Das Experiment mit dem Planeten Erde - Wilfried Lemm - E-Book

Das Experiment mit dem Planeten Erde E-Book

Wilfried Lemm

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Beschreibung

Auf dem Kristallplaneten Gilan lebt eine hochentwickelte Zivilisation, die unsterblichen Gilaner. Sie begannen vor etwa zwei Millionen Jahren auf dem Planeten Terra ein Experiment. Durch Manipulation der Erbsubstanz an bereits vorhandenen Lebewesen veränderten sie diese so, dass aus ihnen erste Menschen entstanden. Die Gilaner wollen wissen, ob die Evolution derartige Wesen begünstigt, und sie erhoffen sich Aufschluss über ihre eigene unklare Herkunft. Zunächst hat es so gar nicht den Anschein, dass die ersten Menschen überleben werden. Durch Hilfeleistungen werden die Menschen vor dem Aussterben bewahrt und schon bald entwickelt sich die erste Hochkultur: Atlantis. Die Gilaner sind über den Verlauf ihres Experiments zunächst hocherfreut. Doch da naht eine kosmische Katastrophe, die Atlantis fast vollständig zerstört. Atlantis erholt sich allmählich wieder, aber die Atlantaer brechen mit ihren Schöpfern und ihren einstigen Idealen, da sie glauben, die Zerstörung war eine Strafe der Götter, wie sie die Gilaner nennen. Doch neue Hochkulturen entstehen. Die weitere Geschichte und Entwicklung der Menschheit verläuft keineswegs nach den Vorstellungen der Gilaner. Die gesamte Menschheit droht sich selbst und ihren Planeten auszulöschen. In einer Konferenz beraten die Gilaner über die Fortführung ihres Experiments. Herbe Kritik wird an der Verhaltensweise der Menschen, ihren politischen Verhältnissen, dem schlechten Erziehungssystem, der Rechtsprechung, ihrem primitiven technologischen Standard, ihrem ökologischen Raubbau geübt. Man versucht die Ursachen zu ergründen. Scheinbar unveränderbare und eingefahrene Denkmuster werden kritisch hinterfragt. Aber auch eigene Fehler der Gilaner im Verlauf ihres Experiments werden diskutiert. Ein Gilaner beschließt auf eigene Faust, die Erde von den Menschen zu befreien, um diesem Planeten seine ursprüngliche Schönheit und Würde zurück zugeben. Diese Bedrohung führt unter den Gilanern zu einer erneuten Solidarisierung mit der Menschheit. Als Empfehlung zur Rettung des Planeten Erde formulieren sie die vierzehn Grundpflichten der Menschheit in Analogie zu den Grundrechten der Menschen, die vor etwa sechzig Jahren von der UNO verkündet wurden. Dieses Buch will erinnern an die uralten Träume des Menschen und der gesamten Menschheit, die wir scheinbar vergessen haben. Es liegt ausschließlich in unserer Hand ob sie Wirklichkeit werden. Es ist keine Utopie!

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Seitenzahl: 545

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Die Entwicklung der Menschheit

Einst haben die Kerle auf den Bäumen gehockt,

behaart und mit böser Visage.

Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt

und die Welt asphaltiert und aufgestockt

bis zur dreißigsten Etage.

Da saßen sie nun den Flöhen entflohen,

in zentralgeheizten Räumen.

Da sitzen sie nun am Telefon.

Und es herrscht noch genau derselbe Ton

wie seinerzeit auf den Bäumen.

Sie hören weit, sie sehen fern.

Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.

Sie putzen Zähne. Sie atmen modern.

Die Erde ist ein gebildeter Stern

mit sehr viel Wasserspülung.

Sie schießen die Briefschaften durch ein Rohr.

Sie jagen und züchten Mikroben.

Sie versehen die Natur mit allem Komfort.

Sie fliegen steil in den Himmel empor

und bleiben zwei Wochen oben.

Was ihre Verdauung übrig lässt,

das verarbeiten sie zu Watte.

Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.

Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,

dass Cäsar Plattfüße hatte.

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund

den Fortschritt der Menschheit geschaffen.

Doch davon mal abgesehen und

bei Lichte betrachtet sind sie im Grund

noch immer die alten Affen.

(Erich Kästner)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 1

„Bitte entschuldigen Sie mein Zuspätkommen, ich bin durch ein Telefonat über die Zeit aufgehalten worden!“

Der Mann betrat hastig den Konferenzraum. Die zwölf Personen, sechs Frauen und sechs Männer, die schon um den runden Tisch Platz genommen hatten, waren aufgestanden, um den Eintretenden zu begrüßen. Er trat zu jedem einzelnen hin und begrüßte ihn mit Handschlag und mit leichter, höflicher Verbeugung. Dann nahm er den einzigen noch freien Platz am Tisch ein. Eine kleine Weile herrschte absolute Stille im Raum. Dann hob der Mann den Kopf. Er hatte ein schön geschnittenes, glattes Gesicht, einen feinen Mund und dunkle warme Augen. Sein Haar war grau, fast weiß. Das junge Gesicht und das schon ergraute Haar machten es außerordentlich schwierig, sein Alter zu schätzen. Er wirkte zeitlos schön, schien alt und doch noch so jung. Er strahlte große Güte und Weisheit aus, trotz der Anzeichen von Sorge, die man in seinen Gesichtszügen lesen konnte. Die anfängliche Hast und Nervosität waren nach der kurzen Zeit der Stille verschwunden. Er begann mit ruhiger Stimme:

„Meine Damen und Herren, der Grund unseres Treffens wird Ihnen wohl bekannt sein. Es geht darum, die bevorstehende Generalversammlung zu organisieren. Wie stets auch in früheren Zeiten sollen alle Themen und anstehenden Fragen genügend Raum und Beachtung finden. Ich erwarte Ihre Vorschläge!“

Einer der Anwesenden meldete sich sofort. Der Vorsitzende wandte sich ihm zu, unterbrach ihn aber, noch bevor dieser beginnen konnte und fragte:

„Einen Augenblick noch bitte! Wer wird die Führung des Protokolls übernehmen?“

Eine junge Frau meldete sich. Der Vorsitzende dankte ihr und wandte sich erneut dem, der sich zu Wort gemeldet hatte, zu:

„Bitte Herr Orzad, beginnen Sie!“

„Nun, ich möchte anregen, dass wir diesmal auf unserer Vollversammlung unbedingt entscheiden sollten, ob wir unser Experiment weiterführen wollen, oder ob wir es abbrechen. Im letzteren Fall würden wir uns allerdings eingestehen, dass unser Experiment letztendlich gescheitert ist.“

Lähmendes, drückendes Schweigen breitete sich aus. Das, was alle insgeheim ständig mit Sorge erfüllte, war ausgesprochen. Niemand konnte mehr ignorieren, vertuschen, schönreden oder sich einfach abwenden. Die Fakten sprachen eine ganz andere Sprache - und das schon seit etlichen tausend Jahren. Der Vorsitzende seufzte:

„Sie haben Recht, Herr Orzad! Das ist der Punkt, der auch mich sehr belastet. Ich weiß auch, welchen Standpunkt Sie vertreten. Sie halten das Experiment für gescheitert und wollen es am liebsten sofort abbrechen. Ich teile nicht ganz Ihre Ansicht, aber ich gebe zu, dass mich in der letzten Zeit zunehmend Zweifel beschleichen, ob unsere einstigen Erwartungen noch in absehbarer Zeit erfüllt werden. Ich danke Ihnen für den klärenden Hinweis, doch ich möchte noch die Meinungen der anderen kennen lernen.“

Eine Dame meldete sich zu Wort. Der Vorsitzende nickte ihr freundlich zu und ermunterte sie, zu sprechen. Sie begann etwas schüchtern, aber mit der Zeit festigten sich ihre Worte:

„Ich glaube uns allen hier und auch den Kollegen draußen ist die Brisanz dieser Frage, wie wir weiter machen wollen, deutlich bewusst. Ich persönlich sehe unser Experiment als noch nicht gescheitert an. Daher sollten nicht wir alleine darüber entscheiden. Wir sollten auf dieser Vollversammlung in Anwesenheit aller Beteiligten die relevanten Fakten zusammentragen, sie diskutieren und versuchen, dort eine Entscheidung zu finden, die von allen getragen wird. Daher schlage ich vor, dass wir uns hier auf die Organisation der Konferenz beschränken. Wir sollten nicht wie beim letzten Mal den Fehler wiederholen und den Rednern eine unbeschränkte Redezeit zugestehen. Viele der Redner begannen ihre Ausführungen mit Schilderungen aus der Anfangsphase unseres Experiments vor vier Millionen Jahren. Wir sollten uns strikt auf die gegenwärtige Situation und den heutigen Stand unseres Experiments beschränken.“

Fast alle Anwesenden nickten zustimmend. Sie fuhr fort:

„Ich nehme an, dass Sie, Herr Professor Sandor, das Einführungsreferat halten werden und in groben Zügen den zeitlichen Verlauf unseres Experiments schildern. Daher sollten wir nur Ihnen eine angemessenen Redezeit zugestehen.“

Der Vorsitzende, Herr Professor Sandor nickte, und ein kurzes Lächeln erhellte sein sorgenvolles Gesicht. Eine andere Teilnehmerin schüttelte energisch verneinend den Kopf und sagte:

„Ich bin zwar auch der Meinung, dass Sie, wie sonst auch, das Eingangsreferat halten sollten und dafür auch eine entsprechend lange Redezeit erhalten. Aber angesichts der Tragweite unserer möglichen Entscheidung, das Experiment weiterzuführen oder abzubrechen, darf keinesfalls außer Acht gelassen werden, unter welchen Voraussetzungen wir das Experiment einst planten und welche Erwartungen wir in es setzten, auch wenn diese Anfänge sehr weit zurück liegen. Es existieren sicher noch die Protokolle und Aufzeichnungen aus jener Zeit. Jemand sollte sich die Mühe machen, die alten Niederschriften durchzuarbeiten und darüber berichten.“

Ein männlicher Teilnehmer trat ihr argumentativ zur Seite:

„Bei unserer Hauptversammlung sollte keinesfalls verschwiegen werden, dass uns im Verlauf dieses Experiments einige folgenschwere Fehler unterlaufen sind, aus welchen Gründen auch immer. Ich erwarte daher auch selbstkritische Beiträge über unsere eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler. Hatten wir denn wirklich alles unternommen, unser Experiment erfolgreich zu gestalten? Zwar war seinerzeit eine unserer Prämissen, nicht in das laufende Experiment einzugreifen. Als wir aber sahen, wie unsere Geschöpfe litten, es unvorstellbar schwer hatten, lieferten wir doch immer wieder Hilfestellung. Wir hatten einfach außer Acht gelassen, dass wir in ganz anderen Zeitdimensionen denken und handeln und hatten stillschweigend vorausgesetzt, dass sie unser Denken übernommen hätten. Ich denke, anlässlich unseres Kongresses ist eine gehörige Portion Selbstkritik unbedingt notwendig!“

Wiederum bestätigte einstimmiges Kopfnicken in der Runde die Zustimmung aller. Drückende Ratlosigkeit beschlich nun alle Anwesende. Nach einiger Zeit des Schweigens ergriff erneut der Vorsitzende das Wort:

„Ihre engagierten Argumente sind zweifellos berechtigt, Herr Asnur. Das ist es ja gerade, was auch mich mit Sorge erfüllt. Waren und sind die Motive für unser Experiment zu sehr egoistischer Natur? Dominierte unser kalter wissenschaftlicher Ehrgeiz über unserem Mitgefühl für unsere Kreaturen? Hatten und haben wir noch immer viel zu wenig die Sorgen unserer Geschöpfe im Auge?

Dennoch erbitte ich Vorschläge, die sich im Augenblick auf organisatorische Aspekte unserer großen Konferenz beschränken. Ihre Einwände und Argumente sollen meiner Meinung nach im Anschreiben und in der Einladung zum Kongress eingearbeitet werden. Dieses Anschreiben sollte diesmal auch jeden Gilaner ermutigen, einen Beitrag zu liefern und nicht nur diejenigen, die einen höheren wissenschaftlichen Rang besitzen. Denken Sie nur an die wertvollen und anschaulichen Berichte unserer Kollegen vor Ort bei unserer letzten Generalversammlung. Wie erfrischend und lebendig waren doch gerade diese Beiträge. Sie hoben sich wohltuend von den trockenen, akademisch philosophierenden Vorträgen unserer Wissenschaftler ab.“

Frau Minar, die die Protokollführung übernommen hatte, meldete sich zu Wort:

„Ich werde diesen Vorschlag zu Protokoll nehmen und ihn in das Anschreiben zur Einladung einarbeiten.“

„Nicht nur einarbeiten, sondern besonders betonend herausstellen; etwa im Sinne von 'sehr willkommen oder erwünscht'!“ ergänzte Professor Sandor.

Frau Minar tippte eifrig ihre Notizen ein.

„Sollten wir nicht einfach den groben Rahmen all der vergangenen Kongresse gewissermaßen als roten Faden beibehalten?“ schlug Herr Sophar vor. „Schließlich hatte er sich durch all die Jahrtausende ganz gut bewährt!“

„Ein guter Vorschlag!“ sagte Herr Professor Sandor und forderte alle Anwesende auf, die einzelnen Überbegriffe und Themen erst einmal zusammenzutragen, um sie später dann sinnvoll anzuordnen.

Von allen Seiten kamen nun Begriffe, Themen, Schlagworte, und Frau Minar hatte große Mühe, all dies zu protokollieren. Oft musste sie noch einmal nachfragen, damit nichts verloren ging.

Als eine Pause eintrat, meldete sich Herr Asnur noch einmal zu Wort:

„Selbst auf die Gefahr, als Unruhestifter bezeichnet zu werden, will ich Folgendes dringend anmahnen. In früheren Versammlungen hatten wir 'Selbstkritik' stets ausgeklammert. Wir hatten vorausgesetzt, dass von unserer Seite alles getan wurde, um das Experiment erfolgreich zu gestalten. Nun müssen wir aber mit eigenen Augen sehen, dass unser Experiment zu scheitern droht. Das kann sicher viele Ursachen haben. Nun ist es aber auch eine bekannte Tatsache, dass der Verlauf eines Experiments vom Experimentator, von dessen Geschick, seinen Erwartungen und Versuchsbedingungen abhängt. Ich denke, es ist an der Zeit, dies einzugestehen und dieses Mal angesichts der sich abzeichnenden Tragödie zumindest die Bereitschaft zeigen, offen darüber zu diskutieren. Wir können uns dem Countdown der Menschheit nicht länger verschließen!“

Betretenes Schweigen lähmte erneut die Versammlungsrunde. Professor Sandor hob nach langem Zögern den Kopf und sprach stockend und jedes Wort diplomatisch abwägend zu diesem heiklen Punkt:

„Gut! Wenn wir uns hier im kleinen Kreis darüber einig sind, dieses Thema auf die Tagungsordnung zu setzen, dann will auch ich es nicht verhindern. Ich will nur in aller Klarheit darauf hinweisen, welch potentieller Konfliktstoff sich dahinter verbirgt. Zugegeben: dieses Thema war bisher tabuisiert. Das hatte aber seinen guten Grund, denn es könnte mit einem unserer obersten Gebote, der Friedenspflicht kollidieren. Konflikte, deren Ausmaß wir im Voraus nicht abschätzen können, werden aufbrechen. Wir, die Experimentatoren und sie, unsere Geschöpfe, waren uns stets in einem entscheidenden Punkt einig: weder sie noch wir stellten unsere Unfehlbarkeit in Frage. Unsere Gesellschaftsform, unsere Satzungen, Umgangsformen und unser Erkenntnisstand halten wir für ideal und nicht mehr für verbesserbar, einfach weil sie absolut gut und perfekt sind. Eines unserer erklärten Ziele war es, unseren Geschöpfen zu vermitteln, dass unser Gesellschaftssystem anstrebenswert sei. Sie sollten lernen, es zu entwickeln und zwar aus eigenen Erkenntnissen heraus. Sie sollten gewissermaßen aufsteigen zu uns, die sie in früheren Zeiten ihre Götter nannten.

Das Eingeständnis, und allein schon die Diskussion darüber, dass wir womöglich nicht unfehlbar sind, würde bei uns eine psychologische Krise wenn nicht gar eine Katastrophe auslösen, die in ihrem schlimmsten Ausmaß unser Ende bedeuten könnte. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich möchte keinesfalls diese apokalyptische Vision heraufbeschwören oder gar herbeireden. Nur, wir sollten uns hier im engeren Kreis über die Folgen einer Identitätskrise im Klaren sein. Nun, ich möchte nicht, dass wir jetzt, hier und heute eine Antwort auf diese heikle Frage finden. Vielmehr möchte ich folgendes vorschlagen, jeder von uns soll drei Tage Zeit haben, gründlich über das Für-und-Wider nachzudenken und mir nach Ablauf dieser Frist anonym und geheim das Ergebnis schriftlich mitteilen. Wären Sie damit einverstanden?“

Einstimmig wurde der Vorschlag des Vorsitzenden angenommen.

„Gut!“ sagte der Vorsitzende nach einer angemessenen Pause, „Dann sollten wir uns hier nach Ablauf von drei Tagen wieder einfinden, um dann das endgültige Programm festzuschreiben.“

Sie alle erhoben sich, verbeugten sich höflich voreinander, verließen mit ernsten Gesichtern den Raum und strebten in alle Richtungen auseinander.

Frau Risan und Herr Asnur gingen schweigend nebeneinander den langen Gang hinunter. Das milde Licht einer fernen Sonne drang durch die gläserne Überdachung des Ganges. Zu beiden Seiten reihten sich wunderschöne grüne Gewächse, die zum Teil in farbiger Blüte standen. Zu anderen Zeiten erfreute sie dieser Anblick. Heute behinderten quälende Sorgen ihren Blick für diese Schönheiten. An einer Biegung des Ganges hatte man einen schönen Blick auf die ebenfalls glasüberdachten Labors unter ihnen. Etwas abseits vom wissenschaftlichen Gebäudekomplex lagen die Park- und Wartungshallen der unterschiedlichsten Raumfahrzeuge. Ihre metallenen Körper glitzerten in der Sonne. Ganz in der Ferne konnte man die klaren Konturen der Kristallgebirge erkennen. Oft hatten sie gemeinsam Ausflüge in die wunderbare, farbige Welt der Kristallberge unternommen und hatten sich von den Farben gebrochenen Sonnenlichts und der Mineralien faszinieren lassen. Sie verweilten schweigend einige Zeit und versuchten, etwas bei dieser herrlichen Aussicht zu entspannen.

Herrn Asnur und Frau Risan verband weit mehr als nur ihre gemeinsame tägliche wissenschaftliche Arbeit. In vielen Dingen hatten sie gleiche Ansichten und sprachen über Dinge, die in der Öffentlichkeit nicht geäußert werden durften, weil sie das Gebot unbedingter Harmonie verletzten. Die Erfahrung, die sie im Verlauf solcher kontrovers und hitzig geführter Gespräche machten, war, dass das Gebot, Harmonie zu wahren, durchaus nicht verletzt wurde. In solchen hitzigen Gesprächen erfasste sie gewöhnlich eine ungeahnte Lebendigkeit und Begeisterung, und sie erfuhren, wie sich ihr Wissen, ihr Bewusstseinsstand bereicherte. Sie lernten ungeheuer viel voneinander. Natürlich liebten sich auch ihre Körper. Doch die starke Bindung zueinander hatte ihren Ursprung vornehmlich in der tiefen geistigen Intimität. Sexuelle Beziehungen und Begegnungen waren in ihrem Gesellschaftssystem ohnehin nicht tabuisiert. Es bedurfte lediglich der freimütigen Zustimmung beider Partner und man ließ sich aufeinander ein, solange beide es wollten. Bei einer Trennung dankte man einander für die schönen gemeinsamen Stunden und löste sich in gegenseitiger Achtung und Wohlwollen.

„Asnur, du warst sehr mutig mit deinen Äußerungen in Gegenwart von Professor Sandor!“ sagte Frau Risan.

Er antwortete nicht.

„Du weißt, was geschah, als vor einiger Zeit schon einmal jemand solche Argumente vorbrachte!“ fuhr sie fort.

„Nein, ich weiß es nicht! Keiner weiß es! Er verschwand einfach, wurde nie wieder gesehen; keiner fragte nach ihm. Und all seine ketzerischen Fragen verschwanden mit ihm. So schien es; aber in einigen gingen Veränderungen vor, ging eine Saat auf, setzten sich Zweifel fest. Ich weiß es, aber sie alle schwiegen. Doch lass uns nicht hier darüber sprechen. Lass uns morgen einen Ausflug machen, dann haben wir genügend Zeit und Muße zu sprechen und keiner wird uns beobachten.“

Sie nickte, und schweigend setzten sie ihren Weg fort.

„Gehst du noch ins Labor?“ fragte sie nach einer Weile.

Er schüttelte den Kopf: „Nein, ich werde mir Zeit nehmen, um nachzudenken. Lass uns morgen diesen Ausflug machen, dann werde ich etwas Ordnung in meine Gedanken gebracht haben.“

Sie verstand zwar, dass er jetzt alleine sein wollte, konnte das aber nicht nachvollziehen. Sie hätte an seiner Stelle gerade jetzt, auch mit ungeordneten Gedanken, das Gespräch gesucht. Aber sie respektierte seinen Wunsch und erhielt sich ihr Wohlwollen. So strebte jeder für sich, nachdem sie sich verabschiedet hatten, dem privaten Wohnbereich zu.

Als Asnur seine Wohnung betrat, meldete der Monitor, dass für ihn keine Nachricht vorlag. Er stellte sich die Musik an, die er so liebte. Es waren Kompositionen der Menschen aus den vergangenen Erdenjahrhunderten. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und reduzierte etwas die Schwerkraft, um das Gefühl der Entspannung zu intensivieren. Seine Gedanken überließ er den feinfühligen Harmonien der Musik. Ein wärmendes Glücksgefühl verdrängte seine drückenden Sorgen. Ihre Musik hielt er für die größte Kulturleistung der Erdbewohner. Welche unvorstellbare Kreativität und welch göttliches Potential steckte doch in diesen Geschöpfen. Alleine für die Schöpfungen ihrer Komponisten musste man dieses Menschengeschlecht lieben. Doch wie böse war ihnen, den Komponisten, zu Lebzeiten mitgespielt worden. Sie schenkten dem gesamten Universum zeitlos herrliche Werke und ernteten von den Mächtigen jener Zeitepochen zum Dank meist nur Hunger und Armut.

Es fiel ihm schwer, sich in die Gefühls- und Gedankenwelt dieser Geschöpfe, an deren Erschaffung er selbst seinerzeit mitgewirkt hatte, hineinzuversetzen. Wie eng lag bei ihnen das kreative und destruktive Potential beieinander.

Er ließ den letzten Ton der Sinfonie noch lange in sich nachklingen, bevor er sich erhob, um eine kleine wohlschmeckende Mahlzeit zu sich zu nehmen. Sie enthielt alles, was sein Organismus brauchte und um ihn vor Alter und Siechtum zu bewahren. Alternde Körpersubstanz, die nicht mehr zuverlässig ihren Dienst versah, wurde während der Phasen des Schlafes durch neue ersetzt. Es war so einfach, unsterblich zu sein!

Hätte das Geschenk der Unsterblichkeit des Körpers die globale Situation der Menschen verbessert? Sie fürchten so sehr den Tod. Wir, so dachte er, haben uns damals nach langer und heftiger Diskussion nur mit knapper Mehrheit darauf einigen können, ihnen eine abgeschwächte Variante zu überlassen, die Unsterblichkeit ihrer Seelen. Erstaunlicherweise haben sie das über all die Jahrzehntausende nicht begriffen, zumindest hat diese Tatsache nicht in ihr Handeln und Denken Einzug gehalten. Sie halten ihr aktuelles Leben für das einzige. Wie oft haben wir sie auf diesen Irrtum hingewiesen. Lächerlich diese Verschwendung! Selbst wir erwarteten nicht von ihnen, dass sie ihre kosmische Aufgabe in einer so kurzen Zeitspanne wie die Dauer eines Menschenlebens bewältigen könnten. Wir hatten mehr Geduld mit ihnen.

Obwohl sie ihre Geschöpfe waren, blieben sie ihm auf weiten Gebieten ein Rätsel. Sie wussten so vieles, fast alles, aber ihr Wissen blieb ohne Konsequenzen für ihr tägliches Leben. Sie setzten das, was sie wussten, nicht in die Tat um.

Er legte sich zur Ruhe und freute sich auf den morgigen Tag mit Risan.

Kapitel 2

Erfrischt wachte er früh am nächsten Morgen auf. Der Lichtstern war noch nicht aufgegangen. Im Bad summte er eine Melodie der Erdbewohner, machte ein paar gymnastische Übungen und nahm dann in aller Ruhe die Energiemahlzeit zu sich. Sie deckte den Energiebedarf des ganzen Tages.

Der Lichtstern ging auf, und er wusste, dass sich jetzt die Energieversorgungsgeneratoren automatisch auf diese Energiequelle umschalteten. Des Nachts bezog ihre kleine Zivilisation ihren Energiebedarf aus dem heißen Inneren ihres Heimatgestirns, das sie Gilan nannten.

Asnur schaltete sich über das Kommunikationsnetz in Risans Wohnung. Sie war gleichfalls guter Dinge und freute sich auf den gemeinsamen Ausflug. Sie verabredeten, sich bei den Hangars der Raumfahrzeuge zu treffen.

Die hochentwickelte Zivilisation der Gilaner beherrschte die Fähigkeit, wann immer sie wollten, ihre Körper zu verlassen und als körperlose Energiewesen, ausgedehnte Raumreisen zu unternehmen und nach Belieben, in ihre Körperhüllen zurückzukehren. Asnur und Risan bevorzugten jedoch das Reisen als körperliche Wesen, weil das sinnliche Erleben und die Wahrnehmungen wesentlich intensiver waren und daher auch tiefer in der Erinnerung verankert blieben. Die Erlebnisse beim körperlosen Reisen waren oberflächlich und verloren sich schon bald in der Vergessenheit. Allerdings mussten sie sich bei körperlichen Reisen dem Schutz der Raumfahrzeuge anvertrauen, denn ihr Organismus war den Belastungen des freien Raums nicht gewachsen. Sie benötigten Sauerstoff zur Atmung, eine gewisse Mindesttemperatur ihrer Umgebung und den Schutz vor der Gefahr einer allzu intensiven Strahlung im freien Raum.

Asnur traf vor ihr bei den Hangars ein und erledigte die technischen Formalitäten. Er begrüßte einen der Techniker, der ihm dabei half, die Fragen zur personellen Identifikation und der technischen Qualifikation zu beantworten. Dies war notwendig und Vorschrift, um eines der kleinen, leichten Fahrzeuge zu erhalten. Alsdann gingen sie korrekt Punkt für Punkt die Checkliste durch, um die einzelnen Funktionen des Geräts zu aktivieren und um die Betriebssicherheit während des Fluges zu gewährleisten.

Inzwischen war auch Risan eingetroffen. Sie begrüßten sich liebevoll und wechselten ein paar freundliche Worte. Der Techniker händigte ihnen zwei Raumanzüge aus. Die dazugehörigen Helme brauchten sie erst dann anzulegen, wenn sie das kleine Fahrzeug verlassen wollten. Sie nahmen beide Platz. Risan überließ ihm die Führung des Gleiters, weil sie wusste, welch große Freude ihm die Fahrt machte. Asnur verriegelte sorgfältig die gläserne Kuppel und prüfte deren Dichtigkeit. Ein kurzer orientierender Blick auf die Instrumente, alle Funktionen waren betriebsbereit. Asnur reduzierte über den Gravitationskompensator langsam den Einfluss der Schwerkraft bis auf den Wert „Null“. Er gab dem Techniker ein Zeichen; dieser bestätigte und schob das nunmehr schwerelose Fahrzeug ohne Anstrengung zu einer der Schleusen. Es glitt hinein und hinter ihnen schloss sich lautlos das schwere Tor. Die kostbare Luft wurde aus der Schleusenkammer zurück in den Hangar gepumpt. Vor ihnen öffnete sich das Außentor. Geräuschlos schwebten sie hinaus ins gleißende Licht der noch tief stehenden Morgensonne.

Asnur verminderte weiter die Schwerkraft. Langsam schwebten sie empor und ließen die graubraune und manchmal rote Oberfläche von Gilan unter sich. Über ihnen wölbte sich ein blauschwarzer Himmel, der selbst bei Tageslicht den Blick auf einige nahe Himmelskörper freigab. Sie glitten immer höher. Unter ihnen konnten sie jetzt schon den gesamten ausgedehnten Gebäudekomplex ihrer kleinen Zivilisation überblicken. Deutlich waren die riesigen Pflanzenhallen zu erkennen. In ihnen wurde die verbrauchte Luft regeneriert. Sie waren die Lungen und Klimaregulatoren ihrer kleinen, überschaubaren Welt. Nur knapp zehntausend Personen lebten hier, und jeder begriff die immense Bedeutung dieser immer grünen Lunge für ihr aller Wohlbefinden und man sprach stets in größter und dankbarer Achtung von ihnen. Sie konnten niemals nachvollziehen, dass die Menschen, obwohl auch ihnen der Einfluss der grünen Pflanzen auf das Klima und die Luftqualität seit langem bekannt war, so achtlos mit diesem Rohstoff Luft und mit den Pflanzen, die sie ihnen stets wieder aufbereitete umgingen.

Mit zunehmender Entfernung von der Oberfläche ihres Planeten begann sich ganz allmählich der Horizont zu krümmen. Asnur stellte jetzt den Gravitationskompensator auf null; schwerelos schwebten sie über dem Planeten. Ein kurzer Photonenimpuls bewegte das kleine Raumfahrzeug in horizontaler Richtung in stets gleich bleibender Höhe. In dieser Höhe war die ohnehin schwache Atmosphäre des Planeten Gilan so gut wie gar nicht mehr vorhanden.

Sie überflogen die Roten Augen, zwei nahe beieinander liegende, aktive, fast gleich große Vulkane, deren rotglühendes Inneres, umrahmt von den schwarzen Kraterwände, von hier oben tatsächlich wie zwei rote Augen aussahen, die weit aufgerissen nach oben starrten. Dünne Rinnsale geschmolzener Lava ergossen sich über die Hänge, gleichsam wie Tränen. Die beiden Berge waren nicht sehr hoch. Auf Gilan befanden sich gewaltig hohe Berge, denn es gab keine Erosion, die ihre Höhe im Laufe der Zeit hätte abtragen können, es gab kein Klima, keine Stürme, kein Wasser außerhalb der Siedlung. Die Vielzahl und die enorme Höhe der Gebirge auf Gilan täuschten von großer Ferne eine nichtsphärische Gestalt dieses Himmelskörpers vor. Tatsächlich ergaben auch genauere Vermessungen, dass er eine länglich gestreckte Gestalt aufwies. Gilan war ein Wüstenplanet, um etliches kleiner als die Erde und zu einem Sechstel mit flüssigem Methan bedeckt, das sich in zwei riesigen Seen sammelte. Einen der beiden Seen konnten sie von hier oben erkennen.

Grau-schwarz schimmerte er herauf. Die Sonnenscheibe spiegelte sich in ihm. Die Temperatur an der Oberfläche betrug nur wenig über -170°C. Des Nachts sank sie erheblich unter diesen Wert, so dass das flüssige Methan zum Teil zu riesigen weißen Schollen gefror. Aus der Tiefe dieser Meere, dort wo das Methan durch das warme Innere des Planeten verdampfen konnte, drangen dann gewaltige Gasblasen an die Oberfläche, die die Methaneisschollen anhoben und bersten ließen. Diese Methanmeere waren ein schier unerschöpfliches Energiereservoir, von dem die Gilaner aber nur sehr sparsam Gebrauch machten, denn der zur Verbrennung notwendige Sauerstoff war äußerst knapp und diente vornehmlich der Atmung. Gelegentlich verbrannten sie etwas Methan, um in den grünen Lungen die Pflanzen mit zusätzlichem Kohlendioxid zu ernähren und ihr Wachstum zu fördern. Das ebenfalls bei der Verbrennung entstehende Wasser wurde kondensiert und sorgsam aufgefangen.

Ihren stationären Energiebedarf deckten die Gilaner hauptsächlich über die Sonnenstrahlung, die sie über photosensible Elemente fast ohne Verluste direkt in elektrischen Strom umwandelten. Nie war die Sonne durch Wolken verhüllt. Gelegentlich gab es Staub- oder Sandstürme, wenn die vulkanische Tätigkeit zu heftig wurde oder wenn sich gar Lava in eines der Methanmeere ergoss, wobei dann das Gas fast explosionsartig verdampfte. Dann entstanden heftige Stürme, die tonnenweise Staub aufwirbelten. Die Sonne verdunkelte sich dann, und die Energieversorgung fiel erheblich ab. Es dauerte dann einige Tage, bis der Staub sich wieder gesetzt hat und das Licht erneut ungehindert einstrahlen konnte. Nach solchen Ereignissen ruhte meist die reguläre Arbeit, und alle waren damit beschäftigt, die Sonnenenergiekollektoren vom Staub zu befreien.

Die zweite Quelle für ihren stationären Energiebedarf war die Wärme aus dem Inneren des Planeten. Schon vor undenklichen Zeiten hatten sie ein umfangreiches Rohrnetz als Wärmetauscher in große Tiefen hinabgetrieben. In einem geschlossenen Kreislauf sank kühles Wasser in die Tiefe und stieg erhitzt wieder nach oben. Dies geschah alles ohne Pumpen. Das kalte und schwerere Wasser sank hinunter und drückte das erwärmte nach oben. In einigen besonders tiefen Bereichen des verzweigten Wärmetauschernetzes verdampfte das Wasser sogar. Die Dampfblasen drängten nach oben und beschleunigten so den Wasserkreislauf. Dieses einfache System arbeitete seit vielen Jahrzehntausenden störungs- und wartungsfrei. Die Technik war ausgereift und ließe sich problemlos auf irdische Verhältnisse übertragen.

Der Energiebedarf für die große Flotte der Raumfahrzeuge unterschiedlicher Größe war äußerst gering. Durch den Einsatz der Schwerkraftkompensatoren ließen sich auch die größten und schwersten Raumschiffe mühelos auf und ab bewegen. Einfache, kompakt gebaute Photonentriebwerke erlaubten die horizontale Bewegung. Bei ausgedehnten Reisen durch die Weiten des Universums waren selbst diese Systeme nicht erforderlich. Es genügte, Himmelskörper großer Masse oder Schwarze Löcher, die sich ungefähr auf dem Kurs des Raumgleiters befanden, anzupeilen und den Gravitationskompensator auf sie auszurichten. Die Anziehungskraft des fernen Sterns beschleunigte das Raumschiff auf unvorstellbar hohe Geschwindigkeiten und erlaubte somit, extreme Entfernungen in kürzester Zeit zurückzulegen. Benötigte man die Anziehung des einen Gravitationszentrums nicht mehr, so richtete man den Gravitationskompensator auf ein anders Objekt und ließ sich durch dessen Gravitationsfeld beschleunigen. Die Gilaner besaßen genaue kosmographische Karten mit präzisen Angaben über solche Sternenriesen und Schwarze Löcher, die ihnen gestatteten, mühelos durch die Weiten des Raums zu reisen.

Die Erfahrung, die die Gilaner mit technischen Geräten jeder Art über die Jahrmillionen machten, hatte sie ein fundamentales Prinzip gelehrt: wirklich problemlos funktioniert nur das, was einfach gedacht und konstruiert ist. Daher suchten sie bei all ihrer Forschungstätigkeit stets nach einfachen Lösungen. Sie setzten höchstmögliche Intelligenz dafür ein, um größtmöglich einfache Produkte zu schaffen. Natürlich waren auch für sie die Wege zur Erkenntnis mühsam und steinig. Hatten sie aber einmal ein Prinzip erkannt und durchdacht, so bereitete es ihnen keine große Mühe, es sich technisch nutzbar zu machen. So blieb es ihnen stets ein einziges Rätsel, dass die Menschen auf dem Planeten Erde noch immer nicht über die Technologie der Gravitationskompensatoren verfügten und sich statt dessen mit Hilfe erhitzter Gase, die sie in aufwendig konstruierten Maschinen erzeugten, vorwärts bewegten.

„Lass uns etwas tiefer gehen!“ bat Risan, als sie sich einem gewaltigen Gebirgsmassiv näherten. Fast achtzehntausend Meter erhoben sich die mächtigen Gipfel ganz plötzlich und ohne Vorgebirge schroff aus der Ebene. Der Raumgleiter sank unterhalb dieser höchsten Erhebungen. Asnur schaltete die Distanzregler ein. Diese erlaubten ihnen, sich gefahrlos zwischen den Gebirgswänden zu bewegen, ohne irgendwo anzustoßen. Es gab keine Täler, nur tiefe, kilometerlange Risse und mächtige Gesteinsverwerfungen. Die großen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht sprengten oft das unter Spannung stehende Gestein und riesige Gerölllawinen stürzten Tausende von Metern in die Tiefe. Auch gelegentlich auftretende seismische Erschütterungen veränderten das Aussehen der gilanischen Gebirge. Einer der flacher abfallenden Hänge war schneeweiß, und das helle Licht schmerzte in den Augen. Der dunkle Schatten des Fahrzeugs huschte über das glitzernde Weiß eines fein verteilten Mineralsalzes, das zum größten Teil aus einem Carbonat bestand. Die Gilaner hatten es vor vielen Millionen Jahren abgebaut, hoch erhitzt und das Kohlendioxid ihrem damals noch bescheidenen Pflanzenbestand als Nahrung angeboten. Er gedieh prächtig, vermehrte sich sehr rasch und lieferte den Bewohnern Sauerstoff. Später konnte man auf diese etwas mühselige Technologie verzichten. Es gab inzwischen genug Sauerstoff, so dass man ihn gelegentlich zum Verbrennen von Methan verwenden konnte, wobei neben Kohlendioxid eben auch das kostbare Wasser entstand.

Links schimmerte eine fast senkrechte Felswand in fauligem Grün eines Kupfersalzes. Gilan war mit mineralischen und metallischen Rohstoffen jeglicher Art im Überfluss gesegnet. Das war auch der Grund, dass das einst namenlose Volk, das vor Milliarden von Jahren ziellos durch die Weiten des Universums reiste, sich hier niederließ. Hier konnten sie ihre technologischen Pläne verwirklichen. Alles, was sie brauchten, war hier vorhanden. Gilan nannten sie ihre neue Heimat. Gilan ist in ihrer Sprache Einer, der alles gibt.

Ihr Fahrzeug schwebte nun durch die fast nachtdunkeln engen Schluchten. Nur der hellere, schwarzblaue Himmel über ihnen verriet den Tag. Unvermittelt öffnete sich die Schlucht zu einer weiten Ebene mit nur schwachen Erhebungen. In der Ferne erhob sich der riesige Spitzkegel des höchsten Vulkans auf Gilan. Er war etwas über fünfzehntausend Meter hoch. Heute war seine Spitze klar und deutlich zu sehen. Oft war sie aber von gigantischen Staubwolken umhüllt, die der Vulkan ausstieß. Manchmal waren diese Staubwolken zwei- bis dreimal so hoch wie der Vulkan selbst. Doch heute ruhte er. Nichts deutete auf seine sonst heftigen Aktivitäten. Die hier tief stehende Sonne zeichnete einen langen, spitzen Schatten dieses Berges in die Weite der Ebene, aus der er sich so abrupt erhob.

Asnur änderte den Kurs des Fahrzeugs nach rechts, denn sie wollten nicht auf die Nachtseite des Planeten gelangen. Vor ihnen tauchte das Schönste, was Gilan zu bieten hatte auf: das Kristallgebirge. Es war nicht ganz so hoch wie die übrigen Gebirge. Bis auf nur knapp viertausend Meter erhob sich der höchste glasklare Kristall. Asnur hielt Ausschau nach einer geeigneten Stelle, wo er das Fahrzeug landen konnte. Sanft setzte er auf einer leicht abschüssigen Hochebene auf. Oft waren sie schon hier gewesen und waren stets aufs Neue von den Licht- und Farbspielen dieser Wunderwelt fasziniert.

Risan und Asnur setzten die gläsernen Kugelhelme auf und kontrollierten deren korrekten Sitz. Aus Sicherheitsgründen war das Raumfahrzeug sonst nicht zu öffnen. Die Körper der Gilaner waren zwar unsterblich, sie waren aber nicht unzerstörbar. Ein zerstörter Körper gab all seine Funktionen auf und entließ die Seele aus der beschädigten Hülle. Diese körperlosen Seelen mussten oft sehr lange warten, bis sie eine neue Körperhülle erhielten. In dieser Wartezeit waren sie zur Untätigkeit verdammt. Wurde ihnen dann endlich ein neuer Körper zugewiesen, so mussten sie ihm erst wieder mühselig die einfachsten Dinge beibringen, wie das Gehen, die Nahrungs-aufnahme, das Sprechen und vieles andere mehr. Diese Prozeduren waren für die Gilaner so entwürdigend und abschreckend, so dass jeder sehr sorgsam mit seinem Körper umging, um ihn nicht irreversibel zu schädigen. Vor langer Zeit war es einmal zu einer Kollision zwischen einem Meteor und einem ihrer großen Raumschiffe gekommen, sicher ein sehr seltenes und ziemlich unwahrscheinliches Ereignis. Zweihundertfünfzig Körper waren bei dieser Katastrophe zerstört worden. Es hatte Jahrtausende gedauert, die betroffenen Seelen wieder alle mit Körpern zu versorgen. Man erinnerte sich nur mit tiefem Unbehagen an die Belastungen jener Zeit. Es wurde sofort mit der Entwicklung von Meteorortungs- und abwehrsystemen begonnen. Es formierte sich sogar eine recht einflussreiche Liga gegen das Reisen in körperlichen Hüllen. Sie propagierte das körperlose Reisen, denn dann hätte so etwas nicht geschehen können. Das Programm zur Weiterentwicklung und Verbesserung der Raumschiffe wurde damals empfindlich gestört und kam für lange Zeit zum Erliegen. Letztendlich konnte sich die Liga gegen das körperliche Reisen jedoch nicht durchsetzen, und nach und nach wurden die alten Tätigkeiten wieder aufgenommen. Diese Ereignisse und deren Folgen haben tiefe Spuren im Bewusstsein der Gilaner hinterlassen und sie zu äußerster Vorsicht erzogen.

So ließen auch Risan und Asnur äußerste Umsicht beim Verlassen des Fahrzeugs walten. Sie mussten sich jetzt über den Sprechfunk oder durch Handzeichen verständigen. Asnur war Risan beim Verlassen des Gleiters behilflich, denn sie hatten ihre individuellen Schwerkraftkompensatoren nicht eingeschaltet, was ihnen das Aussteigen erleichtert hätte. Aber die Kristalloberflächen, auf denen sie jetzt standen und über die sie laufen wollten, waren oft so glatt, dass sie es vorzogen, keine feste Bodenhaftung zu haben, um nicht auszugleiten und um auch kleinere Steigungen zu bewältigen.

Sie waren schon oft zu diesem Ort geflogen. Dennoch erlagen sie immer wieder aufs Neue der Faszination der sie umgebenden Riesenkristalle, deren Gestalt und Farbenpracht kaum zu beschreiben ist. Sie liefen, leicht bergan steigend, durch eine Schlucht weißer und durchsichtiger Kristalle. Manche waren mit Fremdatomen dotiert, was ihnen eine leichte Färbung verlieh. Sie gelangten zum Gipsdom. Sie nannten ihn so, weil sich hier acht schneeweiße Gipskristallnadeln, fast fünfhundert Meter hoch, steil in den schwarz-blauen Himmel erhoben. Einige davon standen nicht ganz senkrecht und drohten umzustürzen. In einigen der Kristalle war Wasser chemisch gebunden. Sie wurden vor langer Zeit von den Gilanern bergmännisch abgetragen und dienten dazu, den Wasservorrat zu ergänzen.

Risan begann zögernd, an das abgebrochene Gespräch von gestern anzuknüpfen:

„Du wolltest gestern nicht darüber sprechen, was nach der Sitzung in dir vorging! Warum nicht?“

Er dachte eine kurze Weile nach:

„Ich wollte erst etwas Ordnung in meine Gedanken bringen, und dann hatte ich das ungewisse Gefühl, irgendjemand könnte uns zuhören!“

„Du bist misstrauisch geworden!“ stellte sie fest.

Er nickte: „Ja, und zwar seit jener Zeit, als dieser Kollege, der auch kritische Gedanken äußerte, eines Tages plötzlich spurlos verschwunden war.“

„Ihm hätte etwas zugestoßen sein können, etwas, was nichts mit dieser Angelegenheit zu tun hat. Und du weißt, wie lange es dauert, bis wieder ein neuer Körper zur Verfügung steht.“

„Das kann natürlich sein, aber man hat auch davon nie etwas erfahren.“ wandte er ein.

„Ich denke“, fuhr sie fort, „dass man sich jetzt nicht mehr selbstkritischen Argumenten verschließen kann, und so glaube ich auch, dass dir nichts geschehen wird. Erinnere dich auch an unsere seinerzeit einstimmig gefasste Konvention, nämlich unsere Fähigkeit, die Gedanken eines anderen zu lesen, nicht zwischen uns angewendet werden darf. Es ist nur gestattet, dies bei Angehörigen anderer Zivilisationen zu praktizieren. Die Gedanken der Menschen können wir lesen, nicht die aber der Gilaner. Aber zurück zu unserem Thema: Unser Experiment steht auf des Messers Schneide, und das ist jedem von uns klar. Eine Entscheidung muss herbeigeführt werden.“

„Wirklich?“ unterbrach er sie etwas zynisch, „Muss denn wirklich entschieden werden? Wir können doch auch die Menschen völlig auf sich alleine gestellt zurücklassen und es ihnen überlassen, sich zu entscheiden, ob sie sich selbst vernichten und untergehen, oder ob sie wenigstens ein Minimum an Vernunft aufbringen und sich für das Leben entscheiden. Unter Leben verstehe ich allerdings etwas qualitativ höher stehendes, als das, was sie jetzt tun. Es gehört doch wirklich nicht allzu viel dazu, um zu erkennen, auf welche Weise sich ihre Situation verbessern ließe. Die Probleme sind ihnen, zumindest den Verantwortlichen, seit langem bekannt und darüber hinaus sogar auch deren Lösungen. Nur, sie unternehmen nichts!“

Seine Stimme klang erregt und fast ärgerlich. Beschwichtigend legte sie die Hand auf seinen Arm:

„Aber sie schaffen es doch nicht! All die Jahrtausende haben sie es nicht geschafft, trotz aller Hilfestellungen unsererseits, trotz aller Drohungen! Warum nicht? Ich weiß es auch nicht! Sieh doch all das Leid, das für sie, für jeden einzelnen damit verbunden ist, wenn wir es einfach so weiterlaufen lassen wie bisher. Wir haben doch auch Verantwortung übernommen, als wir einst mit unserem Experiment begannen. Meine Meinung ist, wir müssen noch einmal massiv eingreifen, und da gibt es zwei Möglichkeiten: entweder mit einer groß angelegten Hilfeleistung, zum Beispiel mit einer demonstrativen Landung unserer Raumschiffe und Übernahme aller wichtigen Funktionen. Wir bleiben als ihre Erzieher oder Ausbilder eine Weile vor Ort. Die zweite Möglichkeit wäre, wir bescheren ihnen eine Katastrophe globalen Ausmaßes, wobei ein großer Teil an Individuen vernichtet werden würde. Der überlebende Rest aber wäre zu positiven Veränderungen gezwungen, das heißt, ihre Weisheit und Erkenntnisse umzusetzen. Sie selbst schufen in ihrer Mythologie dieses Bild des Phönix aus der Asche. Nach Jahren der Katharsis würden sie ihr Paradies endlich selbst erschaffen.“

„So, glaubst du?“ sagte er bitter, „Solche Katastrophen hat es doch schon etliche Male gegeben, ohne dass sich etwas bleibend und hoffnungsvoll stimmend verändert hätte. Immer wieder haben sie den Weg der Selbstvernichtung dem der Entwicklung und des Wachstums vorgezogen.“

„Eine weitere, eine dritte Entscheidungsmöglichkeit wäre,“ fuhr sie unbeirrt und mit ruhiger Stimme fort, „tatsächlich das Experiment abzubrechen, das hieße, den Planet Erde mitsamt all seinen Bewohnern zu vernichten, und zwar schnell und schmerzlos. Wir haben die technischen Möglichkeiten dazu.“

„Alle drei Varianten geben uns aber ein und dieselbe Antwort: unser Experiment und die in es gesetzten Ziele sind gescheitert; letztlich sind wir, die Experimentatoren gescheitert!“ sagte er.

„Nicht ganz!“ gab sie zu bedenken, „Die erste Variante könnte tatsächlich bewirken, dass eine globale Umkehr, ein globales Umdenken einsetzt.“

„Vielleicht hast du Recht!“ sagte er etwas milder gestimmt, „Meine Kritik richtet sich auch weniger gegen die Unwilligkeit unserer Kreaturen, als vielmehr gegen unsere eigene Halsstarrigkeit, dass eben über Jahrtausende jegliche Selbstkritik und das Eingeständnis von Fehlern ganz rigide unterdrückt wurden. Wären sie zugelassen worden, hätte man sicher schon früher einiges in positivere Bahnen lenken können. Es ist doch ganz allgemein so: jemand macht ein Experiment und erkennt, dass nicht alles so läuft wie erwartet und nimmt dann Korrekturen vor. Wir gaben die Schuld am Misslingen unseres Experiments aber stets den Menschen, anstatt uns ehrlich zu fragen, was haben wir falsch gemacht.“

„Ich kann dich ja verstehen und bin ja auch größtenteils deiner Meinung. Ich mag eben nur nicht alles einfach hinschmeißen! Ich war oft auf der Erde, so wie du auch. Ich war sowohl lange Zeit körperlich unter ihnen, als auch als körperloses Energiewesen. Ich mag sie! Nicht alle, aber es gibt unter ihnen sehr liebenswerte und bemühte Vertreter. Ich denke, sie zu erhalten, lohnt sich allemal!“

„Hast du auch schon gehört, dass man bereits inoffiziell darüber diskutiert, das Projekt Terra abzuschließen und irgendwo anders einfach ein neues unter besseren Voraussetzungen zu beginnen?“ fragte er.

Sie nickte.

„Nicht nur das habe ich gehört, es soll sogar schon mit einem neuen Experiment begonnen worden sein.“

„So?“ sagte er ungläubig, „Davon habe ich allerdings noch nichts gehört. Aber ich muss gestehen, dieser Gedanke war mir auch schon gekommen.“

Sie gingen lange schweigend weiter bergan. Nachdem sie eine Weile durch ein Spalier nur baumhoher und weniger spektakulärer Kristallgebilde gewandert waren, öffnete sich vor ihnen eine weite Ebene, die sie die Ebene der Farbkristalle nannten. Sie war umstanden von farbenprächtigen, verschiedenartigen Kristallformationen, grün und tiefblau durch Kupfer und Kobalt, gelbgrün und rot durch Chrom, golden und schwarz-golden schimmernde Eisensulfide, riesige farblose Würfel aus Kochsalz und überdimensionale, prächtige Edelsteine jeglicher Farbschattierung, die reflektiertes und gebrochenes Sonnenlicht wie Blitze auf die beiden Besucher abschossen. Fast genau in der Mitte der Ebene erhob sich die vierhundert Meter hohe Pyramide eines dunklen rot-violetten Chromalauns. Dieses Gebilde gehörte zu den phantastischsten Phänomenen ihres Heimatgestirns Gilan. Die vier Seiten waren makellos glatt, ohne jede Fehlstelle. Näherte man sich ihm von der Sonne beschienenen Seite, die Sonne im Rücken, so wirkten die Flächen fast schwarz. Besonders eindrucksvoll war es jedoch, sich ihn gegen die Sonne, im Gegenlicht zu betrachten, in seinem Schatten stehend, zu einem Zeitpunkt, wo das Sonnenlicht knapp unterhalb der Pyramidenspitze stand. Asnur und Risan wanderten entlang den Kanten um den Riesenkristall herum, um sich dieses Schauspiel nicht entgehen zu lassen, denn die Tageszeit und der tiefe Sonnenstand schienen günstig. Sie hatten Glück: die Pyramidenspitze verdeckte gerade die Sonnenscheibe. Dort oben war der Kristall nicht so dicht, so dass das Sonnenlicht hindurch dringen konnte und die Pyramidenspitze tief rot-violett aufglühen ließ. Gleißend hob sich dieses unbeschreibliche Leuchten vor dem schwarzblauen Himmel ab. Der Übergang von heller Glut genau an der Spitze bis hinunter in die lichtundurchlässigen Bereiche verlief übergangslos. Je tiefer die Sonne sank und je dunkler es wurde, umso größer erschien der leuchtende Teil, bis mit dem Untergang der Sonne das Schauspiel unvermittelt abbrach. Auch wenn man sich, von den Weiten des Raums her kommend, dem Planeten Gilan von der richtigen Seite her näherte, konnte man schon von weitem dieses herrlich leuchtende Feuer erkennen. Dieser Chromalaun war zum Wahrzeichen, zum Symbol des Planeten Gilan geworden.

Auch die Kanten der Pyramide schienen jetzt zu glühen. Das ganze perfekte geometrische Gebilde war wie in eine rötliche Aura gehüllt. Keiner der Gilaner hat sich je der Faszination dieser Chromalaunpyramide entziehen können. Dieser Platz war für sie ein heiliger Ort.

Als sie vor vielen Jahrtausenden noch häufiger unter den Menschen weilten, um ihnen behilflich zu sein, berichteten sie ihnen von diesem Wunder, versuchten die Schönheit und Perfektion dieser Pyramide in Worte zu fassen. Diese Berichte mussten so eindrucksvoll auf die Zuhörer gewirkt haben, dass die Menschen versuchten, etwas Ähnliches zu schaffen. Sie wollten ihnen, ihren Göttern, eine Freude bereiten, ihnen den Aufenthalt auf der Erde heimischer machen. In ihren irdischen Pyramiden bestatteten sie zu jener Zeit die Körper ihrer Herrscher, die sie für die Söhne der Götter hielten. Noch heute stehen die Nachbildungen an verschiedenen Orten der Erde. Ihre einst glatten Oberflächen haben in den Jahrtausenden des irdischen Klimas sehr gelitten. Für einige Eingeweihte gelten sie noch heute als die stumme Einladung an sie, ihre Götter, doch zurückzukehren und unter ihnen, mit ihnen zu leben, wie in alten, längst vergessenen Zeiten.

„Gilan ist wunderschön!“ flüsterte Risan ergriffen.

„Ja, du hast Recht! Gilan ist wunderschön!“ stimmte er ihr zu.

„Keiner von uns weiß, wann und wie diese Riesenkristalle entstanden sind!“ fügte er hinzu. „Vielleicht hat es einmal viel Wasser auf Gilan gegeben. In ihren Kristallgittern ist bei einigen Typen enorm viel Wasser gespeichert!“

Risan war im Augenblick nicht an wissenschaftlichen Erklärungen interessiert und bedeutete ihm zu schweigen.

Sie traten schweigend den Rückweg an. Die Stunde der Prismenfeuer war angebrochen. Die Sonne hatte jetzt einen so tiefen Stand erreicht, so dass sie durch die glasklaren Kristalle hindurch schien. Die im Vergleich zu den farbigen Exemplaren bislang unscheinbaren farblosen Kristalle entfalteten jetzt zu dieser Stunde ihren Zauber. Das durchfallende Sonnenlicht wurde in seine Spektralfarben zerlegt. Der schmale Weg flirrte in einem übermütigen Farbenrausch. Wie bunte Wasserfälle sprang das farbige Licht aus den Kristallen, ergoss sich über die beiden Besucher und verlieh ihnen groteske Farbmuster, die sie zum Lachen brachten. Ihr grünes Gesicht lachte über sein violettes, das sich darauf sofort pink verfärbte.

Sie erreichten fröhlich und ausgelassen ihr kleines Raumfahrzeug, bestiegen es und schlossen hermetisch die Kuppel. Ein Druckventil füllte den Raum mit frischer Atemluft. Sie konnten ihre Helme ablegen. Das Fahrzeug hob ab, stieg höher und nahm Kurs auf die Gebäudesiedlung. Zur rechten versank die Sonne hinter einer bizarren Gebirgskette und warf deren Schatten über die gelbe Ebene.

„Gilan ist schön!“ wiederholte Risan.

„Ja“, sagte er, „aber die Erde ist sehr viel schöner. Wann warst du eigentlich das letzte Mal unten bei ihnen?“

„Es stimmt, die Erde ist um vieles schöner als Gilan. Sie ist reicher, lebendiger, sinnlicher. Am meisten beeindruckte mich stets das Wasser. Ich erinnere mich, dass ich einmal an einem hohen Wasserfall stand. Ich rechnete fest damit, ja ich erwartete, dass er jeden Augenblick aufhören musste zu fließen. Ich konnte mir einfach eine solch große Wassermenge nicht vorstellen. Aber er hörte nicht auf, unablässig zu Tal zu stürzen, auch nicht nach Tagen, Wochen, Monaten, er floss immerzu.

Oder Regen! Wir kennen so etwas hier nicht! Auf der Erde ging ich oft im Regen spazieren, um ihn auf der Haut zu spüren. Es war für mich ein sinnliches Erlebnis. Bei uns ist Wasser eine Kostbarkeit, die keinesfalls verschwendet werden darf. Die Oberfläche der Erde ist weit über die Hälfte mit Wasser bedeckt. An den Ufern ihrer Meere kann man nicht einmal das gegenüberliegende Ufer sehen. Sicher, es ist Salzwasser, und nicht für landwirtschaftliche Anpflanzungen geeignet. Man kann es auch nicht trinken, ohne zu erkranken. Aber es stellt ein schier unerschöpfliches Reservoir dar. Unablässig pumpt ihre Sonne Wasser aus den Meeren, tragen es die Wolken gegen die Gebirge, lassen es dort abregnen. Ein perfekter Zyklus, über den die Menschen meinen, es sei nicht wert, darüber nachzudenken.“

„Ja,“ sagte er, „erst in aller neuster Zeit scheint man allmählich zu begreifen, dass Wasser, auch wenn es in solch riesigen Mengen vorhanden ist, eine Kostbarkeit darstellt, das niemals so verschwendet, so verschmutzt werden darf, wie sie es tun. Von den riesigen Wasservorräten ist weniger als ein Promille als Trinkwasser oder für die Landwirtschaft nutzbar. Selbst diese Menge schrumpft immer mehr zusammen. Obwohl nach den Gesetzen der Physik die Menge Wasser auf der Erde konstant bleiben wird, sind massive Probleme bei der Wasserversorgung aufgetreten. Nicht mehr nur in den traditionellen Trocken- und Wüstengebieten herrscht Wassermangel. Brauchbares, gutes Trinkwasser wird auch in den gemäßigten Klimazonen knapp. Der Wasserbedarf steigt, die Wüstenregionen breiten sich aus. Die Menge an verdorbenem Wasser steigt, unbrauchbar für Pflanzen, Tiere und Menschen. Es wird Kriege um das Wasser geben, weil es immer mehr Menschen gibt!“

„Sie sind doch schon mehr oder weniger offen ausgebrochen!“ sagte sie. „Sieh dir die Region des ehemaligen Palästina an, dort geht es neben machtpolitischen Interessen auch um den Zugang zu Wasserquellen. Die Quelle des Jordan liegt auf den Golanhöhen. Im Toten Meer kommt kaum etwas an. Fast alles Wasser wird abgeleitet. Oder sieh auf den schwelenden Konflikt der Euphrat- und Tigris-Länder: ein riesiger Stausee, errichtet in nationalem Interesse, gefährdet die künftige Wasserversorgung der südlichen Nachbarstaaten, deren Bevölkerung auf das Wasser dieser beiden Flüsse angewiesen ist. Oder das nördliche Mexiko, dem das Wasser des Colorado River abgedreht wurde. Einige Länder im Himalaya betreiben eine hemmungslose Abholzung ihrer Wälder, was zur Regenzeit verheerende Überschwemmungen mit Tausenden von Todesopfern am Unterlauf der gewaltigen Ströme zur Folge hat, alle Jahre wieder!“

Nach einer Pause fuhr sie fort:

„Aber ich wollte jetzt nicht über politische Zusammenhänge und Konfliktstoffe reden, sondern über meine sinnliche Erfahrung mit Wasser. Es war für mich immer tief entspannend und beruhigend, den Geräuschen des Wassers zu lauschen, dem Rauschen der Wellen, dem Ton fallender Regentropfen, dem Glucksen der Bäche, dem Tosen der Wasserfälle. Oder denke nur an den Geruch von Wasser! Wir, die wir Wasser in diesem Übermaß nicht kennen, können den feinen Duft des Wassers wahrnehmen. Oder vom Wasser getragen zu werden, von ihm sich treiben lassen, das sind glückliche Erlebnisse!“

Die Sonne war untergegangen, der Himmel war schwarz und zeigte die unendliche Sternenfülle. Einer davon, einer der schönsten war die Erde, der Heimatstern, den sie für ihre Geschöpfe ausgewählt hatten. Beim Anblick dieser ungeheuren Zahl an fernen Welten sagte Asnur nachdenklich:

„Wir halten uns für die höchste Intelligenz im gesamten Universum. Bisher sind wir nur Lebensformen begegnet, die weit unter uns angesiedelt waren, und dennoch gelten für uns alle die gleichen Naturgesetze. Wir können sie nicht verändern oder gar auslöschen. Es gibt zum Beispiel nur vier Kräfte, die das gesamte Universum zusammenhalten. Wer oder was ist der Ursprung dieser Gesetze? Wer hat sie sich ausgedacht? So vieles ist auch uns ein Rätsel! Schon oft habe ich mir darüber den Kopf zerbrochen, stunden-, tagelang gegrübelt, um eine Spur, ein Anhaltspunkt zu finden; ich kam zu keiner Lösung. Manchmal denke ich, wir sind nichts Besonderes, eben nur etwas weiter entwickelt als die Menschen. Und wer sagt uns, dass wir hier auf Gilan nicht auch Gegenstand eines gigantischen Experiments einer noch höheren Intelligenz sind, die sich uns ihrerseits nicht zu erkennen gibt. Zu wenig wird unter uns Gilanern nach Antworten auf diese Fragen gesucht. Für uns zählt nur eins: unser Experiment. Ich habe so viele Fragen, und ich möchte, dass endlich gestattet wird, sie wenigstens auszusprechen.“

Sie näherten sich nun den Gebäudekomplexen. Über Funk bat Asnur, ihm ein Schleusentor zuzuweisen, das er für seinen Anflug benutzen sollte. Die Beleuchtung eines der Tore flammte auf, und er steuerte es an. Nachdem sie es passiert hatten, schloss es sich geräuschlos hinter ihnen und Luft strömte ein. Nach erfolgtem Druckausgleich schwebten sie in die große Halle und landeten. Der freundliche Techniker war ihnen beim Aussteigen behilflich und erkundigte sich, ob alles in Ordnung gewesen sei. Asnur dankte ihm und erledigte rasch mit seiner Hilfe die Abschlussformalitäten.

Dann verließen er und Risan die Hangars und gingen hinauf zu den Wohnbereichen. Diesen Abend wollten sie beide noch gemeinsam verbringen. Sie wählten sich eine kräftige, schmackhafte Mahlzeit aus dem stets reichhaltigen Angebot und hörten während des Essens irdische Musik. Sie duschten anschließend gemeinsam, länger als es eigentlich gestattet war, aber da sie beide unter der Dusche standen, hielt sich der Wasserverbrauch in den erlaubten Grenzen. Sie verbrachten eine zärtlich verspielte Nacht und genossen den Empfindungsreichtum ihrer Körper. Trotz der sexuellen Freizügigkeit und der Vielzahl von Kontakten mit anderen Personen hatten sie die besondere Tiefe und Intensität ihrer Gefühle nur bei sich beiden empfunden. Aus diesem Grunde hatten sie sich entschlossen, beieinander zu bleiben und andere sexuelle Kontakte zu meiden.

Kapitel 3

Den Gilanern stand auf der Erde ein großer Stab an Mitarbeitern zur Seite. Das waren zum einen Gilaner, die unerkannt unter den Menschen und mit den Menschen lebten. Sie organisierten hauptsächlich Transporte von der Erde zu ihrem Heimatplaneten. Zu allen Zeiten verkehrten Raumtransporter zwischen der Erde und Gilan. Die Erdbewohner nannten solche Raumschiffe neuerdings UFO, also nicht identifizierbare Flugobjekte. Die Militärs versuchten die Existenz dieser 'Fliegenden Untertassen', so gut es nur ging geheim zu halten. Es gab sogar sehr detaillierte Einsatzpläne, wie man sich bei den verschiedenen Phasen der Begegnung mit Außerirdischen militärisch zu verhalten habe. Sie, die Militärs, setzten natürlich feindselige Begegnungen mit fremden Zivilisationen voraus. Ihr eingeschränktes Denkvermögen erlaubte es ihnen eben nicht anders. Die Öffentlichkeit erfuhr von all den Begegnungen mit UFO nichts. Nicht auszudenken, welche Veränderungen in der Menschheit vor sich gehen würden, wenn ihr die Existenz außerirdischen Lebens offiziell bekannt gegeben würde. Dieses ganze Thema sollte den Erzählungen der Science-Fiction-Literatur vorbehalten bleiben. Als moderne Märchen waren sie ja nicht ganz ernst zu nehmen. Dennoch war für viele Erdbewohner die Existenz ferner Zivilisationen eine Realität. Die NASA hatte vor einigen Jahren eine intelligente Raumsonde gestartet, um Kontakt zu außerirdischen Lebensformen aufzunehmen. Die Gilaner hatten sie abgefangen, untersucht und dann wieder auf die Reise geschickt. Sie hatten ihre Gründe, für die meisten Menschen unentdeckt zu bleiben. Auch ein kostspieliges SETI-Programm hatten die Menschen begonnen. Sie begaben sich also ernsthaft auf die Suche nach außerirdischem Leben. Die klaren Beweise für die Existenz der UFO unterdrückten sie jedoch.

Viele Menschen hatten die Raumschiffe der Gilaner schon gesehen und waren sehr beeindruckt von deren Flugmanövern. Wenn sie aber in der Öffentlichkeit von ihren Beobachtungen berichteten, wurden sie als Lügner, Angeber oder Spinner abgetan. Auch über den Umgang mit solchen Augenzeugen gab es genaue aber geheime Vorschriften. Falls man sie nicht frühzeitig zum Schweigen überreden konnte, gab es ein abgestuftes Programm raffinierter Methoden, wie man solche Leute öffentlich blamiert und diskreditiert. Doch in letzter Zeit wurden diese Augenzeugen immer mutiger und wandten sich an aufgeschlossenen Journalisten.

Diese Raumtransporter transportierten hauptsächlich Literatur, Videoaufzeichnungen und Filmkopien, alles das, was Aufschluss gab über das aktuelle Geschehen auf der Erde. Natürlich konnte man auf Gilan auch alle Rundfunk- und Fernsehprogramme empfangen. Die Signale benötigten aber eine sehr lange Zeit, so dass sie erheblich zeitlich verzögert auf Gilan ankamen. Wesentlich rascher war die telepathische Übermittlung von dringenden Botschaften oder Nachrichten. Besonders geschulte Gilaner standen auf diese Weise in ständigen Kontakt mit ihrem Heimatplaneten.

Andere Gilaner besaßen die Fähigkeit, sich überall unsichtbar hinzubegeben, um geheime Informationen zu beschaffen: geheime Konferenzen, geheime Archive. Sie wechselten einfach in die nächst höhere Dimension. Detektoren spürten sie zwar auf, aber man konnte ihrer nicht habhaft werden. So hatten sie sich auch schon oft in die Geheimarchive des Vatikans begeben, wo all das Wissen und die Wahrheit vor den Menschen verborgen gehalten wird. Dieses Wissen hätte die Entwicklung der Menschheit positiv beeinflussen und damit beschleunigen können. Aber daran war niemand von den Mächtigen interessiert, denn dieses Wissen hätte die Existenz dieser Mächtigen überflüssig werden lassen.

Unter den Menschen gab es auch eine ganze Reihe von Eingeweihten, die die Gilaner in ihrer Arbeit unterstützten. Zum Dank hatten die Gilaner ihre Helfer mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Sie konnten hellsehen und in den Zeiten wandern. Wieder andere waren befähigt, Hilfesuchende zu beraten oder zu heilen.

In früherer Zeit tat man auf der Erde nicht so geheimnisvoll mit dem Erscheinen der Götter. Die Menschen jener Zeit waren tief beeindruckt von dem technischen Standard der außerirdischen Besucher und verehrten sie als Götter. Viele ihrer „Wunder“ wurden niedergeschrieben und sind noch heute in ihren heiligen Schriften nachzulesen. In den Mythen fast aller Völker finden sich genaue Beschreibungen über Begegnungen mit Flugmenschen und über die Wunder, die sie taten. Sie wurden geliebt und verehrt und die Menschen errichteten großartige Kultstätten, um ihnen zu huldigen.

Mittlerweile wurde vieles, was einst als Wunder galt entzaubert. Durch den wachsenden technischen Fortschritt wurden sie auch für die Menschen rational erklärbar. So wurden auch die Götter entzaubert, sie mussten der technischen Überheblichkeit weichen. Eine lange dunkle Zeit meinten die Menschen überwunden zu haben, sie könnten nun alles erklären und erklärten das, was sie nicht erklären konnten, als etwas, das es nicht gab. Es entstand die Herrschaft jenes unseligen Bundes von Arroganz und Ignoranz. Den Göttern wurde das Reich der Mythen, Sagen und Märchen zugewiesen. Das hatte lange und heftige Debatten der Gilaner zur Folge, und so manchen waren die erlittenen Kränkungen durchaus anzumerken. Viele, zutiefst beleidigt, forderten schon damals die rigorose Trennung von diesen undankbaren Geschöpfen. Doch ein Mehrheitsbeschluss konnte nicht herbeiführt werden. Bei einigen wuchs sich im Laufe der Zeit dieser Unmut zu einem glühenden Hass aus.

Kapitel 4

Die folgenden beiden Tage verbrachten Risan und Asnur mit ihrer regulären Arbeit. Sie arbeiteten zwar in der gleichen Abteilung, hatten aber unterschiedliche Teilaufgaben. Seine Aufgabe bestand darin, die gegenwärtige politische und soziale Situation auf der Erde zu beobachten und falls möglich, Prognosen für einen Trend dieser Entwicklung zu erstellen. Aus der Kenntnis der Menschheitsgeschichte und unter Berücksichtigung der menschlichen Natur und ihrer üblichen Verhaltensweisen sollte er Entscheidungshilfen erarbeiten, die im Rat der Zwölf diskutiert wurden, um einen Beschluss über ein eventuelles Eingreifen herbeizuführen.

Gemäß ihren Satzungen sollte dies aber nur im äußersten Notfall geschehen; denn ihren Kreaturen war seinerzeit ein hohes Maß an Freiheiten zugestanden worden. Allerdings war an dieses Zugeständnis eine regulierende Bedingung geknüpft: für all ihr Tun und Handeln sollten die Menschen auch eigene Verantwortung übernehmen. Für sie, die Gilaner, war es bitter mit anzusehen, dass die Menschen zwar alle die ihnen gewährten Freiheiten in Anspruch zu nehmen, aber nicht im Geringsten daran dachten, selbstverantwortlich zu handeln. Es entsprach offenbar nicht der Reife aller bisher lebenden Generationen, die Folgen ihres Handelns abzuschätzen und die Konsequenzen zu tragen. Ihre Neigung bestand stets darin, die Verantwortung für ihr eigenes Handeln an andere zu delegieren, insbesondere dann, wenn sich negative Folgen einstellten. Selbst Gott oder die Götter blieben dann nicht mit Vorwürfen verschont, wenn dann irgendetwas sehr tragisch verlief. So wurden beispielsweise während und nach den letzten beiden Weltkriegen massiv die Götter beschuldigt, wie sie nur so etwas Grauenhaftes und einen millionenfachen Tod haben zulassen können. Dabei hatten sie, die Götter, überhaupt nichts mit diesem Geschehen zu tun. Sie sahen entsetzt mit an, wie sich die Völker auf nie zuvor dagewesene Art und Weise bekämpften und vernichteten. Sie hofften einzig und allein, dass dies ein unmissverständliches Lehrstück gewesen sein muss, das die Menschheit bewegen wird, ihr Verhalten zu ändern und künftige Konflikte auf andere Art zu bereinigen.

Nach diesen letzten beiden Kriegen setzte auch tatsächlich eine Entwicklung ein, die Anlass zu neuer Hoffnung gab. Internationale Organisationen bemühten sich sehr oft mit gutem Erfolg lokale Brandherde zu löschen oder zumindest einzudämmen. Ein Gleichgewicht der Kräfte und Mächte entstand, das aber nur über ein hohes Maß an militärischer Rüstung stabilisiert werden konnte. Immerhin bescherte dieses Gleichgewicht des Schreckens für Europa eine über Jahrzehnte andauernde Periode des Friedens. In dieser Phase des Aufbaus und wachsenden Wohlstandes entwickelten sich dort neue, junge Demokratien, die zumindest in den Anfängen ihre Verfassungen recht ernst nahmen. Wirtschaftliche und kulturelle Verflechtungen machten zumindest im westlichen Europa gewalttätige Auseinandersetzungen immer unwahrscheinlicher. Doch in den Jahrzehnten des Friedens und der äußeren Ruhe entwickelten sich innerhalb dieser stabilen demokratischen Länder Gruppierungen mit hoher krimineller Energie, an denen sich auch in hohem Maße korrupte Politiker beteiligten. Sie begannen mit ganz legalen Mitteln unter Wahrung der Gesetze, Geldströme so zu lenken, dass letztlich nur sie selbst profitierten. Die Egoismen zahlreicher Interessenverbände schwächten zunehmend das stabile demokratische Gefüge. Demokratie war vielfach nur noch das Aushängeschild, parlamentarische Sitzungen nur noch eine Farce. Politiker begingen täglich Meineide, indem sie nicht mehr dem Wohl des Staates und ihren Bürgern dienten und gewissenlose Entscheidungen trafen. Sie erhöhten sich selbst in dreister Weise ihre Bezüge, dienten nur noch ihrem Eigennutz, stimmten so, wie man es von ihnen verlangte und dachten nicht im geringsten daran, Schaden vom Volke abzuwenden. Ganz im Gegenteil! Sie fügen dem Volke und der Volkswirtschaft beachtliche Schäden zu. So hatten sich einige Banken aus Gier erheblich verspekuliert. Sie drohten, Pleite zu gehen. Der Wirtschaftsminister schenkte ihnen Milliardenbeträge aus dem Volksvermögen, also aus Steuergeldern, um den Konkurs abzuwenden. Korrekte wäre gewesen, wenigstens ein Darlehen zu gewähren, das entsprechend verzinst zurückgezahlt werden muss. Er verschenkte horrende Summen an Geld, das ihm nicht gehörte und das an anderer Stelle dringend gebraucht wurde.

Dringend notwendige Entscheidungen blieben dagegen unerledigt. Sie dienen allein ihrem eigenen Interesse, mehren ihre Macht, um ihren finanziellen Profit nach Kräften auszuschöpfen. Dieses parasitäre Verhalten der sogenannten Volksvertreter führt zu einer weit verbreiteten Politikverdrossenheit, zu einer rigorosen Abkehr von den wenigen politischen Aktivitäten der Bürger und zu einer Verweigerung des Einzelnen. Die einst so stabilen demokratischen Strukturen geraten zunehmend ins Wanken. Demokratie ist eben nur etwas für reife, hochentwickelte Staatsbürger und deren Regierungen.

Was Asnur ebenfalls ärgerte und zugleich betroffen machte war, dass die Masse der Bevölkerung, ihre eigene Verantwortung ausgerechnet an eben diese maroden Politiker delegierte. Erfüllten sich dann die Erwartungen nicht, so ist man eben enttäuscht und resigniert. Dagegen wäre die einzige richtige Lehre, die aus einer solchen Episode zu ziehen ist, Selbstverantwortung bis in die letzte Konsequenz zu übernehmen, das heißt, ich bin nicht nur für das verantwortlich, was ich tue, sondern auch für das, was mir widerfährt. Zugegeben, das ist nicht ein bequemer Weg.

Diese enttäuschenden und sich stets wiederholenden Beobachtungen über all die Jahrtausende ließen Asnur sehr pessimistisch werden. Er glaubte immer weniger an eine positive Wende ihres Experiments.

Ganz anders verhielt es sich dagegen mit Risan. Ihr Interesse galt der individuellen Ebene der menschlichen Entwicklung, der individuellen Lebensführung und Lebensplanung. Sie beschäftigte die Frage, wie sich Individuen mit ihrem sozialen und politischen Umfeld arrangierten, um ihre individuelle Selbstverwirklichung trotz aller Zwänge und Repressionen zu realisieren. Dieses Verhalten, das sie beobachtete, stand meist in Einklang mit den ursprünglichen Erwartungen ihrer Schöpfer. Risan nannte diese Entwicklung die Stille Revolution. Im Gegensatz zu Asnur sah sie die Entwicklung der Menschheit optimistisch.

Diese neue Bewegung kämpfte nicht, sie bekämpfte nicht. Das unterschied sie vom Typus früherer Revolutionäre, die stets etwas bekämpften, auf etwas reagierten. Diese neue Bewegung, der sich immer mehr Menschen anschlossen, war der Auffassung, dass sich die maroden Strukturen, die noch das Geschehen auf der Erde bestimmten, sich zwangsläufig selbst zugrunde richten werden. Sie stellte diesem Verfall eine positive Zukunft gegenüber. Neben diesem Trümmerhaufen Jahrtausende langer fehlgesteuerter Menschheitsgeschichte pflanzten sie ein blühendes Blumenbeet.

Diese neue Bewegung, so stellte sie fest, ist in sich keinesfalls homogen. Ihre Handlungen orientieren sich nicht an einer uniformen ideologischen Ausrichtung. Eher das Gegenteil ist der Fall. Ihre große Stärke besteht darin, keiner ideologischen Strömung oder Religion anzugehören, keinerlei Dogmen vorzuschreiben. Diese Stillen Revolutionäre haben begriffen, dass allein das Produzieren, Konsumieren und Konkurrieren nicht das Glück der menschlichen Existenz sein kann. Diesen letztlich destruktiven Lebensinhalten der breiten Masse kehrten sie den Rücken, ohne sich aber von der Menschheit abzuwenden, wie es etwa in vielen Klöstern geschieht, oder wie es Aussteiger und Eremiten praktizieren. Sie fühlen sich der menschlichen Gemeinschaft verpflichtet, ohne deren Lebensformen zu übernehmen und sich mit deren Lebenszielen einverstanden zu erklären. Sie setzen neben das Alte etwas Neues und beklagen das Alte nicht. Dieses Neue und die Ausstrahlung dieser Stillen Revolutionäre übt auf wache Mitmenschen und Sucher eine ungemeine Anziehung aus, und sie beginnen, Kontakt zu solchen Gruppierungen zu suchen.

Eine geradezu fundamentale Tatsache haben diese hoffnungsvollen Menschen begriffen: es ist sinnlos eine Gesellschaft zu verändern, wenn sich nicht deren kleinste gemeinsame Einheit, der einzelne Mensch, verändert. So gelten ihre Bemühungen der Arbeit an sich selbst, an ihrer eigenen Weiterentwicklung, an ihrem individuellen Wachstum. Sie begreifen ihr gegenwärtiges Leben als eine neue Wachstumschance, als eine von vielen tausenden, die sie schon hatten und vielleicht sinnlos vertan hatten. Sie wissen, dass ihr Leben ihnen nicht schicksalhaft vorherbestimmt ist, sondern dass es ihre Lebensaufgabe ist, ihr Karma aktiv und selbstverantwortlich in eine positive Richtung zu lenken. Sie setzen auf den multiplikatorischen Effekt.

Aber es gibt sie auch, die zahllosen Großmäuler, die noch immer meinen, die Gesellschaft und die Welt verändern zu müssen. Sie verkünden lauthals abenteuerliche Thesen und scheitern bereits an sich selbst. Es gelingt ihnen nicht einmal, Vorbild zu sein. Natürlich misslingt ihr Vorhaben. Dann sind sie frustriert, beschuldigen die Gesellschaft und bezeichnen sich als ihr Opfer. Sie benutzen ihr überzogenes Projekt, die Welt verändern zu wollen, als Alibi, um eigene Wachstumsschritte zu unterlassen. Schon vor langer Zeit sagte einst ein bedeutender Zen-Meister: „Willst Du erleuchtet werden, so hacke Holz und trage Wasser!“