Das Evangelium den Armen - Wolfgang Vondey - E-Book

Das Evangelium den Armen E-Book

Wolfgang Vondey

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Beschreibung

In diesem Band untersuchen unterschiedliche Autoren aus verschiedenen Nationen das Spannungsfeld von Pfingstbewegung und sozialer Verantwortung. Dabei geht es unter anderem um das Soziales Engagement in der Pfingstbewegung, Beoachtungen zum sozialen Wandel im Neuen Testament, Pfingsten und das Erlassjahr oder auch um die Frage: Unterschlagung - die gemeinschaftliche Sünde der modernen Christenheit? Die Notwendigkeit dieses Bandes macht Pastor Marcel Redling, Darmstadt, in seiner Einführung deutlich: "Wir leben in einer von Krisen geschüttelten Zeit. Jeden Tag erreichen uns unzählige Nachrichten aus aller Welt, die von Armut, Hunger und Elend berichten, von Menschen, die unter widrigsten Umständen ihr Dasein fristen. Die globalen Nöte und Herausforderungen sind enorm und übersteigen bei weitem unsere Vorstellungskraft sowie die Möglichkeiten von Einzelnen, diesen zu begegnen. Als Christen dürfen wir uns jedoch weder aus dieser Welt zurückziehen noch uns dem Lauf der Dinge widerstandslos ergeben. Vielmehr sind wir als christliche Gemeinden herausgefordert, den Missständen dieser Welt entschieden entgegenzutreten und gerade den Menschen beizustehen, die einen besonderen Platz im Herzen Gottes einnehmen - den Armen und Bedürftigen. Lange musste sich die Pfingstbewegung den Vorwurf gefallen lassen, in Fragen der sozialen Gerechtigkeit eine passive, bisweilen gar gleichgültige Haltung einzunehmen. Das vorliegende Buch soll eine Einladung sein, sich neu diesem wichtigen Thema zu stellen. ... Dieses Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil umfasst theologische Aufsätze, die das Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Der zweite Teil des Buches beinhaltet Beiträge, die nicht so sehr wissenschaftlich geprägt sind, aber relevante Impulse und Anregungen liefern. Der dritte und letzte Teil des Buches bietet einen wertvollen Blick in die Praxis und verdeutlicht damit, wie der Einsatz für Gerechtigkeit konkret vor Ort in verschiedenen Gemeinden aussehen kann."

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Forum Theologie & Gemeinde

Materialien zum geistlichen Dienst Band 19

theologisch kompetent – praktisch relevant

Das Evangelium den Armen

Die Pfingstbewegung im Spannungsfeld zwischen sozialer Verantwortung und klassischem Missionsverständnis

Herausgegeben vom Forum Theologie & Gemeinde des BFP

mit Beiträgen von

Marcel Redling, Wolfgang Vondey, Keith Warrington, Matthias Wenk, Tom Kurt, Samuel Diekmann, Johannes Stephens, Ray Mayhew, Samuel Lee, Héctor Petrecca, Martin Bühlmann, Harald und Esther Sommerfeld, Ulf Bastian und Alexander Gentsch

© 2013 Copyright Forum Theologie & Gemeinde (FThG)

im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR, Erzhausen

2., leicht bearbeitete u. gekürzte Ausgabe 2017

Bibelstellen sind, wenn nicht anders angegeben, der Revidierten Elberfelder Bibel, © 1985/1991/2006 SCM R.Brockhaus, Witten, entnommen.

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigungen in Form von Kopien einzelner Seiten oder Ausdrucken einzelner Abschnitte (digitale Version) sind nur für den privaten Gebrauch bzw. innerhalb einer Ortsgemeinde gestattet. Alle anderen Formen der Vervielfältigung (Mikrofilm, andere Verfahren oder die Verarbeitung durch elektronische Systeme) sind ohne schriftliche Einwilligung durch das Forum Theologie & Gemeinde nicht gestattet.

Lektorat: Stefanie Dietrich, Würzburg

Layout u. Umschlag, Realisierung E-Book: admida-Verlagsservice, Erzhausen

Druck: Breitschuh & Kock, Kiel

ISBN der Printausgabe: 978-3-942001-68-7

ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-942001-24-3

Bestell-Nr. buw033

Forum Theologie & Gemeinde (FThG)

Industriestr. 6–8, 64390 Erzhausen

[email protected] • www.forum-thg.de

Die Autoren

Marcel Redling ist Pastor der „Gemeinde der Christen Ecclesia Darmstadt OV“ und hat am Theologischen Seminar BERÖA in Erzhausen sowie am Regents Theological College Nantwich, England studiert.

Wolfgang Vondey ist Direktor des Centre for Pentecostal and Charismatic Studies an der University of Birmingham, sowie Autor von zahlreichen Büchern und Aufsätzen über die Pfingstbewegung.

Keith Warrington war viele Jahre lang Professor am Regents Theological College in West Malvern, England.

Matthias Wenk promovierte nach dem Theologiestudium an der Brundel University, London, zur lukanischen Pneumatologie. Seit 1999 ist er Pastor der BewegungPlus (Schweiz) und Teilzeitdozent am Theologisch-Diakonischen Seminar, Aarau sowie am InstitutPlus, Baar.

Tom Kurt ist Pastor der BewegungPlus in Interlaken und studiert zurzeit berufsbegleitend an der University of South Africa im Fachbereich Theologische Ethik.

Samuel Diekmann ist Pastor im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden und lebt mit seiner Familie im hessischen Rödermark. Er hat als Autor schon ­mehrere Bücher veröffentlicht.

Johannes Stephens ist Sozialpädagoge und selbstständiger Coach, Organisations- und Fundraisingberater und leitet die Verschenke-Aktion der Freien Christengemeinde in Bremen.

Ray Mayhew, Brite, ist Autor mehrerer Bücher und zahlreiche Artikel und leitet zurzeit ein Studienzentrum im Nahen Osten.

Samuel Lee hat zu „Soziologie der Kultur“ promoviert und lebt und arbeitet in Niederlanden. Gemeinsam mit seiner Frau dient er als Pastor unter den Immigranten und Flüchtlingen in Amsterdam. Er ist außerdem Gründer der „Foundation University,“ ein Online-Angebot für diejenigen, die aus wirtschaftlichen, politischen oder religiösen Gründen nicht in der Lage sind, regulär studieren zu können.

Héctor Petrecca, MA, ist Pastor der Gemeinde „Iglesia Cristiana Bíblica (ICB)“ (dt. Christlich Biblische Gemeinde) in Buenos Aires, Argentinien, Vicepräsident des Evangelisch-pfingstlichen Bundes (Federación-Confederación Evangélica Pentecostal) und Mitglied des Weltkirchenrats (WCC). Seine Gemeinde hat u. a. einen Arbeitszweig gegründet, der sich um hilfsbedürftige Menschen kümmert. Hier werden Kleidung, Lebensmittel und Medikamente in ärmeren Stadtvierteln und in Krankenhäuser an Bedürftige verteilt.

Martin Bühlmann ist gemeinsam mit seiner Frau der Team-Leader der Vineyard Berlin und leitet die Vineyard Bewegung Deutschland, Österreich, Schweiz und ist Teil des VIE (Vineyard International Executive Team)

Harald und Esther Sommerfeld – Harald Sommerfeld ist freiberuflicher Berater für urbane Transformation (www.transformission.de) und Vorsitzender des überkonfessionellen Netzwerks Gemeinsam für Berlin (www.gfberlin.de). Seine Tochter Esther Sommerfeld arbeitet als Lektorin und Projektmanagerin im Verlagsbereich.

Ulf Bastian ist Pastor in der Christengemeinde Elim in Hamburg und leitet seit 2007 den sozialdiakonischen Arbeitsbereich „Stadtinsel e.V.“ der CG Elim.

Alexander Gentsch war Mitbegründer der deutschlandweit ersten lokale Micha-Gruppe in Leipzig (2006) und arbeitet seit Januar 2008 als Projektkoordinator der „Micha-Initiative“ der Deutschen Evangelischen Allianz. Zu seinen Aufgaben in diesem Arbeitskreis gehören u. a. die Unterstützung lokaler Micha-Gruppen, die Bekanntmachung der Initiative u. v. m.

Vorwort

Die Pfingstbewegung steht zu Recht in dem Ruf, an einen mächtigen Gott zu glauben, und dieser Glaube schließt Zeichen und Wunder, Zungenrede und Heilungen mit ein. Als die Bewegung im 20. Jahrhundert entstand und das formale Christentum erschütterte, wurde sie zu einer Oase für dynamische geistliche Erfahrungen, die einen starken Gegenpol zu der sterilen Monotonie der vorherrschenden christlichen Frömmigkeit bildeten. Die Gegenwart des Heiligen Geistes entzündete Kanzeln und Kirchenbänke gleichermaßen und floss über in das persönliche Leben von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt.

Paradoxerweise wurde die Pfingstbewegung, die ja an vielen Stellen als Reaktion auf biblische Reflexion entstand, in erster Linie als ein existenzialistischer Glaube (im Sinne einer starken Erfahrungsorientierung) bekannt, bestätigt durch die Tradition der Heiligungsbewegung. Wegen ihrer Leidenschaft für Kraftwirkungen wertete man sie geringschätzig als Strömung, die im Erleben verhaftet sei und noch auf eine theologische Struktur warte. Doch damit nicht genug: Die Betonung eschatologischer Themen zog ihre Aufmerksamkeit weg von der Verantwortung, über die sozialen, politischen und systemischen Mächte des Bösen auf der Welt nachzudenken und darauf zu reagieren. Pfingstgläubige wurden Experten darin, mit Gott und mit Dämonen zu reden, aber zu institutioneller Unterdrückung hatten sie nichts zu sagen. Wie bei vielen Evangelikalen fiel ihre Antwort auf Mission dualistisch und manchmal recht kurzsichtig aus. Sie versäumten es, das vielschichtige Wesen der Situation widerzuspiegeln, in der die Menschheit sich befindet.

In den letzten Jahrzehnten hat sich all dies zum Besseren verändert. So wie jede andere Ausprägung christlichen Glaubens, und sogar mehr als die meisten von ihnen, ist die Pfingstbewegung immer noch eng mit der Basis verbunden. Folglich hat sie sowohl eine Verantwortung als auch einen berechtigten Auftrag, auf die bedeutenden Probleme und Fragen zu reagieren, die das Leben ihrer unzähligen Anhänger und darüber hinaus den größeren Rahmen der Gesellschaft betreffen. Ihre Aufgabe ist es, auf der Grundlage von Erfahrungen zur Substanz moderner Missionsarbeit beizutragen. Und was vielleicht noch wichtiger ist: Ihr Erleben muss das Profil ihrer Fürsprache für die Welt bilden.

Doch der Beitrag der Pfingstbewegung zu sozialem Engagement und Mission sollte sich ebenso tief in den Quellen des Wortes Gottes gründen, welches die pfingstliche Erfahrung nicht nur bestätigt, sondern sie in den Kontext der realen Bedürfnisse des Volkes Gottes stellt.

Genau dies geschah, als Mose am brennenden Dornbusch den Auftrag erhielt, für sein Volk einzutreten und es zu befreien (2Mo 3). In der Gegenwart des heiligen Gottes erging dieser Ruf nach Rettung an Mose und aus der glühenden Kraft heiliger Anbetung wurde er nach Ägypten ausgesandt, auf eine extreme Mission der Barmherzigkeit.

Viel zu lange hat die Pfingstbewegung ihr radikales, in der Bibel verwurzeltes Erbe übersehen: Dort war die großartige Verheißung des Kommens des Heiligen Geistes gleichzeitig verbunden mit der Ankündigung einer im höchsten Maße gleichberechtigten Gemeinschaft von Menschen, wie sie die Welt des Altertums nie gekannt hatte. In diesem apokalyptischen Musterbeispiel der Kraft umfasste die missio dei alle Menschen: Knechte und Mägde, Alte und Junge. Prophetien, Träume und Visionen, Zeichen und Wunder flossen durch diese Gemeinschaft und brachten Heilung und Vergebung. Und das alles, weil der Geist gekommen war (Apg 2,17-21).

Die Pfingstbewegung kann sich nicht entschuldigen. Es ist unmöglich, die Bedeutung des Auftrags und des großen Werkes des Geistes zu begreifen, der Simson und die Propheten salbte, und dabei gegenüber dem allumfassenden Wesen der Mission Gottes in der Welt gleichgültig zu bleiben. Niemand, der von diesem Geist getauft ist, sollte die geistlichen, sozialen und politischen Dimensionen unterschätzen, die Jesus forderte, als er die Synagoge in Nazareth betrat, um dort die gute Botschaft, Freiheit für die Gefangenen und das angenehme Jahr des Herrn auszurufen. (Lk 4,14-21)

Genauso wie Jesus den Zusammenhang mit Jesaja 61 herstellte und Petrus die Schriftstelle in Joel 2 auf seine Zeit hin deutete, lautet heute der Ruf an die Pfingstbewegung, sich zu besinnen und die Spur des Heiligen Geistes im Licht der Realitäten des 21. Jahrhunderts wieder neu zu interpretieren. Dies ist weder Politikwissenschaft noch Aktionsprogramm: Es ist prophetisches Engagement.

Die Pfingstbewegung und weitere Teile des Leibes Christi werden von der wichtigen Arbeit dieses Bandes profitieren. Er ermöglicht dem Leser, sich daran zu erinnern, dass der Heilige Geist auch uns heute in den Ruf mit einschließt, mit dem er Mose, die Propheten, Jesus und die Apostel aufforderte, den Nöten ihrer Umgebung zu begegnen.

Rev. Joel Edwards

Internationaler Direktor der Micha-Initiative

Vorwort zur 2. Auflage

Wir sind oft so blind – blind für das, was uns in unserem Alltag nie begegnet. Blind aber ebenso für das, was tagtäglich um uns herum geschieht. Wir nennen diese Blindheit „Desinteresse“ oder versuchen es als ein Gefühl des „Abgestumpftseins“ abzutun. Dabei sind wir als Christen in diese Welt gestellt.

Jesus Christus hat einen Unterschied in unserem Leben gemacht. Das beinhaltet die Verantwortung, evangeliumsgemäß zu leben und mit offenen Augen durchs Leben zu gehen. Im Markusevangelium heißt es: „Als Jesus aus dem Boot stieg und die vielen Menschen sah, ergriff ihn tiefes Mitgefühl, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben…“ (Mk 6,34; NGÜ – eigene Hervorhebung) In gleicher Weise sind auch wir dazu aufgerufen, nicht den Blick abzuwenden, sondern uns für die Nöte unserer Mitmenschen zu öffnen. Eben hinzuschauen, wenn Menschen leiden; die Stimme zu erheben gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit; und vielmehr zu handeln, um Armut aktiv zu bekämpfen.

Als Herausgeber freut es uns, dass das Buch nun in zweiter Auflage erscheint, was nicht zuletzt die Wichtigkeit des Themas und das zunehmende Interesse daran unterstreicht. In dem Buch kommen ganz unterschiedliche Stimmen zu Wort, die mitunter sogar in einer gewissen Spannung stehen. Von Anfang an bestand das Ziel darin, kein einheitliches Bild zu zeichnen, sondern ein möglichst breite Spektrum an Meinungen miteinander ins Gespräch zu bringen und so eine Diskussion in Gang zu setzten. Dies scheint gelungen zu sein.

Auch in der zweiten Auflage dieses Buches bleiben die Ausführungen und Beispiele inspirierend und machen Mut. Sie fordern heraus, die Augen nicht zu verschließen, sondern die Diskussion eines längst nicht abgeschlossenen Themas weiter voran zu bringen.

Nehmen wir die Herausforderung an!

Erzhausen, im August 2017

FThG-Herausgeberkreis

Einführung

von Marcel Redling

Wir leben in einer von Krisen geschüttelten Zeit. Jeden Tag erreichen uns unzählige Nachrichten aus aller Welt, die von Armut, Hunger und Elend berichten, von Menschen, die unter widrigsten Umständen ihr Dasein fristen. Die globalen Nöte und Herausforderungen sind enorm und übersteigen bei Weitem unsere Vorstellungskraft sowie die Möglichkeiten von Einzelnen, diesen zu begegnen. Als Christen dürfen wir uns jedoch weder aus dieser Welt zurückziehen noch uns dem Lauf der Dinge widerstandslos ergeben. Vielmehr sind wir als christliche Gemeinden herausgefordert, den Missständen dieser Welt entschieden entgegenzutreten 1 und gerade den Menschen beizustehen, die einen besonderen Platz im Herzen Gottes einnehmen – den Armen und Bedürftigen 2.

Lange musste sich die Pfingstbewegung den Vorwurf gefallen lassen, in Fragen der sozialen Gerechtigkeit eine passive, bisweilen gar gleichgültige Haltung einzunehmen. 3 Das vorliegende Buch soll eine Einladung sein, sich neu diesem wichtigen Thema zu stellen.

Die Gründe für diese Einseitigkeit des pfingstlichen Missionsverständnisses mögen vielfältig sein und können hier nur kurz umrissen werden. So führte etwa die Erwartung der unmittelbaren Wiederkunft Jesu dazu, der Evangelisation den alleinigen Vorrang einzuräumen. Dementsprechend galt in der frühen Pfingstbewegung das Credo: „Jesus zu bezeugen, bezeugen, BEZEUGEN ...“ 4 An und für sich wurden Werke der Barmherzigkeit zwar für gut befunden, doch wurde ihnen nicht der gleiche Stellenwert wie der Wortverkündigung beigemessen. 5 Andere versuchen die Preisgabe des Kampfes für soziale Gerechtigkeit mit einem eschatologischen Perspektivenwechsel zu erklären. „Ging es ursprünglich darum, in dieser Welt für das Reich Gottes einzutreten …, so wurde jetzt der Schwerpunkt auf die Rettung aus dieser Welt gelegt.“ 6 Denkbar ist auch eine bewusste Abgrenzung von liberalen Strömungen innerhalb der etablierten Kirchen, die mit dem Aufkommen der Social-Gospel-Bewegung 7 gerade anfangs des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewannen. 8

Wie dem auch sei, es ist erfreulich zu sehen, dass sich innerhalb der Pfingstbewegung ein Wandel abzuzeichnen scheint, weg von einer Engführung, die allein das „Seelenheil“ im Blick hat, hin zu einer ganzheitlichen Sicht von Mission mit dem Ziel, den Menschen in ihren jeweiligen Notlagen umfassend zu begegnen. 9 Das wird nicht zuletzt daran deutlich, dass in jüngster Zeit eine Vielzahl von Publikationen zu sozialethischen Themen aus dem pfingstlich-charismatischen Umfeld erschienen ist. 10 Das vorliegende Buch möchte dazu beitragen, gerade im deutschsprachigen Raum eine wichtige, längst überfällige Diskussion anzuregen, die global gesehen bereits seit einiger Zeit geführt wird. 11

Schon in den Psalmen wird mit einer sehr eindrücklichen Metapher die Bitte formuliert, dass „Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen“ (Ps 85,11; Luther 1984). In den Seligpreisungen der Bergpredigt nimmt der Begriff „Gerechtigkeit“ eine zentrale Rolle ein 12, und es wird explizit den Menschen eine besondere Verheißung zugesprochen, die sich nach ebendieser sehnen (Mt 5,6). Die Verkündigung des Evangeliums und das Streben nach Gerechtigkeit, auch auf struktureller Ebene, schließen einander weder aus, noch widersprechen sie sich. Es ist vielmehr so, „dass das biblische Evangelium von Jesus notwendig und nachdrücklich zum Einsatz für Gerechtigkeit in dieser Welt führt“ 13.

In den folgenden Beiträgen geht es nicht darum, verschiedene Auffassungen von Mission gegeneinander auszuspielen, sondern zu erkennen, dass sowohl der Dienst an den Armen als auch der Kampf gegen ungerechte Strukturen integraler Bestandteil des Glaubens ist, „der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6; Luther 1984). Nächstenliebe ist eben keine Option! 14

Schaut man in die Kirchengeschichte, so stellt man fest, dass in der Vergangenheit erweckliche Aufbrüche oft auch zu sozialem Wandel innerhalb einer Gesellschaft geführt haben. 15 Mittlerweile blickt auch die Pfingstbewegung, die weltweit ein rasantes Wachstum zu verzeichnen hat, auf eine über hundertjährige Geschichte zurück. 16 Möge Gott Gnade schenken, dass die Pfingstbewegung das Wirken des Heiligen Geistes nicht allein auf die persönliche Frömmigkeit reduziert, sondern sich als „authentische Geistesbewegung … an der Aufrichtung von Gerechtigkeit und Freiheit in nationalen und internationalen Zusammenhängen“ beteiligt 17. Diesem Ziel ist die 2010 verabschiedete „Stellungnahme der European Pentecostal Theological Association (EPTA) zum Thema ‚Pfingstbewegung und Gerechtigkeit‘“ gewidmet, die (in deutscher Übersetzung) im Anhang des vorliegenden Bandes dokumentiert ist.

Dieses Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil umfasst theologische Aufsätze, die das Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Der zweite Teil des Buches beinhaltet Beiträge, die nicht so sehr wissenschaftlich geprägt sind, aber relevante Impulse und Anregungen liefern. Der dritte und letzte Teil des Buches bietet einen wertvollen Blick in die Praxis und verdeutlicht damit, wie der Einsatz für Gerechtigkeit konkret vor Ort in verschiedenen Gemeinden aussehen kann.

1 Mt 5,13-16; Röm 12,21.

2 Gal 2,10; 1 Kor 1,26; Jak 2,1-5.

3 Veli-Matti Kärkkäinen, „Are Pentecostals Oblivious to Social Justice? Theological and Ecumenical Perspectives“, Missionalia 29:3 (November 2001), 387; Dhan Prakash, „Toward a Theology of Social Concern: A Pentecostal Perspective“, AJPS 13:1 (2010), 65; Joel Edwards, „Justice and Pentecostals“, JEPTA 31.1 (2011), 5-7.

4 J. Roswell Flower; zit. n.: Byron D. Klaus, „Im Evangelium verwurzelte Barmherzigkeit verändert“, Inspiration 10 (2010), 5. (Hervorhebung im Original)

5 Ebd.

6 Walter J. Hollenweger, „Verheißung und Verhängnis der Pfingstbewegung“,EvTh 53 (1993), 270.

7 Siehe dazu insbesondere das Buch von Walter Rauschenbusch, A Theology of the Social Gospel, New York 1922.

8 Donald E. Miller, Reinventing American Protestantism: Christianity in the New Millenium, Berkely, CA 1997, 110; Cecil M. Robeck Jr., „Pentecostals and Social Ethics“, Pneuma 9.2 (1987), 106.

9 Donald E. Miller/Tetsunao Yamamori, Global Pentecostalism: The New Face of Christian Social Engagement, Berkeley/Los Angeles, CA 2007, 2f, 212f; Robert C. Crosby, „A New Kind of Pentecostal“, Christianity Today 55.8 (August 2011), 50.

10 Eine vollständige Aufzählung aller Publikationen kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Als Beispiele wären etwa die Bücher von Peterson und Villafañe zu nennen oder auch die Reihe Pentecostals, Peacemaking, and Social Justice, die von Paul Alexander und Jay Beaman herausgegeben wird und bislang sechs Titel umfasst. Siehe etwa: Douglas Peterson, Not by Might: A Pentecostal Theology of Social Concern, Oxford 1996; Eldin Villafañe, The Liberating Spirit: Toward an Hispanic American Pentecostal Social Ethics, Grand Rapids, MI 1992.

11 Zu nennen wäre etwa die Konferenz der European Pentecostal Theological Association mit dem Thema „Pentecostals and Justice“ (2010). Siehe: http://www.eptaonline.com/conferences/ (Stand: 01.08.2013). Zwei Jahre später wurde von der Society of Pentecostal Studies (USA) eine ganz ähnliche Konferenz abgehalten, unter dem Titel: „Pentecostalisms, Peacemaking & Social Justice“ (2012). Siehe: SPS Newsletter, 38:2 (2012), 1,11. Besonders erwähnenswert ist auch auch das Netzwerk Pentecostals and Charismatics for Peace and Social Justice, das unter anderem das Journal Pax Pneuma herausgibt. Siehe: http://www.pcpj.org/.

12 Roland Deines, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias, Tübingen 2004, 137.

13 Timothy Keller, Warum Gerechtigkeit? Gottes Großzügigkeit, soziales Handeln und was ich tun kann, Gießen/Basel 2012, 13.

14 Biblisch gesehen könnte man sogar sagen, dass jedes Werk der Barmherzigkeit ein Akt der Anbetung ist. Vgl. Mt 25,40; Röm 12,1; Jak 1,27. Interessant ist es auch, einmal Jes 58 oder Am 5,21-24 unter diesem Gesichtspunkt zu lesen. Zu dem Thema „Anbetung und soziale Gerechtigkeit“ siehe: Mark Labberton, The Dangerous Act of Worship. Living God´s Call to Justice, Downers Grove, IL 2007.

15 Vgl. Timothy L. Smith, Revivalism and Social Reform: American Protestantism on the Eve of the Civil War, Nashville, TN 1957; Donald W. Dayton, Discovering an Evangelical Heritage, Grand Rapids, MI 1976.

16 Vinson Synan hat das 20. Jahrhundert, in dem die Pfingstbewegung entstanden ist, treffend als Jahrhundert des Heiligen Geistes beschrieben. Vgl. Vinson Synan, The Century of the Holy Spirit: 100 Years of Pentecostal and Charismatic Renewal (1901-2001), Nashville, TN 2001.

17 Joseph Sudbrack; zit. n. Walter J. Hollenweger, Charismatisch-pfingstliches Christentum. Herkunft, Situation, ökumenische Chancen, Göttingen 1997, 182. Siehe dazu auch: Julio de Santa Ana, „Die politische Ökonomie des Heiligen Geistes“, Beilage zu der Zeitschrift Junge Kirche 12 (Dezember 1990), 7f.

Teil I: Beiträge aus exegetischer, theologischer und historischer Sicht

Soziales Engagement und Triumphalismus in der Pfingstbewegung

von Wolfgang Vondey

1 Einführung

Die weltweite Pfingstbewegung zeigt deutliche Spannungen zwischen sozialem Engagement auf der einen Seite und sozialer Zurückhaltung bis hin zum Triumphalismus auf der anderen Seite. 1 Globale Charakterisierungen und Theorien des Pfingstlertums berufen sich gerne auf geläufige Untersuchungen, die die Entwicklung der modernen Pfingstbewegung auf Formen sozialer Deprivation zurückführen möchten. 2 In armen und unterentwickelten Ländern wird das Pfingstlertum oft als Ausweg aus Armut, Korruption und Unterdrückung und als ein Weg in Richtung auf Stabilität, Konsum, Reichtum und Freiheit angesehen. Die Pfingstbewegung in den Entwicklungsländern repräsentiert für viele die Wünsche der neuen Mittelklasse, sich in der neuen Welt und ihren erwarteten Vorteilen einzufügen. 3 In den entwickelten Ländern der ersten Welt steht das Pfingstlertum oft für sozialökonomische Stabilität und Mobilität, die vor allem dem Aufwärtsdrang der jungen Generation entspricht. Diese Identifizierungen überkreuzen sich nicht selten in Gebieten, wo Reichtum und Armut nahe beieinanderstehen. In vielen dieser Gebiete, wo die Bezeichnungen der ersten, zweiten und dritten Welt nicht immer eindeutig zu differenzieren sind, hat die Pfingstbewegung sich in verschiedene Richtungen bewegt, und die Einfindung in ein Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit stellt die Einheit des Pfingstlertums vor erhebliche Schwierigkeiten.

Dieser Beitrag widmet sich den sichtbaren Spannungen der Pfingstbewegung im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit: Einerseits wird in den programmatischen und langzeitlichen Beispielen eines fortschrittlichen sozialen Aktivismus soziales Engagement sichtbar; andererseits herrschen soziale Passivität und pfingstlerischer Traditionalismus, wie sie an der Predigt eines Evangeliums des Wohlstands und der göttlichen Heilung sichtbar werden. Die soziale Ethik des Pfingstlertums ist zerrissen zwischen diesen beiden Extremen, der Teilnahme und Leiterschaft im Kampf gegen Armut, Deprivation, Unterdrückung und Verfolgung auf der einen Seite und des Verharrens in einer Denkart des konfessionell motivierten Individualismus und Triumphalismus auf der anderen. Dieser Aufsatz ist daher zugleich ein kritischer und therapeutischer Vergleich und eine Untersuchung globaler Spannungen, die nicht nur für die Pfingstbewegung von Bedeutung sind, sondern auch für ein weltweites Christentum, das sich zunehmend mit diversen sozialökonomischen, kulturellen und politischen Zusammenhängen konfrontiert sieht. Der erste Teil dieses Beitrags befasst sich mit dem sozialen Engagement von Pfingstlern in Asien, Afrika und Lateinamerika. Der zweite Teil präsentiert die Predigt eines Wohlstandsevangeliums und den Einfluss der Reichtums- und Heilungsphilosophien auf das heutige Pfingstlertum. Im abschließenden Teil dieser Untersuchung werden die beiden Positionen verglichen und eingebracht in einen Dialog über den gegenwärtigen Stand der sozialen Ethik in der Pfingstbewegung.

2 Soziales Engagement in der Pfingstbewegung

Soziales Engagement der Pfingstbewegung ist in den letzten Jahren auch unter dem Begriff „fortschrittliche Pfingstler“ bekannt geworden. 4 Diese fortschrittlichen Gruppierungen verstehen soziale Gerechtigkeit oft als direktes Mandat Gottes, veranschaulicht in der Hl. Schrift, und als normativen Bestandteil des christlichen Lebens. Ein besonderes Merkmal dieser fortschrittlichen Pfingstler ist die Erfahrung der Armut, Deprivation, Unterdrückung und Verfolgung oder zumindest die Identifizierung mit derartig unterprivilegierten, marginalisierten Randgruppen. In Einzelfällen führen beide Elemente zu einer höchst aktiven, mitunter sogar revolutionären Einstellung gegenüber dem status quo.

Die weitverbreitete Deprivationstheorie führt die pfingstlerische Statuseinstellung vor allem auf die Erfahrung von Armut und Verfolgung sowie den unterprivilegierten gesellschaftlichen Rang vieler Pfingstler zurück. Diese ersten Versuche, das klassische Pfingstlertum in die sozialen und kulturellen Umgebungen des frühen 20. Jahrhunderts einzuordnen, dominierten die Geschichtsschreibung der amerikanischen Pfingstbewegung. Robert Mapes Anderson charakterisierte die Pfingstbewegung in seiner klassischen Studie als eine unmittelbare Konsequenz ökonomischer, sozialer, kultureller und physischer Verdrängungen und Entbehrungen. 5 Seine Theorie erklärte allerdings in erster Linie lediglich den Ursprung der Pfingstbewegung, ohne zugleich anzugeben, ob die Pfingstler sich mit ihren soziokulturellen Bedingungen auseinandersetzten oder wie die Pfingstbewegung sich diesen Bedingungen gegenüber verhielt. Darüber hinaus ergab die Identifizierung der Pfingstler mit enthusiastischer und ekstatischer Religiosität eine dezimierte Einschätzung des pfingstlerischen Interesses an sozialer Gerechtigkeit. Mitunter wurde das Pfingstlertum sogar als Ersatz für gesellschaftliches Engagement angesehen. 6 Anstelle eines gesellschaftsbewussten Aktivismus erscheint die Pfingstbewegung als nach innen und oben gewendet, mit sich selbst und mit Gott beschäftigt, aber ohne ein bewusstes, teilnehmendes Interesse an der Frage nach sozialer Gerechtigkeit.

Obwohl es heute allgemein abgelehnt wird, die Deprivationstheorie als alleinige Erklärung für die Assoziation mit der Pfingstbewegung anzusehen, kann die Deprivation doch nicht ganz beiseite gelegt werden. 7 Die Deprivationstheorie ist nicht fähig, die Anziehungskraft des Pfingstlertums in seiner ganzen Breite unter allen sozialen Klassen zu erklären. Und es ist Anderson darin zuzustimmen, dass die Erfahrung oder Assoziation mit Armut und Unterdrückung, wenn auch typisch für weite Teile der Pfingstbewegung, nicht notwendigerweise zu sozialem Aktivismus führt. Diese Schlussfolgerung wird darin bestätigt, dass nur wenige Pfingstler dem Eindruck entgegengetreten sind, sich keiner Verantwortung für soziale Gerechtigkeit bewusst zu sein. 8 Neuere Theorien sozialer Bewegungen nähern sich der Pfingstbewegung mehr als einem Phänomen sozialökonomischer Aufwärtsbewegung innerhalb eines breiten Spektrums von gesellschaftlichen Faktoren, die zum Bekehrungsprozess beitragen. 9 Obwohl die allgemeinen Bedingungen der Deprivationstheorie nicht diskreditiert werden, erscheint die Pfingstbewegung zunehmend als ein Mechanismus, der mit der gesamten Breite gesellschaftlicher, sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen in Zusammenhang gebracht werden kann. 10 Beobachtungen der explosionshaften Ausbreitung der Pfingstbewegung in Nord- und Lateinamerika lassen darauf schließen, dass das Pfingstlertum in diesen Zusammenhängen beispiellosen Wachstums als aktive, teilnehmende, freiwillige und umformende Bewegung mit Hinblick auf egalitäre Ideale angesehen werden kann. 11 Unter den Armen wird die Pfingstbewegung als Form religiöser Teilnahme an der sozialökonomischen Wirklichkeit angesehen, die neue und effektive Möglichkeiten anbietet, sich mit wirtschaftlicher und politischer Unterdrückung auseinanderzusetzen oder sich dieser sogar entgegenzustellen. In stabileren Umgebungen kann man das Pfingstlertum als ein Instrument zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Entwicklung ansehen, vor allem unter Gesellschaftsschichten, die sich mit den sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Problemen der Armut und Unterdrückung identifizieren, auch wenn sie selbst nicht direkt davon betroffen sind. Zumindest prinzipell erscheint eine Kombination dieser Mechanismen die Grundlage für ein soziales Engagement des weltweiten fortschrittlichen Pfingstlertums darzustellen.

Die persönliche Erfahrung verheerender sozialer, ökonomischer und medizinischer Verhältnisse in den Entwicklungsländern hat zu einer aufstrebenden Form des Pfingstlertums geführt, die durch ausdrückliches soziales Engagement in einer Vielzahl von Diensten, Hilfeleistungen und gesellschaftlichen Programmen gekennzeichnet ist. Verbreitete Modelle der fortschrittlichen Pfingstler zeigen Hilfsdienste in Notfällen (z. B. Erdbeben und Flutwellen), medizinische Unterstützung (einschließlich medizinischer Hilfe in Katastrophengebieten, Präventivmitteln, Drogenrehabilitation, psychologischer Dienste und des Aufbaus von Krankenhäusern und Zahnkliniken), Barmherzigkeitsdienste (Obdachlosenzuflucht, Lebensmittelverteilung, Kleidungsvergabe, Altenhilfe), Erziehungsprogramme (besonders Tagesstätten und Schulen), Beratungshilfen (z. B. Eheberatung, Schwangerschaftsberatung, Hilfe bei Depressionen, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit und Inhaftierung), wirtschaftliche Unterstützung (Ausbildungshilfe, Arbeitslosenunterstützung, sozialer Wohnungsbau, Jugendprogramme, Städteentwicklung, Kreditprogramme), politisches Engagement (mit Hinblick auf Wahlbeaufsichtigung, Korruptionsbewältigung, Minimallohnunterstützung) sowie Ausbildung in den Künsten (z. B. Musik, Theater und Tanz). 12 Viele dieser Hilfsdienste konzentrieren sich auf spezifische Regionen und deren besondere Bedingungen und Formen der Pfingstbewegung.

Eines der frühesten Beispiele aktiven sozialen Engagements in der klassischen Pfingstbewegung ist Pandita Ramabais Mission in Indien am Anfang des 20. Jahrhunderts. Aus einer Erneuerungsbewegung unter Hindufrauen herkommend, verstand Ramabai diese Anfänge als Einführung einer genuin indischen Christenheit und interpretierte diese im Zusammenhang der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten der Zeit. 13 Selbst Waisenkind und Witwe, widmete sich Ramabai den besonderen Lebensumständen hinduistischer Frauen und Witwen. Sie wurde schnell bekannt durch die Etablierung einer Mission für vertriebene Frauen und Kinder in der Mukti-Region des indischen Bundesstaates Maharashtra. Nachdem sie die Situation der indischen Erziehungskommission vorgetragen hatte, unterstützte Königin Viktoria Ramabais soziales Engagement durch den Aufbau von Frauenkliniken und Schulen für Frauen und Witwen. Als ausgebildete Wissenschaftlerin arbeitete Ramabai auch an der Übersetzung der Bibel in die Volkssprache Marathi, empfahl Hindi als nationale Sprache Indiens und etablierte Missionen, Waisenhäuser und Schulen, um eine neue soziale Wirklichkeit der Frauen im Lande herzustellen. 14 Ihre soziale Arbeit beinhaltete Vorschulen und Grundschulerziehung, Berufsschulen und industrielle Dienstleistungen, Gesundheitsmaßnahmen, die Versorgung mit Nahrungsmitteln und Kleidung sowie die Einrichtung von Lebensgemeinschaften für Kinder, Waisen, Prostituierte und Blinde. Die Reichweite ihrer Arbeit dehnte sich im Laufe der Zeit bis nach England, Nordamerika und Chile aus. 15 Ramabai repräsentiert eine frühe Pionierin der Pfingstbewegung, deren soziales Engagement langsam begonnen hat, soziales Kapital aufzubauen, das breitere soziokulturelle Veränderungen bewirken kann.

Sozialer Aktivismus im Pfingstlertum zeigt sich auch in den verarmten und politisch unterdrückten Regionen auf dem afrikanischen Kontinent. Vor allem in Gebieten, wo Hunger, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Überschuldung und Korruption herrschen, stellt die Pfingstbewegung durch Gemeinschaftsbildung, Moralität, Lebensstil und Spiritualität Alternativen zur Verfügung. 16 Besonders groß ist die pfingstliche Anteilnahme an den sozialen und ökonomischen Belangen der einheimischen Bevölkerung in Südafrika. So weist z. B. Soweto mit seinen bekannten Bedingungen wie einer hohen HIV- bzw. Aidsrate und einer bei 80% liegenden Arbeitslosigkeit ein erstaunliches Wachstum pfingstlerischer Kirchengemeinden auf. 17 Inmitten der Deprivation schafft das Pfingstlertum ein neues Bewusstsein von Disziplin, Arbeit und Selbstvertrauen im Herzen konkreter Projekte der Armutsbewältigung. Auch wenn die hierzu aufgewandte Energie und Initiative ihresgleichen suchen, dringen viele dieser Projekte nur selten ins öffentliche Bewusstsein Südafrikas. 18 Unter Betonung der geistlichen Verpflichtung als eines zentralen Elements der Bewegung hat das Pfingstlertum dazu beigetragen, eine neue Kultur des Selbstvertrauens, der Selbstachtung, Entschlossenheit und des persönlichen Handelns aufzubauen. 19 Pfingstlerische Gemeinden haben dabei geholfen, selbstständige Organisationen unter den Armen aufzubauen, die soziale Mobilität ermöglichen. Selbst über Südafrika hinaus helfen pfingstlerische Christen mit landwirtschaftlichen Hilfsdiensten, Kliniken, Erziehungsinstituten, Anleiheberatungen, juristischer Beratung, gesundheitlichen Schutzmaßnahmen und anderen sozialen Diensten. 20 Die Pfingstbewegung in Afrika erscheint als eine Bewegung, die sich auf den psychophysischen, geistlichen und materiellen Befreiungskampf fokussiert. 21 Das Pfingstlertum nimmt hier eine wichtige Übergangsposition ein in der Neubestimmung nationaler und kontinentaler Identität vieler afrikanischer Staaten.

In Lateinamerika zeigt sich ein ähnliches Bild sozialen Engagements einer fortschrittlichen Pfingstbewegung. Herausragende Beispiele sind Brasilien und Chile. In Brasilien ist das Interesse an sozialer Wohlfahrt vor allem sichtbar an pragmatischen Aktivitäten, die ein breites Spektrum abdecken, von der Installation öffentlicher Versorgungsbetriebe bis zum Aufbau von Schulen wie auch medizinischen Einrichtungen und der Teilnahme an Arbeitskämpfen. 22 Pfingstgemeinden dienen als Hilfsgesellschaften, die sich als eine Art Krisenzentrum mit Gesundheit, Familie und Arbeitsverhältnissen auseinandersetzen. 23 Der Kampf um soziale Gerechtigkeit vollzieht sich in kleinen Gruppen, die sich auf Einzelpersonen konzentrieren können und nur allmählich eine kulturelle und politische Organisation und Autonomie unter den Armen ausbilden. 24 In Ausnahmefällen hat der soziale Aktivismus ein breiteres politisches Bewusstsein ausgelöst, das die Pfingstbewegung aus einer ursprünglichen Sektenmentalität zur Entwicklung von effektiveren institutionellen Strukturen geführt hat. 25 In Chile hat die Pfingstbewegung bereits in weiten Bereichen an der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes teilgenommen. Besonders einflussreich ist der sogenannte Protestantische Entwicklungsdienst (SEPADE), eine öffentliche Organisation, die rasch eine Führungsposition in Gesellschaftsentwicklung, Nachbarschaftsprogrammen, politischer Mobilisierung und verschiedenen anderen Aktivitäten eingenommen hat. 26 Als eine Ausnahme unter vergleichbaren Nichtregierungsorganisationen konzentriert sich SEPADE vor allem auf die Entwicklung eines sozialökonomischen Bewusstseins im Pfingstlertum, ursprünglich auf lokaler Basis, die letztendlich zu einer erneuerten Demokratisierung des Landes beigetragen hat. 27 Aus anfänglichen SEPADE-Sozialdienstleistungen in lokalen, zumeist ländlichen Bereichen erwuchs eine breite Palette von Diensten und Institutionen auf dem Lande sowie in den Städten, wie z. B. Suppenküchen, Agrardienstleistungen, Gesundheitsorganisationen, Gemeindezentren, Vergabe von Lebensmittelgutscheinen, Erziehungs- und Erholungsprogramme, Ausbildungs- und Kindertagesstätten sowie gewerkschaftliche Arbeitnehmer-Organisation. 28 SEPADE hat die Pfingstbewegung in Chile mobilisiert und integriert in eine weitreichende christliche Beteiligung an der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und dem Aufbau einer neuen sozialen Ethik.

Diese wenigen Beispiele sollten nicht den Eindruck erwecken, dass die Pfingstbewegung generell als ein Motor gesellschaftlicher Veränderungen angesehen werden kann. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Einstellungen des Pfingstlertums bleiben weiterhin äußerst verschiedenartig. 29 Ähnliche Formen gesellschaftlichen Engagements existieren in anderen Gebieten Latein- und Nordamerikas. 30 Dieser soziale Gerechtigkeitssinn findet sich allerdings weniger im Westen und auf der nördlichen Halbkugel als im Süden und Osten der Welt. In den meisten Fällen zeigt sich diese Gesinnung in sozialen Diensten von Kirchengemeinden und weniger in direktem sozialpolitischen Aktivismus. 31 Öffentlich organisierte Formen der Gesellschaftsveränderung sind meistens in den Händen einer fortschrittlichen Minderheit. Konservative und sektenhafte Varianten der Pfingstbewegung existieren neben Gruppierungen, die sich zutiefst dem Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit verschrieben haben. 32 Nichtsdestoweniger kann man die Pfingstbewegung als Vertreter der Armen und Befreier der Verfolgten überall dort ansehen, wo sich keine andere Hilfe zeigt. In zunehmendem Maße widmet sich die Pfingstbewegung dem Interesse sozialer Gerechtigkeit und einer eigenständigen Teilnahme am Kampf um Leben, Würde und Gleichberechtigung.

3 Triumphalismus in der Pfingstbewegung

Im Gegensatz zum vorhergehenden Bild einer fortschrittlichen und gesellschaftlich aktiven Pfingstbewegung lassen sich auch passive, zurückhaltende und triumphalistische Verhaltensweisen im heutigen Pfingstlertum feststellen. 33 Ein besonders einflussreiches Beispiel dieser Widerstandskräfte ist das komplexe Phänomen, das unter Pfingstlern als Evangelium der Heilung und des Reichtums, Wohlstandsevangelium, Wohlstandspredigt, Erfolgstheologie oder „Wort des Glaubens“-Theologie bekannt geworden ist. Der Triumphalismus dieser Gruppierungen wird sogar unter Pfingstlern zum Teil heftig kritisiert. 34 Trotzdem hat sich die Wohlstandspredigt durch geschickten Gebrauch von Massenmedien und einer aufnahmebereiten Öffentlichkeit innerhalb eines breiten sozialökonomischen Spektrums der Pfingstbewegung etabliert. Dieser Abschnitt untersucht die Präsenz der Wohlstandspredigt in verschiedenen pfingstlerischen Gruppen, beschreibt die theologische Basis dieses Phänomens und erklärt die Gegensätze zur gesellschaftlich aktiven Pfingstbewegung.

In Nordamerika tritt die Wohlstandspredigt vor allem in afroamerikanischen Pfingstgemeinden und charismatischen Bewegungen auf. Fernsehevangelisten haben einen besonderen Einfluss auf diese Bevölkerungsschichten und haben dazu beigetragen, das Heilungs- und Reichtumsevangelium in den schwarzen Gemeinden und Kirchen zu etablieren. 35 Obwohl es ungenau wäre, die Wohlstandspredigt in Nordamerika ausschließlich mit dem Afro-Pfingstlertum zu assoziieren, müssen Geschichte und sozialökonomischer Status der afroamerikanischen Bevölkerung als einflussreicher Beitrag zur Entstehung der Wohlstandspredigt angesehen werden, nicht zuletzt aufgrund ihrer hartnäckigen materiellen und wirtschaftlichen Benachteiligung. Die Wohlstandspredigt spricht die daraus erwachsenden Bedürfnisse vor allem durch das Versprechen an, über die Grundversorgung hinaus zu Gesundheit und finanziellem Wohlstand zu gelangen. 36 Indem sie vor allem unter Arbeitern und sozial Schwachen bzw. Armen Zustimmung fand, hat die Wohlstandspredigt das Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit neu definiert. 37 Im Gegensatz zur fortschrittlichen Pfingstbewegung können diese Gruppierungen als fest im christlichen Kapitalismus verankert angesehen werden. Der Aufbau von Megakirchen und die Spiegelung von Wohlstand, ja Reichtum der Mitglieder in den Medien haben den Eindruck erweckt, dass es sich bei der Pfingstbewegung um eine Afroreligion der Reichen, nicht der Armen handelt, um ein Medium sozialer Aufwärtsbewegung und nicht um Solidarisierung mit den sozial und wirtschaftlich Unterdrückten. 38 Der Aufbau dieser neuen Identität hat der Wohlstandspredigt in nordamerikanischen Kirchen einen weitreichenden gesellschaftlichen Einfluss beschert.

Der weltweite Einfluss der amerikanischen Wohlstandspredigt hat sich vor allem in den verarmten Teilen Afrikas bemerkbar gemacht. Die Suche nach einer afrikanischen nationalen Identität, wirtschaftlicher Stabilität, Gesundheitsreform und sozialer Wohlfahrt bewog weite Teile der Pfingstbewegung in Afrika zur Adoption des Materialismus und Individualismus, wie er für die nordamerikanische Kultur charakteristisch ist. 39 Auf diese Weise haben sich ursprünglich konservativ geprägte Pfingstkirchen in vielen Ländern dem Wohlstandsevangelium geöffnet. 40 In manchen Ländern Afrikas hat so die Wohlstandspredigt das Gesamtbild des Christentums dermaßen verändert, dass Christsein nunmehr mit kulturellem und finanziellem Wohlstand und Mobilität gleichgesetzt wird. 41 Genau wie afrikanische Spiritualisten erhalten auch die Wohlstandsprediger materielle Geschenke von ihren Gemeinden, damit sie für die Geber Fürbitte tun und diese von Gott Gesundheit und Reichtum erhalten. 42 In Widerspiegelung traditioneller afrikanischer Kosmologie werden Armut und Krankheit den spirituellen Aktivitäten von Dämonen und bösen Geistern zugeschrieben, denen sich der christliche Glaube erfolgreich entgegenzustellen versucht. 43 Dieser Triumphalismus entfernt die Nachfolger der Wohlstandspredigt allerdings weit von aktiver Teilnahme am sozialen Gerechtigkeitskampf. Der Wohlstand der Kirchen und des Einzelnen hat Priorität vor dem Aufbau von Krankenhäusern, Schulen, Suppenküchen, Beratungszentren, Arbeitslosenunterstützung und anderen Diensten, die sich direkt am sozialökonomischen Aufbau beteiligen.

In Asien zeigt sich ein ähnliches Bild, vor allem auf den Philippinen und in Südkorea. Innerhalb des römisch-katholischen charismatischen Lagers der Philippinen bildet die El-Shaddai-Bewegung eine der Gruppen, die sich am entschiedensten der Wohlstandspredigt verschrieben haben. 44 Die städtische Bevölkerung des Landes und hier vor allem Schichten, die an der Armutsgrenze leben oder der unteren Mittelklasse angehören, hat sich in der Predigt von Reichtum, Heilung und Arbeit einen Erretter auserkoren, der zwar eine Umstellung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Verhältnisse verspricht, sich aber nicht für soziale Gerechtigkeit einsetzt. 45El Shaddai wirkt hauptsächlich durch das „Glaubenssamen“-Prinzip, das Geschenke an die Kirche als Investitionen in Reichtum und Gesundheit der eigenen Person ansieht. Die Verschmelzung von religiöser Aufrichtigkeit, katholischer Sakramentalität und Materialismus sowie der verfehlte Einsatz für soziale Gerechtigkeit haben der Bewegung weitreichende Kritik eingetragen. 46

Ähnlich verhält es sich in Südkorea, wo Pfingstbewegung und Wohlstandspredigt zu einem Synonym für Kapitalismus, Kommerzialisierung, Diesseitsreligion und Mittelklasseambitionen geworden sind. 47 Für einige sind die koreanischen Megakirchen angetrieben von marktwirtschaftlichen Prinzipien und dem Wunsch nach Reichtum, die ihrerseits der Ausbreitung der Pfingstbewegung dienen. 48 Dieser Prozess hat zu einer Rationalisierung gesellschaftskritischer Teilnahme geführt, die sich nicht zuletzt in einer gewissen Berechenbarkeit, Vorhersehbarkeit, Effizienzkalkulierung und Kontrolle innerhalb der Kirchen herausgebildet hat. 49 Marktfähigkeit und Erfolgsorientierung ersetzen die traditionelle Minjung-Theologie Koreas und die in dieser üblichen Beteiligung an sozialer und kultureller Verbesserung. In einem Land, das die verheerenden Auswirkungen des Koreakrieges mit Hilfe der Kirchen bewältigte, die Kleidung, Unterkünfte, Nahrungsmittel und geistlichen Rat zur Verfügung stellten, klagt man nun die Megakirchen an, die Armen und Notleidenden, Witwen und Waisen, Alten und Kinder des Landes im Stich gelassen zu haben. 50 Die Wohlstandspredigt hat mit zur Modernisierung und Revitalisierung Koreas beigetragen, ohne allerdings gleichzeitig zu einer Mobilisierung von sozialem Aktivismus und der Herausbildung einer eigenen Sozialmoral unter den Pfingstkirchen zu führen.

In Lateinamerika hat sich die Wohlstandspredigt in verschiedenen Teilen des Kontinents festgesetzt. In Brasilien z. B. hat sich die Bewegung erfolgreich angepasst, indem sie nicht nur das wirtschaftliche Überleben der Armen, sondern auch den materiellen Erfolg der mobilen Mittelklassen anspricht. 51 Pfingstkirchen in allen anderen Ländern des Subkontinents haben sich die brasilianische Art der Wohlstandspredigt in je eigenen nationalen Brechungen rasch zu eigen gemacht. 52 Im Herzen dieses Erfolges liegt ein ekklesiales Geschäftsmodell mit einem Prinzip der Gegenseitigkeit: den Zehnten an die Kirche zu bezahlen, um eine gleichwertige Antwort von Gott zu erhalten. 53 Dieses Prinzip beeinflusst nicht nur die triumphalistische Kultur von Geben und Erhalten im christlichen Leben, sondern auch die weltweite Perspektive der Integration von Glauben und wirtschaftlichem Bewusstsein. 54 Während einige diese Entwicklung als Veränderung der Kirche zu einer „enormen Geldmaschine“ 55 ansehen, betrachten andere die dadurch geschaffenen Tatsachen als unerlässliche Bestandteile einer Kirche, die die heutige Welt für Jesus Christus erreichen will. 56 Erstere beklagen den Rückzug der Kirchen aus der aktiven Mitwirkung an sozialer Gerechtigkeit; Letztere bestehen darauf, dass ihre Absichten das genaue Gegenteil sind. Dieser Gegensatz muss noch genauer in die Theologie der Wohlstandsbewegung eingebunden und innerhalb dieser untersucht werden.

Die Gegensätze zwischen Wohlstandspredigt und sozialem Aktivismus sind theologisch verankert. Grundlegend findet sich hier eine Lehre Gottes, eine theologische Lehre und nicht eine sozialökonomische Theorie oder Geschäftspraxis. Die Wohlstandspredigt basiert auf einer Identifizierung mit Gott und Gottes Beziehung zu Wohlstand und Heilung. Die Wurzeln dieser Verbindung können auf E. W. Kenyon (1867–1948) als „Großvater“ des Wohlstandsevangeliums zurückgeführt werden, auf dessen theologischer Grundlage die Wohlstandspredigt basiert. 57 Aufgewachsen unter dem Einfluss der Heiligungs- und Heilungsbewegungen, unterstrich Kenyon als Vertreter eines Quasi-Pfingstlertums die Bedeutung des Erlösungswerkes Jesu Christi. 58 Der Sohn Gottes steht zentral als die prinzipielle Manifestierung des Charakters Gottes, als Urheber eines erlösten, erfolgreichen und erfüllten Lebens des Christen in dieser Welt. Materieller Reichtum und körperliche Gesundheit sind demnach das Versprechen Gottes, das sich in Christus erfüllt. 59

Kenyons Anthropologie beruht auf dieser Christologie, vor allem auf dem „Gesetz der Identifizierung“ des Menschen mit Christus. 60 Ausgehend von Christi Identifizierung mit der Menschheit in Inkarnation und Kreuzigung, ist der Mensch automatisch mit Christus identifiziert und nimmt so am Sieg Christi teil. Diese Identifizierung umschließt auch den realen, materiellen und körperlichen Sieg des geisterfüllten Christen, der so in der „Vollkommenheit Christi“ ein „spiritueller Riese“ und „Superman, erfüllt mit Gott“ geworden ist. 61 Das Ebenbild Christi im Christen konkretisiert sich im Bild des Reichtums, nicht der Armut, durch Erfüllung, nicht Leere, Triumph, nicht Niederlage. Diese Redeweise unterstützt eine Lebenspraxis, die nicht nur Recht und Autorität des christlichen Lebens unterstreicht, sondern auch die Möglichkeit aufzeigt, auf alle Dinge „im wundervollen Namen Jesu“ Anspruch erheben zu können. 62 Das Gesetz der Identifizierung erfüllt sich durch das Wort des Glaubens und das Versprechen Gottes, das durch Christus für den Christen greifbar geworden ist.

Das Verbindungsglied zwischen Christus und dem Christen ist das Wort des Glaubens. Während Gotteslehre und Menschenbild oft in die Theologie des Wohlstandsevangeliums eingebunden sind, handelt es sich bei der Wort-des-Glaubens-Theologie um das sichtbarste und kontroverseste Element der Wohlstandsbewegung. Das Herzstück dieser Theologie bildet die Überzeugung, dass der Glaube eine aktive Praxis und nicht lediglich eine geistliche Einstellung des christlichen Lebens ist. Mit anderen Worten, der Christ besitzt nicht einen Glauben – der Glaube ist die Handlung des Christen. 63 Im Zentrum dieser Handlung steht das sogenannte Prinzip der „positiven Bezeugung“.

Die positive Bezeugung des Glaubens beinhaltet die Idee, dass der Glaube immer eine verbale Erklärung miteinbezieht und der Christ aufgrund seiner verbalen Verlautbarung erhält, was er bezeugt. Diese Theologie des „Benennens und Erhaltens“ von materiellen, geistigen oder körperlichen Geschenken vollzieht sich in vier Phasen:

Der Glaubende findet die gewünschte Verheißung Gottes in der Heiligen Schrift.

Der Glaubende bezieht dieses Versprechen auf sich selbst.

Der Glaubende erklärt seinen Glauben an den Erhalt des Erbetenen.

Der Glaubende lebt unmittelbar in dem Erhalt des Versprochenen (selbst wenn die Resultate noch nicht sichtbar sind).

64

Das Wort des Glaubens manifestiert sich in dieser Bewegung vom Benennen zum Erhalt (nicht nur der hoffenden Erwartung) von Gottes Geschenken als Besitz des Christen. Wenn die Erwartung dann doch enttäuscht wurde, wird dies auf einen verfehlten Glauben des Christen zurückgeführt. 65 Das Wohlstandsevangelium führt so oft zu einem Triumphalismus, der negative Bezeugung, entmutigende Gedanken und Handlungen, Selbstmitleid und Konzentrierung auf äußere Merkmale als Verfehlungen eines erfüllten Lebens ablehnt. 66 Das erhoffte Resultat positiver Glaubenserklärung ist ein Leben in Reichtum und Gesundheit, in dem sich die Fülle des göttlichen Lebens widerspiegelt.

In ähnlicher Weise geht auch die klassisch-pfingstlerische Heilungsverkündigung in der Wohlstandspredigt auf. Während Heilung, Genesung und sogar Totenauferstehung als göttliches Versprechen eine alltägliche Praxis in der Pfingstbewegung darstellen, lehnen einige Gruppierungen des Wohlstandsevangeliums medizinische Hilfe in jeglicher Form traditionell ganz und gar ab, auch wenn diese Einstellung heute moderater ausfällt. 67 Über die in der Pfingstbewegung weitverbreiteten Praktiken des Gebets, der Ölsalbung und der Handauflegung hinaus ermutigen die Wohlstandsgruppierungen zu ungewöhnlichen Handlungen, wie z. B. dem Kauf und der Verwendung von Taschentüchern oder Salböl zur Erlangung von Gesundheit und Reichtum. Besondere Heilungs- und Genesungsgottesdienste werden genutzt, um die Kraft des Glaubens und der Erlösung zu demonstrieren, oft begleitet von zahlreichen Glaubenszeugnissen und Heilungsbeweisen, die als Wunder deklariert werden. 68 Gott und der Gläubige stehen nach dieser Perspektive in einem Bundesverhältnis, in dem die Fülle Gottes dem Christen zugänglich gemacht wird. Gottes Wort ist somit die Versicherung der Erlangung aller göttlichen Versprechen der Heilung.

Natürlich stehen viele Aspekte dieser Glaubenspraxis im Widerspruch zur traditionellen christlichen Lehre und zum christlichen Engagement für soziale Gerechtigkeit. Kritik an der Wohlstandsbewegung zielt nicht nur auf deren einseitige Gotteslehre und Christologie, sondern richtet sich auch gegen eine ausschließlich auf den Menschen bezogene Theologie, die nicht zuletzt die Vergöttlichung des Gläubigen, eine verfehlte Offenbarungstheologie und eine einseitige Schrifthermeneutik einschließt. 69 Eine eingehendere Bewertung, als sie hier geboten werden kann, würde mit Sicherheit ein weites Spektrum von Glauben und Praxis des Wohlstandsevangeliums zeigen, das sich in manchen Fällen an die klassische Pfingstbewegung anschließt und in anderen Bereichen dem New-Age-Denken und den Neugeistbewegungen zuneigt. 70 Selbst wenn wir über die Extreme der Wohlstandspredigt hinwegsehen, hat das Wohlstandsevangelium die christliche Einstellung zu sozialer Gerechtigkeit weitgehend negativ beeinflusst. Das Bild eines triumphalen christlichen Lebens legt größeren Wert auf die kurzzeitigen Veränderungen, die durch Reichtum ermöglicht werden, als auf die langzeitigen und anstrengenden Formen sozialer Hilfe, Dienste und Programme. Individueller Reichtum und Gesundheit stehen vor gesellschaftlicher Wohlfahrt und sozialer Genesung. Solidarität mit den Armen und Unterdrückten beruht, wenn überhaupt, auf Eigeninteresse und Selbstschutz. Gesellschaftliches, wirtschaftliches und politisches Engagement existiert zumeist nur auf der Grundlage von Gruppeninteressen und nicht im Interesse der Gesellschaft an sich. Im Ergebnis hat die Wohlstandspredigt den Pentekostalismus wie die evangelische Welt insgesamt und die ökumenische Bewegung vor unlösbare Probleme gestellt. Die Befürwortung sozialer Gerechtigkeit und das Wohlstandsevangelium stehen an gegensätzlichen Enden einer sozialen Ethik in der heutigen Pfingstbewegung.

4 Soziale Ethik in der Pfingstbewegung

Die breite Palette der Pfingstbewegung mit den unbestreitbaren Spannungen zwischen sozialem Engagement und Triumphalismus ergibt kein klares Bild des sozialen Bewusstseins im Pfingstlertum des 21. Jahrhunderts. Jedweder Versuch, ein homogenes Bild pfingstlerischer Sozialethik zu zeichnen, führt unweigerlich zu der falschen Annahme, dass entweder eine der beiden Seiten den Vorrang hat oder die Spannungen zwischen beiden Polen unerheblich sind. Darüber hinaus muss man die Perspektiven, die in diesem Aufsatz im globalen Horizont aufgezeigt wurden, durch lokale und ins Einzelne gehende Umstände ergänzen, die oft weder sozialen Aktivismus noch die Wohlstandspredigt bevorzugen. Auf der anderen Seite gibt es auch aufseiten des Wohlstandsevangeliums Pfingstler, die soziales Engagement zeigen und an Bürgerbewegungen und Freiwilligengruppierungen teilnehmen. 71 Was sich in der gegenwärtigen Pfingstbewegung zeigt, ist nicht nur eine breite Palette gesellschaftlicher Anteilnahme, sondern auch ein kritisches Sozialbewusstsein in der Übergangsphase, die man als charakteristisch für die weltweite Pfingstbewegung ansehen kann.

Diese Übergangsphase zeigt eine dynamische, nicht statische Einstellung der Pfingstbewegung zu sozialem, politischem und wirtschaftlichem Engagement. Die Bewegung als solche ist in hohem Maße von existierenden Bedingungen, vorherrschenden kulturellen Sichtweisen, wirtschaftlichen Entwicklungen, politischer Führung und religiösen Umständen sowie Beispielen und Vorlieben im engeren Umfeld abhängig. So zeigt sich im Pfingstlertum sowohl ein radikaler Umbruch im Verhalten zu sozialer Gerechtigkeit als auch ein langsamer Übergang zu neuen Verhaltensweisen.

Die Widersprüche im Sozialverhalten von Pfingstlergruppen sind vor allem in den USA zu bemerken, wo das klassische Pfingstlertum einen eindeutigen Umbruch zu Wohlstand, Konsumismus und Kapitalismus schon nach der ersten Generation im frühen 20. Jahrhundert erfahren hat. Die sozialökonomischen Veränderungen im Lande haben mit dazu beigetragen, dass die Pfingstbewegung in ihrer sozialen Mobilität zu einer der sichtbarsten religiösen Bewegungen weltweit geworden ist. Ursprünglich waren die Pioniere der klassischen Pfingstbewegung von starken Zügen des Antimaterialismus und einer eschatologischen Eindringlichkeit derartig beeinflusst, dass ihnen wenig daran lag, am Konsumismus der Gesellschaft teilzunehmen. 72 Angesichts der Erwartung einer unmittelbaren Rückkehr Jesu Christi sprachen sich die Leiter der Pfingstgruppierungen eindeutig gegen Kapitalismus und Konsum aus. 73 Die starke Missionsorientierung des Pfingstlertums hätte schnell zu einem Misstrauen gegen jegliche Versuche geführt, imperialistische und kapitalistische Werte dem Evangelium entgegenzusetzen. 74 Theologische Überzeugungen überwogen in der klassischen Pfingstbewegung. Das Wohlstandsevangelium war die Ausnahme.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt eine eindeutige Veränderung in der Sozialethik der klassischen Pfingstbewegung und eine Ausweitung in Richtung des Wohlstandsevangeliums. Neue eschatologische Überzeugungen legten größeren Wert auf sozialökonomische Bedingungen und die Anforderungen einer sich rasch ausbreitenden Bewegung als auf Evangelisierung und göttliches Gericht. 75 Die Anlehnung an das evangelikale Christentum Nordamerikas führte zur Identifizierung mit dominanten Mittelklasseambitionen und weniger mit den gegenkulturellen Einstellungen des klassischen Pfingstlertums. Der Aufschwung von Massenmedien und neuer Technologie trug zusätzlich zu Erfolg und Verbreitung des Wohlstandsevangeliums bei. Die Verankerung weiter Teile der Pfingstbewegung in der amerikanischen Überflussgesellschaft hat allmählich die ursprüngliche Skepsis gegenüber dem Einfluss materieller Besitztümer unterminiert. 76 Die Anziehungskraft, die der „amerikanische Traum“ auf gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Stabilität suchende Bevölkerungsschichten ausübte, und das Scheitern dieses Traumes in anderen Sektoren der Bevölkerung hat zu zwei sehr unterschiedlich akzentuierten Ausprägungen der nordamerikanischen Pfingstbewegung geführt: einer progressiven Bewegung mit deutlichem sozialen Aktivismus und einer triumphalistischen Gruppierung mit Anlehnung an die Wohlstandspredigt und geringem gesellschaftskritischen Engagement. Die Spannungen zwischen beiden Gruppen können nicht einfach neutralisiert werden, indem man diese Gruppierungen vermeintlich eindeutig bestimmten gesellschaftlichen Formen zuordnet. Vielmehr finden sich beide Ausprägungen vermischt innerhalb vieler Bevölkerungsgruppen. Viele dieser gegenläufigen Tendenzen finden sich z. B. im Afro-Pentekostalismus und der lateinamerikanischen Pfingstbewegung in den USA. 77 Die Verschiebungen im sozialkritischen Bewusstsein und gesellschaftlichen Engagement sind symptomatisch für einschneidende Veränderungen in der klassischen Pfingstbewegung auf anderen Gebieten, wie der Einstellung zu Pazifismus, Alkoholkonsum, Kleiderordnung oder Unterhaltung und Freizeitbeschäftigung. 78 Zum Ende des 20. Jahrhunderts hat die klassische Pfingstbewegung weitgehend die Werte der amerikanischen Gesellschaft angenommen. 79 Dadurch ist das Pfingstlertum weniger eindeutig vom Sozialbewusstsein der allgemeinen Bevölkerung und anderen religiösen Bewegungen unterscheidbar, obwohl es zugleich eine Gegenbewegung gibt, die die traditionellen Werte der klassischen Pfingstler wiederentdeckt und mit einer Erneuerung des Wertesystems der amerikanischen Gesellschaft gleichzusetzen versucht. 80 Diese Ausprägung einer sozialen Ethik an beiden Enden des Spektrums kann im weitesten Sinne auf die globale Pfingstbewegung übertragen werden und markiert somit das Pfingstlertum als stark abhängig von kontextueller Geschichte und der jeweiligen Entwicklung sozialer, wirtschaftlicher und politischer Umstände.

Die Sozialethik der Pfingstbewegung sollte somit nicht schlicht in ein zweifaches Klischee gezwängt werden, das auf der einen Seite von sozialkritischem Engagement und auf der anderen Seite von regressiver Zurückhaltung spricht. Eine einseitige Beurteilung wird zweifellos einen breiten Bestandteil der Pfingstbewegung abdecken können, aber eine derartige Einschätzung versäumt es, die Gegenkräfte und Veränderungen sowie die fassbaren Unterschiede und gegensätzlichen Modalitäten der sozialen Ethik im heutigen Pfingstlertum in eine Gesamtbeurteilung einzubeziehen. Ein Blick auf diese Gegensätze kann es sich nicht erlauben, von einer einzigen Sozialethik im Pfingstlertum zu sprechen. Stattdessen ist es vorteilhaft, von drei Aspekten einer notwendigen und komplementären Beschreibung auszugehen, die das gesellschaftskritische Bewusstsein der Pfingstbewegung in ihren Anfängen als gegensätzlich, mehrdeutig, und vielgestaltig bewertet.

Die Beschreibung der pfingstlerischen Sozialethik als gegensätzlich ist ein hilfreicher Anfangspunkt für die zukünftige Diskussion. Die junge Pfingstbewegung, noch in ihren Anfängen steckend, besitzt kein einheitliches lokales oder globales Sozialbewusstsein. Als eine tief mit lokalen Angelegenheiten verbundene religiöse Bewegung bleibt das Pfingstlertum unbeständig und abhängig von gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Veränderungen. Dass man die Antworten auf derartige Veränderungen als gegensätzlich einschätzen muss, sollte allerdings nicht zur Diskreditierung der Pfingstbewegung führen. Die Wirksamkeit gegensätzlicher Strömungen sozialer Ethik in derselben Bewegung zeigt den Übergangscharakter des Pfingstlertums im Ganzen. Die gegenwärtige Pfingstbewegung ist sozusagen auf dem Weg, sich selbst zu finden und zu definieren, inmitten der sozialpolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umstände, die noch immer auf die junge Bewegung einwirken. Es wird oft angenommen, dass die etablierten christlichen Traditionen diese Anfangsphase ihrer Entwicklung lange hinter sich gelassen haben und deshalb eine feste Einstellung zu sozialethischen Fragen besitzen. Das Aufbrechen von Widersprüchen, die die Christenheit im 20. Jahrhundert gespalten haben, zeigt allerdings in den Debatten über Abtreibung, Apartheid, Homosexualität, Genmanipulierung, Pazifismus oder moderne Strafgesetzgebung, dass die Pfingstbewegung in ihrer Gegensätzlichkeit lediglich ein sichtbarer Ausdruck der inneren Gegensätze heutiger christlicher Sozialethik geworden ist. 81

Die Beschreibung der Pfingstbewegung als mehrdeutig überschneidet sich mit der Charakterisierung als in sich gegensätzliche soziale Bewegung. 82 Mehrdeutigkeit beinhaltet einen gewissen Mangel an Klarheit, sowohl für die Pfingstbewegung als auch für ihre Beobachter, ohne dadurch sofort innere Gegensätze zu markieren oder auszuschließen. Wenn man die Pfingstbewegung als mehrdeutig einschätzt, ist damit nicht ein Mangel an Entscheidungskraft gemeint, sondern ein Mangel an richtungweisender Führung innerhalb der Bewegung als Ganzer. Weder der soziale Aktivismus noch die Wohlstandspredigt sind mehrdeutig; was man als mehrdeutig bewerten kann, ist die Unentschlossenheit, die eine oder andere Seite als entscheidendes Merkmal des gesamten Pfingstlertums oder der vielschichtigen Pfingstbewegungen anzuerkennen. Die individuellen Gruppierungen innerhalb der Bewegung sind so eng in ihren jeweiligen sozialen Kontext eingebunden, dass sie „ausreichend anpassbar sind, um Verbindungen mit sehr verschiedenen sozialen Formationen zu schmieden“ 83. Diese Mehrdeutigkeit ist das Ergebnis einer organisatorischen Dynamik, die oft mehr in den Händen kleiner Gruppierungen, Gemeinden und pastoraler Führung liegt als bei den Konfessionen und nationalen oder internationalen Institutionen. 84 Mehrdeutigkeit ist wichtig für eine weltweite Bewegung wie das Pfingstlertum, das nicht bereits als globales System existiert, sondern erst in der Entwicklung hin zu einer der einflussreichsten weltweiten Bewegungen des Christentums steht, und zwar, indem sie sich „immer wieder erdet“ 85, also den jeweiligen Umfeldbedingungen anpasst. Diese Anpassungen haben die Pfingstbewegung zu einer funktionellen Bewegung werden lassen, ohne dadurch die pragmatische Einstellung der Pfingstler in eine bestimmte Richtung zu drängen.

Eine dritte Beschreibung der Pfingstbewegung als vielgestaltig zeigt sich in der Bewertung des gesellschaftskritischen Bewusstseins der Pfingstler als geprägt von „vielen Zungen und vielen Praktiken“ 86. Dieses Motto umfasst die Widersprüche und Mehrdeutigkeiten der Pfingstbewegung, ohne die Phänomenologie des Pfingstlertums in eine einzige, normative Praxis zu zwängen. Stattdessen nimmt man die Mehrdeutigkeit bereits als Voraussetzung für die biblische Darstellung des Pfingsttages, von dem sich die heutige Pfingstbewegung ableitet und der die Grundlage pfingstlerischer Spiritualität und Weltanschauung darstellt. Diese Vielfalt findet ihre Entsprechung in den verschiedenen Antworten der christlichen Welt auf den Kampf für soziale Gerechtigkeit. 87 Eine absichtliche Vielfalt von Antworten und Anwendungen ist deshalb als ein wesentlicher Beitrag der Pfingstbewegung zur christlichen Welt anzusehen. 88 Diese Perspektive interpretiert die „vielen Zungen und Praktiken“ nicht als vorübergehend, sondern als eine feste Einstellung, die auch bald das zukünftige Gesicht der Christenheit weltweit darstellen könnte. Gegensätze und Mehrdeutigkeit sind ein Bestandteil der pfingstlerischen Überzeugung, „sich der Öffentlichkeit auf eigener christlicher und nicht weltlicher Grundlage entgegenzustellen“ 89. Sowohl soziales Engagement als auch Wohlstandspredigt sind Bestandteile einer vielgestaltigen christlichen Existenz, die im vieldeutigen Echo des Hl. Geistes zu Pfingsten steht und somit die pfingstliche Welt von heute darstellt.

Wenn diese Charakterisierung zutrifft, ist die gegensätzliche, mehrdeutige und vielgestaltige Sozialethik der Pfingstbewegung ein bleibender und nicht vorübergehender Bestandteil. Selbst wenn sich zeigt, dass sich die soziale Ethik der heutigen Pfingstbewegung auf einigen Ebenen konsolidiert, vor allem durch den Druck von Prozessen der Sozialisierung, Institutionalisierung und Säkularisierung, können die Ergebnisse doch nicht als normativ für die gesamte Pfingstbewegung angesehen werden. 90 Diese pluralistische Identität sollte nicht unmittelbar als Relativismus abgetan werden, sondern kann unter vielen Umständen und vor allem aus der Sicht der Pfingstbewegung selbst als eine Art prophetischer Aktivismus angesehen werden, der sich mittlerweile in vielen Bereichen christlichen sozialen Wirkens gezeigt hat. 91 Als prophetisch ist das Sozialbewusstsein der Pfingstbewegung in den Grenzbereichen der Globalisierung, Internationalisierung, Urbanisierung und Industrialisierung anzusiedeln. 92 In diesen Bereichen sind die Formen des sozialen Engagements so vielschichtig wie die Herausforderungen. Die Pfingstbewegung ist immer noch im Prozess der Selbstfindung auf dem Weg zu einer ethischen Methode, die nicht nur der zentralen Identität der Pfingstler, sondern auch der Realität des 21. Jahrhunderts entspricht. 93 Der weltweite wirtschaftliche Abschwung und weitreichende sozialökonomische und politische Veränderungen haben zu einer Ausweitung dieser Grenzbereiche geführt. Die entsprechende Herausforderung, auf derartige Probleme einzugehen, lässt erwarten, dass die Pfingstbewegung in ihren verschiedenen Antworten vom prophetischen Aktivismus bis zum Triumphalismus auch weiterhin breiten Anklang finden wird.

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