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Oft ist es ganz schön schwierig mit Eltern beziehungsweise denen, die es werden wollen. Es fehlt ihnen beim ersten Kind an Erfahrung, sie haben mehr oder weniger weiche Knie vor der neuen Aufgabe, ihr Verhalten ist verbesserungsbedürftig und sie haben ihre eigene Kindheit vergessen (Es gibt auch solche, die sich zwar erinnern, aber genau deswegen beschlossen haben: Vergiss es!) Kurz gesagt, ihre Kinder haben's nicht leicht mit ihnen. Auch im Himmel sind diese Probleme seit langem bekannt. Eines Tages wurde darum eine grandiose Idee geboren – und ein ebensolches Kind ...
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Seitenzahl: 262
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Gisela Schaefer
Das Experiment
Von der Erziehung der Eltern
Dieses eBook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Die Mitwirkenden aus den Kapiteln 1, 2, 6 und 7
Kapitel 1 – Der Verbesserungsvorschlag
Kapitel 2 – Ein Kind kommt auf die Welt
Kapitel 3 – Hannes
Kapitel 4 – Alex
Kapitel 5 – Manuel
Kapitel 6 – Die Rückholung
Kapitel 7 – Die Schlußkonferenz
Impressum
Die Mitwirkenden aus den Kapiteln 1, 2, 6 und 7
Der „Chef“ Der „liebe Gott“
Seine Minister Die Erzengel Gabriel, Raphael,
Michael und Uriel
Die Heerscharen oder
die „KIeinen“ Alle übrigen Engel
Cico Baby-Zusteller-Storch
Jabi ebenso
Magu ebenso, der Dienstälteste
Stormi ebenso, der Neuling
Die Ordnung von der Abteilung „Ausstattung für
Die Unordnung Menschenkinder“ zur Verfügung
Die Wärme gestellte Eigenschaften und Zutaten
Die Kälte
Die Heiterkeit
Der Trübsinn
Die Bosheit
Die Güte
Die Angst
Der Mut
Die Feigheit
Die Vergangenheit
Die Gegenwart
Die Zukunft
Kapitel 1 – Der Verbesserungsvorschlag
Es hatte alles damit angefangen, daß die „Kleinen“ – wie die Großen sie nannten - aufmüpfig geworden waren, laufend Abordnungen zu den „Großen“ – wie die Kleinen sie nannten – schickten und sie mit höchst unbequemen Forderungen und Fragen bombardierten.
„Wer steht denn jeden Tag an der Front? Wer macht Überstunden noch und noch? Wer hat ständig Ärger und Frust? Warum habt ihr solche Angst vor Reformen?“
Seit zwei Wochen marschierten sie nun sogar jeden Nachmittag Punkt 14.00 Uhr vor dem Verwaltungsgebäude der Großen auf, schwenkten Plakate und schrieen aus vollem Halse ihre Parolen:
„Nieder mit den alten Zöpfen von gestern!“
„Neue Ideen braucht der Himmel!“
„Wir sind die Heerscharen!“
„Mehr Demokratie wagen!“
„Ein Ruck muß durch den Himmel gehen!“
Die Herren Michael, Gabriel, Raphael und Uriel waren des Genörgels schon lange überdrüssig. Als sie jetzt auch noch ständig so unsanft aus ihrer Mittagsruhe gerissen wurden, beschlossen sie, dösig und gähnend auf den Liegen in ihrem Ruheraum sitzend, noch am selben Nachmittag eine außerordentliche Sitzung mit Konferenzschaltung zum Chef abzuhalten. Der fühlte sich etwas überrumpelt von dem so kurzfristig angesetzten Termin, hörte ihnen aber aufmerksam, wenn auch leicht ungeduldig zu.
„Aber meine lieben Minister“, abwehrend hob er die Arme über den Kopf, nachdem sie geendet hatten und ihn erwartungsvoll anschauten, „das werden sie doch locker alleine erledigen können. Ich meine, solange sie nicht die Abschaffung meiner 10 Gebote fordern ... Ich finde im Übrigen auch, daß bei uns einiges ziemlich angestaubt ist. Äähm, also hiermit entscheide ich, dass sie sich mit ihnen zusammensetzen und zu einer Einigung kommen. Und jetzt entschuldigen sie mich, die Arbeit ruft!“ Mit einem verschmitzten Lächeln drückte der Chef auf einen Knopf und im nächsten Augenblick war er vom Monitor verschwunden.
Die Herren Michael, Gabriel, Raphael und Uriel blieben für eine kleine Weile stumm, dann ergriff Herr Michael als erster das Wort:
„Damit das gleich von Anfang an klar ist, ich werde es nicht zulassen, daß meine oder unsere Kompetenzen in irgendeiner Weise beschnitten werden. Wir sind mit der Regierung beauftragt worden und damit für die Einhaltung der Regeln und Gesetze verantwortlich - logischerweise können wir deshalb nicht zulassen, daß sie abgeschafft werden, nicht wahr!“
„Aber das wollen sie doch gar nicht, daß du immer so übertreiben mußt“, fuhr ihm beschwichtigend Herr Gabriel dazwischen, „sie sollen nur der heutigen Zeit angepaßt werden.“
„Hach!“, Herrn Michaels Kopf ruckte nach oben, „wenn’s nur das wäre! Es geht nicht nur um Kleinigkeiten. Nach allem, was ich mitgekriegt habe, wollen sie eigene, neue...“ - und jetzt schnappte er deutlich nach Luft, so absurd erschien ihm der Gedanke – „ja revolutionäre Ideen durchsetzen! Sowas hat’s noch nie gegeben!“
„Und das soll so bleiben für alle Ewigkeit, basta!“ die Ironie in Herrn Raphael’s Stimme war nicht zu überhören.
„Michael!“ Herr Gabriel schien die Ruhe selber zu sein. „Reg dich mal ab! Wenn ihre Vorschläge zu Verbesserungen führen, was soll denn daran gefährlich sein für unsere Kompetenzen oder Führungspositionen? Unser Gremium bleibt auf Vier beschränkt, das hat der Chef ein für allemal festgelegt, ebenso unsere Aufgaben. Dass sie sich hier und da überschneiden, hat bisher zu keinen Zweikämpfen unter uns geführt. Und was die Gesetze angeht, glaube mir, niemand käme ernsthaft auf die Idee, sie abzuschaffen. Warum sollen wir uns also nicht ein bißchen öffnen, sie anhören und mit ihnen diskutieren?“
„Weil wir dann in Diskussionen versinken würden, überschwemmt würden wir mit unsinnigen und unausgegorenen Flausen, die wir ihnen dann mühsam wieder ausreden müssten, und für unsere eigentlichen Arbeiten bliebe zu wenig Zeit - ohne mich!“ Herr Michael schwenkte zur Bekräftigung seiner Ablehnung den Zeigefinger der rechten Hand energisch hin und her. Sein Blick bohrte sich in die Augen seiner Kollegen. Nur Herr Uriel stierte auf die Tischplatte vor sich, die Beine lang von sich gestreckt, den Kopf auf die Brust gesenkt, wobei er sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger stützte. „Hast du vielleicht auch etwas beizutragen?“ Herr Michael verspürte einen leichten Ärger in sich aufsteigen.
Herr Uriel zuckte zusammen, sammelte sich aber sofort wieder: „Oh, ja ... natürlich. Wie wär’s denn mit Verbesserungsvorschlägen?“ strahlte er, und bevor irgendjemand antworten konnte, hatte er sich aufrecht in seinen Stuhl gesetzt und fuhr fort: „Wir machen einen Aushang am Schwarzen Brett“:
Ab sofortkönnen Verbesserungsvorschläge in den unten
stehenden Zettelkasten eingeworfen werden.
„Welchen Zettelkasten?“ fragte Herr Michael verständnislos.
„In den unten stehenden“, grinste Herr Raphael und fing sich einen vorwurfsvollen Blick von ihm ein.
„In den von mir unter den Anschlag aufgestellten natürlich.“ Herr Uriel war ein wenig irritiert, so schwierig erschien es ihm nicht, seinen Gedankengängen zu folgen.
„Wartet, wartet, ich bin ja noch gar nicht fertig,“ gerade rechtzeitig konnte er einen sich andeutenden Wortschwall abwehren. „Um die unausgegorenen Flausen, wie Michael es nannte, zu verhindern, stellen wir Bedingungen:“
Jeder Vorschlag muß schriftlich formuliert und seine Vorzüge
gegenüber älterenVerfahrensweisen aufgezeigt werden.
Außerdem muß mindestens eine ¾-Mehrheit der Heerscharen
für den Antrag gestimmt haben.
Einen Moment blickte er angestrengt an die Decke. „Genau, das reicht ... oder vielleicht noch als Abschluß“:
Die eingereichten Ideen werden so schnell wie möglich
bearbeitet.
Erwartungsvoll schaute Herr Uriel in die Runde.
„Super Huper Schnuper!“ Herr Raphael klatschte beifällig in die Hände. „Wir zwingen sie sozusagen, sich erst mal selber ausführlich mit ihren Vorschlägen zu beschäftigen, und anschließend uns mit ihren Argumenten zu überzeugen – oder auch nicht. Ich bin dabei!“
„Genauso machen wir’s!“ Herr Gabriel nickte seinen beiden Kollegen zustimmend zu und wandte sich dann an Herrn Michael: „Du wirst sehen, was auf unseren Tisch kommt, hat bereits einen langen, langen Weg hinter sich gebracht. Im Übrigen erinnere ich daran, dass der Chef selber sich über Angestaubtes beschwert hat. Er wird dir dankbar sein dafür, dass es dir mal wieder gelungen ist, eine schnelle und einvernehmliche Entscheidung herbeigeführt zu haben.“
Herr Michael schaute kurz auf, aber nichts in den Mienen seiner Kollegen deutete auf anderes hin als auf offenkundige Freundlichkeit. Er brummelte was davon, dass es ganz so einfach zwar nicht werde, aber man könne es ja mal versuchen. Dann bestimmte er Herrn Uriel, für Aushang und Zettelkasten zu sorgen, was eigentlich sowieso schon klar war, eilte in sein Büro und sandte eine SMS folgenden Inhalts ab:
„An Chef, gute Lösung gefunden wie gewünscht. Alle einverstanden, bei nächster Besprechung mehr Einzelheiten, Gruß Michael“
In den folgenden Wochen beobachteten die Vier Großen – nicht ohne Belustigung – eine fieberhafte Geschäftigkeit um sich herum, ja sie fühlten sich fast wie auf einer ruhenden Insel inmitten einer aufgewühlten See. Überall tuschelte es oder ereiferte sich heftig gestikulierend, überall strömte es in Scharen in Versammlungsräume, überall sah man untergeklemmte dicke Aktenordner und hochrote Bäckchen. Und da man auf den Straßen kaum jemanden mehr ohne ein kleines weißes Handy am Ohr sah, was bisher eher verpönt war, glühten auch die Öhrchen hochrot.
Auf diese Weise vergingen zwei Wochen und die Herren Gabriel und Raphael begannen, Herrn Uriel jeden Morgen nach seiner Zettelkasten-Inspektion zu fragen: „Noch immer nichts?“ Worauf er achselzuckend antwortete: „Noch immer nichts!“
Zwei weitere Wochen verstrichen, eine allgemeine Enttäuschung wurde unübersehbar und sogar Herr Michael konnte sich ein ratloses Kopfschütteln nicht verkneifen: „Sehr merkwürdig, erst hatten sie es doch so eilig!“
Dann endlich, es waren nochmal 3 Tage vergangen, stürmte Herr Uriel ins Besprechungszimmer, in seiner Rechten einen weißen DINA-4-Umschlag schwenkend:
„Es geht los! Der erste Vorschlag ist da. Bin ich gespannt – oh,“ er stutzte und führte den Umschlag etwas näher an seine Augen. „Von der Vereinigung der Schutzengel für Kinder, habt ihr jemals von einer solchen Vereinigung gehört?“ Ungeduldig fingerte er an dem Flügelhakenverschluß herum, dann zog er einen Brief hervor in 4-facher Ausfertigung: „Hier, für jeden einen.“
Vereinigung der Schutzengel für Kinder
e-mail:[email protected]*
internet: uww.verde.schuki.com **
An die Herren Erzengel
Betrifft: Vorschlag zur Steigerung der Freude und des Wohlbefindens der
Hochverehrte Herren,
Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr wir uns gefreut haben, endlich unsere Verbesserungsvorschläge einreichen zu können - danke herzlichst. Wir, die Schutzengel der Kinder, haben umgehend eine Organisation gegründet (siehe Briefkopf), damit wir Ihre harten Bedingungen erfüllen können. Glücklicherweise waren auch die Kollegen der anderen Abteilungen der Meinung, dass unser Anliegen so dringend ist, daß wir den ersten Antrag stellen durften (weitere folgen bald):
1.) Das Problem
Tagtäglich müssen wir mitansehen – und das bedrückt uns zutiefst - wie
schwer sich manche Eltern tun mit ihren Kindern, vor allem mit dem ersten. Es
ist kaum zu glauben, wieviel Unsinn da betrieben wird, natürlich zum
Leidwesen der Kinder. Wir könnten ganze Bücher darüber schreiben (was aber
sicher nicht nötig sein wird). Erst kürzlich haben wir eine Frau seufzen hören:
„Ach könnte man doch mit dem zweiten Kind beginnen, dann wäre vieles
einfacher!“ Erst dachten wir, na das geht ja wohl schlecht, aber dann hat’s beim
Matti (Kollege aus München) Klick gemacht und er hat einen richtigen
Geistesblitz gehabt.
2.) Mattis Geistesblitz
Wir schicken ein Probekind zu einem zukünftigen Elternpaar und lassen es eine
Weile mit ihnen leben. Dieses Kind sollte etwa 7 Jahre alt sein, aber nicht zur
Schule gehen müssen. Ist auch nicht nötig, denn es wird viel klüger sein als
normalerweise Kinder in dem Alter. Dazu brauchen wir etwas Hilfe vom
Fachbereich „Lebewesen“, Abteilung „Individuelle Ausstattung“. Wenn das Kind
seinen Auftrag erfüllt hat, löschen wir bei den Eltern die Erinnerung daran, es
wird ihnen vorkommen, als hätten sie einen langen Traum gehabt.
3.) Unsere große Hoffnung
Wenn nun dieses Ehepaar sein eigenes erstes Kind bekommt, beginnen sie
tatsächlich mit ihrem zweiten, wie gewünscht. Denn tief in ihrem Innern haben
alle Erfahrungen, die sie mit dem Probekind gemacht haben, Spuren
hinterlassen, oder anders ausgedrückt – sie sind keine ahnungslosen Laien
mehr (hoffentlich!).
4.) Die Durchführung
Um ein repräsentatives Ergebnis zu erhalten, schicken wir das Kind zu drei
ganz unterschiedlichen Ehepaaren. Die gesamte Organisation übernehmen wir
alleine, bitten Sie nur darum, den Fachbereich „Lebewesen“ zu unterrichten und
anzuweisen, uns in jeder gewünschten Weise zu helfen.
Wie das Kind seine Aufgabe löst, können wir weder bestimmen noch vorhersehen, und seinen Erfolg können wir nicht garantieren. Es ist eben ein Experiment. Bitte geben Sie uns eine Chance (sonst müßten wir eventuell doch die ganzen Bücher schreiben, wie oben erwähnt).
Für weitere Fragen stehen wir jederzeit gerne zur Verfügung, nur zu!
Ganz freundliche Grüße
von der Vorstandschaft der VDSFK im Namen aller Schutzengel für Kinder
PS: Wir haben nicht nur eine ¾ Mehrheit für diesen Vorschlag zustande
gebracht, sondern sogar eine 99,9 %-ige. Sie können jederzeit das
Wahlergebnis einsehen.
PPS: Auf die Schnelle noch eine Kleinigkeit: Wir sind unsere weißen Hemden so
leid! Jeans, T-Shirts und Turnschuhe, wie sie die Kinder auf der Erde
tragen, sind auch viel bequemer (und im Notfall, z.B. bei kleinen Meinungsverschiedenheiten, auch
viel praktischer). Bitte!!!
* Vereinigung der Schutzengel für Kinder @ Himmel.com
** universe wide web. Vereinigung der Schutzengel für Kinder.com
Herr Uriel konnte nicht mehr an sich halten und ließ sich laut prustend auf seinen Stuhl fallen: „Ich kann nicht mehr“, quetschte er heraus und wischte sich ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.
„Dass du immer so albern sein mußt“, Herr Michael kniff etwas die Lippen zusammen, aber auch er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, ganz zu schweigen von den Herren Gabriel und Raphael, die sich vor Vergnügen auf die Schenkel klopften.
„Oh wie gern würde ich auch mal eine dieser Jeans tragen ...“
„Ich darf doch bitten!“ Herr Michael sah Herrn Raphael strafend an.
„Schon gut, schon gut! Ich weiß ja, dass wir in unserer besonderen Position an der Kleiderordnung nicht rütteln dürfen … und in … äh, Meinungsverschiedenheiten sind wir bisher auch noch nicht verwickelt worden.“
„Genau, und außerdem ist hier oben strikt „Weiß“ vorgeschrieben.“
„Wie in Wimbledon“, platzte Herr Uriel heraus, und ein erneuter Lachanfall schüttelte ihn.
„Wenn’s nach Michael ginge, wäre sogar die Tinte weiß“, ulkte Herr Uriel. „... und niemand würde mehr Briefe schreiben oder gar Bücher, weil dann nichts mehr zu sehen wäre auf dem Papier“, führte Herr Raphael den Satz fort. „Ja, ich denke auch, dass es unserem Michael sehr gefallen würde.“
„Sehr witzig!“ erwiderte der knapp und leicht pikiert.
„Liebe Freunde“, entschärfte Herr Gabriel die kleine Spannung, die in der Luft lag, „um mit dem PPS anzufangen, das läßt sich doch sofort erledigen, oder? Mein Vorschlag: Auf der Erde Jeans etc., hier oben weiße Hemdchen wie gehabt. Einverstanden?“
„Dann aber wenigstens weiße Jeans, weiße T-Shirts und weiße Turnschuhe!“ Herr Michael versuchte, einen Rest von himmlischer Ausstattung zu retten.
„Wie wär’s mit einem Kompromiß“, um Herrn Uriels Mundwinkel zuckte es noch verdächtig, „blaue Jeans und Turnschuhe, weißes T-Shirt, damit könnten wir doch alle leben oder?“
„Ich weiß nicht so recht“, Herr Michael kratzte sich unschlüssig hinterm Ohr.
„Na komm,“ ermunterte ihn Herr Gabriel, „machen wir den Schukis doch die kleine Freude, zumal ihr Hauptanliegen eine sehr ernste Angelegenheit ist. Ich muß gestehen, ich bin gerührt und stolz zugleich, wie ernst sie ihre Aufgabe nehmen, wie verantwortlich sie sich gegenüber ihren Schützlingen fühlen. Laßt uns die Kleiderfrage abhaken und zum Wesentlichen kommen.“
„Na gut“, seufzte Herr Michael, denn ihm war klar, daß er schon wieder überstimmt worden war. „Kommen wir zu ihrem sogenannten Experiment. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe die ganze Geschichte noch nicht so richtig verstanden.“
„Gib das ja nicht offen zu – ich erinnere nur an die angedrohten Bücher! Aber im Ernst“, fuhr Herr Raphael fort, „ich glaube, wir alle sollten zunächst einmal mit unseren Briefen nachhause gehen und gründlich darüber nachdenken.“
Herr Gabriel nickte zustimmend: „Wenn tatsächlich 99,9 % von ihnen der Ansicht sind, daß etwas getan werden muß, dann scheint es wirklich schlimm zu sein dort unten auf der Erde. Und für nächste Woche, gleicher Tag, gleiche Zeit, laden wir ihre Vorstandschaft ein und fragen ihnen Löcher in den Bauch, z.B. würde ich gern wissen, was mit diesem Probekind anschließend passiert, ich meine, nachdem es seine Aufgabe erledigt hat.“
„Gut, dann bis zur nächsten Woche“, Herr Michael hob grüßend den Arm und verließ den Sitzungssaal, die anderen folgten ihm, jeder in Gedanken versunken.
Für die Großen Vier verging die Woche wie im Fluge – für die Kleinen dagegen schien sie eine Ewigkeit zu dauern. Als es endlich soweit war, erschien eine wohlvorbereitete, aber dennoch in den Knieen wacklige Abordnung der Schukis, die bombardiert wurde mit nicht enden wollenden Fragen und Forderungen. Erschöpft aber überglücklich eilten sie am späten Abend in ihr Hauptquartier und riefen den dort Wartenden nur zwei erlösende Worte zu: „Grünes Licht!“
Kapitel 2 – Ein Kind kommt auf die Welt
„Herrje, ist das ein Brocken! Wie weit ist es denn noch? Ich kann bald nicht mehr!“
„Was hast du gesagt? Wenn du so nuschelst, versteht man kein Wort – mach gefälligst den Schnabel auf!“
„Neiiiin! Bitte nicht! Cico, siehst du denn nicht, daß ihm gleich sein Zipfel wegrutscht? Hat den Knoten vergessen.“
„Wer ist das eigentlich, hast du ihn schonmal gesehen, Jabi?“
„Er heißt Stormi, neu eingestellt, sein erster Arbeitstag heute.“
„Die ganze Ladung hängt schief, weil dieser lahme Stormi da unten rumhängt. Flieg höher! Immer Ärger mit den Anfängern: Nicht in der Lage, mit vollem Mund laut und deutlich zu sprechen. Unfähig, das Gleichgewicht zu halten. Zu wenig Mark in den Knochen, um einen einzigen Transport ohne Gestöhne durchzustehen – wohl nur Luft drin, was? Ich kann bald nicht mehr, ha! Zu meiner Zeit war das anders: Drei Babys pro Tag war das mindeste. Und pünktlich und unbeschädigt abgeliefert, und allein, nicht mit drei Kollegen – an jedem Zipfel des Tragetuches einen – lächerlich!“
„Nun beruhige dich mal Magu. Wir wissen doch alle, daß du immer erstklassige Arbeit geleistet hast. Wer konnte ahnen, dass ausgerechnet dein allerletzter Auftrag vor der Pensionierung so stattlich sein würde. Du willst doch nicht behaupten, dass du den hier allein geschafft hättest?“
„Wer weiß!“
„Magu!“
„Schon gut. Um ehrlich zu sein, ein solches Monstrum ist mir in meiner ganzen Laufbahn noch nicht ins Tuch gepackt worden. Ich kann mich auch an keinen einzigen Fall erinnern, dass irgendwas anderes bestellt worden wäre als einer dieser kahlköpfigen, faltenreichen, krebsroten, zahnlosen und undichten Grantler.“
„Tatsächlich, jetzt wo du’s sagst – es tröpfelt kein bißchen, toi toi toi!“
„Wovon redet ihr denn da?“
„Du sollst den Schnabel halten, Stormi, höher mit dir, höher!“
„Was ist es denn überhaupt, ich kann bei Dunkelheit nicht mehr so gut sehen.“
„Keine Ahnung, nichts zu erkennen, hat einen Trainingsanzug an und Turnschuhe.“
„Mir wird schlecht!“
„Stormi, dir geht’s gleich noch viel schlechter, wenn du nicht sofort höher fliegst. Hellblau oder rosa?“
„Was?“
„Der Anzug, was sonst.“
„Dunkelblau glaub ich.“
„Na also, rosa wäre ein Mädchen gewesen, hellblau ist ein Junge – äh, dunkelblau ist ein großer Junge. Meine Güte, massenhaft Haare hat er auch schon. Ich wette, er hat auch schon ein komplettes Gebiß, paßt bloß auf eure Federn auf, falls er aufwacht.“
„Ich krieg einen Wadenkrampf!“
„Und gleich einen Weinkrampf dazu! Sag mal Magu, wer hat denn diesen extravaganten Wunsch gehabt?“
„Tja, das ist so’ne Sache, ziemlich heikel. Mein Vetter, der in der Bestellannahme arbeitet, hat mir anvertraut – aber das muß unter uns bleiben – dass es keine Mutter war...“
„Ein Vater etwa? Sollte mich nicht wundern, wenn da einer ganz clever war und sich den Schock des Lebens ersparen wollte. Ihr wißt doch, wie sie alle ihre neuen Babys anstarren, schreckensbleich und ungläubig. Dann beginnt in ihnen ein furchtbarer Verdacht zu keimen: es muß eine Verwechslung gegeben haben! Verzweifelt schauen sie in alle Bettchen auf der Suche nach einem, das ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Aber Pustekuchen – gibt es nicht. Immer dasselbe, schließlich müssen sie sich zufrieden geben mit dem kleinen Monster, das man ihnen als das ihrige zuweist.“
„Mal angenommen, du hast Recht Jabi, warum hat dieser Vater dann nicht zwei oder drei Jahre übersprungen, ich meine, dann sind sie doch auch schon ganz passabel? Aber dieser hier – laß mich mal schätzen – hat mindestens 7 Jahre auf dem Buckel, müßte eigentlich in der Schule sein, statt hier durch die Nacht getragen zu werden.“
„Meine Knie werden ganz weich!“
„Das ist nur gut gegen Wadenkrämpfe. Zum letzten Mal, flieg höher Stormi!“
„Um nochmal auf meinen Vetter zurückzukommen: Weder eine Mutter noch ein Vater haben diesen Riesen hier bestellt. Keinerlei Namensangabe auf dem Bestellschein, nur ein merkwürdiges Zeichen: Großes E und eine 1, also E1. Zuerst dachte mein Vetter, jemand hätte sich einen Scherz mit ihm erlaubt. Er also schnurstracks zu seinem Chef. Der druckst und stottert was von „Top secret“ – höchste Geheimhaltungsstufe. Anordnung von oben – ganz oben! Mehr wüßte er auch nicht.“
„Und wo sollen wir ihn abliefern ganz ohne Namen und Anschrift?“
„Alles was ich habe ist folgendes: 47. Breitengrad, 50 Minuten, 58 Sekunden nördliche Breite. 10 Grad, 56 Minuten, 7 Sekunden östliche Länge. Im Übrigen würden wir schon merken, wo wir landen und das Herzchen ablegen müßten. Was immer das zu bedeuten hat.“
„Woher weißt du denn, wo das 47. Reifenrad und 58 Stunden restliche Menge sind?“
„Oh Stormi, du nervst mich. Was lernt ihr eigentlich heutezutage in der Zusteller-Schule? Und sowas wird eingestellt. Schau dich lieber mal um, ob du was erkennen kannst, hast ja noch junge Augen.“
„Jawohl, Herr Cico. Ich sehe: kein einziges Licht, keine Straßenbeleuchtung, kein Krankenhaus, kein...“
„Du sollst mir nicht sagen, was du nicht siehst, sondern was du siehst.“
„Lauter nichts!“
„Nach meinen Berechnungen müßten wir nahe dran sein, merkwürdig. Wir gehen mal etwas tiefer – huuuups! Nicht so schnell! Oooooh – Flügel raus, so weit wie möglich! Luftloch! Achtung … Wald in Sicht, Baum in Sicht … bitte alle gleichzeitig aufsetzen, bitte!!!“
„Autsch – voll in den Magen rein, und noch eins auf’s Auge, na super. Halt die Flügel bei dir Stormi! Du schwankst ja wie auf hoher See. Stemm dein Hinterteil gegen den Baumstumpf, feste, ja genauso. Und jetzt hör endlich auf, wie ein Wilder um dich zu schlagen. Wir haben festen Boden unter den Füßen, wir sind unten.“
„Dieser Anfänger hat es geschafft, mir sämtliche Federn zu verknicken.“
„Laßt gut sein, die Hauptsache ist, dass wir alle noch ... wer röchelt denn da so schrecklich?“
„Röcheln nennst du das? Sei unbesorgt, das Geräusch kenn ich nur zu gut. Unser Zwergerl schnarcht mindestens so laut wie meine Frau, die Mara. Stups ihn an, dann ist er still. Mach ich bei ihr auch immer so.“
„Aber jetzt ist es zu still – ich spür’s in allen Knochen, gleich passiert irgendwas Furchtbares.“
„Ich bin festgeklemmt!“
„Stormi, du solltest dich nur anlehnen, nicht einklemmen. Jetzt kneif ihn fest zusammen und … hauruck, na also.“
„Hört mal, das Luftloch war kein Zufall, es stimmt haargenau überein mit meiner Ortsangabe.“
„Und weiter? Du hast doch gesagt, wir könnten auch sehen, wohin wir ihn legen sollen. Warum lassen wir ihn nicht einfach gleich hier und verschwinden?“
„Jabi, ich hätte nicht gedacht, daß aus deinem Munde ein so unehrenhafter Vorschlag kommen würde. Nicht, dass ich mich besonders wohlfühlen würde im Moment, irgendwas stimmt hier wirklich nicht, aber – wir warten. Ich schätze, es kommt gleich jemand mit einer Lampe...“
„Ist schon da!“
Ein silbriger Strahl tastete suchend durch das Geäst.
„Sieht so aus, als würden wir abgeholt. Schöne große Taschenlampe.“
„Von wegen Taschenlampe, ist ein Mondstrahl.“
„Ist mir auch egal, gehn wir ihm nach.“
Wie der Kegel eines Scheinwerfers glitt das Licht über umgestürzte, vermodernde Baumstämme. An zersplitterten Stümpfen entlang, in deren feucht aufgedunsenem, schwammigem Holz Flechten und Pilze wucherten. Es durchdrang die feingewebten Fallen der Spinnen, huschte an den glatten, graugrünen Buchenstämmen vorbei und warf tiefe Schatten in die rissige Rinde der Eichen. Kein Blatt löste sich von den Zweigen, denn kein Nachtwind streifte durch die Baumkronen. Kein Rascheln im trockenen Laub, denn kein Tier bewegte sich durchs Unterholz. Kein Aufleuchten von Augen, kein hetzender Verfolger hinter fliehendem Opfer. Nur bewegungslose Stille.
„Diese Geheimniskrämerei ist absolut lächterlich.“
„Mir reicht’s auch allmählich. Sobald irgendwas auftaucht, was auch nur annähernd wie ein Gitterbett aussieht, rein mit ihm und ab durch die Mitte. Wahrscheinlich ist sowieso alles nur ein Alptraum. Gleich wache ich neben meiner Mara auf, aber ich werde ihr nichts erzählen, weil sie mich nur auslachen würde.“
„Durch mich ist gerade was Warmes gezogen – mittendurch.“
„Der arme Stormi hat vor Angst Fieber gekriegt. Na Mahlzeit, dann haben wir auf dem Heimweg wieder was zu schleppen.“
„Es ist nur ein Traum, es ist nur ein Traum!“
„He, seht mal, ich glaube, wir sind am Ziel.“
Sie hatten eine Lichtung erreicht und der Mondstrahl bildete einen fahlen, fast senkrechten Lichtschacht um eine große, weit geöffnete Blüte herum. Ein Kranz langer, schmaler, spitz zulaufender Blätter umgab den bauchig rund geschwungenen Kelch.
„Ts, zu meiner Zeit hätte es sowas nicht gegeben.“
„Die Zeiten ändern sich eben, wenn jetzt Blümchen-Betten in Mode sind, mir soll’s recht sein. Legen wir ihn hinein, so, und jetzt das Tuch unter ihm wegziehen. Stormi, komm her zu mir, wir ziehen natürlich nur auf einer Seite – kannst du dir denken, warum?“
„Also, du kleiner Riese, mach’s gut. Mir ist nicht ganz geheuer bei dem Gedanken, ihn hier allein im Wald zurückzulassen, außerdem spukt es hier, eben hat mich was gestreift. Hallo, ist da jemand?“
„Warum verstecken wir uns nicht hinter einem Baum und schauen uns an, wer ihn abholt?“
„Weil wir den Auftrag ausführen und sofort zurückkommen sollen, weil wir uns um nichts weiter kümmern sollen. Aus, Schluß, das sind die Anweisungen!“
„Brrrr, ist mir auf einmal kalt.“
„Bloß nicht noch ein Kranker, Magu, du wirst dich doch nicht erkältet haben?“
„Merkwürdig, es war wie ein Schüttelfrost, jetzt ist es wieder vorbei. Fertigmachen zum Abflug – höher, immer höher! Wie spät ist es eigentlich?
Mitternacht stand kurz bevor.
Ein sanfter Luftzug umspielte die Lichtsäule – gefolgt und scharf geschnitten von einem eisigkalten. Es zischte und brodelte wie kalte Wassertropfen auf heißer Herdplatte, als der kalte Luftzug auf ein aufquellendes Gebirge heißer Dämpfe traf.
Ausgefranste, graue Nebelfetzen tauchten aus der Dunkelheit auf, veränderten ihre Form, lösten sich auf, sammelten sich erneut. Bildeten Gestalten, Gesichtszüge mit trüben, matten Augen.
Und dann bunte Wirbel, wie Luftschlangen, in die man hineinbläst, so daß ihre Ringe rasend schnell ausfließen. Schillernde Blasen, sich unaufhörlich teilend und schaumig auftürmend, um dann zu zerplatzen.
Duftig zarte Wölkchen, vergnügt umeinander und übereinander schwebend – nur einmal entsetzt auseinanderstiebend, als durch ihre Mitte etwas Hartes, Metallisches schnitt.
„Kann mir mal jemand sagen, was eigentlich los ist. Warum bin ich hierher bestellt worden? Was tut ihr denn alle hier?“
Planlos und hektisch sprang eine kleine, kauzige Gestalt zwischen den Anwesenden umher und schwenkte dabei einen Schnürsenkel mit Dreifach-Knoten vor ihrer Nase. Tief in die Stirn gezogen bis hinunter zu den Augenbrauen und von zwei gut abstehenden Ohren gehalten, bauschten sich Schwimmshorts auf ihrem Kopf. Um den Hals herum krempelte sich ein Hosenbein und in dem anderen steckte ein Arm. Die Beine dagegen waren durch die Ärmel eines grellrosa T-Shirts gezwängt worden, das von einem zweiten Schnürsenkel über dem
Bauch gehalten wurde. Nur ein Fuß steckte in einem Schuh (ohne Schnürsenkel), der andere in einem Socken mit Ein- und Ausgang, weil ihm die ganze Fußspitze fehlte.
„Heute übertriffst du dich mal wieder selbst. Schaust du dich eigentlich nie im Spiegel an bevor du ausgehst?“
„Na und ob! Was glaubst du denn, wieviel Mühe es macht, mich so herrlich unordentlich herzurichten. Als wenn das so einfach wäre, du hast keine Ahnung.“
„Schon gut, schon gut. Natürlich weiß ich, wer du bist, aber es verschlägt mir jedesmal aufs Neue die Sprache. Ich versteh’ es einfach nicht. Sieh mich mal genau an und antworte ganz, ganz ehrlich: Findest du es nicht schöner, so wie ich auszusehen?“
„Gott bewahre – sowas von fade! Du bist die Ordnung – ich bin die wundervolle, kreative, blühende, sprühende Unordnung – für nichts in der Welt möchte ich mit dir tauschen. Weißt du übrigens, warum wir alle hier sind?“
„Selbstverständlich weiß ich das. Wir haben doch alle eine Einladung bekommen, du doch auch, sonst würdest du ja wohl nicht vor mir stehen, oder?“
„Logisch, ich habe sogar einen Knoten in den Schnürsenkel gemacht als Erinnerung. Ich weiß nur nicht, warum ich kommen sollte.“
„Außer der Einladung lag auch noch ein Rundschreiben im Briefumschlag, hast du das nicht gelesen?“
„Oje, es waren zwei Zettel. Den Umschlag habe ich in die Badewanne, ins Spülwasser getan, zusammen mit allem, was auf dem Sofa, dem Sessel, dem Tisch, dem Schrank und den Stühlen lag. Ich hasse alte Unordnung mußt du wissen, zwischendurch muß ich Platz schaffen für neue. Aber vielleicht kann ich ihn wieder rausfischen, er liegt höchstens seit 8 Tagen drin.“
„Vergiß es, die Tinte ist verwischt.“
„Ja ist es denn zu fassen! Jeder weiß, wie leicht so ein kleines Malheur passieren kann, aber auf die Idee, mit wasserfester Tinte zu schreiben, da kommt keiner der hohen Herren. Also sag schon, was stand drin?“
„Das verrate ich dir auf keinen Fall. Soweit kommt’s noch, dass ausgerechnet ich deine Schlamperwirtschaft unterstütze. Ich geb dir aber einen Rat – nur damit hier alles ordentlich ablaufen kann. Stell dich ganz weit hinten an und paß genau auf, was die anderen sagen und tun. Dann wirst du schon verstehen. Nur soviel, der Kleine da vorn in der Blüte ist „E1“ … „Experiment 1“, mehr sag ich nicht.“
Die Ordnung drehte sich um und ging ihrer Wege, die Unordnung kratzte sich ratlos am Kopf, dann zog sie die Achseln hoch und schob sich wieder hektisch durch die Anwesenden: „ Wo ist das Ende der Schlange bitte? Sind sie der letzte, mein Herr? Nein? ...“
„Bitte macht mir Platz, laßt mich durch zu ihm“, sanft schob sie sich durch die Menge, hier ein wenig sich schmälernd, dort ein wenig ausweichend, dann liebevoll jemanden von einem Platz auf den anderen versetzend, bis sie die Blüte erreicht hatte. Rot glühte es in ihrer Mitte auf – und in dicht aufeinander folgenden Wellen verströmte sich die Wärme über den kleinen Jungen.
„Löse dich aus deiner Erstarrung, Menschenkind, bewege deine Gliedmaßen“, hauchte sie. „Erweiche deine Gesichtszüge durch ein Lächeln, belebe deine Augen mit Gefühlen. Erwärme vor allem dein Herz, laß es mitwirken und mitentscheiden bei allem, was du tust.“
„Tu dich nicht immer so wichtig. Du bist doch nicht allein beteiligt. Mitternacht ist schnell vorbei, also spute dich, wir wollen alle dazu beitragen.“
Der eisigkalte Luftzug schnitt jäh durch die pulsierende Wärme. Klirrend formierten sich Kristalle, wucherten bedrohlich in alle Richtungen mit spitzen, messerscharfen Kanten.
„Immer meinst du, du wärst das Wichtigste für diese Menschen, aber ohne mich kommen sie auch nicht aus in dieser Welt“, höhnte die Kälte. „Zum Teufel mit deinen warmen Gefühlsduseleien. Wie heißt es doch so treffend: ein kühler Kopf, ein kalter Verstand, sind des Glückes Unterpfand.“
„Was verstehst du schon von Glück. Aber da wären wir wieder bei unserem alten Thema angelangt.“
„Ganz genau, Herzensdame. Nur habe ich nicht die mindeste Lust, mit dir wieder stundenlang zu diskutieren, es kommt sowieso nichts dabei heraus, nicht mal ein vernünftiger Kompromiß.“
„Nein, nicht zwischen uns beiden, aber vielleicht gelingt diese schwierige Aufgabe unserem Menschenkind.“
„Papperlapapperlapapp – ich kann das Gezänke zwischen euch nicht mehr mit anhören – und ich will es auch nicht! Durch nichts und niemanden laß ich mir meine gute Laune und meinen frohen Sinn verderben, schließlich bin ich die Heiterkeit.“ Elastisch wippend näherte sich eine Kugel dem Lichtschacht, wirbelte ausgelassen um ihre eigene Achse und versprühte ein wahres Feuerwerk von Farben – winzige Explosionen in Gelb, Rot, Grün und Blau.
„Als wenn ich nicht schon genug zu tun hätte mit diesem Trauerkloß da dicht hinter mir. Wie schwarzes Öl breitet er sich aus, zwängt sich in kleinste Ritzen, durchtränkt jede Materie. Beschwert die Menschen, bis ihre Schultern sich beugen und ihr Herz wie ein Klumpen Blei in ihnen wiegt. Legt sich klebrig auf ihre Gedanken, bis sie unbeweglich und verängstigt stillstehen. Überschwemmt ihre Augen mit heißen Tränen. Wie, frage ich euch, kann man sowas jemandem antun?“
„Sprichst du von mir, oberflächliches, ekelhaft buntes Luftgespinst? Du weißt es ebenso wie alle anderen, daß Leid, Kummer und Schmerz den Charakter formen, die Not anderer erkennen und mitfühlen lassen. Also kannst du oder willst du nicht verstehen, dass ich lauter Tugenden in ihnen wecke? Was erdreistest du dich, so über mich herzuziehen? Was sind denn deine Gaben, he? Sag schon, raus damit, oder genierst du dich jetzt?“
„Trübsinn, dir ist nicht zu helfen. Fast tust du mir leid, denn du verpaßt das Beste auf dieser Welt. Nie wird dein Herz vor Freude klopfen und deine Augen strahlen beim Anblick einer schönen Blume, bei den Klängen einer fröhlichen Melodie, durch die Zärtlichkeit einer streichelnden Hand.“