Das falsche Herz des Meeres - Hilke Rosenboom - E-Book

Das falsche Herz des Meeres E-Book

Hilke Rosenboom

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Beschreibung

Ein faszinierender Liebes- und Abenteuerroman

Wangerooge, 1854: Leevke wird auf einem arabischen Handelsschiff von Piraten entführt! Doch dem jungen Kapitän Hanrib el Aniil gelingt es, sein Schiff zurückzuerobern. Mit dem Mädchen an Bord segelt er in Richtung Rabat … Dort bringt Hanrib sie im Palast seines Bruders unter. Umgeben von unermesslichem Luxus, hat Leevke nur ein Ziel: auszubrechen aus ihrem goldenen Käfig. Als sie fliehen kann, beginnt eine abenteuerliche Reise quer durch Afrika und Europa. Was sie nicht weiß: Hanrib folgt ihr wie ein Schatten …

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Seitenzahl: 521

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Hilke Rosenboom • Das falsche Herz des Meeres

DIE AUTORIN

Foto: © Volker Hinz

Hilke Rosenboom stammt aus einer uralten Seemannsfamilie. Sie verbrachte ihre Kindheit auf den Inseln Juist und Baltrum, studierte in Kiel und besuchte die Journalistenschule in Hamburg. Nach 15 Jahren als Reporterin beim »Stern« und ausgedehnten Reisen in viele Ecken der Welt begann sie, Romane für Kinder und Jugendliche zu schreiben.

Weitere lieferbare Bücher von Hilke Rosenboom bei cbj/cbt:

cbj: Die Teeprinzessin (13089)

Hilke Rosenboom

Das falsche Herzdes Meeres

cbt – C. Bertelsmann TaschenbuchDer Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House

Datenkonvertierung eBook: Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburgwww.kreutzfeldt.de

1. AuflageErstmals als cbt Taschenbuch August 2008 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2006 cbj Verlag, MünchenAlle Rechte dieser Ausgabe bei cbj/cbt Verlag, Münchenst · Herstellung: ReDISBN 978-3-641-01259-5www.cbj-verlag.de

Im Angedenken an meinen Großvater,den Seemann Friedrich Rector,und an meinen Großonkel,den Kapitän Heinrich Free,und in inniger Liebe zu den beiden Seemannswitwen,meiner Großmutter Hilda Rectorund meiner Großtante Gesine Free,die mich weitgehend großgezogen haben.

Vorrede der Autorin

Abenteuerromane, die zum Teil auf hoher See spielen, bedingen auch Erkundungen in einem Berg von Seemannsgarn und in Berichten der Abkömmlinge von Zeitzeugen, deren Taten oft gute Geschichten ergeben, ohne jedoch der Wahrheit allzu nahe zu sein. In meiner Familie wurden immer Geschichten erzählt: von seefahrenden Urvätern, strandenden Schiffen und Wogen, so hoch wie Berge. Wenn alles stimmte, wäre unser altes Haus auf der Insel mehrfach ein Raub der Wellen geworden, Schwestern von Urahninnen wären auf Nimmerwiedersehen verschleppt worden, Vettern der Vorväter beim Kampf mit Walen ums Leben gekommen, wackere Seeleute hätten Segel im Sturm gesetzt und die Seefahrt trotzdem überlebt, andere hätten der Meeresoberfläche ihre Schätze ansehen können. In meiner Familie wurden leichte Krankheiten mit kaltem Salzwasser vom Strand geheilt, Säuglinge mit Meerwasser getauft, kranken Kindern brachte man Meeresleuchten in einem Wassereimer ans Bett, und die Kunst des Schwimmens durften noch meine Mutter und ihre Cousine niemals erlernen, damit sie es im Falle eines Schiffsunterganges nicht so schwer hätten. Dass wir nur ein- oder zweimal im Monat mit einem Dampfer ans Festland fuhren, spielte dabei keine Rolle.

Beim Entwirren von Massen von Seemannsgarn und bei der korrekten Beschreibung des Lebens und Segelns auf Traditionsschiffen wie der Schwarzen Helena hat mir der eine oder andere Sailor geholfen. Ihrer Geduld ist es mitzuverdanken, dass die Helden dieses Buches ihr Ziel erreichen, nicht nur zu Land, sondern auch zu Wasser, und dass, wie ich hoffe, nun wirklich ein bisschen echte Salzluft zwischen den Zeilen weht. Alle Handlungen der Personen sind frei erfunden, die beschriebenen Manöver auf See sind nicht zur Nachahmung empfohlen, vielleicht funktionieren sie nicht einmal, oder wären zumindest lebensgefährlich. Doch es wäre ein Jammer, sie nicht zu erzählen, nur weil sie aus dem Land der alten Geschichten kommen.

Eine eventuelle Ähnlichkeit mit realen Personen oder ihren Abenteuern ist insofern ebenfalls rein zufällig. Die Schwarze Helena ist niemals zwischen den ostfriesischen Inseln und Rabat gefahren, ein Mädchen mit Namen Leevke Magnussen hat es nicht gegeben, sie hat sich nicht auf den Weg in die weite Welt gemacht und wir wissen auch nichts über ihre Liebe zu Hanrib el Aniil. Das Meer jedoch erzählt seine eigenen Geschichten und es hat seine eigene Wahrheit.

ERSTES BUCH

Die Tochter des Walfängers

Insel Wangerooge4. Oktober 1854 nachmittagsbis 25. Dezember 1854, nautische Dämmerung

1

In der Nacht hatte der Wind auf West gedreht – ein feuchter Atlantikwind, nicht kalt genug für den Oktober. Der Wind jagte über die kleine Insel und zauste an den letzten Blättern, die noch an den gedrungenen Büschen hingen. Der schmale Weg ins Dorf stand schon jetzt fast unter Wasser. Es war, als ob die Feuchtigkeit von überall her kam, aus dem nassen, weichen Boden, aus der schweren Luft und vom Meer her, auf dem sich schon eine lang gestreckte schwarze Dünung erhob.

Leevke Magnussen stemmte sich gegen den Wind, als sei er ein leichter Gegner, einer, der freiwillig Platz machen würde, wenn sie kam. Sie musste nicht erst in den Himmel mit den dahinjagenden Wolken schauen, um zu sehen, wie sich das Wetter entwickelte. Sie fühlte es mit jeder Faser ihres Körpers. Ein Sturm zog auf. Der Mond nahm zu. Noch zwei Stunden, dann würde die Flut auflaufen, und das würde den Sturm noch weiter anschwellen lassen.

Aber dann hätte es die Mutter auch etwas leichter mit dem kleinen Bruder von Leevke, den sie heute zur Welt bringen würde. Leevke selbst war auch während eines schweren Sturmes und bei auflaufendem Wasser geboren worden, das hatte ihr die Mutter immer wieder erzählt. Genau wie Ebba, ihre kleine Schwester, das zweite Kind der Eheleute Magnussen. An die Geburt von Ebba in der Weihnachtsnacht vor acht Jahren konnte Leevke sich noch gut erinnern. Der Vater war mitten in der Nacht mit der Viktoria ans Festland gesegelt und zwölf Stunden später mit Eis im Bart und dem verfrorenen Doktor im Schlepptau zurückgekehrt. Doch als die Männer im Haus angekommen waren, hatte Leevke schon mit ihrer in einen festen wollenen Puck gewickelten Schwester im Arm vor dem Ofen gesessen und ihr ein Lied vorgesungen.

Leevke seufzte, als sie an die kleine Ebba dachte, und ein Eisenring schien sich um ihr Herz zu legen. Ebbas schlimmes Bein, wie sie es nannten, schmerzte bei einem Wetter wie diesem. Wahrscheinlich würde das blonde Mädchen niemals richtig laufen lernen. Wenn Ebba doch wenigstens gern lesen würde. Leevke fand, dass es ganz leicht war, alles um sich herum zu vergessen, wenn man mit einem der dicken Naturkundebücher des Vaters vor dem Kachelofen im Hörnstuhl saß oder die schweren bunten Seiten der Folianten umblätterte. Afrika, Asien, Amerika, der Vater hatte als Kapitän die ganze Welt bereist und er war bis vor zwei Jahren als Kommandeur eines holländischen Walfängers in jedem Frühling ins Nordmeer aufgebrochen. Er galt als der bärbeißigste und unnachgiebigste unter den Walfängern an der Küste, wurde wegen seiner Klugheit und Erfahrung jedoch überall gerühmt. Nur seiner Familie gegenüber ließ er vieles durchgehen und konnte seiner Frau und den beiden Töchtern fast gar keinen Wunsch abschlagen.

Leevke kniff die Augen zusammen und ließ den Blick über die feuchten Hellerwiesen schweifen, die die Siedler dem Meer abgetrotzt hatten.

Sie zog das dicke, warme Wolltuch fester um die Schultern. Vielleicht hätte sie die Ziegen doch schon am Morgen von der Weide holen sollen, so wie der Vater es gesagt hatte. Andererseits durfte sie das Geld für die Ziegenmilch und für den zarten weißen Käse, den sie daraus machten, selbst behalten, für ihre Aussteuer. Und Ziegenmilch wurde nun mal fetter, wenn die Tiere noch die weichen, salzgetränkten Pflanzen fressen durften, die zu Beginn des Herbstes zwischen den Brackwassergräben des Vorlandes wuchsen.

Leevkes weiten, mit blauen Blumen bestickten Winterrock hatte die Mutter ihr genäht. Die immer und immer wieder weich gekämmte weiße Wolle für ihren Pullover stammte von ihren eigenen Schafen. Nur die ungebändigten langen Haare passten nicht zu dem Bild einer wohlhabenden und stolzen Kapitänstochter. Leevke fuhr sich mit einer schnellen Bewegung über den Kopf und riss das Samtband herunter, das rutschte, wohin es wollte. Die wütend aufspringenden rötlichen Locken führten wohl ein Eigenleben. Sie fielen auf ihre schmalen Schultern und kringelten sich über ihrem Schal.

Warum durfte sie bei einem aufziehenden Unwetter keinen pechgetränkten Mantel tragen, so wie die Männer auf dem Schiff des Vaters? Warum machte er letztlich doch immer einen Unterschied zwischen Willem und Simon, den Söhnen seines Steuermanns Kattrepel, und Leevke, seiner eigenen Tochter? Konnte sie nicht genauso gut arbeiten wie die Jungen? Oder war sie etwa ungeschickter mit der Viktoria? Wenn die wüssten, wie oft Kapitän Magnussen seiner Tochter schon das Ruder des schweren Schiffes übergeben hatte, wenn sie außer Sichtweite der Insel waren.

»Suchst du deine Ziegen? Die haben sich bestimmt in die Kuhle geflüchtet!«

Leevke fuhr herum, als sie die Jungenstimme hörte, und blickte in das frische rötliche Gesicht von Willem, dem älteren der beiden Kattrepel-Brüder. »Hab dich gar nicht kommen gehört.«

Willem grinste sie an. »Weil du in Gedanken bist. Wie sieht es bei euch zu Hause aus? Ist deine Mutter... Ich meine, wie geht es ihr?« Das Lächeln auf seinen sommersprossigen Wangen erstarb.

Leevke zuckte mit den Schultern, um ihre Befangenheit zu verbergen. »Weiß nicht. Sie haben mich schon heute Mittag weggeschickt. Ich war die ganze Zeit bei Johanna. Ich denke, dass es meiner Mutter gut geht. Frau Ingwersen hat gesagt, dass es beim dritten Kind immer ganz leicht geht.« Sie spürte selbst, dass sie redete wie ein Blinder über Farben. »Sonst hätte ich auch schon was gehört«, schloss sie und schluckte den Kloß hinunter, der sich in ihrem Hals bildete. Natürlich hatte sie Angst um die Mutter. Wenn sie doch nur nach ihr sehen dürfte. Aber das hatte die Ingwersen ihr heute Morgen schon verboten. »Nächstes Jahr«, hatte sie gesagt, »wenn du fünfzehn bist, da musst du sogar mal mithelfen, wenn hier wieder ein Lüttje geboren wird, damit du später selbst nicht überrascht bist, wenn du auch mal ein Kind bekommst.«

Leevke hatte das Gefühl, dass Gedanken dieser Art in der Gegenwart eines sechzehnjährigen Jungen mehr als unschicklich waren. Vor allem wenn er sie so ansah wie jetzt. Seine Art, sie anzublicken, hatte sich seit einiger Zeit verändert, das war Leevke schon mehrfach aufgefallen. »Hilfst du mir jetzt mit den Ziegen oder willst du hier festwachsen?«, fragte sie und gab Willem mit der Hand einen Stups auf den Arm.

Willem biss sich auf die Lippe. »Zwei oder drei habe ich unten beim Dorfteich gesehen. Sie spüren, dass ein Unwetter aufzieht!«

»Tatsächlich?« Leevke schenkte ihm ihren abfälligsten Blick. »Wie klug du bist!«

Für gewöhnlich knuffte Willem sie, wenn sie ihn so neckte. Oder er zog sie an den Haaren. Wenn sie im Spätsommer zusammen mit dem Muschelschiff aufs Wattenmeer hinausfuhren, spritzte er ihr Wasser aus der Pütt ins Gesicht, wenn sie ihn zu sehr ärgerte. Einmal hatten sie so gerauft, dass beide fast über Bord gegangen wären.

Doch jetzt verzog Willem keine Miene. Er bewegte sich nicht einmal. Er starrte aufs Wasser hinaus in Richtung des kleinen Hafens. Leevke folgte widerwillig seinem Blick.

Als größtes Schiff der Insel lag die Viktoria wie immer an der hölzernen Mole. Sie war wegen des aufziehenden Sturmes fest vertäut. Das sah Leevke nicht, das wusste sie. Doch nun schien sich die Viktoria langsam vom Molenkopf zu lösen. Einen Augenblick später wurde die Sturmfock hochgezogen und das schwere dunkle Schiff drehte sich leicht wie eine Feder in den Wind.

Der Wind briste auf und schickte einen kalten, fast waagerecht herniedergehenden Regen. Leevke war im selben Augenblick durchnässt. »Siehst du ihn, Willem?« Sie hatte die Hand über die Augen gelegt und versuchte, unter nassen Wimpern zu erkennen, ob es ihr Vater war, der mit der Viktoria losfuhr.

Willem nickte und ergriff ihren Arm. »Ich kann ihn nicht erkennen, aber ich weiß, dass nur er es sein kann. Niemand anders als er würde bei dem Wetter lossegeln.«

Leevke spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Er holt Hilfe vom Festland«, sagte sie leise. »Für meine Mutter.«

Als sie bei dem weißen Kapitänshaus ankamen, in dem Leevke ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, waren beide außer Atem und bis auf die Haut durchnässt. Willem hatte ihr auf der Hälfte des Weges seinen schweren schwarzen Seemannsmantel um die Schultern gelegt. Aber der hatte sich nur mit Wasser voll gesogen und war nun innen genauso nass wie außen.

Rund um das Haus herum herrschte bedrohliches Schweigen. Nicht einmal der Hund kam Leevke freudig bellend entgegen wie sonst immer. Bootsmann lag winselnd unter der hölzernen Außentreppe und hob nicht einmal seinen Kopf, als Leevke näher kam.

Willem wollte ihren Arm nehmen, als sie den dämmrigen langen Flur betraten, aber sie schüttelte ihn nur ab. Haltung, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Und eine andere sagte, nun hast du alles verloren.

Frau Ingwersen kam eben aus der Stube, in der sie schon in der Nacht ein Lager für die Mutter zurechtgemacht hatten. Trotz des schummrigen Lichtes sah Leevke, dass die Augen der herben alten Frau mit Tränen gefüllt waren. Im Arm trug sie ein kleines Bündel, das in eine weiße Decke eingeschlagen war. Leevke streckte die Hand aus und zuckte im selben Augenblick zurück.

»Sie hat ihn mit sich genommen«, stieß Frau Ingwersen mit erstickter Stimme hervor. »Es ist eben erst passiert. Sie hat ihn noch gesehen und mit einer Träne getauft, dann sind sie gegangen. Beide. Mutter und Sohn.« Die alte Frau beugte den Kopf und drängte sich mit dem Bündel an Leevke vorbei. »Ich habe die Wiege schon ins Kapitänszimmer gebracht. Wenn dein Vater zurückkommt, soll er den Jungen wenigstens einmal sehen.«

Leevke Magnussen stand im Flur ihres Elternhauses und stellte fest, dass die Zeit nicht stehen blieb und dass die Welt nicht unterging. Es war schlimmer.

2

Bis zu diesem Tag war das Leben von Leevke Magnussen sehr regelmäßig verlaufen, so regelmäßig, dass es ihr manchmal schon zu eintönig vorkam, verlässlich und ruhig wie das Ticken der mit Walen, Seehunden und Meeresungeheuern bemalten Pendeluhr, die der Vater als junger Mann aus Norwegen mitgebracht hatte und die jetzt in seinem Zimmer neben dem dicken braunen Friesensofa stand.

Als sehr kleines Mädchen hatte Leevke die stillen Nachmittage geliebt, in denen sie auf dem chinesischen Fußhocker im Kapitänszimmer saß und den Geschichten ihres Vaters lauschte, während die Mutter ihnen lächelnd zusah. Aber in letzter Zeit fragte sie sich immer öfter, ob sie nicht auch selbst einmal die fernen Länder bereisen könnte, von denen der Vater immer erzählte. Oder ob sie wenigstens ein einziges Mal eine Fahrt ans Festland machen könnte. In Bremerhaven, auf der anderen Seite des Wassers, legten die riesigen Segler an, die sie auch manchmal vom Strand aus beobachten konnte, wenn sie Kurs auf Amerika genommen hatten.

Seit der Vater nicht mehr in jedem Februar als Kommandeur auf einem der Amsterdamer Walfänger anheuerte und zu Beginn des Winters mit aufgerissenen Händen und scheinbar immer blaueren Augen zurückkehrte, führten sie ein beschauliches Leben. Magnussen trank nicht, so wie die anderen Seeleute das oft taten, und er sehnte sich auch nicht fortwährend nach seiner Zeit auf hoher See zurück. Er war mit seinen mehr als fünfzig Jahren ein recht alter Familienvater, und er wollte das Leben in seinem schmucken Häuschen und mit seiner kleinen Familie genießen, bevor die Gicht ihn ereilte oder irgendeine der anderen Krankheiten ehemaliger Seemänner.

Martin Magnussen hatte es mit Mut und Kraft und mit einer Reihe von besonderen Fähigkeiten zu einem gewissen Ruhm an der Küste und zu beachtlichem Wohlstand gebracht. Noch immer erzählten sich die Seeleute von Föhr bis Amsterdam von seiner Gabe, die Oberfläche des Meeres zu lesen, um Heringsschwärme, Wale, Schiffswracks oder gefährliche Untiefen zu erkennen. Und es verging kein Weihnachten, an dem nicht ein Brief von einem der Amsterdamer Reeder kam, der Magnussen noch einmal das Kommando auf einem Walfänger anbieten wollte.

Da er nun einmal keinen Sohn hatte, war Magnussen bemüht gewesen, einen Teil seiner Kunst an Leevke weiterzugeben. Oder war es doch eine Begabung, etwas, was man überhaupt nicht erlernen konnte? Wenn die Inselkinder in den letzten Sommertagen den Strand absuchten, um zu sehen, ob nicht einer der Sommerfrischler hier ein Geldstück verloren hatte, kam Leevke stets mit der größten Ausbeute zurück. Ihren Freunden erklärte sie immer, dass sie sich einfach vorstellte, wo genau ein Pfennig im Sand verschüttet war. Und dass es dann ganz leicht war, ihn auch zu finden. Wenn ihr Vater das hörte, brach er jedes Mal in so lautes Gelächter aus, dass sein ergrauender Bart zu wippen begann.

Magnussen musste nicht mehr zur See fahren und sich in Gefahr begeben, um Frau und Töchter zu ernähren und ihnen über Brot und Butter hinaus ein paar Annehmlichkeiten zu verschaffen. Es war ihnen immer gut gegangen und besonders Leevke nannte schon mehr Granatschmuck ihr Eigen als manche der älteren Frauen des Dorfes. Ihre Freundin Johanna bewunderte sie dafür so sehr, dass ihr buchstäblich die Spucke wegblieb, wenn die Mädchen gemeinsam über der kleinen Samtschatulle in Leevkes Zimmer saßen und sich die Anhänger aus Walknochen, die rot funkelnde Brosche oder die silberne Haarspange ansahen, die einst Leevkes Großmutter gehört hatte. Am schönsten aber war das Meeresherz, ein Gegenstand, von dem außer Johanna fast niemand auf der Insel etwas wusste. Der Vater hatte das herzförmige und kinderfaustgroße Bernsteinstück von seiner letzten Reise mitgebracht, nachdem er es in Spitzbergen einem baltischen Schiffsarzt abgekauft hatte. Es war wunderschön. In den klaren braunen Stein mit der Form eines Herzens war eine zarte, bis in alle Ewigkeit erstarrte Fliege eingeschlossen.

Angeblich besaß das Meeresherz heilende Kräfte, weswegen mancher dafür riesige Summen zu zahlen bereit war. Und es erfüllte den Menschen bisweilen auch ihre Wünsche. »Deine Mutter glaubt nicht daran, deswegen schenke ich es dir. Es soll dich beschützen«, hatte der Vater am Tag ihrer Konfirmation zu Leevke gesagt. »Und vielleicht führt es dich noch mal dahin, wohin du wirklich willst. Aber erzähle besser niemandem davon, dass du es hast. Ich möchte nicht, dass du eines Tages ein Speckmesser im Rücken hast, weil jemand das Meeresherz nötiger braucht als du!«

Neben dem Schmuck und den vielen kleinen Gegenständen aus geschnitztem Walbein, die der Vater immer von seinen Reisen mitgebracht hatte, durfte Leevke eine anständige Mitgift erwarten, wenn sie eines Tages einen der infrage kommenden Söhne der Insel heiraten würde. Oder würde sie gar einen der holländischen Kaufleute nehmen, die alle paar Monate auf der Insel vorbeischauten? Oder einen der bleichen Söhne der vereinzelten »besseren Leute« aus den Städten am Festland, die hier ihre Sommerfrische verbrachten, weil sie die gute Luft schätzten?

»Von unseren Jungs hier möchte man ja keinem wünschen, dass er sich mal mit dir abquälen muss«, sagte Frau Ingwersen immer, wenn Leevke wieder einmal die Zeit vergessen hatte, weil sie mit der Nase in einem Buch steckte. Oder wenn sie die Wäsche im Regen auf der Bleiche hatte liegen lassen, weil der Vater mit ihr in seinem Kapitänszimmer saß und seiner ältesten Tochter die Grundlagen des Englischen beibrachte, der Sprache der Seeleute.

Hauptsache, sie verliebte sich nicht eines Tages in einen Walfänger. Darauf hatte Leevkes Mutter immer bestanden. Denn die Frauen von Walfängern mussten fast das ganze Jahr lang alleine auskommen und lebten immer in Angst um ihre Männer. Rike Magnussen war während der langen Jahre, in denen sie auf ihren Mann wartete und ihre Sorgen in Berge voller bunter Tischdecken, Tücher und Gardinen einstickte, zu einer zarten, fast schon durchsichtigen Frau geworden, deren braune Augen tief in den Höhlen lagen. Es war eigenartig, dass sie bei einer so leichten Tätigkeit wie der Handarbeit ihre ganzen Kräfte verschlissen hatte. Nun reichten sie kaum mehr für ein müdes Lächeln oder einen leisen Seufzer, wenn Leevke laut rufend durchs Haus stürmte, um ihrem Hund einen Ball abzujagen.

Leevke liebte es, frühmorgens aufzuwachen, obwohl sie niemals die Erste war, die im Kapitänshaus munter wurde. Meist kündigte ein Hauch von Pfeifenduft an, dass der Vater schon in seinem Zimmer saß und in einem seiner dicken Bücher schmökerte. Wenn die ersten Sonnenstrahlen Leevkes Nase kitzelten, roch sie auch schon den Tee, den Frau Ingwersen frisch aufgebrüht hatte, damit Leevkes Mutter nicht in der Kälte aufstehen musste. Die Frau des Hauses und die kleine Ebba bekamen den Tee sogar ans Bett serviert. Leevke jedoch hielt es morgens so lange gar nicht in ihrem kleinen Zimmer mit den blau lackierten Wänden aus. Als Erstes musste sie morgens immer an die Luft, egal ob es stürmte oder schneite oder ob ein schneidender Wind ums Haus zog.

Als Leevke an diesem Oktobermorgen erwachte, war es still im Haus. Jemand hatte das Pendel der Uhr angehalten. Sie erinnerte sich, wie Frau Ingwersen sie am Abend zuvor gezwungen hatte, die beiden Spiegel mit schwarzen Tüchern zu verhängen, weil dies die Aufgabe des ältesten Verwandten eines Toten war. »Aber Papa kommt doch nachher vom Festland zurück«, hatte Leevke geflüstert. »Er kann das doch tun!«

Frau Ingwersen hatte ihr nur kurz übers Haar gestrichen und dann den Kopf geschüttelt. »Du musst jetzt tapfer sein, Kind.«

Draußen schlug der Regen ans Fenster, der Sturm war abgeflaut, aber der Wind hatte gedreht, und es schien kälter geworden zu sein. Leevkes weißes Leinenkissen mit dem geschwungenen Monogramm war nass geweint, das dicke Federbett lastete schwer auf ihr. Hatte sie vielleicht doch alles nur geträumt? Oder war wirklich ein Unglück über die Familie hereingebrochen? Und was war das für ein Geräusch?

Draußen graute ein kalter Morgen. Sie hatte Mühe, in dem dämmrigen Raum etwas zu erkennen. Die Tür zum Flur war nur angelehnt, doch auch von dort drang kein Lichtschein hinein, nichts. Da hörte sie wieder ein leises Schluchzen. Auf dem gehäkelten Bettvorleger lag eine kleine zusammengekauerte Gestalt.

»Ebba! Was machst du denn hier?« Leevke streckte die Arme aus und zog die kleine Schwester vorsichtig zu sich ins Bett. Leicht und fein wie ein Vogel war das kleine Mädchen, aber auch kalt wie der Regen draußen und fast genauso nass. Ihre langen blonden Haare waren verfilzt von Tränen. Das weiße Nachthemdchen, das die Mutter mit weißen Hasen und kleinen blauen Blütenblättern bestickt hatte, war klamm und verschwitzt. Das Kind schluchzte.

»Wie bist du hierher gekommen? Den ganzen Weg gekrochen?« Leevke fühlte, wie eine Woge von Liebe und Mitgefühl sie erfasste.

Ebba nickte und kauerte sich dichter an Leevke, die ein bisschen zur Seite rückte und das Federbett enger um ihre kleine Schwester schlang. »Ich will aber nicht, dass sie tot sind, Mama und der kleine Kerli. Und wo ist Papa? Frau Ingwersen hat gesagt, dass er wiederkommt, wenn der Sturm aufhört, aber nun hat er fast aufgehört, und er ist immer noch nicht wieder da!«

»Psst, ganz ruhig!« Leevke drückte die kleine Schwester an sich. »Du weißt doch, dass du nicht auf dem Boden im Flur herumrutschen sollst, es könnten sich Spleiße von den Dielen in deine Beine bohren, und dann kann sich die Wunde entzünden und dann... So lange, bis du eines Tages alleine laufen kannst, musst du uns rufen, wenn du etwas willst, hörst du?« Leevke hörte ihre eigene Stimme und fand sie unwirklich und fern. Aber die kleine Ebba nickte treuherzig und drückte sich näher an ihre große Schwester.

Leevke streichelte die zarte Stirn des kleinen Mädchens und strich ihr die Haare hinters Ohr, so wie die Mutter das immer getan hatte. Trotz ihrer fast acht Jahre war Ebba so zart und klein wie eine Vierjährige. Vom Nebenraum drang jetzt leises Gemurmel zu ihnen herüber. Die Nachbarinnen wechselten sich mit der Totenwache bei Rike Magnussen ab. Leevke hörte die Stimmen der beiden ältlichen Issing-Schwestern, schneidend und kalt, obwohl sie sich offenbar wenigstens Mühe gaben, nicht so laut zu reden wie sonst. Die Issings, zwei unverheiratete Schwestern und ein lediger Bruder, der es zum Inselvogt gebracht hatte, waren ihre nächsten Nachbarn. Trotzdem hatte Leevkes Mutter keinen nahen Umgang mit ihnen gepflegt. Man grüßte sich und half sich gegenseitig, wenn es sich gehörte, einander zu helfen. Ansonsten ging man einander möglichst aus dem Weg. Beide Issing-Schwestern galten als raffgierig. Diese Eigenschaft hatten sie zwar auch mit anderen Insulanern gemein, aber die Issings waren die Einzigen, denen es nicht einmal peinlich war, wenn sie sich beim Abendmahl in der Kirche vordrängelten. Oder wenn sie der uralten Almamöh ihre Hilfe aufdrängten und dafür deren Schafweiden im Osten der Insel überschrieben haben wollten. Gottlos hatte Leevkes Mutter die beiden stets gefunden.

Außerdem erkannte Leevke die warme, ruhige Stimme der Pastorsfrau. Sinje Saathoff war eine Zugereiste vom Festland, genau wie ihre Mutter es gewesen war, und sie spielte auch genauso gut Klavier. Die beiden dunkleren Stimmen waren die der Kaufmannsfrau Melchior und die Stimme von Frau Kattrepel, der Mutter von Willem und Simon. Sie waren jetzt auf dem Flur stehen geblieben, genau vor Leevkes Zimmertür.

»Wird wohl wirklich besser sein, wenn sie heute Nachmittag noch beerdigt werden«, flüsterte Anna Melchior. »Der Wind hat auf Ost gedreht. Wenn wir noch Eis und Schnee kriegen...«

»Und es ist auch für die Deerns besser, wenn die Toten schnell aus dem Haus kommen, sie sind ja ganz alleine hier«, antwortete Lisa Kattrepel.

Die brüchige Stimme, die sich nun zu Wort meldete, gehörte Metamöh, der Großmutter von Leevkes bester Freundin Johanna, einer Seemannswaisen. »Wenn der kleine Junge nicht getauft ist, kann er aber nicht mit in ihren Sarg, das bringt Unglück, sonst kriegen wir hier wieder eine große Flut!«

»Er ist notgetauft, das reicht. Und sie kriegt ihn in den Arm gelegt, so gehört sich das!«, wurde Metamöh nun von Frau Ingwersen beschieden, die als Haushälterin der Magnussens und als Hebamme des Ortes eine gewichtige Stimme hatte. »Das hab ich mit der Frau Pastor auch alles schon besprochen!«

Schritte erklangen und Leevke hörte wieder die beißende Stimme von Ilse Issing. »Kann ja auch nicht gut sein, mit fast vierzig noch ein Kind haben zu wollen. Und das, wo der andere kleine Wurm ja auch schon verkrüppelt ist. Was für eine Schande, sich so gehen zu lassen und Gott im Himmel so herauszufordern...!« Auch durch die geschlossene Tür hindurch war Ilse Issings Stimme die Empörung anzumerken. Und die Genugtuung.

Ebba drückte sich näher an Leevkes Schulter. »Ich will aber kein kleiner Wurm sein.«

Trotz ihrer Trauer spürte Leevke, wie eine kalte Wut auf die Issing-Schwestern in ihr hochstieg. Was bildeten diese alten Ziegen sich nur ein? Hatte ihre Mutter ihnen nicht mehr als einmal mit Mehl und Speck ausgeholfen, wenn die Vorräte des Landvogtes und seiner Schwestern wieder einmal zur Neige gegangen waren, weil sie vor lauter Gier nach Geld und Gut mit den kleinen Dingen nicht haushalten konnten? Und hatte sie sich nicht sogar damit ihrem Mann widersetzt, der die Schwestern verschwenderisch fand und Hilfe für sie unnütz? »Muss man sich keine bestickten Schuhe kaufen und sie im Regen am Strand anziehen, dann hat man im Januar auch noch was auf’m Brot«, war einer seiner stehenden Sprüche. »Und einen Mann zum Heiraten anlocken kann man damit ja auch nicht, wie man sieht!«

Leevke schlug die Bettdecke zurück, sprang aus den Federn und mummelte ihre kleine Schwester schnell wieder ein. »Du bleibst noch ein bisschen liegen, ich zieh mich schon mal an«, flüsterte sie und drückte Ebba einen Kuss auf die Wange.

Ebba nickte tapfer. »Und wann kommt Papa wieder?«

»Wir werden ihn bald wiedersehen«, murmelte Leevke, griff nach dem langen bestickten Rock, der ordentlich über dem Stuhl hing, und stopfte ihn in die weiße Kommode. Kleidung mit Blumenmustern würde sie lange nicht tragen dürfen. Leevke schloss für einen Moment die Augen und versuchte, sich vorzustellen, was ihre Mutter ihr in einem Moment wie diesem geraten hätte. Leevkes Mutter war eine zwar zarte, aber doch durch und durch realistische Frau gewesen. Und plötzlich war Leevke sich sicher, was sie gesagt hätte. Warum ziehst du nicht mein schwarzes Kleid an? Ich brauche es ja nun nicht mehr, und ich werde dich mit meiner Liebe umhüllen, während du es trägst.

Leevke unterdrückte ein trockenes Schluchzen und versuchte, ihrer Schwester ein tapferes Lächeln zu schenken. Doch Ebba hatte ihre Augen geschlossen, und ihre unruhigen Atemzüge zeigten an, dass sie in einen tiefen Erschöpfungsschlaf gefallen war.

3

In den folgenden Stunden hatte Leevke mehr als einmal das Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein. Immer weitere Frauen aus dem Dorf kamen vorbei, traten mit gesenkten Köpfen in den dunklen Flur, drückten Leevke ein kleines Geldstück in die Hand oder stellten eine Tonschale mit schwerem Butterkuchen auf den Tisch, der die Bewohner des Trauerhauses bei Kräften halten sollte. Dann betraten sie meist zu zweit oder zu dritt die vordere Stube, in der Rike Magnussen in ihrem einfachen Sarg aufgebahrt lag. Ihr Gesicht war eingesunken, die Augen lagen tief in den Höhlen. In ihrem linken Arm hielt sie Leevkes namenlosen kleinen Bruder, der mit seinem bläulichen Gesichtchen und der spitzen Nase aussah wie eine Porzellanpuppe.

Leevke konnte den Anblick ihrer toten Mutter und des kleinen Bruders kaum ertragen. Im Schein der flackernden Kerzen hatte sie immer wieder das Gefühl, dass die Lider der Mutter zitterten und dass sie gleich doch die Augen aufschlagen würde. »Mama«, flüsterte Leevke und berührte die wächserne Wange ihrer Mutter zart mit einer Hand. Doch im selben Augenblick spürte sie den festen Griff von Frau Ingwersen auf ihrer Schulter. »Musst das nicht tun, liebes Kind, du musst jetzt Haltung bewahren. Alle glauben, dass du das kannst!«

Als endlich der alte Boterius erschien und den Sargdeckel auflegte, verspürte Leevke fast schon eine Art Erleichterung. Ebba hatte fast den ganzen Tag verschlafen. Wie Leevke erfuhr, verdankte sie das einem Trunk aus Tausendgüldenkraut, dunklem Bier und Honig, den Frau Ingwersen ihr zwischendurch verabreicht hatte, damit sie ein wenig zur Ruhe käme. »Die Kleine leidet nur, wenn sie das alles mit ansehen muss. Ein noch nicht einmal achtjähriges Kind kann nicht verstehen, was hier passiert. Es ist vielleicht auch besser, sie verschläft die Beerdigung, hab ich mir gedacht!« Frau Ingwersen sah Leevke fragend an, so als ob sie als die Älteste jetzt über ihre Schwester bestimmen könnte.

Leevke biss sich auf die Lippen. Am liebsten hätte sie sich auch in den Schlaf geflüchtet. Oder sie wäre weit weggelaufen. Was verstand sie denn selbst von dem, was sich hier abspielte? War sie etwa mit einem Mal erwachsen geworden? Und wieso berichtete keiner der Männer etwas von ihrem Vater? Warum war er immer noch nicht zurückgekommen? Der Sturm war lange abgeflaut. Es musste doch schon lange eine Nachricht von ihm geben! Ob sie ihr etwas verschwiegen?

Sie hatte Willem gefragt, ob er etwas Neues wüsste, als er am Nachmittag die Ziegen gebracht und in den Stall gescheucht hatte, aber er hatte sie nur traurig angesehen und mit den Schultern gezuckt. Auch bei seiner Mutter Lisa Kattrepel war jede Frage vergeblich. Die Frauen der ehemaligen Walfänger hielten sich viel darauf zugute, nicht wie die Frauen der »Landjes« in Tränen auszubrechen, wenn ein Boot nicht zur rechten Zeit zurückkam. Sie stellten selbst keine Fragen und duldeten auch keine nach dem Verbleib von Schiffen. »Wenn du ein Schiff nicht mehr sehen kannst, denke auch nicht mehr daran. Wenn du den Mast wieder am Horizont auftauchen siehst, ist noch genug Zeit, um sich auf die Ankunft vorzubereiten«, sagten sie immer.

Am Nachmittag ließ der Regen nach, aber eine frühe Dämmerung senkte sich über das Kapitänshaus. Vor dem Haus sammelten sich mehr und mehr Dorfbewohner, um den Sarg von Rike Magnussen und ihrem neugeborenen Sohn abzuholen und um Leevke auf ihrem schweren Weg zum Dünenfriedhof zu begleiten.

Leevke hatte das schwarze dicke Kattunkleid aus dem Schrank im Flur angezogen, das sie kein einziges Mal an ihrer Mutter gesehen hatte. Trotzdem duftete der weiche Stoff immer noch nach Veilchen und nach einem exotischen Öl, das der Vater für die Mutter extra aus Hamburg hatte kommen lassen. Das Kleid war Leevke etwas zu lang, aber mit dem schwarzen Samtband um die Taille ließ es sich ein wenig nach oben raffen. Wie schmal die Mutter gewesen war! Leevke widerstand dem Impuls, das Abdecktuch auch nur für einen kleinen Moment von dem großen Spiegel im Flur abzuhängen und sich zu betrachten. Sie hatte Mühe, die Knöpfe des Miederteils über ihrer Brust zu schließen. Hoffentlich sah sie würdig genug aus und stolz. Haltung bewahren. Das war der Mutter immer wichtig gewesen. Leevke schluckte. Schon schossen wieder die Tränen in ihre Augen.

Ebba schlief immer noch in Leevkes großem Eisenbett. Magda, die älteste Schwester von Lisa Kattrepel, die bei jeder Bestattung in lautes Geschrei ausbrach und die deswegen als nicht beerdigungsfest galt, war von Frau Ingwersen angewiesen worden, an Ebbas Bett Wache zu halten und ihr eventuell noch etwas von dem Kräutersud einzuflößen, wenn sie aufwachte.

Als Leevke nach draußen trat, sah sie die kleine Menschenmenge. Fast alle erwachsenen Dorfbewohner hatten sich vor dem Haus versammelt. Einige hoben die Köpfe und nickten ihr zu, andere hielten ihre Gesichter in stummem Mitgefühl gesenkt. Aus dem Haus hörte man nun die kräftigen Hammerschläge, mit denen Boterius den Sarg zunagelte. Leevke hätte am liebsten geschrien und sich die Ohren zugehalten, aber weder ihre Hände noch ihre Stimme gehorchten ihr mehr.

Steuermann Kattrepel löste sich aus der Menge und trat auf Leevke zu. Er machte eine hilflose Geste mit seinen roten rissigen Händen, so als ob er Leevke stützen wolle, aber nicht könne. Dann jedoch sah sie, dass er nur seinen Sohn Willem nach vorn winken wollte, der in seiner neuen Sonntagsjacke und mit der Mütze in der Hand ganz fremd aussah.

Kattrepel räusperte sich. Seine hellblauen Augen waren von Tränen überschwemmt. Leevke wusste, wie sehr er ihrem Vater und ihrer Mutter verbunden war und dass er auch ihr, Leevke, immer eine besondere väterliche Zuneigung entgegengebracht hatte. Er war es gewesen, der Leevke das erste Mal das Ruder der Viktoria übergeben hatte, als sie eine kleine Ausfahrt auf See machten, um ein neues Segel auszuprobieren, und als sie glaubten, der Kapitän schliefe in seiner Koje. »Wenn du keine Deern wärst, hättest du auch einen guten Jungen abgegeben«, sagte Kattrepel immer. »Schade, dass wir hier nicht mehr auf Walfang gehen.«

Jetzt aber schien der Steuermann auf eine eigenartige Weise befangen zu sein. »Ich rede nicht um den Brei herum, ich sag es, wie es ist. Du weißt ja, dass Willem dich gern hat«, hob er an. »Aber zum Heiraten ist es noch zu früh. Du bist gerade man vierzehn und er ist ja erst sechzehn. Deswegen wollen meine Frau und ich dir anbieten, so lange bei uns zu wohnen, bis du in zwei Jahren sechzehn bist und alt genug, deinen eigenen Hausstand zu haben. Und bis Willem so weit ist.« Er sah Leevke mit einem kurzen Blick an. Einige der Dorfbewohner kamen etwas näher heran, damit sie nur ja nichts vom dem verpassten, was Kattrepel der selbstbewussten Kapitänstochter zu sagen hatte.

»Und die lüttje Ebba nehmen wir natürlich auch mit auf«, schloss er. »Ihr beiden Deerns sollt es gut bei uns haben. Ich wollte nur, dass du das vor der Beerdigung weißt, damit du dich nicht so alleine fühlst. Vielleicht ist es auch nicht für lange. Sobald wir Nachricht vom Kapitän haben...« Er sah seine Frau an und brach ab. »Jedenfalls liegt das alles in Gottes Hand. Und der Kapitän hat schon ganz andere Sachen überlebt als ein bisschen Wind vor der Insel!«

Leevke fühlte den Blick von Lisa Kattrepel auf sich ruhen und sah, dass sie ihr ein flüchtiges Lächeln schickte. Willem stand stumm neben seinem Vater. Er drehte seine Mütze in den Händen und blickte zu Boden. Er war bis hinter beide Ohren rot angelaufen. Sein jüngerer Bruder Simon, der jetzt hinter ihm stand, hatte Mühe, sich ein Grienen zu verkneifen, bis er den Blick seines Vaters auffing und kreidebleich wurde.

Leevke hatte das Gefühl, dass sich die Welt um sie zu drehen begann. Warum machten sie Pläne für ihr Leben? Konnte sie das nicht alleine tun? Und warum konnte nicht alles bleiben, wie es war? Sie wollte protestieren, aber ihre Lippen waren trocken, und anstelle eines Satzes entrang sich ihrer Kehle nur ein Schluchzer. Einige der Dorffrauen zogen ihre gestickten Taschentücher hervor und schnäuzten sich.

Die Dorfbewohner bildeten nun eine Gasse, denn Boterius, zwei ältere Fischer und der Landvogt trugen den Sarg ins Freie. Der Pastor schlug den Weg ins Dorf ein, wobei der Wind seinen schwarzen Talar aufblähte. Die Sargträger folgten ihm. Leevke spürte die Hand von Frau Ingwersen unter ihrem rechten Arm, kurz darauf hakte die Pastorsfrau sich auf der linken Seite bei ihr ein.

Wo nur Johanna war, Leevkes allerbeste Freundin? Sie hatte sie seit dem Vortag nicht gesehen und auch keine Kraft gefunden, Frau Ingwersen oder gar die alte Metamöh nach ihr zu fragen. Sonst kam Johanna fast jeden Tag auf einen Sprung vorbei. Obwohl sie fast zwei Jahre älter war als Leevke und manche Dörfler meinten, dass sie nicht eben der richtige Umgang für eine Kapitänstochter war, hingen die beiden Mädchen sehr aneinander. Johanna war eine unverbesserliche Frohnatur, dem Leben zugewandt und sehr direkt. Und Leevke fand sie unterhaltsamer als zum Beispiel Miranda und Mausi, die beiden ungleichen Pastorentöchter, von denen es ähnlich wie von Johanna hieß, dass sie schon mit den Männern kokettierten, die aber beim Sprechen vor lauter Dünkel die Zähne kaum auseinander bekamen, oder die Tochter des Lehrers, die immer nur ihr Wissen referierte.

Auch Leevkes Mutter hatte die süße und etwas pummelige Johanna seit vielen Jahren nur mit einem hilflosen Kopfschütteln bedacht. Sie hätte Leevkes Umgang mit dem älteren Mädchen zwar nicht von sich aus gefördert. Aber sie hielt sich viel darauf zugute, diese eigenartige Freundschaft auch nicht zu unterbinden. Leevke sollte sich ihre Freundinnen selbst aussuchen, fand sie. Nur so könne ihr Charakter sich formen. Nachdem sie sich einmal zu dieser Haltung durchgerungen hatte, wollte sie Johanna auch ordentlich, wie sie es nannte, behandeln. Dazu gehörte, dass Rike Magnussen immer wieder Kleider für sie geändert oder darauf geachtet hatte, dass Johanna endlich anfing, etwas für ihre Aussteuer zu nähen. Von Erfolg gekrönt waren diese Erziehungsversuche allerdings nicht. Während Leevke zwar wild, aber von Natur aus leicht belehrbar war, schien sich Johanna allen gut gemeinten Ratschlägen zu widersetzen. Sie sagte nicht Bitte und Danke, sie flunkerte gern, und sie hatte Leevke kürzlich sogar anvertraut, dass sie sich von einem der holländischen Seeleute einen Kuss auf die Wange hatte geben lassen und dafür eine Perlmuttspange geschenkt bekommen hatte. Über Leevkes Empörung lachte sie nur. Das sei doch alles ganz harmlos, erklärte sie der jüngeren Freundin. Die Frauen am Festland zum Beispiel würden über die strenge Moral der Insulanerinnen nur den Kopf schütteln.

Seit Johannas Vater, ein einfacher und leider dem Alkohol sehr zugetaner Fischer, auf See geblieben war, gab es außer der alten Metamöh keine Verwandten mehr, die sich um Johanna kümmern konnten. Ihre Mutter war nach ihrer Geburt am Fieber gestorben und sonst gab es keine weiteren Verwandten. Das jedoch schien Johanna nicht weiter zu stören. »Irgendwann wird alles besser«, das war einer ihrer schlichten Wahlsprüche, und Leevke wünschte, sie würde ihr ihn jetzt ins Ohr flüstern. Warum war Johanna nicht hier, um Leevke an ihre Brust zu drücken?

Die Männer hatten ihre Mützen abgenommen. Ihre Haare wehten im Wind. Jetzt setzten sie die Mützen wieder auf, schauten sich nach ihren Frauen um und setzten sich in Zweierreihen langsam hinter Leevke und dem Sarg in Bewegung.

Obwohl sie den Weg hunderte, vielleicht tausende von Malen gegangen war, sah Leevke die Dünenlandschaft und die einzelnen verstreuten Häuschen heute mit anderen Augen, so als würde die Trauer ihre Wahrnehmung schärfen. Die Insulaner hatten ihre Hühner und Enten eingefangen und in den Ställen eingeschlossen, damit sie mit ihrem Gekrähe und Geschnatter die Totenruhe nicht stören konnten. Jetzt lagen die kleinen Gärten, die zum Schutz vor dem Wind in ausgeschachteten Wiesen angelegt waren, in tiefer Stille.

Von Ferne hörte man schon die helle kleine Totenglocke, und Leevke wusste, dass es der uralte Arkohm war, der sie läutete, einer der wenigen Dorfbewohner, der es mit seiner Gicht nicht zum Kapitänshaus geschafft hatte, um Rike Magnussen eine letzte Ehre zu erweisen.

Am Dorfteich lagen die beiden kleinen Boote fest vertäut. Hier übten die Jungen des Dorfes das Ansteuern auf einen Wal. Hier hielten sie das erste Mal eine Harpune in der Hand, während ihre Freunde aus Leibeskräften auf das alte Polstersofa zuruderten, das am anderen Ende des Teiches halb im Wasser stand und den Wal darstellen sollte. Wenn sie glaubten, dass niemand sie beobachtete, hatten Willem und sein jüngerer Bruder Simon das Boot auch oft für Leevke über das Wasser dahinschnellen lassen, während Leevke am Bug stand und die hoch erhobene Harpune in Richtung Sofa in Stellung brachte. Sie war gut, besser als viele der Jungen. Und obwohl Kapitän Magnussen Leevke jedes Mal eine Standpauke hielt, wenn er wieder einmal von ihren Übungen erfahren hatte, schmunzelte er doch heimlich über die Leidenschaft seiner ältesten Tochter.

Als sie an die Hellerwiesen kamen, versuchte Leevke, auf die Spitzen ihrer schwarzen Schnürstiefel zu sehen und nicht zum Hafen zu blicken. Die drei Masten der Viktoria waren sonst ein solch vertrauter Anblick an der kleinen Anlegestelle. Seit Martin Magnussen nur noch kleinere Fahrten unternahm, dienten die drei Masten des größten Seglers der Insel vielen kleineren Schiffen als Orientierung. Ohne die Viktoria indes sah der Hafen verwaist aus und traurig. Obwohl sie die Gesichter der Fischer nicht sehen konnte, spürte Leevke doch, dass alle das Gleiche dachten.

Sie hatten den Friedhof erreicht. Leevke hatte an diesem Tag schon mehrfach versucht, sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn sich der Sarg der Mutter ins Grab senkte, und sie war schon bei der bloßen Vorstellung in Tränen ausgebrochen. Die Wirklichkeit war jedoch weit schlimmer. Der Pastor konnte mit seiner kurzen Ansprache und der Aussegnungsformel kaum das Schluchzen der Frauen und das Schniefen der Männer übertönen, und als die rauen Stimmen gemeinsam das Vaterunser sprachen, versagten Leevke zuerst die Stimme und kurz darauf fast die Beine. Doch Frau Ingwersens Griff an ihrem Arm war eisenhart.

Und doch ertrug Leevke Magnussen das alles. Sie ertrug, wie der Sarg ihrer Mutter und ihres neugeborenen Bruders an den beiden Tauschlingen in die Tiefe gelassen wurde und wie der Pastor die ersten drei Hände voll Sand darauf warf. Sie schaffte es, allein und ohne Stütze ans Grab zu treten und »tschüs, Mama« zu sagen, woraufhin das Schluchzen der Frauen noch heftiger wurde. Sie versuchte, nicht an ihren Vater zu denken und daran, ob er wohl mit der Viktoria untergegangen war. Und sie überhörte die Trostformel des Pastors, der sagte, dass Rike Magnussen und Martin Magnussen vielleicht schon im Himmel wieder vereint wären. Leevke streckte die Hand aus und ließ sich kondolieren. Sie ließ sich an raue Seemannsjacken drücken und an ärmliche Wolltücher. Sie stand einfach da und wünschte, dass sie auch tot wäre. Tot oder weit, weit weg von hier.

4

In den folgenden Wochen war Leevke wie betäubt. Frau Ingwersen, die normalerweise abends nach Hause ging, hatte angeboten, in den ersten beiden Wochen der Trauerzeit im Kapitänshaus zu übernachten, so lange, bis sich die Dinge wieder beruhigt hatten, wie sie sagte. Sie versorgte Leevke und die kleine Ebba wie bisher, kochte und hielt den Haushalt in Ordnung, aber irgendwie war doch alles anders geworden.

Auch wenn die Mutter morgens immer lange mit ihrer Teetasse in den Händen im Bett gesessen und sich nicht an der Morgenarbeit im Haus beteiligt hatte, fehlte sie Leevke in jeder einzelnen Minute. Sie dachte an das zarte Lächeln der Mutter und wie es sich angefühlt hatte, wenn sie mit ihrer kleinen kühlen Hand über Leevkes Wangen strich. Allein der Gedanke an ihre weiche Stimme schnürte Leevke die Kehle zu.

An ihren Vater indes mochte Leevke gar nicht erst denken. War er nicht schon oft so lange weg gewesen? Und hatte es nicht viele Zeiten gegeben, in denen sie nicht wussten, wo er war und ob er vielleicht in Gefahr schwebte?

»Zur Seemannsfrau muss man eben geboren sein!«, sagte Frau Ingwersen immer und wischte jeden Tag die aus Walbein geschnitzte und verzierte Tabaksdose im Zimmer des Kapitäns, so als könne er gleich zur Tür hereinkommen und sich eine Pfeife anstecken. Ihr Mann Hinnerk hatte sie bereits im ersten Jahr ihrer Ehe zur Seemannswitwe gemacht und sie zudem mittellos zurückgelassen. »Das halten die Frauen vom Festland gar nicht aus! Das Trauern nicht und das Armsein auch nicht. Aber wir hier sind ja wohl aus einem anderen Holz!«

Also versuchte Leevke, sich zusammenzureißen. Sie brauchte fast ihre ganze Kraft dafür, etwas Haltung zu bewahren und die Besuche der Nachbarinnen zu überstehen, die in der ersten Zeit täglich mit einem Topf Suppe, mit einem Band getrockneter Apfelringe oder mit einer Schale Milchbrei vorbeikamen. Das ging so lange, bis Frau Ingwersen den Frauen verbot, unangemeldet im Flur zu erscheinen, und sie mitsamt ihrer Gaben wieder ins Dorf zurückschickte. »Sollen die sich doch zu Hause ausweinen«, war ihr einziger Kommentar. »Wir hier können uns das nicht auch noch anhören!«

Leevke hatte die ersten Tage nach der Beerdigung damit verbracht, gemeinsam mit Frau Ingwersen zwei weitere dunkle Kleider ihrer verstorbenen Mutter auf ihre Größe zu ändern. Danach aber saß sie stundenlang am Fenster und blickte in den Regen hinaus. Manchmal erschütterte noch ein tiefer Schluchzer ihre Brust, aber weinen konnte sie schon lange nicht mehr. Es war, als wären alle Tränen in ihr versickert.

Ebba hatte zwei Tage lang Fieber gehabt, sich dann aber erstaunlich schnell wieder erholt. Manchmal fragte sie nach der Mutter. Aber wenn Leevke ihr erklärte, dass Mama nun im Himmel sei und es da viel besser habe als hier auf Erden, dann nickte das kleine Mädchen verständig und spielte wieder mit den hölzernen Garnrollen der Mutter, die in diesen Tagen ihr liebstes Spielzeug geworden waren.

In der Woche nach der Beerdigung kam Willem vorbei und brachte ein Puppenhaus für Ebba, von dem er sagte, dass er selbst es aus dem Holz einer am Strand angetriebenen Teekiste gebaut hatte. Leevke fand, dass Ebba eigentlich schon etwas zu groß für ein Puppenhaus war, aber als sie sah, wie Ebbas Augen aufleuchteten, verkniff sie sich eine Bemerkung. Zum Haus gehörten auch drei Stoffpüppchen, die offenbar das Werk von Lisa Kattrepel waren. Die drei fingerlangen Püppchen stellten einen Mann, eine Frau und ein Kind dar, und Leevke fand, dass besonders der Mann mit seinem hellen Baumwollgesicht eine verdächtige Ähnlichkeit mit Willem hatte, während sie an den feuerroten Garnhaaren der anderen Puppe erkannte, dass diese offenbar sie selbst darstellen sollte.

Ihr gegenüber war Willem immer noch so befangen wie bei der Beerdigung. Er schwieg, lächelte Leevke schüchtern zu und stellte das Puppenhaus vor Ebba auf den Boden. Ebba nickte begeistert und begann sofort, die Püppchen im Haus auf und ab wandern zu lassen.

Zwei Wochen vor Weihnachten bekam Leevke erstmalig wieder Besuch von Johanna. Leevke hatte den ganzen Morgen lang in ihrer Kammer gesessen und den alten Chronometer angestarrt, den schon lange niemand mehr benutzte. Als die Tür aufflog und Johanna hereinkam, sprang sie auf und fiel der Freundin in die Arme.

»Wo warst du so lange? Ich hab so auf dich gewartet!«

Johanna drückte Leevke fest an sich und hielt sie kurz darauf auf Armabstand von sich weg. »Du siehst blass aus, dagegen müssen wir mal etwas tun!«

Leevke nickte und ließ sich wieder in die Arme der Freundin sinken. »Warum bist du nicht früher gekommen?«

Johanna ließ sich mit ihrem ganzen Gewicht auf Leevkes Bett fallen, dessen Gestell sofort einen Quietscher von sich gab. Obwohl Johannas Gesichtsausdruck ernst war, hatte sie stets Lachgrübchen in den frischen Wangen, und ihre hellen Augen leuchteten. »Ich hatte Angst, dass du mich etwas fragst, was ich dir nicht sagen sollte.« Sie zog Leevke an der Hand näher zu sich heran und umschlang sie mit ihren weichen Armen. »Aber jetzt halte ich es ohne dich nicht mehr aus!«

»Hast du was über meinen Vater gehört?«

Johanna nickte ernst. »Am Tag der Beerdigung schon. Mittlerweile wissen es alle im Dorf, aber ich hab es schon ganz früh erfahren. Am Ostende von Baltrum sind Planken von der Viktoria angetrieben. Einer von den Muschelfischern hat sie hergebracht, und die Männer sind sich alle ganz sicher, dass das Planken vom Schiff deines Vaters sind. Die Ingwersen hat mich beschworen, es dir nicht zu sagen, weil sie Angst hatte, dass das sonst zu viel für dich wird, aber ewig kann ich nicht den Mund halten.«

»Was für Planken? Es kann doch eine Planke herausbrechen, ohne dass ein Schiff gleich sinkt. Und muss ja nicht heißen, dass er ertrunken ist, oder? Er kann schwimmen. Er ist stark. Er ist sogar vor Spitzbergen schon mal über Bord gegangen und hat das überlebt!« Leevkes Stimme war so laut, dass einen Moment später Frau Ingwersen den Kopf zur Tür hineinsteckte. Ihre braunen Augen blickten besorgt, und ihr schien sofort klar zu sein, dass Johanna geplaudert hatte. »Musstest du der Deern das erzählen? Musstest du dich wieder mal wichtig machen, Johanna Stewensen? Nur weil du mit den Muschelfischern herumpoussierst, musst du nicht glauben, dass du alles besser weißt als die anderen!«

Johanna sah Frau Ingwersen direkt ins Gesicht. »Was ich erzähle und was nicht, ist doch wohl meine Sache!«

»Das glaubst du auch nur, Johanna Stewensen. Du bist nicht allein auf dieser Insel und du kannst nicht plötzlich neue Regeln erfinden. Wenn jemand in Trauer ist, dann muss er geschont werden, das weißt du ganz genau.«

Leevke hörte sich den Ärger von Frau Ingwersen an und entgegnete dann ruhig und leise: »Ich bin froh, dass Johanna es mir erzählt hat. Warum hat mir das keiner von euch gesagt?«

Frau Ingwersen trat einen Schritt auf Leevke zu und strich ihr über die Haare. »Weil wir gedacht haben, dass du es nicht verkraftest, du bist doch eigentlich auch noch ein kleines Mädchen, und weil dein Vater nicht gefunden worden ist. Du weißt genau, dass der Onkel von Arkohm damals dreizehn Jahre auf See vermisst war und dann eines Tages plötzlich wieder in der Küche seiner Frau stand und fragte, ob der Tee fertig ist!«

Diese alte Geschichte kannte Leevke sehr genau. Jedes Insulanerkind kannte sie. Leevkes Vater allerdings hatte immer gemutmaßt, dass man sie sich auf den anderen Inseln mit anderen Namen erzählte, und er meinte sogar, eine ähnliche Erzählung mal in Shanghai gehört zu haben. »Wenn die Menschen denn immer die Hoffnung brauchen...«, war sein einziger Kommentar dazu gewesen.

Frau Ingwersen blickte Johanna wieder verärgert an und setzte sich auf den kleinen Holzstuhl. »Vielleicht ist es ja ganz gut, wenn alles mal raus ist. Ich muss sowieso noch mit dir reden, Kind, auch wenn’s mir schwer fällt. Jetzt wo dein Vater mir ja keinen Lohn mehr zahlt und der Winter noch lang wird...«

Johanna wippte auf dem Bett. »Da wollen Sie hier Leine ziehen, was?«

Frau Ingwersen schluckte. »Der Pastor und seine Frau haben mir eine gute Stelle mit ordentlicher Bezahlung angeboten. Ich musste sie annehmen, Leevke. Es ist die einzige Arbeit, die ich hier auf der Insel bekommen kann. Sonst müsste ich ans Festland gehen und dann könnte ich gar nicht mehr nach euch sehen!«

»Aber wie soll denn das gehen?« Leevkes Kehle war trocken. Sie schluckte. »Und wer kümmert sich um Ebba? Und um mich? Oder muss ich jetzt schon erwachsen sein?«

Frau Ingwersen sah Leevke einen Moment lang an. Die Fältchen um ihre früh gealterten Augen zuckten. »Du hast doch gehört, was sie dir bei der Beerdigung angeboten haben. Du und Ebba, ihr werdet dann wohl bald zu Steuermann Kattrepel ziehen. Willem hat es dir ja schon gesagt. Ich habe mit dem Vogt gesprochen und versucht, die Vormundschaft für euch beide zu bekommen. Aber du weißt ja selbst, dass ich als Frau das nicht kann. Vogt Issing sagt, dass es um euer Wohl geht und dass ihr in einer Familie leben sollt, und da hat er Recht.« Sie lächelte aufmunternd. »Die zwei Jahre, bis du sechzehn bist, vergehen schnell, das wirst du sehen. Und dann hast du bald auch schon deinen eigenen Hausstand und kannst schalten und walten, wie du willst. Willem ist ein guter Junge. Keiner in der Familie trinkt zu viel Bier. Oder wäre dir Simon lieber? Das munkeln die Leute im Dorf. Dann solltest du es aber bald sagen, damit du Willem das Herz nicht unnötig schwer machst!«

Johanna, die auf Leevkes Bett saß, ließ ein schrilles Lachen hören. »Sie soll sagen, welchen von den beiden Tranpaddeln sie nimmt? Das kann man doch keine Wahl nennen! Außerdem ist Leevke erst vierzehn Jahre alt. Wir sind hier nicht im Orient!«

Leevke hatte Johannas Arm abgeschüttelt und war langsam aufgestanden. Aus dem kleinen Fenster konnte sie fast den ganzen Weg hinunter ins Dorf sehen. Über einigen Häusern ringelte sich ein bräunlicher Qualm. Es war kälter geworden, und viele der Dorfbewohner waren schon an ihre Vorräte an getrocknetem Ziegendung gegangen, einem erstaunlich wohlriechenden und ergiebigen Brennmaterial. »Vater hatte genug Gold auf der hohen Kante und auch eine Schiffsbeteiligung von der Partenreederei in Amsterdam, auf dem Walfänger, auf dem er zuletzt gefahren ist. Ich weiß, wo er die Papiere aufbewahrt, er hat sie mir alle gezeigt. Ich kann nach Amsterdam schreiben und Ihnen dann Ihren Lohn geben!«

Frau Ingwersen schüttelte traurig den Kopf. »Du bist doch eben erst vierzehn Jahre alt, Kind. Du kannst nicht an das Vermögen deines Vaters gehen. Der Landvogt Issing wird wohl dein Vormund werden, bis du verheiratet bist. Oder bis du 21 bist und volljährig, falls du es doch schaffst, wirklich alle jungen Männer in die Flucht zu schlagen.« Sie versuchte ein Lächeln.

Leevke hatte nur den Namen Issing gehört. »Der alte Stiesel? Mit seinen beiden knochigen Schwestern? Ausgerechnet die sollen auf unser Geld aufpassen? Das hätte mein Vater nie so gewollt! Issing ist ein Nichtsnutz, das hat mein Vater immer gesagt!« Sie spürte selbst, wie das Blut in ihren Schläfen klopfte.

Johanna war aufgestanden und legte ihr beruhigend einen Arm um die Schultern. »Metamöh hat gesagt, dass du gern auch bei uns wohnen kannst. Unser Haus ist zwar einfach...«, sie warf Frau Ingwersen einen funkelnden Blick zu, »aber dafür lassen wir dich nicht im Stich und wollen dich auch nicht verkuppeln.«

Frau Ingwersen stand seufzend von dem kleinen Holzstuhl auf. »Ich wollte nicht, dass du dein Elternhaus verlassen musst, Leevke, das kannst du mir glauben. Ich habe sogar angeboten, hier für euch ohne Lohn und nur gegen Kost und Logis weiterzumachen, bis der Herrgott meine Augen schließt. Aber der Landvogt hat anders entschieden. Er will nicht, dass ich hier bleibe. Das Haus soll geräumt werden und ihr beiden sollt in die Obhut einer Familie kommen. Wir können alle nichts gegen ihn machen. Ihr beiden Mädchen habt keine Verwandten mehr und er hat hier das Sagen.« Sie zögerte einen Moment. »Wenn ich ehrlich sein soll, ich mochte ihn auch nie, genauso wenig wie deine Mutter und dein Vater. Aber bei den anderen Insulanern genießt er keinen schlechten Ruf. Er ist geschäftstüchtig, und er sagt, was er denkt, das kommt gut an. Du kannst dich nicht ganz alleine gegen ihn stellen, nur mit einer mausearmen Seemannswitwe an deiner Seite und mit...«, sie ließ ihren Blick zu Johanna schweifen, »einem frühreifen Mädchen mit zweifelhaftem Ruf als deiner Freundin.«

Frau Ingwersens graue Augen füllten sich vor Bedauern mit Tränen. Leevke sah, dass sich die knochigen Hände der Haushälterin in den Stoff ihrer Schürze krallten. »Ich habe dich zur Welt geholt, Leevke, und geholfen, dich großzuziehen, und ich liebe dich, als wärst du mein eigenes Kind. Ich habe alles versucht. Ich kann Ebba und dich nicht beschützen. Ich habe leider kein Recht dazu.« Dann ging sie leise aus dem Zimmer und schloss behutsam die Tür hinter sich.

5

Leevkes und Ebbas Umzug fand am letzten Tag im Oktober statt. Schon seit Anfang des Monats war es fast täglich kälter geworden, denn der Wind kam nun stetig aus Osten. Vor der Insel fiel das Watt bei Ebbe jetzt länger trocken als gewöhnlich, und einige der Insulaner befürchteten, dass es bald vereisen würde und sie dann für Tage oder Wochen vom Festland abgeschnitten wären, so wie das fast in jedem Winter passierte. Schon jetzt konnten nur noch die Plattbodenschiffe von dem kleinen hölzernen Anleger loskommen, und manche der Fischer, die trotz der kalten Temperaturen noch hinausfahren wollten, mussten durch das Seegatt direkt zur Nordseite der Insel gehen und dort im tieferen Wasser fischen, eine Kraft raubende und gefährliche Angelegenheit, die viel Erfahrung erforderte.

Frau Ingwersen hatte den ganzen Tag lang geholfen, Leevkes Habseligkeiten in zwei Körbe zu verpacken. Viele persönliche Sachen konnte sie nicht mitnehmen zu den Kattrepels, denn das Haus des Steuermanns war erheblich kleiner als das des Kapitäns.

Am Nachmittag erschienen Willem und Simon mit einem flachen Handwagen, um die vielen Vorräte abzuholen, die Frau Ingwersen den Sommer über angelegt hatte. Die Issing- Schwestern kamen in die große Küche und behaupteten, dass Leevkes Mutter ihnen für den Winter getrocknete Äpfel und Birnen, einen Topf mit Käse, einen Sack grauer Erbsen und einen geräucherten Ziegenschinken versprochen habe. Außerdem, so meinten sie, müsse ja der Landvogt, ihr Bruder, auch etwas dafür bekommen, dass er nun Leevkes Vormund sei. Nichts im Leben sei schließlich geschenkt. Da Leevke ja kein Geld habe, wären sie entgegenkommenderweise auch mit Naturalien zufrieden. »Da muss das Fräulein Kapitänstochter sich eben etwas umgewöhnen«, erklärten sie gehässig. Isse Issing hingegen, der Landvogt, ließ sich überhaupt nicht im Kapitänshaus blicken.

Johanna verzog das Gesicht. »Lass die alten Hühner doch reden«, sagte ihr Blick. »Nimm es einfach hin, wie es ist.«

Aber das tat Leevke nicht. »Ich glaube nicht, dass meine Mutter Ihnen irgendetwas versprochen hat«, sagte sie und wunderte sich selbst darüber, wie fest ihre Stimme schon wieder war. »Und ich finde es auch nicht sehr christlich, zwei Waisenkindern ihre Vorräte wegzunehmen!«

Ilse Issing, die Ältere der beiden, schnappte nach Luft. »Das muss ich mir von dir nicht anhören. Mein Bruder ist der Landvogt!«, rief sie. »Du wirst schon sehen, wohin es mit dir geht, wenn du weiterhin solchen Umgang pflegst!« Sie wies mit ihrem knochigen Finger auf Johanna. »Verdorben seid ihr alle. Kein Wunder, dass Gottes Strafe über deine Familie gekommen ist!«

Leevke ballte die Fäuste. Sie war kurz davor, auf Ilse Issing loszugehen, und tatsächlich wich die hagere alte Frau auch bereits zurück. Doch dann spürte Leevke, wie Johanna ihre Oberarme festhielt, und gab auf.

»Das wird ein Nachspiel haben!«, schnappte Ilse Issing im Hinausgehen, und ihre Schwester nickte bekräftigend.

Frau Ingwersen, die das Ganze vom Flur her mit angehört hatte, schüttelte den Kopf. »Kindchen, wie wild du schon wieder bist.« Sie lächelte gequält. »Es ist gut, dass dein Lebensmut wieder zurückkehrt. Aber zu Erwachsenen darfst du trotzdem nicht so frech sein. Auch nicht zu den Issing-Schwestern, egal wie sie selbst sind. Du willst dich mit denen doch nicht auf eine Stufe stellen? Und außerdem will der Landvogt sich doch jetzt um euch kümmern. Da musst du erst einmal abwarten, wie das wird. Nicht gleich gegen angehen!« Sie strich Leevke eine der langen, sich schon wieder wütend kringelnden Locken aus dem Gesicht.

Leevke spürte dennoch, wie der Widerstand in ihr wuchs. »Eigentlich muss für mich und Ebba überhaupt niemand sorgen. Mein Vater hat mir genug Vermögen hinterlassen. Das hab ich überhaupt nicht nötig!«

Früher hatte Frau Ingwersen immer mit einem Lächeln auf Leevkes Temperamentsausbrüche reagiert. Das tat sie auch jetzt. Aber diesmal war ihr Lächeln traurig.

»Ich weiß das doch, mein Kind«, sagte Frau Ingwersen nur. Damit ging sie wieder in eine der hinteren Kammern, um die getrockneten Bohnen von der Decke abzunehmen, die dem Scharfblick der Issing-Schwestern offenbar entgangen waren.

»Beim Klabautermann, hat die sich aber ihren Schneid abkaufen lassen!«, stieß Johanna hervor, lachte jedoch im gleichen Augenblick schon wieder. »Und wen findest du jetzt netter? Willem oder Simon? Oder willst du erst den einen und dann den anderen probieren?« Johanna lachte und ihre weißen Zähne blitzten.

»Johanna! Rede nicht so! Wenn das einer hört!« Leevke schüttelte den Kopf.

»Ich HAB es schon gehört«, sagte in diesem Moment eine Jungenstimme hinter ihnen. Leevke schnellte herum und sah in die hellen Augen von Willem, die erstmals seit Tagen nicht verlegen zu Boden sahen, wenn sich ihre Blicke trafen. »Ich finde, du nimmst einfach mich. Simon ist viel zu schwach für dich. Der bibbert schon vor Angst, dass du ihn wieder über Bord werfen willst, so wie damals!«

Leevke sah ihn eine Weile an. »Ich weiß nicht genau, ob du nicht auch zu schwach für mich bist«, sagte sie dann. »Aber das muss ich ja wohl nicht jetzt entscheiden, oder?« Die Wut in ihrer Stimme war deutlich. Johanna kicherte.

Willem schüttelte enttäuscht den Kopf und machte sich daran, eine Reihe von Schmalztöpfen in eine Holzkiste zu stellen. »Es tut mir sehr Leid, ich wollte nur einen Spaß mit dir machen, um dich etwas aufzumuntern, war vielleicht nicht der richtige Augenblick!«

Als sie endlich alles verstaut hatten, war es doch mehr Hausrat geworden, als sie gedacht hatten, und Willem kündigte an, lieber zweimal den Weg ins Dorf und zurück zu machen, anstatt den Karren zu überladen. Der nächste Radmacher war in Carolinensiel am Festland. Bei dem eisigen Wetter würde niemand dorthin fahren können, um ein Holzrad auszubessern. Und wenn, so erklärte er, würde der Radmacher den kleinen Auftrag vielleicht nicht einmal annehmen wollen. Seit auf der Krim ein Krieg ausgebrochen war, trieben viele der Carolinensieler Kaufleute in den Krisengebieten Handel, der sie manchmal über Nacht zu reichen Leuten machte. Willem sagte, dass er Zweifel hatte, ob sich »einer von denen«, wie er sie nannte, noch an ein Holzrad machen würde.