung ist allerdings, dass nichts davon vorher nach außen dringt. Sie müssen unbedingt alle Gerüchte abweisen und die Öffentlichkeit in Sicherheit wiegen.“
Joachim Walter war entsetzt darüber, wie direkt sein Gegenüber ein Handeln forderte, das ganz offensichtlich weit abseits der Gesetze angesiedelt war.
„Herr Walter, ich sehe in Ihrer Mimik einen Ansatz, der mir nicht gefällt.“
Erschrocken unterbrach Walter seine Gedankengänge. Hatte er Bernecker unterschätzt? „Wir haben für Sie in unseren Plänen eine aktive Rolle vorgesehen.“ Bernecker blickte Walter durchdringend an, verzog keine Miene.
„Details werden Sie rechtzeitig erfahren, wir wissen aber genau, dass Sie die Aufgabe, die wir für Sie vorgesehen haben, erfüllen können.“
Er glaubte, immer noch Ablehnung in Walters Blick zu erkennen und fügte hinzu: „Und auch erfüllen werden.“
Die unverhüllte Drohung, in entsprechend machtbewusstem Tonfall vorgetragen, ließ jede Sicherheit aus Walters Gedanken weichen, was auch seine Körpersprache nicht verbergen konnte. Den letzten Rest an Selbstsicherheit trieb ihm Bernecker aus, indem er ein Schriftstück hervorholte und es Walter so nahe vor die Nase hielt, dass dieser das Entscheidende erkennen konnte.
Es war ein handgeschriebenes Blatt, mit seiner Unterschrift, datiert vom Juli 1987, überschrieben mit dem Wort „Verpflichtungserklärung“.
Den Rest kannte er.
Sie hatten ihn also in der Hand. Mühsam behielt Walter die Kontrolle über seine Bewegungen und seine Worte.
„Ich sehe, Sie haben die Situation erfasst. Also kann ich etwas konkreter werden.“ Bernecker überreichte ihm so unauffällig wie möglich einen Chip, wie er auch für Digitalkameras verwendet wird.
„Auf diesem Datenträger befindet sich ein Dokument. Zum Öffnen benötigen Sie ein Passwort, das Sie von uns unmittelbar vorher bekommen. So erfahren Sie genau, wie Sie vorzugehen haben.“
Wortlos nahm Walter den Chip entgegen. „Vergessen Sie nicht die Unterstützung der Landesregierung bei Ihrer Wahl. Wir bauen auf Sie, setzen Sie einfach Ihre bisherige, sagen wir, Aufgeschlossenheit gegenüber den Wünschen der Politik fort. Das wird an oberer Stelle geschätzt und wird weiterhin nicht zu Ihrem Nachteil sein.“
Dieser Hinweis auf seine bisherigen engen Kontakte zur Landespolitik steigerte Walters Wut, die aber sofort in einem Moor von Hilflosigkeit versank. Walter vermied es, Bernecker beim Abschied die Hand zu geben und erwiderte auch dessen Gruß nicht. Er verstaute die Speicherkarte in einem verschließbaren Fach seiner Brieftasche.
Joachim Walter hatte verstanden. Dann aktivierte er den Mechanismus, den er meist in solchen Situationen in Anspruch nahm. Ein Rädchen darin hatte sich als besonders erfolgreich erwiesen. Sobald Bernecker außer Hörweite war, wählte Joachim die Nummer von Viola Kübeck. Sie betrieb ein Kosmetik- und Massagestudio in seinem Wohnort Karlshagen, und Joachim war ein Kunde der besonderen Art, wie er es für sich selbst immer formulierte. Hoffentlich war sie noch nicht zu ihrer kurzen Urlaubsreise aufgebrochen, die sie ihm angekündigt hatte.
„Schön, deine angenehme Stimme zu hören“, klang es ihm entgegen, als er seine übliche Frage nach einer Spezialbehandlung anbrachte. Denn Walter hatte keine Lust, nach der Veranstaltung noch einmal sein Büro in der Stadt Usedom am anderen Ende der Insel aufzusuchen.
„Für dich doch immer“, hauchte sie jetzt einen Ton weicher, „Gegen 15 Uhr ist okay, ich muss aber … danach … noch mal ins Studio. Du weißt ja, ab morgen bin ich für eine Woche im Urlaub.“
Unverzüglich begab sich Joachim Walter auf den Heimweg, wich geschickt allen Versuchen aus, ihn im Anschluss an diese Veranstaltung in ein Gespräch zu verwickeln. Mit größter Mühe entkam er den Versuchen von ARGUS-TV, ihn zu einem Interview überreden zu wollen.
Die Begegnung mit Erich Bernecker hatte ihn in gehörigem Umfang aus dem Gleichgewicht gebracht. Auf der Rückfahrt im Auto ertappte er sich mehrfach dabei, dass diffuse Gedanken, deren Herkunft er nicht einordnen konnte, ihn an der nötigen Konzentration hinderten. Er fühlte sich in seine Jugend zurückversetzt, als er sich in unangenehmen Situationen immer wünschte, dass diese wie mit einem Federstrich einfach aus seinem Gedächtnis, oder besser noch, aus seinem Leben zu streichen seien.
Fast alle Anrufer des Tages waren besorgt, erkundigten sich nach den Gerüchten zum Deichrückbau. Natürlich stürzten sich die Medien auf ihn. Diesmal stellte er sich den Fragen von ARGUS-TV.
Mühevoll hatte Walter an diesem Tag seine Fassung bewahren können. Die Erregung darüber, auf welche Art er von Bernecker abgekanzelt wurde, war längst nicht abgeklungen. In seinem Inneren stimmte er natürlich mit Reinhard Henkelmann überein. Er würde wohl mit ihm persönlich reden müssen, obwohl das ein gewagter Balancegang wäre.
Einen kleinen Moment lang zog er sogar in Erwägung, es auf einen Machtkampf mit Bernecker und dessen Auftraggebern ankommen zu lassen und sich offen gegen den Deichrückbau auszusprechen.
Schließlich verwarf er diesen Gedanken. Er konnte sich nicht sicher sein, wer genau diese Leute waren und was sie gegen ihn noch alles auffahren würden. Vor allem wenn er an die dunklen Stellen in seiner Vita zurückdachte. Die dunkelsten hatten glücklicherweise bereits einen ausreichenden Sicherheitsabstand zur Gegenwart, wie er selbst einschätzte. Auch wenn die Mauer dorthin auf seiner Rückfahrt scheinbar etwas von ihrer Widerstandskraft eingebüßt hatte.
Die Möblierung des Raums war spärlich: nur zwei Sessel, ein zweisitziges weich gepolstertes Sofa und zwei kleine Tischchen auf Rollen, genau richtig, um darauf Whiskyglas, Obstteller oder ein Buch abzulegen. Die Wände waren mit hellen beigefarbenen Strukturtapeten versehen, deren Relief sich im Schatten der Stehlampe leicht abzeichnete.
In dieser gemütlichen Atmosphäre versuchte Joachim, die Belastungen abzuschütteln, probierte es mit der gewohnten Zeitschriftenlektüre. Aber wie so oft fielen ihm dabei die Augen zu.
Als seine Frau Erika betont laut das Zimmer betrat, schreckte Joachim hoch. Sie war in ein legeres Kostüm aus zwei verschiedenen, zueinander passenden Blautönen gekleidet, wie Joachim nebenbei registrierte. Gewohnheitsmäßig erwartete er in der jetzigen Situation von seiner Frau keine wirkliche Unterstützung.
Das hatte Erika auch gar nicht vor.
„Oh, habe ich dich geweckt?“, fragte sie mit kaum verhohlener Ironie. „Jaja, ältere Herren brauchen ihre Ruhe. Entschuldige bitte, ich vergaß es.“ Joachim lächelte in sich hinein, ehe er erwiderte: „Vor allem, wenn sie mit so vitalen und merklich jüngeren Frauen zusammenleben.“ Erfreut registrierte er seine gewohnte Angriffslust und betrachtete die Kleidung seiner Frau mit gespieltem Interesse.
Erika Walter war gerade zwei Monate jünger als Joachim, etwa einen Kopf kleiner und trotz aller Bemühungen immer noch schwerer. Das Kostüm sollte nach außen hin diese Tatsachen zumindest abschwächen.
Beide hatten sich an die gegenseitigen Nadelstiche gewöhnt, es gehörte mittlerweile zum Ritual ihres Zusammenlebens. Sie wahrten nach außen den Schein der Ironie, meinten es jedoch im Inneren wohl viel ernster, als sie es sich selbst eingestehen wollten.
Erika freute sich auf ihre Rolle als First Lady der Insel. Damit verband sie aber keine erneute innere Annäherung an ihren Ehemann. Im Gegenteil, sie könnte diese Situation ausnutzen, um ihre Freiheiten auszuweiten.
Jovial verabschiedete sie sich: „Bye, großer Chef“, wie sie ihn seit der gewonnenen Wahl nannte, „ich bin dann mal weg, kann spät werden, wie du weißt.“
Joachim gab sich keine Mühe, darüber nachzudenken, ob sie ihm vielleicht schon früher ihr Ziel für diesen Abend mitgeteilt hatte.
Einmal aufgewacht, legte er die Zeitschrift ganz aus der Hand und schaltete den Fernseher ein. Beim Zappen blieb er zufällig bei ARGUS-TV hängen, denn etwas erregte dort seine Aufmerksamkeit. Das Fernsehbild zeigte verschwommen und undeutlich eine Wasserleiche, die, so der Kommentator, am Peenestrom bei Peenemünde entdeckt worden war. Das Foto war erkennbar nachts aufgenommen worden. Sofort erwachte sein Verantwortungsgefühl als neuer Amtsträger.
Die darauf folgende Einstellung zeigte die Umrisse der weiblichen Leiche etwas genauer, das Gesicht wurde aber bewusst ausgespart. Schemenhaft konnte man in der dunklen Umgebung eine Schulter der Leiche erkennen. Ganz langsam und zunächst weit hinten in seinem Gehirn begann sich bei Joachim eine Annäherung zwischen dem Bild und eigenen Erinnerungen aufzubauen. Plötzlich trafen beide aufeinander, was auf ihn wie ein Stromstoß wirkte.
Seine Gedanken gerieten schlagartig ins Chaos. Obwohl sich alles in seinem Innersten dagegen sträubte, fühlte er sich erneut um zwei Tage zurück versetzt.
Die kurze aber heftige Begegnung mit Viola Kübeck hatte ihm gezeigt, wie viel Vitalität in ihm steckte. Er brauchte eben nur die entsprechende Herausforderung. Dann hatte ihn jedoch der Übermut gepackt. Er hielt sich nicht an die Absprache, äußerste Diskretion zu wahren, fuhr ihr ins Studio hinterher. Dort sah er Licht, ging einfach hinein wie ein Zufallskunde. Er wollte sie überraschen, war selbst noch euphorisiert von ihrer Begegnung. Sein plötzliches Auftauchen schien ihr aber nicht gefallen zu haben.
Voller innerer Unruhe dachte er an den Moment ihrer Trennung im Studio, und die möglichen Konsequenzen daraus. Es hinterließ bei ihm ein unsicheres Gefühl. Dabei war er sich der Loyalität von Viola doch immer so sicher. Schon jetzt, nach nur zwei Tagen, sehnte er sich trotzdem, oder gerade deshalb, wieder nach den körperlichen Reizen dieser attraktiven Frau.
Joachim folgte einem Impuls, ging hinauf in sein Arbeitszimmer und schaute sich die Bilder an der Wand an. Sein Blick blieb an einem von ihnen hängen. Es war ein Geschenk von Viola, was Erika natürlich nicht wusste. Er hatte gefunden, was er befürchtete. In diesem Augenblick setzte gleichzeitig einer seiner Vorzüge aus, das rationale Handeln in schwierigen Situationen. Doch das war Joachim Walter nicht bewusst.
Hastig und voller Unruhe zog er sich an und verließ das Haus. Zunächst fuhr er zum Studio von Viola in der Strandstraße, hielt an, stieg aus und sah an der Tür das Schild „Wegen Urlaub vom 31. Oktober bis zum 6. November geschlossen“.
Joachim fuhr weiter, stellte das Auto auf dem um diese Zeit vollkommen leeren Strandparkplatz in der Ostseestraße ab und ging das letzte Stück zu Fuß. Viola wohnte in einem kleinen Haus im neuen Ferienhausgebiet An der Düne. Diese abseitige Lage kam ihnen bei ihren Treffen sehr zugute.
In Violas Haus brannte kein Licht. Ihr grauer Opel Astra war nicht zu sehen. Joachim ging zur Eingangstür, der Bewegungsmelder reagierte nicht, es blieb dunkel. Eine solche Vorsichtsmaßnahme hatte sie bisher vor ungewollten Wahrnehmungen seiner Besuche geschützt.
Sorgfältig um sich blickend, ging er einmal um das Haus herum, trat dabei auf die vielen kleinen Pflasterbruchstücke, um keine Spuren zu hinterlassen. Er sah und hörte nichts, war überzeugt, dass sich niemand im Haus befand. Dennoch drückte er zur Sicherheit dreimal – wie als persönliches Erkennungssignal vereinbart – mit dem Knöchel des rechten Zeigefingers auf die Klingel.
Keine Reaktion.
Joachim holte sein Schlüsselbund aus der Hosentasche, zögerte. Den Schlüssel zu ihrem Haus hatte er sich besorgt, ohne dass Viola es bemerkte. Einen besonderen Grund gab es dafür nicht, er wollte eben nur auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.
Joachim schloss auf und ging langsam in die dunkle Wohnung. Auf dem Fußboden leuchtete ihm ein unbeschrifteter weißer Briefumschlag entgegen, den er nach kurzem Zögern an sich nahm. Den Schalter für die Außenjalousie des Fensters fand er im einfallenden Licht der Straßenbeleuchtung. Für den Gang durch das Haus konnte er keinerlei Zeugen gebrauchen. Auf der kleinen Kommode im Schlafzimmer lag ein Koffer, zur Hälfte gepackt für die Urlaubsreise, die sie aber ganz offensichtlich nicht angetreten hatte.