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Nein, Elfen sind keine Engel, auch wenn sie zwei Flügel haben! Eleonore und Miranda haben beide vor allem eines: Lust auf Abenteuer. Und die verstrickt sie in Situationen, die manchmal lustig, manchmal aber auch gefährlich oder schwer zu durchschauen sind. Eine Phantasiegeschichte über ein Elfenvolk, seine Königin und deren Nachfolgerin.
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Seitenzahl: 280
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Gisela Schaefer
Elfen sind keine Engel
Oder: Eleonore und Miranda
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Elfenland
Auf der Wolke
Regina
Im Meer
Walpurgisnacht
Amtierende und zukünftige Königin
Der Heiratsantrag
Die Öffentliche Woche
Eleonore und Miranda auf Reisen
Die Entdeckung einer neuen Spezies
Zwei Krönungstage
Armer Adam
Impressum neobooks
Elfen sind keine Engel
Oder: Eleonore und Miranda
Es war einmal eine kleine Elfe, die, wie alle Elfen ihrer Art, einige Jahre ihres Lebens in einer Wohngemeinschaft in einem Internat verbrachte, beaufsichtigt und erzogen von Lehrerinnen, von denen jede eine Spezialistin auf ihrem Gebiet war. Es ist üblich, dass die kleinen Elfenmädchen im Alter von drei Jahren von ihren Müttern in diese Schule gebracht werden und dort bis zu ihrem 13. Geburtstag bleiben, egal, ob sie hoch begabt oder eher dürftig begabt sind, oder wieviel und was sie lernen. Danach gehören sie so oder so zu den Erwachsenen und können sich ihren zukünftigen Wohnort aussuchen: Zum Beispiel eine Wiese, eine Höhle im Berg, an einem Fluss oder in einem Baum. Nun dürfen sie auch die Farbe ihrer Garderobe wählen, die aus einem seidenfeinen Sommerhemdchen und einem dicken, warmen Gewand mit langen Ärmeln, einer Mütze und Schuhen für den Winter besteht. Während ihrer gesamten Kindheit jedoch tragen sie ein neutrales Weiß. Dieses Erziehungsmodell hat zur Folge, dass Mütter, sobald sie ihre Töchter an der Schulpforte abgeben, diese zehn Jahre lang nicht sehen und danach gar nicht mehr erkennen, denn Besuche, z.B. mit Geburtstagsgeschenken, sind nicht erlaubt. Da auch Dreijährige schon nach kurzer Zeit keine Erinnerung mehr an ihre Mütter haben, ist der Schuleintritt somit ein Abschied – was niemanden stört. Einmal, weil man es so gewohnt ist seit Urzeiten, zum anderen weil in der Regel alle Elfen freundschaftlichen Umgang pflegen – ihr Leben lang. Es gibt allerdings auch Ausnahmen, doch davon später.
Die Geburt einer Elfe ist ein ganz außergewöhnlicher Vorgang: Jedes Jahr an einem bestimmten Sommermorgen, wenn sich in der Nacht zuvor Tau auf den Blättern gesammelt hat und nun in der Sonne funkelt wie Diamanten, dürfen die Elfen einmal in ihrem Leben von diesen Tropfen trinken. Wenige Wochen später wird dann ein Elfenbaby geboren, so winzig, dass von einer Mühsal der Geburt nicht die Rede sein kann – weshalb der Beruf der Hebamme gänzlich unbekannt und Kinderkriegen somit das reinste Vergnügen ist.
Die Lebensdauer einer Elfe beträgt exakt zweihundert Jahre – kein Grund für Bedenken oder Sorgen, wenn man sein Lebtag immer gleich gut aussieht, nicht größer oder dicker, nicht grauhaarig und faltig, nicht schwerhörig und kurzsichtig wird oder falsche Zähne braucht. Auch Krankheiten sind eher selten, vielleicht dass jemanden mal eine kleine Magenverstimmung nach allzu gierigem Genuss von Süßem quält, oder leichte Schwindelgefühle auftreten beim Hubschrauberspiel, bei dem sie sich spiralförmig hochschrauben in die Luft.
Sogar ihr Ende ist viel angenehmer als z.B. bei Menschen: Wenn die Zeit gekommen ist, legen sich die Elfen ins Bett und schlafen friedlich ein. Dann verwandeln sie sich in das Samenkorn einer Blume. In welche ist reiner Zufall - es kann ein Gänseblümchen oder eine Silberdistel sein, ein Löwenmäulchen oder Klatschmohn. Es besteht auch keine Gewissheit darüber, wie bald und ob man überhaupt als Blume von Menschen gepflückt oder von Tieren gefressen wird – oder lange und unbehelligt blühen darf. Auch hier gibt es eine Ausnahme von der Regel: Die Elfenköniginnen verwandeln sich in Rosenstöcke, die in den Garten auf der Südseite des Königspalastes gepflanzt werden. Da Elfen scheue Wesen sind und den Blicken der Menschen möglichst verborgen bleiben wollen, besitzt die Königin, und nur sie allein, die Gabe, diesen herrlichen Rosengarten, den Palast, die Schule und andere Einrichtungen für das menschliche Auge unsichtbar zu machen. Alle anderen Elfen verfügen nur über recht schwache Zauberkräfte, die gerade ausreichen, um sich bei Bedarf selber unsichtbar zu machen. Je nachdem, wie gut sie während ihrer Schulzeit im Fach Elfenmagie aufgepasst haben, gelingt ihnen das mehr oder weniger perfekt – manchmal dauert es ewig lange, manchmal sind nur Teile von ihnen verschwunden. Es ist vorgekommen, dass ein Paar Flügel umherflogen ohne sichtbaren dazugehörigen Körper.
Über das Elfenvolk herrschte zu der Zeit, als Miranda ihr vorletztes Jahr im Internat verbrachte, die Königin Eleonore. Deren offizielle Anrede lautete: „Hochverehrteste, weiseste und gelehrteste Majestät“, worauf sie jedoch meistens verzichtete – Eleonore war eine unkomplizierte, uneitle Frau. Außerdem wusste jeder, dass sie tatsächlich weise und gelehrt war – also wozu es ständig betonen? Und dass sie von all ihren Untertanen geduzt wurde, tat der Verehrung keinen Abbruch. Nur manchmal, wenn sie schlechte Laune hatte oder sich nach einem ungebundenen Leben sehnte ohne Verpflichtungen, dann wurde sie unruhig, ungeduldig, auch gelegentlich ungerecht. Dann konnte es vorkommen, dass sie plötzlich mit Nachdruck ihren vollen, pompösen Titel forderte.
Eleonore war Königin geworden, wie alle Königinnen vor ihr auch, und das läuft so ab: Kurz bevor eine Königin ihr letztes Lebens- bzw. Dienstjahr beginnt, wird unter den Mädchen des Internats eine geeignete Nachfolgerin gesucht. Alle Lehrerinnen beteiligen sich an der Suche und die Schulleiterin präsentiert der Königin anschließend zwei Mädchen zur Auswahl. Die prüft beide und entscheidet, welche ihre Nachfolge und welche die Nachfolge der Schulleiterin antreten soll, denn beide Termine, und auch das ist seit Urzeiten so, fallen zusammen. Sodann widmen sowohl die Königin als auch die Schulleiterin einen Großteil der ihnen verbleibenden Zeit für die besondere Erziehung ihrer Schützlinge, von denen erwartet wird, dass sie nicht nur intelligent und fleißig sind, sondern auch bereit, Verantwortung zu übernehmen und ein einwandfreies Leben zu führen, ein Vorbild zu sein für alle anderen Elfen.
Ganz ähnlich werden auch die übrigen Lehrerinnen ausgewählt, womit eine gleichbleibend gute Qualität des Unterrichts gewährleistet ist - das System hat sich bewährt.
Alle Elfen, außer den Internatsschülerinnen mit ihren Lehrerinnen und der Königin mit ihren Bediensteten, leben allein. Jedoch begegnen sie sich nicht nur ständig im Alltag, besuchen sich und halten Schwätzchen, es gibt auch genügend Anlässe zu Versammlungen des gesamten Volkes. Zum Beispiel findet regelmäßig im Palast der Königin ein Sommerfest statt. Einmal im Jahr während der sogenannten ‚Öffentlichen Woche‘, die mit einer Rede der Königin zur Lage der Nation beginnt, hat jede Elfe die Gelegenheit, ein Anliegen vorzutragen. Es werden Streitigkeiten geschlichtet, Aufträge erteilt, Beschwerden gehört und Belobigungen und Ermahnungen ausgesprochen.
Danach begibt die Königin sich auf Reisen, zwei bis drei Wochen lang besucht sie jeden Winkel ihres Reiches und ist zu Gast bei anderen Elfenvölkern - da gibt es zum Beispiel solche, die nur aus Männern bestehen oder auch gemischte. Es werden Erfahrungen ausgetauscht, Grenzen bestimmt und Freundschaften geschlossen. Außerdem nimmt sie an Geschäftsessen mit Zwergen teil, ihren wichtigsten Handelspartnern, und schließt neue Verträge ab. Während jeder dieser Abwesenheiten wird ihr Palast renoviert und gesäubert, so dass bei ihrer Rückkehr alles blitzt und blinkt und frisches Obst auf dem Tisch steht.
Auch Miranda war mit drei Jahren in die Schule gekommen und hatte in den ersten fünf Jahren das übliche Grundlagenprogramm absolviert: Schreiben, Rechnen, Lesen. Bevor die zweite Hälfte ihrer Ausbildung beginnt, werden die Elfenkinder stets gefragt, worin sie sich spezialisieren, also welche besonderen Fächer sie von nun an belegen wollen.
Als man Miranda diese Frage stellte, antwortete sie keck: „Alle!“
„Oha, alle! Weißt du, was das bedeutet? Natürlich nicht,“ sagte Cornelia, die Leiterin der Erziehungseinrichtung, in mütterlichem Tonfall, obwohl sie Miranda nicht mochte, „sonst hättest du diesen Wunsch nicht geäußert. Alle Fächer sind entschieden zu viel, das kannst du mir glauben, mein Kind. Nicht mal ich habe das geschafft,“ fügte sie mit spitzem Mund hinzu und dachte an die Andere, die es auch seinerzeit versucht hatte. „Also geh nochmal in dich und überlege dir, was du aus deinem Leben machen willst … und entsprechend wählst du deine Fächer aus.“
„Könnte ich es nicht umgekehrt machen,“ Miranda sah ihr fest in die Augen, „erst alles lernen und dann entscheiden, was ich später machen möchte … dann hätte ich eine größere Auswahl, findest du nicht auch?“
Cornelia dachte scharf nach – das klang neuartig, ungewöhnlich, rebellisch, wie so vieles, was von Miranda kam – aber auch logisch.
„Na schön,“ gab sie nach, fest überzeugt, dass sie bald scheitern würde, „aber jammere mir nicht die Ohren voll von wegen Stress. Glaube nicht, dass du ein Extra-Jahr geschenkt bekommst. Wenn deine Zeit hier um ist, ist sie um … dann musst du gehen, wie alle anderen auch.“
Miranda und Stress? Doch nicht vom oder beim Lernen. Das kam höchstens bei der Vorbereitung von Kinderpartys oder in Hauswirtschaftslehre vor.
„Miranda, wenn du keinen Zucker hineinrührst, wie soll denn da Holundersirup entstehen?“
„Sirup ist so eklig süß und klebrig.“
„Das ist das Wesen von Sirup.“
„Ich mag kein süßes, klebriges Wesen.“
„Du magst keinen Holunder?“
„Sicher mag ich Holunder, seinen Duft und die kleinen weißen Blüten.“
„Aber die anderen Kinder mögen den Sirup!“
Oder: „Miranda, wir wissen ja, dass du Klebriges nicht magst, aber Klebstoff ist nicht süß und du sollst ihn auch nicht zu essen … aber wir brauchen massenhaft bunte Papierblumen und grüne Blätter für die Girlanden … also papp sie endlich zusammen!“
„Wenn wir so viel Girlanden aufhängen, sehen wir ja die richtigen Blätter und Blumen nicht mehr.“
„Aber die anderen Kinder lieben Blumen aus Papier!“
Cornelia konnte sich nicht erinnern, jemals ein so schwieriges und wissbegieriges Kind erlebt zu haben. Denn außer mit Mirandas ganz eigenen Ansichten kämpfte sie auch noch mit ihren pausenlosen, äußerst lästigen Fragen.
„Miranda, wann hört diese Fragerei endlich auf, wann endlich hast du genug, wann endlich weißt du genug?“
Worauf Miranda prompt mit einem Zitat des anerkannt weisen Sokrates aus dem antiken Athen aufwartete: „Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich, dass ich nichts weiß.“
Und das bedeutet nichts anderes, als dass sich jedes Mal, wenn man etwas Neues kennenlernt oder dazulernt, sogleich eine Unmenge neuer Fragen ergeben.
„Sie zaubert tadellos,“ sagte die Lehrerin für Elfenzauber, der natürlich an Raffinesse nicht einem Hexenzauber vergleichbar ist, „ich kann ihr nichts mehr beibringen.“
„Sie kennt Fische und Wasserpflanzen aus dem Teich, die nicht einmal ich kenne, weiß der Kuckuck, woher sie das alles hat,“ meinte die Wasserwelt-Expertin leicht pikiert.
„Sie fliegt wie eine Schwalbe, sogar den Sturzflug beherrscht sie perfekt,“ sagte die Flugübungsleiterin nicht ohne eine gewisse Bewunderung in der Stimme.
„Und den Kopfsprung vom Zehnzentimeter-Ast auch,“ fügte die Schwimmtrainerin hinzu, „ihr solltet sie sehen, wie sie ins Wasser taucht, wie ein Eisvogel! Fehlt nur noch, dass sie anschließend einen Fisch quer im Mund hat.“
„Nein, Fische sammelt sie nicht, aber leere Schneckenhäuser, Steine, Muschelschalen, getrocknete Blätter, Zapfen, Rinde … ganze Schubladen hat sie mit diesem und anderem Krimskrams vollgestopft,“ ereiferte sich die Elfendame, die für Ordnung, Sauberkeit und gutes Benehmen zuständig war und verdrehte die Augen.
Die Himmelskundige, die bisher nur mit verkniffenem Gesicht zugehört hatte, meldete sich nun auch zu Wort: „Ihr werdet es mir nicht glauben, was sie neulich mir gegenüber behauptet hat: Es gäbe außer unserer Sonne noch viele andere Sonnen.
‚Etwa auch noch eine Erde wie unsere,‘ frage ich ironisch. ‚Wie kommst du nur auf so eine Wahnsinnsidee? Hast du die Sonnen etwa mit eigenen Augen gesehen?‘
‚Wir alle sehen sie, du auch,‘ antwortet sie frech, ‚schau nur nachts zum Himmel hoch, all die unendlich vielen Sterne, das sind Sonnen.‘
‚Diese winzigen Dinger,‘ frage ich, ‚Unsinn, das sind nur Splitter unserer Sonne, die sie wohl mal verloren hat, weiter nichts.‘
‚Sie erscheinen uns so klein, weil sie weit weg sind, in Wahrheit sind sie riesengroß. Und auf den Erden, die um sie umkreisen, wachsen vielleicht Bäume und Blumen wie bei uns. Und vielleicht leben auch Elfen, Tiere und Menschen dort.‘
„Ihr könnt euch vorstellen, wie sprachlos ich war. Was soll man auch einem so zügellos phantasierenden Kind antworten? ‚Lass mich jetzt mit deinen Flausen in Ruhe, ich habe Ernsthafteres zu tun,‘ sage ich schließlich zu ihr um dem ein Ende zu machen. Die Kleine hat sie doch nicht mehr alle!“
Die Lehrerinnen schüttelten ihre Köpfe oder grinsten verstohlen und die für artfremde Sprachen stieß ein: ‚Heaven!‘ hervor.
Eines Tages, nach insgesamt gut acht aufreibenden, erschöpfenden Jahren mit Miranda, ließ sich die Bio-Lehrerin während einer Konferenz entnervt in ihren Stuhl fallen und stellte die entscheidende, alles ins Rollen bringende Frage: „Was will dieses Mädchen eigentlich? Sie kennt alle Kräuter, Pflanzen und Tiere des Waldes. Sie spricht deren Sprachen, und, soweit ich weiß, auch die der Zwerge und Menschen … will sie etwa eine Gelehrte werden?“
Das war das erste Mal, dass Miranda mit dem Begriff ‚gelehrt‘ in Zusammenhang gebracht wurde und nicht wie üblich mit ‚unbequem‘ oder ‚vorlaut‘. Cornelia horchte auf. Als gelehrt wurde gemeinhin nur die Königin bezeichnet, selbst die Lehrerinnen durften sich allenfalls ‚gebildet‘ nennen. Sie zog scharf die Luft ein – könnte es sein, dass sich diese Miranda ein bestimmtes, sehr hoch gestecktes Ziel in den Kopf gesetzt hatte? Zuzutrauen wäre es ihr. Aber sie, Cornelia, hatte längst ihre Wahl getroffen unter den Mädchen: Regina, die fleißigste Schülerin des Internats, brav, bescheiden und anspruchslos. In wenigen Monaten war es soweit, dann würde sie Regina der Königin als einzig Passende unter allen Mädchen empfehlen. Gewisse Ereignisse durften sich nicht wiederholen! Nein, sie wollte nicht ein zweites Mal erleben, dass eine Andere der Besten vorgezogen wurde, eine, die genauso unverbesserlich, so schwer zu erziehen war wie Miranda. Cornelias Gesichtszüge strafften sich vor Entschlossenheit, diesmal musste es nach ihrem Willen gehen und nicht nach Eleonores. Auf der Stelle musste sie die Königin vor Miranda warnen, von vornherein musste ausgeschlossen werden, dass Miranda für ein Amt infrage kam, am allerwenigsten für das der Königin.
Noch am gleichen Tag flog sie zum Palast und bat um eine Audienz.
„Hallo Cornelia, du hast Glück, ich habe keine weiteren Termine heute Nachmittag. Da brennt dir aber was unter den Nägeln, wenn du ganz unangemeldet hier hereinschneist, oder?“
Eleonore benutzte an schönen Sommertagen eine Rosenlaube als Büro, die zwar sehr hübsch anzusehen und herrlich kühl war, in der es auch stets angenehm duftete, aber man musste höllisch aufpassen, dass man den Wänden nicht zu nahe kam.
„Ja, du hast Recht … es pfeifen ja schon die Spatzen von den Zweigen … und ich, d.h. wir, sind inzwischen völlig ratlos. Sag du uns, was wir machen sollen.“
„Herzlich gern, worum geht es denn,“ fragte Eleonore freundlich.
„Um Miranda …“
„Wer ist Miranda?“
„Du kennst sie nicht? Bis zu dir ist es also noch nicht gedrungen?“
„Nein … was denn?“
„Diese Miranda ist eine Schülerin in der vorletzten Klasse, und sie ist das gerissenste, wildeste, widerborstigste und dümmste Mädchen der Schule. Deshalb wollte ich dich dringend bitten, sie für den Rest der Schulzeit zum Volk der Gemischtlebenden zu schicken.“
„So schlimm ist es? Du meine Güte … und ihr, das heißt das ganze Lehrerkollegium ist auch dieser Meinung? Na schön, ich habe Freunde unter den Gemischten, ich bin sicher, dass sie uns helfen werden. Weißt du, sie haben vorwiegend Männer als Lehrer … und das wäre für deine Miranda wahrscheinlich genau das Richtige: Mal ein bisschen härter angefasst werden, mal die Ohren langgezogen kriegen. Wer weiß, ob sie danach nicht doch noch ein ganz ordentliches Geschöpf wird … sie könnte nach der Schulzeit ihren Wohnsitz an einer Quelle nehmen … murmelndes Wasser beruhigt und besänftigt.“
Cornelia frohlockte innerlich, das ging leichter als gedacht. Gerade wollte sie sich herzlich dankend verabschieden, da schaute Eleonore sie nachdenklich an: „Andererseits … der Fall beginnt mich zu interessieren. Weißt du was, ehe wir zu so drastischen Maßnahmen wie Verbannung greifen, schick sie doch gleich morgen früh zu mir, ich möchte mir gern selber ein Bild von ihr machen und bei der Gelegenheit ein paar passende Worte an sie richten … mal sehen, ob sie es wagt, auch ihrer Königin gegenüber ungezogen zu sein.“
„Das möchte ich dir unter allen Umständen ersparen,“ rief Cornelia erschreckt und riss sich an den Rosendornen.
„Mach dir keine Sorgen,“ winkte Eleonore lachend ab, „ich werde doch wohl eine kleine Göre bändigen können. Also, denk dir irgendeinen Vorwand aus, unter dem du sie hierher schickst … sag ihr auf keinen Fall, warum ich sie sehen will!“
Cornelia, die schlecht geschlafen hatte und dementsprechend müde war, fiel auch nach längerem Grübeln nichts Besseres ein, als Miranda am nächsten Tag ein Schilfkörbchen mit drei Walnüssen vom letzten Jahr, deren Schalen schon schwarz verfärbt waren, in die Hand zu drücken.
„Bring bitte dieses Geschenk der Hochverehrtesten, weisesten und gelehrtesten Majestät … mit besten Grüßen von mir.“
Miranda schaute auf die unansehnlichen Nüsse und in ihrem Gesicht war deutlich zu lesen, was sie dachte.
„Was schaust du so, sie mag Walnüsse, sie freut sich bestimmt darüber.“
„Wenn du meinst.“
„Ist nur die Schale, die so … na ja, also schön ist sie nicht, aber die Kerne sind sicher noch gut.“
„Vielleicht.“
Cornelia überlegte, Honig kam nicht infrage, Eleonore hasste süße, klebrige Sachen. „Genau wie Miranda,“ fuhr es ihr durch den Kopf. „Hast du eine bessere Idee,“ fragte sie ziemlich grob.
„Die Walderdbeeren sind gerade reif.“
Natürlich, Eleonore liebte Beeren, alle, die hier im Wald vorkamen: Himbeeren, Blaubeeren, Brombeeren, Preiselbeeren und Erdbeeren. Dass sie darauf nicht selber gekommen war.
„Ich habe gleich Unterricht, nacheinander in der 4., 5. und 6. Klasse …“ Cornelia sah Miranda prüfend an, sie war 12 Jahre alt, fast erwachsen.
Als wenn Miranda ihre Gedanken gelesen hätte, sagte sie: „Du könntest mich schicken. Wenn du mich in Hauswirtschaftslehre abmeldest, fliege ich gleich los.“
„Hauswirtschaftslehre! Ich verstehe! Na schön, ausnahmsweise … du hast meine Erlaubnis, Erdbeeren für die Königin zu sammeln. Du wirst dich doch hoffentlich nicht verlaufen?!“
Normalerweise war es Kindern streng verboten, ohne Begleitung von Erwachsenen in den Wald zu gehen, auch Miranda war bisher immer nur mit ihrer Schulklasse dort gewesen.
„Bestimmt nicht, ich weiß, wo es Erdbeeren gibt, es ist gar nicht weit,“ sagte sie deshalb schnell, schnappte sich das Körbchen, drückte Cornelia die Walnüsse in die Hand und flog davon bevor diese noch weitere Bedenken äußern konnte.
Was für ein herrlicher Morgen! Kein Unterricht in Hauswirtschaft, Erdbeeren so viel sie essen konnte, das Körbchen würde trotzdem voll - und zum ersten Mal ganz allein im Wald.
„Bestimmt sind auch schon ein paar Blaubeeren reif, rote und blaue Beeren … wie wohl die Hochverehrteste mit blauen Zähnen aussieht.“
Bisher hatte Miranda die Königin immer nur von weitem gesehen, wenn diese einmal im Jahr das Schulfest besuchte und dabei gleichzeitig eine Inspektion der Schule vornahm. Vergnügt summte sie ein Liedchen vor sich hin, während sie in elegantem Schwung um Bäume herumflog, über Sträucher schoss, hinein in gleißende Sonnenstrahlen voller schwebender Staubteilchen, die durch Lücken im Blätterdach bis zum Waldboden fielen. Bald hatte sie das Erdbeerfeld erreicht und begann zu pflücken - eine in den Mund für Miranda, eine in den Korb für die Königin. Dazwischen Blaubeeren, bis ihr Körbchen bis zum Rand gefüllt war. Sie schaute zur Sonne, noch genug Zeit für einen kurzen Ausflug zur Lichtung, die sie so sehr liebte, weil dort das Gras so dicht wuchs, wo gelber Hornklee, blaue Glockenblumen, weißer Giersch und roter Fingerhut blühten, wo Bienen, Hummeln, Schmetterlinge und Vögel zwitscherten, flatterten, summten und brummten. Und auch weil dort Bommel, das Wildkaninchen lebte, das ab und zu so freundlich war, sich in seinem weichen Fell kraulen zu lassen.
„Hallo Bommel, wo bist du,“ rief sie voller Vorfreude – und hielt im nächsten Moment erschrocken inne. Schnell versteckte sie sich hinter einem Baumstamm, denn auf Bommels Lichtung waren drei Menschen: Zwei große und ein kleiner. Sie hatten das Gras niedergetrampelt und eine Decke ausgebreitet, auf der allerlei Essbares ausgebreitet lag. Der kleine Mensch stopfte sich einen letzten Bissen in den Mund und lief davon.
„Geh nicht zu weit weg, Christian,“ rief ihm die Frau hinterher.
Miranda fand, dass er sehr niedlich aussah. Als Christian ein paar Schritte gelaufen war, zog er aus seiner Hosentasche ein Röhrchen hervor, schraubte den Deckel ab, tauchte einen Ring an einem Stab hinein, zog ihn wieder heraus und blies kräftig dagegen. Und dann geschah, zumindest in Mirandas Augen, ein Wunder: Zahllose bunt schillernde Blasen flogen durch die Luft – vor lauter Staunen vergaß sie zu atmen – so etwas Wundervolles hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen.
„Er wird sich um ein Weibchen bemühen,“ dachte sie schließlich, kannte sie doch die Schallblasen der Froschmännchen, wenn sie eine Froschfrau anlocken wollten. Sanft und anmutig schwebten die Blasen in der Luft. Einige von ihnen platzten schon nach wenigen Sekunden, andere stiegen immer höher hinauf, bis sie hinter Blättern und Ästen verschwanden. Miranda war so fasziniert, dass sie jegliche Vorsicht vergaß. Sie flog mitten hinein in einen Schwall kleiner Bläschen, berührte sie und spürte den feinen Sprühregen, als sie zerplatzten. Plötzlich war sie dem Gesicht Christians so nahe, dass dieser sie anschielte.
„Hallo Christian,“ sagte sie strahlend und hielt sich an dem Reif fest, den er gerade aus dem Röhrchen gezogen hatte.
„Nun puste schon, ich will genau sehen, wie du das machst,“ forderte sie ungeduldig.
Im selben Moment stieß der Junge die Luft, die er vor Schreck und Verwunderung angehalten hatte, wieder heraus - bis seine Lungen leer waren - und Miranda fand sich von einer Riesenseifenblase umhüllt und davongetragen.
Sie drückte ihr Körbchen fest an sich und rief ihm zu: „Ich bin Miranda …“
Der kleine Junge starrte ihr verdutzt nach, dann rannte er zu seinen Eltern, brachte aber keinen Ton hervor, sondern zeigte nur immerzu in den Himmel.
„Ja, wir haben sie gesehen, deine Seifenblasen, sehr schön,“ tätschelte ihm sein Vater den Rücken.
„Miranda,“ sagte der kleine Junge unvermittelt und sah seine Eltern erwartungsvoll an.
„Miranda,“ wiederholte seine Mutter verträumt und warf ihrem Mann einen bedeutungsvollen Blick zu, „der Name gefällt mir. Du hast ihm also erzählt, dass er ein Schwesterchen bekommt. Möchtest du, dass dein Schwesterchen Miranda heißt?“
Darüber hatte Christian noch nicht nachgedacht, weil er bis jetzt von einem Schwesterchen gar nichts wusste, geschweige sich eines gewünscht hätte.
„Wo ist sie jetzt,“ fragte er und dachte an die Kleine in der Seifenblase.
„Oh, sie ist noch ganz winzig klein … äh … bald kommt sie zu uns, du musst noch etwas Geduld haben.“
„Tut sie nicht,“ dachte er und war alles andere als traurig, „sie ist nämlich weggeflogen … ganz weit weg.“ Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Siehst du, ich hab’s dir gleich gesagt,“ seine Mutter sah ihren Mann glücklich an, „er freut sich auf das Baby.“
Sie beendeten ihr Picknick im Grünen und machten sich auf den Rückweg. Christian ließ Blasröhrchen und Seifenlauge, die Beweisstücke seiner Untat, im hohen Gras zurück.
Miranda sah es gerade noch bevor sie die Baumwipfel erreichte - und noch höher ging es hinauf, bis der Schatten einer Wolke über sie fiel.
„Oh,oh,“ dachte sie, denn sie hatte ja soeben dutzende Male erlebt, wie leicht Seifenblasen zerplatzen, wenn sie an Hindernisse stoßen. Prompt passierte genau das – Seifenblase und Wolke krachten zusammen. Geistesgegenwärtig machte Miranda einen Satz und landete auf einem bauschig watteweichen Weiß. Nassgespritzt aber sonst glücklich legte sie sich auf den Rücken und starrte in den Himmel. Nach einer Weile stellte sie fest, dass dort nicht viel mehr zu sehen war als andere weiße Wolken. Sie drehte sich auf den Bauch und sah noch weniger. Vielleicht wenn sie ein Loch bohren würde, mit dem Zeigefinger. Noch ein bisschen tiefer, ganz vorsichtig - und dann schaute Miranda durch ihr Wolkenloch auf die Erde unter ihr. Von den drei Menschen war nichts mehr zu sehen.
Mirandas Wolke zog über den Wald, mal etwas schneller, mal etwas langsamer, mal blieb sie stehen, je nachdem von welcher Seite der Wind wehte oder es windstill blieb. Am Waldrand tauchte ihre Schule auf und für einen kurzen Moment überkam sie ein schlechtes Gewissen. Aber nicht lange - das Körbchen war voll, ein wenig Verspätung wäre sicher nicht schlimm. Irgendwann würde die Wolke wieder tiefer sinken, so dass sie einen Absprung wagen und zur Königin fliegen konnte.
„ Aber jetzt bitte noch nicht,“ sagte sie laut, denn sie trieb geradewegs auf die Stadt zu.
Am Rande der Stadt lag eine Schrebergartensiedlung und Miranda lauschte einem Gespräch zwischen zwei Männern in blauen Latzhosen und mit Strohhüten auf dem Kopf.
„Gestern waren es noch sechs Kohlrabi, jetzt sind es nur noch fünf,“ sagte der eine aufgebracht, „irgendjemand klaut hier, wenn ich ihn erwische, kann er sein blaues Wunder erleben!“
„Ich bin dabei! Bei mir verschwinden seit einiger Zeit Salatköpfe und der Brenner Martin drüben vermisst Karotten und Radieschen.“
„Da schau her! Das ist organisierte Kriminalität … vielleicht Kaninchen?“
Miranda lachte laut auf, nein, keine Kaninchenbande, aber diebische Gnome. Erst kürzlich hatte sie sie mit gefüllten Schubkarren durch den Wald ziehen sehen – Kopfsalat war auch dabei gewesen.
„Was sollen wir jetzt machen,“ fragte der Kohlrabi-Geschädigte.
„Fallen aufstellen, Wache schieben … mit einem dicken Knüppel. Ich heute Nacht, du morgen und der Brenner Martin übermorgen. Wär doch gelacht, wenn wir ihn nicht kriegen.“
Eine kleine Brise schob Mirandas Wolke weiter. Sie überlegte, ob sie die Gnome warnen sollte – andererseits, stehlen ist nicht besonders anständig. Sollten die Diebe selber schauen, wie sie ungeschoren davonkamen.
Was war denn das? Miranda bohrte ihr Guckloch etwas größer. ‚Tiergarten‘ stand dort auf einem riesengroßen Schild.
„Soll das etwa ein Tier sein,“ dachte sie und starrte einen braunen Koloss an, der gerade seinen Kopf mit Glubschaugen aus dem Wasser steckte, mit den runden Ohren zuckte und sein Maul aufriss, das so groß war wie der Höhleneingang der Dachse – und mit Zähnen so dick wie die Stängel vom Bärenklau. ‚Fluss-Pferd‘ stand auf der Tafel neben seinem Gehege.
„Das also ist ein Pferd,“ dachte Miranda, „ich hatte sie mir anders vorgestellt.“
Zwei Leoparden hinter Gitterstäben hingen auf den Ästen eines abgesägten Baumstamms, schläfrig und entspannt.
„Oh, so große Mietzekatzen! Und mit einem so außergewöhnlichen Muster in ihrem Fell … und ihre Nasen … wie Herzchen geformt … und diese Samtpfötchen!“ Miranda verfiel in Schwärmerei.
„Warum sind sie denn eingesperrt? Warum dürfen sie nicht frei herumlaufen? Die Menschen scheinen nicht tierlieb zu sein.“
In diesem Moment trat ein kleines Mädchen mit seiner Oma vor den Käfig. Die verträumt in die Ferne gerichteten Augen der Leoparden bekamen einen kalten, durchdringenden Ausdruck.
„Die Größe wäre perfekt,“ schnurrte das Weibchen und schob die messerscharfen Krallen aus ihrem Versteck.
„Du sagst es, meine Liebe,“ pflichtete ihr das Männchen bei, machte einen Buckel und setzte sich auf. „Wenn nur diese Gitterstäbe nicht wären,“ grollte es. Dann zog es die Nase kraus, so dass seine dolchartigen Reißzähne sichtbar wurden und gab einen trockenen, kurzen Laut von sich.
„Der Leopard hat Husten,“ sagte die Kleine mitleidig.
Im gleichen Moment glitt die Leopardin in einer einzigen fließenden Bewegung auf den Boden und kam lautlos und schnurgerade auf das Mädchen zu.
Die Großmutter packte es energisch bei der Hand, sie war etwas blass geworden. „Du hast Recht,“ sagte sie und zog das Mädchen vom Käfig weg, „das fehlte noch, dass du dich ansteckst.“
„Schade,“ maunzte die Leopardin und sprang wieder auf den Baum – dann streckten sich beide aus, gelangweilt und apathisch wie zuvor.
„Das darf doch nicht wahr sein,“ Miranda schnappte nach Luft, „Katzen sind Menschenfresser! Pfui Spinne!“
Mirandas Wolke zog über das Freigehege der Schimpansen, die sich gerade in hellem Aufruhr befanden. Hysterisch kreischend fielen sie übereinander her, beschimpften sich unflätig und schlugen aufeinander ein. Der Grund war ein kleines, rotes Äpfelchen, das ihnen ein Besucher zugeworfen hatte – gleich neben dem Schild ‚Füttern verboten‘. Miranda sah dem Tumult eine Weile zu.
„Sie sind völlig ausgehungert. Kein Wunder, ich möchte mal wissen, welcher Unmensch es verboten hat, ihnen zu essen zu geben!“
Sekunden später fuhr ihr ein gehöriger Schreck in die Glieder, weil sie einen Zusammenstoß mit dem Kopf eines karierten Tieres auf sich zukommen sah.
„Oh weh, ich werde ihm an den Hals springen müssen,“ überlegte sie, „ mich festkrallen und langsam hinabgleiten. Hoffentlich geht das gut!“
Es ging gut, dem Himmel sei Dank, denn erstens war der Hals doch nicht so lang, dass er ihre Wolke erreicht hätte - und zweitens senkte die Giraffe in diesem Augenblick den Kopf, grätschte die Beine weit auseinander und schlürfte Wasser aus einer Wanne.
‚Afrikanischer Kaffernbüffel‘ las Miranda beim nächsten Gehege.
„Die lassen ja ihre Köpfe fast bis zum Boden hängen … kein Wunder bei dem dicken Hornwulst quer über ihrer Stirn und den langen Hörnern … sind bestimmt schwer.“
Zwei Bullen standen sich in einigem Abstand gegenüber, stampften in die trockene Erde, dass es nur so hochstaubte, und schnaubten wütend. Dann setzten sie sich gleichzeitig in Bewegung, der Boden dröhnte unter ihren Hufen – im nächsten Augenblick stießen sie laut krachend aufeinander.
„Autsch,“ schrie Miranda auf, „das gibt eine Gehirnerschütterung, oder zumindest ein paar Tage lang Kopfschmerzen. Ob wohl alle Lebewesen in Afrika ihre Meinungsverschiedenheiten so austragen? Ist vielleicht ein uralter Brauch, andere Länder, andere Sitten.“
Just in dem Moment, als ein Pfau sein prächtiges Rad schlug, wurde Mirandas Wolke von einer kleinen Boe erwischt und schneller weitergetrieben als es ihr lieb war, denn Muster und Farben gefielen ihr ausnahmsweise gut. Was sie daran erinnerte, dass sie in einem Jahr ihre ganz persönliche Ausstattung wählen durfte. Blau und Grün würden ihr gut gefallen, mit Pfauenaugenmuster auf ihrem Hemdchen. Dazu durchsichtige, silbrig-grün schimmernde Flügel, so eine Mischung aus Königslibelle und Pfauenschwanz. Und für den Winter cremefarben, mit einem Muster in sanften Brauntönen ähnlich dem Gefieder der Schleiereule. Auf keinen Fall wollte sie in fadem Erdbraun oder Grau herumlaufen.
Während Miranda sich in Gedanken ihre zukünftige Kleidung ausmalte, hatte ihre Wolke den Tiergarten überflogen und näherte sich einem Stadtviertel mit Einfamilienhäusern, Gärten und Terrassen. Drei Damen saßen beieinander an einem sorgfältig gedeckten Kaffeetisch. Zu ihren Füßen lag brav ein silbergrauer Pudel und döste vor sich hin.
„Ich bin fix und fertig mit den Nerven, wie jedes Mal, wenn ich mit Pepi beim Friseur war,“ beschwerte sich sein Frauchen, „wenn er in der Wanne steht, schüttelt er sich in einem fort, Wasser und Shampoo spritzen nur so umeinander. Eigentlich müsste man Schutzkleidung wie im Labor tragen … na ja, wenigstens hält die Friseuse große Kittel bereit. Und das Schlimmste von allem: das Stutzen. Er wibbelt und zappelt, es ist fast unmöglich, eine ordentliche Frisur zu schneiden. Beim letzten Mal sah er wie ein Irokese aus, obwohl ich ausdrücklich Afro-Look bestellt hatte, und am rechten Öhrchen fehlte ein Stück. Heute musste der ganze Pompom am Schwanz entfernt werden, weil zu viele Zacken und Löcher darin waren. Schaut ihn euch an … nackt und kahl wie bei einer Ratte!“
„Das ist mal wieder soooo typisch, die Herren erfinden Waschanlagen für ihre geliebten Autos, aber glaubt ihr, ein einziger käme mal auf die Idee, uns das Leben zu erleichtern mit einer praktischen Hundewaschanlage? Waschen, schneiden, föhnen. Standardprogramme für große und kleine Hunde, für langhaarige oder kurzhaarige. Dazu individuelle Schnitte, z.B. für Pudel, kann Frauchen am Computer konfigurieren, einschließlich der Haarfarbe.“
„Das wär auch was für meine Enkelkinder,“ sagte die Dritte im Bunde, „ich hatte kürzlich die Zwillinge bei mir, die benehmen sich in der Badewanne genauso wie dein Pudel, und beim Haareschneiden schreien sie Zeter und Mordio, als wenn ihnen ein Leid zugefügt würde. Manchmal hätte ich größte Lust, den Rasenmäher zu holen!“
„Man könnte Hunde- und Kinderwaschanlage auch kombinieren. Eine kleine Caféteria nebenan, wir liefern unsere Schützlinge ab, ich drücke auf ‚Hunde‘, du auf ‚Kleinkind männlich‘.“
„Die Ärmsten,“ Miranda schüttelte den Kopf, „Kinder und Hunde, die dauernd gewaschen werden müssen! Wie und wann machen sie sich denn schmutzig,“ wunderte sie sich, und dann fielen ihr die schmuddeligen Zwerge mit den schwarzen Finger- und Fußnägeln ein, wenn sie von ihrer Untertagearbeit heimkehrten.
„Von wegen ‚die Ärmsten‘, ich nehme alles zurück … wer weiß, was sie ihren Kindern und Hunden zumuten!“
Elfen werden natürlich nie schmutzig, Dreck prallt sozusagen an ihnen ab, egal, ob sie eine Handvoll Erde in den Blumentopf stopfen oder Zwiebeln schneiden – man sieht nichts und man riecht nichts, weder an ihren Händen, noch an ihren Hemdchen. Schürzen sind überflüssig. Sicher, das ist schwer vorstellbar, aber so ist es – in diesem Punkt haben es die Elfen wirklich gut. Bei erwachsenen Elfen, die einmal ihr Äußeres festgelegt haben, bleibt’s wie es ist – für den Rest ihres Lebens. Kein Kamm zerrt an den Haaren oder reißt sie büschelweise aus, keine Wäsche muss gewaschen und gebügelt werden, keine Seife brennt in den Augen.
Mirandas Wolke näherte sich einer Grünanlage mit Bäumen, Sträuchern, Gehwegen, Blumenbeeten und Bänken. Sehr schön zum Spazierengehen und zum Verschnaufen oder einem kleinen Ratsch auf der Bank. Zwei ältere Herren und eine ältere Dame saßen dicht beieinander.
„Sie meinen, sie müssten alles anders machen als wir, modern sein.“
„Du hast aber schlechte Laune heute, Karl-Heinz, was ist denn passiert?“
„Nichts ist ihnen heilig … nur ein Beispiel: Wir haben Sommer und da fangen sie doch tatsächlich an, das nächste Weihnachtsfest zu planen.“
„Warum nicht, in den Supermärkten gibt’s doch auch schon Spekulatius und Printen.“
„Ach Hermine, das finde ich genauso schrecklich.“
„Und was haben sie sich ausgedacht?“
„Ein Krippenspiel.“
„Was soll daran modern sein oder unheilig, das haben schon unsere Großväter und deren Großväter aufgeführt.“
„Du hast keine Ahnung, Paul. Das Christkind soll ‚in‘ werden.“
„Wie ‚in‘? Ein Kind in der Krippe im Stall von Bethlehem, so war’s immer und was ist daran zu modernisieren?“
„Stall von Bethlehem, schön wär’s! Reihenhaus … und das Baby liegt in einem Buggy. Von wegen Kometenschweif … LED-Lampen, batteriebetrieben. Als Engelschöre die Popgruppe ‚Alte Hosen‘ mit dem Song von den alten Rittersleut, für den sie eine neue Strophe gedichtet haben:
Und des Christkind in sei Windel,
Ist a allerherzigst Kindl.
Sagt der Josef voller Stolz,
Hoff‘ntlich wird’s was, klopf‘ auf Holz.
Ja mir san, ja mir san, ja mir san ganz stolz auf unsern Bua,
legt’s nur hin, was ihr habt, und dann lasst uns in Ruah.
Die drei Könige kommen aus China, Alaska und Samoa … eine Frau ist unter ihnen … von wegen der Gleichberechtigung aller Menschen auf der Welt.“
Paul und Hermine blickten betreten vor sich auf den Boden. Dann brummte Paul: „Das ist starker Tobak!“
„Was soll denn ein Chinese dem Christkind bringen, ich denke, Weihrauch und Myrrhe gibt’s nur im Morgenland,“ Hermine zog die Schultern hoch und machte große, runde Augen.