Die Teeprinzessin - Hilke Rosenboom - E-Book

Die Teeprinzessin E-Book

Hilke Rosenboom

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine große Liebe und ein fesselndes Abenteuer zur Zeit der Opiumkriege!

Als Junge verkleidet, schifft sich die 15-jährige Betty Henningson nach Kanton ein, um dort eine Teelieferung entgegenzunehmen. Als entdeckt wird, dass sie ein Mädchen ist, muss sie in Kalkutta von Bord und schlägt sich nach Darjeeling durch. Dort trifft sie ihre große Liebe, den jungen Teehändler John Francis Jocelyn, wieder. Seine Mutter, eine ehemalige chinesische Hofdame, regiert die chinesische Teemafia – und die ist hinter dem Tee her, den Betty erworben hat ...

• Mitreißende Handlung, die an die attraktivsten Schauplätze Asiens führt (Shanghai, Darjeeling, Kanton)
• Rosenbooms erstes Jugendbuch, »Das falsche Herz des Meeres«, wurde als bester Liebesroman 2006 nominiert

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 611

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
 
ERSTES BUCHES – Das Zeichen des Mondes
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
 
ZWEITES BUCH – Die Stunde des Mars
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
 
DRITTES BUCH – Das Geheimnis des Merkur
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
 
VIERTES BUCH – Das Meer des Jupiter
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
 
FÜNFTES BUCH – Die Tage der Venus
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
 
SECHSTES BUCH – Der Kampf des Saturn
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
 
SIEBENTES BUCH – Die Zeit der Sonne
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
 
Copyright
Reisen ist besonders schön, wenn man nicht weiß, wohin es geht. Aber am allerschönsten ist es, wenn man nicht mehr weiß, woher man kommt.
LAO TSE
ERSTES BUCHES
Das Zeichen des Mondes
Die Tochter des Silberschmieds
Seehafenstadt Emden, Montag, den 31. Mai 1858,früher Morgen, bis Hansestadt Hamburg,Dienstag, 18. März 1859, später Abend.
1
Ping, ping, ping, ping. Das Klopfen des Silberhammers klingelte in ihren Ohren, noch bevor sie die Augen aufgeschlagen hatte. Draußen glitzerte eine milchige Sommersonne und schickte ihre Strahlen durch die Lochstickereien der weißen Gardinen bis in ihr Gesicht. Trotz der frühen Stunde war es schon warm. Winzige Staubkörnchen flirrten durch die Kammer. Unter dem dicken Federbett mit dem fast starren weißen Leinenbezug war es kaum noch auszuhalten. Betty Henningson reckte sich und stellte zufrieden fest, dass sie bereits mit der ganzen Fußsohle das hölzerne Fußteil des Bettes berühren konnte.
Sie streckte die Arme aus und drückte fest gegen das Kopfteil, so als wolle sie das Bett auseinanderdrücken. Es knackte leise. Sie war groß für ihre vierzehneinhalb Jahre, fast schon so groß wie ihr bester Freund Anton.
Ping, ping, ping, ping. Betty hielt sich die Ohren zu. Natürlich drang das feine Klingen der Silberhämmer trotzdem in ihren Kopf. Warum musste sie jeden Morgen vom Schlagen der Silberhämmer aufwachen? Warum konnte es in diesem Haus fast niemals still sein? Betty richtete sich seufzend auf und suchte mit den Füßen nach ihren Holzpantinen.
Viele der Mädchen in der Schule hatten sie darum beneidet, dass sie die Tochter eines Silberschmieds war. Bettys silberne Haarspangen waren die schönsten der ganzen Schule gewesen. Und die größten. Wahrscheinlich hätte man ihre dicken Locken auch gar nicht anders bändigen können als mit einer Metallschließe. Die anderen Mädchen hatten immer nur Hornspangen im Haar getragen, aber dafür konnten sie morgens schlafen, bis der Hahn krähte. Oder bis ihnen die Magd einen Tee brachte. Betty nicht. Betty wachte immer von dem gleichen Geräusch auf. Ping, ping, ping, ping.
Es war fünf Uhr. In der Schmiede fing die Arbeit neuerdings um 5 Uhr an, statt um 6 Uhr, was Betty allerdings auch schon immer früh vorgekommen war. Der frühe Arbeitsbeginn lag aber nicht etwa daran, dass sie so viel zu tun hatten. Sie hatten immer gleich wenig zu tun, seit Jahren schon. Der frühe Arbeitsbeginn hing damit zusammen, dass Elkhuber, der neue Wandergeselle aus dem Schwäbischen, als Lehrling im Betrieb seines eigenen Vaters auch stets so früh mit der Arbeit angefangen hatte und sich nicht umstellen wollte. In Gmünd nämlich florierten die Geschäfte. Halb Bayern und halb Österreich ließ sich dort Silberwaren schmieden. Zumindest war es das, was Elkhuber immer verkündete. Der hagere junge Mann mit dem Pferdegesicht war niemand, dem man gern zuhörte, und sicher war er auch niemand, den man gern für sich arbeiten ließ. Aber Elkhuber war der erste Wandergeselle seit vielen Jahren gewesen, der mit seinem Wanderstab an die Werkstatttür von Berthold Henningson geklopft hatte. Was hätte man anderes tun sollen, als ihm Kost, Logis und Arbeit zu bieten, so wie es der Sitte der Silberschmiede entsprach?
Die Hafenstadt Emden schien den Frühsommer des Jahres 1858 zu verschlafen. Es war warm und alles schien zu dösen. Sie alle hatten schon bessere Zeiten gesehen. Doch seit in China wieder ein Opiumkrieg herrschte, kamen kaum noch Waren in der Hafenstadt an, und die Bürger hatten einen Igel in der Hosentasche, wie Bettys Vater es immer nannte, wenn Kunden nicht gern nach ihrem Geldbeutel greifen mochten. Es war in allen Gewerben dasselbe.
Seit dem Frühling saßen auch die Arbeiter am Kai fast den ganzen Tag lang auf Holzkisten und starrten übers Meer. Viele der jungen Kapitäne blieben lange fort, weil es schwierig geworden war, in Ostindien Waren zu laden. Die alten Kapitäne hockten in ihren guten Stuben, schmauchten ihre Pfeifen und haderten mit dem Leben. Zumindest aber bestellten sie zurzeit keine schweren silbernen Tafellöffel und keine Aussteuerbestecke für ihre hochnäsigen Töchter.
Hinter ihnen lag ein Winter der Stürme. Allein drei Emder Kaufmannsfamilien hatten jeweils ein Schiff und einen Sohn auf See verloren. Fast war es, als hielten sie alle den Atem an, um zu sehen, was das Schicksal als Nächstes für sie bereithielt. Nur in Henningsons Silberschmiede wurde schon vor Tag und Tau gehämmert und geklopft.
Wie viele mit einer Blume verzierte schwere Kapitänslöffel wollte der Vater noch für den alten Kaphornier Isaak machen, der als einer der wenigen in der Stadt noch Aufträge vergab? Noch einmal zwölf Dutzend? Würden sie wieder einen silbernen Abendmahlskelch und einen Brotteller für den Pastor anfertigen, der die Ware nicht bezahlte? Oder wollten der Vater und sein Geselle wieder zwei Monate lang an einem der riesigen Präsentierteller arbeiten, der dann doch nur im Schaufenster stand, weil alle ihn sehen und niemand ihn kaufen wollte?
Betty erhob sich vom Bett, zog das lange Nachthemd über ihren Kopf und konnte einen Moment lang nichts sehen, weil sich der gefeilte Perlmutterknopf ihres Kragens in ihren langen Locken verfangen hatte. Sie erstarrte. Knarrte da ihre Zimmertür? Und woher kam der kühle Luftzug, der ihren nackten Bauch streifte? Sie zerrte an ihrem Nachthemd, das nun am Kopf festsaß. Dabei mussten auch ein oder zwei Haare daran glauben. Sie biss die Lippen zusammen, als sie ihren Kopf wieder hervorstreckte. Hatte sich eben nicht der blank polierte Türknauf bewegt? Sie spürte jetzt erst, dass das Klingen der Silberhämmer verstummt war. Die Tür fiel mit einem leisen Seufzen wieder ins Schloss zurück. Wer hatte da in ihre Kammer gesehen? Oder war das nur ein Windzug gewesen? Klapperten da nicht Holzpantinen über den Steinboden im Flur?
Betty zog mit festem Griff die Vorhänge zur Seite. Im Garten war alles still, kein Blatt bewegte sich. Kein Vogel zwitscherte. Manchmal erschien es Betty, als ob auch die Vögel den Klang der Silberhämmer nicht ertragen konnten. Nur ein paar junge Bienen summten zwischen den kurz geschorenen Hecken, die die Kräuterbeete einfassten.
Vielleicht hatte sie es sich auch nur eingebildet, dass jemand in ihr Zimmer eingedrungen war. Und doch. Ein feiner fremder Hauch schien in der Luft zu liegen. Betty zog die Nase kraus. Da war der Geruch von grobem Leinen. Und darüber lag der metallische Atem von geschmolzenem Silber. Der säuerliche Dunst eines ungepflegten Körpers. War es denkbar, dass der Geselle Elkhuber in ihre Kammer gespäht hatte? Gerade in dem Augenblick, als sie sich das Nachthemd über den Kopf zog? Oder bildete sie sich diesen eigenartigen leichten Dunst wieder nur ein? »Andere Leute hören das Gras wachsen, und du riechst, wie es wächst«, sagte Anton immer. »Das solltest du unbedingt zu einer Kunst ausbauen!«
Anton! Sie waren verabredet. Wie spät war es? Sie würde sich nun aber wirklich beeilen müssen. Sie schlüpfte in die knielange weiße Unterhose, zog ein dünnes seidenes Sommerhemd an und nahm ihr baumwollenes Mieder vom Stuhl, das sie nur locker über dem Rücken zusammenzog. Das leichte Sommerkleid mit den rosa und gelben Streublümchen war schon vom Vorjahr und um die Taille herum auch bereits etwas eng, vor allem, da sie keine Lust hatte, sich so eng zu schnüren, wie viele Mädchen in ihrem Alter das bereits taten. Aber das Kleid war für diesen Tag genau richtig. Wichtig war vor allem, dass es von möglichst heller Farbe war. Das war sogar sehr wichtig! Das Kleid war das hellste, das Betty besaß. Anton würde sich freuen.
Betty streckte den Kopf auf die Diele hinaus. In der Küche werkelte Frau Pannfisch und schimpfte dabei wie immer leise vor sich hin. Aus der Silberschmiede erklangen wieder die Hämmer. Der Tee für die Männer war offenbar auch schon fertig. Betty zog den zarten Duft des mit Bergamottöl parfümierten Tees ein, den die Erwachsenen jetzt alltags immer tranken. Seit die Teepreise sich mehr als verdoppelt hatten und auch die exzellenten Londoner Kontakte des benachbartenTeehandelshauses Asmussen nicht mehr für gut gefüllte Teelager am Hafen sorgten, konnte man sich bei Henningsons den gewohnten unparfümierten Chinatee nur noch sonntags leisten, wenn überhaupt. Und junge Mädchen wie Betty sollten ihn plötzlich überhaupt nicht mehr trinken. In größeren Mengen vernebelte er angeblich die Sinne. Kinder konnten und sollten ihn trinken, für verheiratete Frauen war er nachgerade gesund, für Männer jeden Alters ohnehin. Aber für Mädchen in Bettys Alter war er schädlich.
Zumindest war Berthold Henningson dieser Ansicht. Wenn er die eigensinnige Betty schon ohne ihre Mutter aufziehen musste, so murmelte er oft, dann wollte er wenigstens sonst alles recht machen. Recht, das hieß im Hause Henningson vor allem getreu den vielen Regeln: Ein Mädchen sollte lesen und schreiben können und ein wenig handarbeiten. Ein Mädchen sollte stets höflich und zurückhaltend sein. Ein Mädchen durfte ab dem ersten Mai hellere Kleider tragen, ab Pfingsten einen Sommerhut mit Blumen. Mädchen gingen in die Schule, bis sie vierzehn waren, danach lernten sie »den Haushalt«. Alltags gab es ein Torffeuer im großen Küchenofen, sonntags kamen einige Scheite Holz dazu. In einen Pfannkuchen kamen sechs Eier. Teig rührte man nur rechtsherum, sonst ging er nicht auf. Betty erschien es immer, als gäbe es Tausende und Abertausende von Regeln. Sie bemühte sich redlich, alle einzuhalten. Aber die schwierigste hieß: Wertvollen Tee verschwendet man nicht an junge Mädchen, die ihn ohnehin nicht vertragen. Was war geschehen im vergangenen Jahr? Warum sollte sie plötzlich etwas nicht mehr dürfen, was ihr jahrelang gestattet war?
Auf der schmalen Gasse neben der Kirche war erwartungsgemäß noch alles still. Ein altes Weiblein mit einem Eierkorb verließ soeben den Garten des Ratsherren Hoffkötter, hinter ihr sah man ein Huhn im Gras sitzen und ihr erschrocken hinterherblicken. Eine Ecke weiter, auf dem großen Markt, traf bereits der Karren des Rossschlachters Meierlein ein, der von einem Esel gezogen wurde, weil bei Meierlein angeblich alle Pferde scheuten. Oben am Delft wurden nun die ersten Fenster aufgestoßen und Federbetten zum Lüften herausgelegt. Wie weiße Zungen hingen sie dort.
Betty drückte sich an die Hecke des Nachbarhauses, bevor Gustl Plumboom ihr zuwinken konnte. Gustl hatte gleichzeitig mit ihr die Schule beendet und sie half nun vormittags im Gasthaus des Vaters am Markt aus, eine Tätigkeit, die ihrem natürlichen Hang zum Klatsch nur entgegenkam. Betty wollte keinesfalls schon wieder von ihr gesehen werden, wie sie in aller Frühe zu Anton hinüberhuschte. Schon einmal hatte Gustl sie frühmorgens erblickt und mit dem Fragen gar nicht mehr aufhören wollen. Triffst du dich wirklich schon mit Anton? Wie ist er denn so? Umarmt ihr euch? Hat er dich schon gefragt?
In der Ferne hörte man bereits die ersten Marktweiber, die sich etwas zuriefen. Betty blickte zum benachbarten Teehandelshaus hinauf. In den gewölbten Butzenscheiben des Kontorhauses spiegelte sich die Morgensonne. Bewegte sich da oben bei Anton der Vorhang? Wenn sie nur etwas sehen könnte!
Anton Asmussen war sechzehn Jahre alt und seit ihrer Kleinkinderzeit Bettys liebster Freund. Das hing natürlich auch damit zusammen, dass sie nahezu Wand an Wand wohnten. Aus der guten Stube der Henningsons, die allerdings selten benutzt wurde, konnte man direkt in das riesige Kontor von Teehändler Asmussen hineinblicken. Jedenfalls wenn man etwas nach oben blickte, denn das Handelshaus war um einiges höher als die alte Silberschmiede. Und es war viel stabiler gebaut, denn schließlich lagerte hier der Tee aus China: höchst empfindliche Ware, die weder feucht noch zu kalt werden durfte. Zu viel salziger Meerwind war ebenfalls ganz schlecht für die zarten Teeblätter. Wie überhaupt Gerüche aller Art. Alles musste pieksauber sein. Wer das Teehandelshaus betrat, sollte nicht parfümiert sein. Ein Grund dafür, dass die alte Frau von Mux, die als Urgroßtante von Anton seine einzige Verwandte mütterlicherseits war, die Lagerräume angeblich seit dreißig Jahren nicht betreten hatte. Betty lächelte in sich hinein, als sie daran dachte, wie der Teehändler sich immer mit der alten Dame herumzankte.
Teehändler Asmussen fürchtete sogar, dass eines der Fuhrpferde in die schmale Gasse vor seinem Haus äpfeln und der aufsteigende Geruch seinen kostbaren Lagertee verderben könnte. Darum hielt er sich einen alten Knecht, der tagaus, tagein mit seiner Schippe bereitstand, um eventuelle Hinterlassenschaften sofort aufzusammeln, in eine Karre zu verfrachten und im Laufschritt zur französischen Gärtnerei Demille zu bringen. Für die Rosen. Rosen wuchsen am Teehandelshaus natürlich auch nicht, und sogar bei Henningsons war in nachbarschaftlicher Verbundenheit die englische Kletterrose gekappt worden, weil sie so stark roch. Alle Leute in der Stadt lächelten über die Marotten des Teehändlers. Aber die wohlhabenderen von ihnen kauften dann doch bei ihm.
Die undurchdringlichen dicken Mauern des Teehandelshauses Asmussen hielten den Meerwind allerdings dermaßen gründlich vom Geschäftshaus der Henningsons fern, dass Frau Pannfisch stets darüber jammerte, in ihrem Garten sei die Luft wie tot und deswegen würde die Wäsche zu starr trocknen. Das große Nachbarhaus wirke nämlich wie eine Windschutzmauer. Deshalb wehe bei den Henningsons ums Haus herum kein noch so kleines Lüftchen.Aber darüber lachte der alte Henningson nur. Berthold Henningson, der Silberschmied, und Albert Asmussen, der Teehändler, beide früh verwitwet und beide Väter mutterloser Einzelkinder, beide dem Teetrinken sehr zugetan und dem Rotwein abhold, und beide im Grunde nicht ganz so streng, wie sie manchmal wirken wollten, waren seit vielen Jahren miteinander befreundet.
Betty blinzelte immer noch zur Kammer von Anton hinauf. Er hatte die Vorhänge offenbar noch nicht aufgezogen. Vermutlich wollte er niemanden, der zufällig nach oben schaute, darauf aufmerksam machen, dass er bereits aufgestanden war. Aber er hätte doch trotzdem einmal nach draußen linsen können! Betty wusste schließlich, dass er zu Hause war und dass er auf sie wartete. Warum, zum Kuckuck, schaute er jetzt nicht aus dem Fenster und kam endlich mit seiner Ausrüstung nach unten auf die Straße? Betty wollte nicht noch viel länger hier unten stehen und warten. Schon war die alte Eierfrau stehen geblieben und hatte sogar ihren Korb auf den Boden gestellt. Ihr dumpfes gerötetes Gesicht entspannte sich und der Mund öffnete sich vor Erstaunen. Sie würde bald nicht mehr die Einzige sein, die neugierig zu Betty herüberglotzte. Am Ende der Straße knirschte bereits ein Lastkarren heran. Gleichzeitig öffnete sich das Seitentor der Asmussens eine Handbreit. Jetzt würde der Knecht auf die Straße treten und den ganzen Tag lang stumm wie ein Pfeiler auf Arbeit warten.
»Hey, pst!«
Betty fuhr herum. Sie sah für einen Moment lang den blonden Schopf von Anton in der Toreinfahrt, dann streckte er die Hand aus und winkte sie zu sich herein.
Betty schlüpfte widerwillig durch das große Tor. »Was soll das?«, raunte sie. »Warum kommst du nicht aus der Vordertür? Soll dein Vater dich wieder erwischen, wenn er aus dem Kontorfenster schaut? Oder sag bloß, er schläft noch? Ich habe bestimmt fünf Minuten hier auf der Straße herumgestanden. Dachtest du etwa, ich pfeife nach dir wie ein Straßenjunge? Wir wollten doch zum Fotografieren zum Deich gehen! Ab halb acht wird das Licht zu grell, das sagst du doch selbst immer. Sieh mal, ich habe extra ein helles Kleid angezogen!«
Wo hatte Anton überhaupt seine Fotoausrüstung? Allein das hölzerne Stativ wog fast sechzig Pfund, und auch die große Kamera mit den vielen schweren Platten konnten sie nur auf einem Handkarren bewegen, den sie gemeinsam ziehen mussten. Da war es wichtig, dass sie am Hafen vorbei waren, bevor die ersten Händler dorthin strömten. »Warum hast du die Karre noch nicht bereit gemacht? Wo sind deine Sachen? Es ist spät. Wenn wir noch lange warten, ist der Markt voller Menschen und die Leute bilden eine Gasse, um uns hindurchzulassen, und bevor es Mittag wird, weiß ganz Emden, dass der einzige Sohn des Teehändlers Asmussen lieber fotografieren will, als den Betrieb des Vaters zu übernehmen. Was sage ich, das ganze Königreich Hannover wird es wissen. Dir muss doch klar sein, wie zornig dein Vater wird, wenn er dich noch einmal an einem Wochentag mit deiner fotografischen Ausrüstung sieht! Weißt du nicht mehr, wie er sich letztes Mal aufgeregt hat?«
Anton hatte die ganze Zeit geduldig zugehört. Seine Stimme war leise und sanft, wie immer. Anton regte sich äußerlich fast niemals auf. »Wir können heute nicht zum Fotografieren gehen. Hier passieren seltsame Dinge. Komm mit, aber sei leise!« Er nahm ihre Hand und zog sie vorsichtig hinter sich her. »Pass mit den Stufen auf!«
Betty gab einen wenig mädchenhaften Grunzlaut von sich. Die Stufen! Dass die sechste Stufe im Kontorhaus knarrte, hatte sie bereits gewusst, bevor sie überhaupt rechnen konnte. »Was ist denn mit dir los, Anton?«
Anton schüttelte nur den Kopf und hielt ihre Hand fester. Fast fühlte sich sein Händedruck so weich und zärtlich und gleichsam zielstrebig an wie der von Liesettchen, Bettys alter Freundin aus der Schule.
»Zieh nicht so!«, maulte Betty.
Anton drehte sich immer wieder zu ihr um und legte den Finger an die Lippen. Betty spürte die Kälte der Wände. Die steilen Treppen rochen nach Heimlichtuerei. Anton schlich voran bis auf den dritten Zwischenboden. Hier oben gab es einen riesigen Raum, der besonders gut geschützt und der angeblich sogar feuersicher war, denn die Wände waren dick und die Bohlen auf dem Boden aus alter Mooreiche gefertigt, hart, schwer und fest wie Eisen. Im sogenannten Zwischenstock wurden die wertvollsten Teesorten gelagert, denn bis hierher drangen angeblich nicht einmal die Düfte der vier anderen großen asmussenschen Teelager vor. Was hier lag, das sollte in völliger Abgeschiedenheit ruhen. Zurzeit war der Zwischenstock leer. Aber konnte man nicht immer noch den leisen Hauch von Tee spüren?
Als Versteck oder zum Träumen eignete sich der Zwischenstock allerdings überhaupt nicht, denn ungefähr in der Mitte gab es eine Öffnung im Boden, durch die die Waren hinaufgezogen wurden. Während die übrigen Lagerhäuser über Flaschenzüge an den Giebeln vollgeladen wurden, war es dem empfindlichen Tee offenbar nicht zuzumuten, längere Zeit an der freien Luft herumzuschweben und sich dabei womöglich mit den Gerüchen des Straßenlebens zu vermählen.
Der niedrige Raum stand seit Monaten völlig leer. Daher hatte sich wohl auch niemand die Mühe gemacht, die Bodenklappe wieder einzusetzen. China lieferte wegen des Opiumkrieges kaum noch, und wenn, dann waren es wohl keine Teequalitäten, die besonderen Schutz verdienten. Die Teegärten in Assam wurden von den Engländern kontrolliert, die auf ihrer Teebörse in London die Preise hochtrieben, in Java hockten die Holländer und ließen für den eigenen Bedarf pflücken. Und aus Japan kam alle Jubeljahre mal genug für ein Tässchen voll, wie Teehändler Asmussen es immer ausdrückte. Das hinderte seine Großtante Henny von Mux allerdings nicht daran, ihren Großneffen immer wieder nach japanischem Schattentee zu fragen, den sie nur einmal im Leben gekostet habe. Dass die Japaner ihr Land erst vor Kurzem für den Handel geöffnet hatten und dass bislang noch kein einziges Schiff aus dem Land der Kirschblüten Europa angelaufen hatte, war Tante Henny egal.
»Hör nicht hin. Sie ist einfach nur teesüchtig«, flüsterte Anton manchmal, wenn sie bei der alten Dame in ihrem Salon saßen und die schon wieder von ihrem Schattentee begann. »Lass uns lieber über Fotografie reden!«
Es war ein Drama. Betty seufzte. Anton interessierte der Teehandel seines Vaters überhaupt nicht. Und dabei war es doch schon köstlich, sich einfach nur vorzustellen, dass ein winziges Teeblättchen um die halbe Welt gereist war, um sich dann in einer Tasse zu entfalten, im Strom heißen Wassers herumzuwirbeln, sich etwas aufzublähen, auf den Grund zu sinken und zur Vollkommenheit zu gelangen.
»Betty! Hör auf zu träumen!« Anton drückte die Tür millimeterweise auf und schob Betty auf den Zwischenboden. Dann schloss er leise die Tür hinter sich, ließ sich auf den Boden sinken und robbte zu dem Loch im Boden. Betty runzelte die Stirn.
Tief unten befand sich das Kontor von Asmussens Teehandelshaus. Von dort hörte man jetzt tatsächlich Stimmen. Hatte der Teehändler um diese frühe Stunde bereits Besuch? Anton machte eine Bewegung mit dem Kopf. Was meinte er damit? Sollte Betty sich etwa auch auf den Boden legen und ebenfalls auf die Öffnung zurobben? In ihrem hellen Sommerkleid? Um heimlich dem Gespräch zu lauschen? Sie schüttelte so wild den Kopf, dass sich ihre feine Silberspange löste und mit einem leisen Klackern über den Boden hüpfte. Warum hielt das dumme Ding seit Tagen nicht mehr richtig? Und warum war sie noch nicht zu ihrem Vater gegangen, um ihn zu bitten, den Mechanismus der Spange etwas nachzuziehen?
Ihre langen Locken fielen sofort bis weit über die Schultern, so als wäre sie gerade erst aufgestanden. Sie schnalzte verärgert mit der Zunge. Sofort erstarb das Gespräch unten. Anton legte den Finger auf die Lippen und zog eine Grimasse. Die Stimmen unten schwollen wieder an. Betty seufzte und ließ sich langsam neben Anton zu Boden gleiten. Dann robbten sie Schulter an Schulter weiter an die Öffnung im Boden heran.
»Man horcht aber nicht!«, flüsterte Betty. »Das mache ich nicht mit!«
»Pst, hör zu, dann siehst du das alles gleich ganz anders«, flüsterte Anton zurück.
Betty rutschte zentimeterweise voran. Der Boden unter ihren Händen war warm und glatt, und er duftete noch immer nach der kostbaren Ware, die er gehalten hatte. Betty schloss für einen Moment die Augen. Sie konnte die würfelförmigen Holzkisten spüren, die geheimnisvollen Aufschriften, den Hauch des festen Leinens, in das die besten Partien eingewickelt waren.
Der Klang der beiden Männerstimmen drang jetzt direkt an ihre Ohren. Da war die knarrende und immer etwas aufgebrachte Stimme von Albert Asmussen, der offenbar zu einem seiner ausführlichen Vorträge über die Schwierigkeiten des Teehandels in China angesetzt hatte. Betty spürte, wie Anton neben ihr unruhig umherrutschte. Dieser Teil des Gespräches interessierte ihn ganz gewiss nicht. Betty indes wusste, was der alte Asmussen erklären wollte, sie hatte ihm unzählige Male zugehört und jedes seiner Worte in sich aufgenommen. Sie konnte niemals genug bekommen von den Erzählungen aus dem fernen Asien, von den ruhmreichen Taten der britischen Ostindien-Kompanie, die Asmussen in den höchsten Tönen lobte, und von den verschiedenen Teesorten, die angeblich nur besonders begabte Menschen am Geschmack und am Geruch genau unterscheiden konnten.
Asmussen dozierte weiter. Gelegentlich warf der Besucher etwas ein. Betty rutschte etwas näher an die Öffnung heran. Der andere Mann war der Stimme nach zu urteilen jung. Er sprach nicht wie die Leute hier, obwohl sein Deutsch fehlerfrei war. Er hatte eine tiefe, weiche Stimme mit einem leichten Akzent. Woher kam er? Betty rutschte weiter voran.
»Ich denke gar nicht daran, Silber für so ein windiges Unternehmen zur Verfügung zu stellen!«, schnauzte Asmussen den Fremden nun an. »Wie kommen Sie nur darauf, dass ausgerechnet in Darjeeling Tee gedeihen könnte! Und wieso, um Himmel willen, sollte ich meinen Sohn mit Ihnen nach Indien schicken? Gut, er wird bald siebzehn Jahre alt und er wird später das Teehandelshaus übernehmen...«
»Da wird es nicht mehr viel zu übernehmen geben, wenn die Teepreise weiterhin so steigen und wenn sich alle Teehandelshäuser weiterhin von den Engländern abhängig machen, anstatt sich an eigenen Teegärten zu beteiligen!«, entgegnete der Fremde.
Nun erklang ein schabendes Geräusch, und Betty wusste auch, ohne hinzuschauen, dass Asmussen den schweren Reliefglobus herangerückt hatte, um dem Gast genau zu zeigen, wo Darjeeling lag. Betty hatte den klangvollen Namen noch niemals gehört. Ein Teeanbaugebiet war das jedenfalls nicht, da war sie sich ganz sicher. Was also wollte der Fremde? Und wieso sollte Anton mit ihm fortgehen? Ihr wurde ganz schummrig bei dem Gedanken.
Asmussen drehte jetzt den Globus. Es quietschte leise. Betty liebte es, wenn der alte Asmussen IHR die Lage der Teeanbaugebiete in China und auf Java zeigte. Aber leider kam das nur sehr selten vor. Nur dann nämlich, wenn zufällig auch Anton im Raum war, dem die Erläuterungen eigentlich gelten sollten. Nur dass sie Anton nicht interessierten. Er hatte aber eine hohe Fertigkeit in der Kunst des Interessiertblickens erlangt. Dabei richtete er seine Augen ins Nichts, legte den Kopf schief, öffnete den Mund leicht und... hörte ganz gewiss nicht zu. »Du siehst aus wie ein Schaf, wenn du so guckst«, sagte Betty dann. »Aber Vater denkt, dass ich ihm zuhöre!«, entgegnete Anton jedes Mal. Es war herrlich, mit Anton zu lachen und herumzualbern.
Betty schaute hinab.
»Darjeeling!«, blökte Asmussen nun unten in seinem Kontor und piekte seinen hageren Zeigefinger auf die Stelle unter den weißen Erhebungen, die wie Eischnee aussahen und die den Himalaja darstellen sollten. »Das ist doch im Himalaja! Im höchsten Gebirge der Erde. Wo soll der Tee da wachsen? Unter dem Schnee?«
»Ich weiß sehr genau, wo Darjeeling liegt«, antwortete die andere Männerstimme nun und ihr Klang war so weich wie schwarzer Samt. »Es ist grün dort. Die Erde ist tief und weich und schwarz und alles wächst wie in einem Garten Eden. Das Gebiet liegt sehr hoch, aber es herrscht dort ein tropisches Klima. Ein Dschungel, könnte man sagen, und ja, da haben Sie recht, es liegt an den Ausläufern des Himalaja in etwa 2000 Meter Höhe. Es ist perfekt für den besten Tee.« Er machte eine kurze Pause. »Es hat dort übrigens noch niemals geschneit!«
»Unsinn«, rief Asmussen. »In Darjeeling wächst kein Tee. Da fahren die Engländer doch immer zur Sommerfrische hin, wenn es ihnen in Kalkutta zu warm wird. Dschungel ist dort mit Sicherheit nicht. Oder glauben Sie, die englischen Damen lassen freiwillig dicke schwarze Spinnen über ihre Sommerkostüme huschen? Darjeeling ist ein Ort zum Kricketspielen. Da gibt es Wiesen. Bin schließlich selbst als junger Mann in Indien gewesen, wenn ich das an dieser Stelle mal erwähnen darf. Und Sie wollen dort Tee anbauen? Wissen Sie nicht, was die Briten in Assam erlebt haben? Eine Pleite nach der anderen, weil der Chinatee dort jahrzehntelang nicht gedeihen wollte!«
»In Darjeeling werden wir aber keinen Chinatee, sondern ganz besondere Teepflanzen anbauen. Einheimische Pflanzen, die direkt aus dem Regenwald kommen. Der Darjeelingtee wird schon bald als der Champagner unter den Tees gelten! Er wird die Sinne betören und den Geist leicht und frei machen.«
Wie das klang! Betty hatte noch niemals zuvor einen Mann das Wort »betören« sagen hören. Das gehörte sich doch nun wirklich nicht. Sie rutschte noch ein Stückchen voran.
»Du hast ja Gänsehaut auf den Armen«, flüsterte Anton, der direkt neben ihr lag. »Kommt das von seiner Stimme oder von dem, was er sagt?« Er schüttelte sich. »Vater wird ihn hoffentlich achtkantig rauswerfen. Oder glaubst du, Vater könnte mich wirklich mit ihm fortschicken?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte Betty. »Irgendwie kommt mir das alles merkwürdig vor.«
»Mir auch«, entgegnete Anton. »Kannst du ihn sehen? Wie sieht er aus? Ist er ein stattliches Mannsbild? Du wirst ihn doch nicht stattlich finden?«
»Hör damit auf und sei endlich leise!«, raunte Betty und versetzte ihm einen Knuff.
Einen Moment lang verstummte die schöne Stimme unter ihnen. Betty zuckte von der Bodenöffnung zurück. Sie konnte fast körperlich spüren, wie die beiden Männer, die doch etwas gehört haben mussten, nun zur Decke hinaufsahen. Aber sie war sich auch sicher, dass sie sie nicht entdeckt hatten. Soweit sie sich erinnerte, war die Kontordecke unter ihr fast schwarz. Da würde man nichts erkennen können, es sei denn, man hätte besonders gute Augen.
»Gut, ich sehe mir Ihren Wundertee an«, gab Asmussen nun nach. »Aber glauben Sie ja nicht, dass ich mich an Ihrem seltsamen Geschäft in Darjeeling beteiligen werde! Oder jeman den aus meiner Familie dort hinschicke. Selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun! Wenn Sie Pioniere aus Europa für Ihr waghalsiges Unternehmen brauchen, dann fahren Sie nach England. Dort haben die Leute alle ein halbes Dutzend Söhne, da dürfte es weniger auffallen, wenn einer nicht aus Indien zurückkehrt. Aber ich habe nur einen Sohn! Den werde ich ganz gewiss nicht auf eine Expedition in so ein Land schicken!«
»Was meint er damit nun schon wieder?«, flüsterte Anton. »Das klingt ja fast schon freundlich!«
»Pst!« Betty konnte nun deutlich heraushören, dass der alte Asmussen seinen Besucher nur möglichst bald wieder loswerden wollte.
»Dann öffnen Sie endlich die Kiste und zeigen mir die Ware«, dröhnte Asmussen. »Ich hab schließlich nicht den ganzen Tag lang Zeit für solchen Unsinn.«
Betty hatte erwartet, dass sie nun das Scharren einer Teekiste hören würde, die über den Steinboden des Kontors geschoben wurde. Oder stand die Kiste bereits neben den Männern? Hatte man sie schon geöffnet? Und spürte man nicht bereits, dass der fremde Tee einen ganz besonderen Hauch verströmte? Betty rutschte weiter voran, so weit, bis sie fast mit dem halben Oberkörper in der Luke hing und gut nach unten lugen konnte. Was war das für ein zarter Duft? Sie kräuselte ihre Nase.
Anton hielt sie am Kleid fest. »Pass auf«, zischte er. »Nicht dass die dich sehen!«
Soweit Betty feststellen konnte, stand nur Asmussen unten in der Mitte des Kontors. Er hatte der schweren Teekiste einen der fein gewebten Leinensäcke entnommen, die den Tee zusätzlich schützen sollten. Zumindest der kleine Beutel sah vollkommen gewöhnlich aus. Nun öffnete er ihn, nahm langsam eine Handvoll der graugrünen Blätter und schnupperte daran. Betty konnte den Duft des Tees jetzt fast auf der Zunge spü ren, so stark war er. Aber wo war der fremde Mann? Sie beugte sich noch weiter vor. In diesem Moment trat der Fremde wieder auf Asmussen zu. Von hier oben konnte sie sehen, dass er halblange, dunkle Haare hatte. Und dass er groß und elegant gekleidet war. Er beobachtete ruhig, wie der Teehändler den Tee untersuchte.
Asmussen war so sehr mit dem Tee und mit sich selbst beschäftigt, dass Betty es riskierte, sich noch ein kleines Stückchen weiter vorzubeugen.
»Das ist ja doll!«, ließ Asmussen nun vernehmen. »Das ist wirklich doll!«
Was meinte er nur? War es der Duft der Teeblätter? Oder sahen sie auch noch anders aus als der gewöhnliche China tee? Betty hätte auch zu gern gewusst, ob seine Blättchen sich klein und zart anfühlten oder eher groß und fest. Sie beugte sich noch ein Stückchen weiter hinunter. Die alte Henny von Mux hatte ihr erst kürzlich von dem Weißen Tee erzählt, der angeblich am Hofe des Kaisers von China getrunken wurde. Und dass ein Geheimnis ihn umwehte.
Ob der Darjeelingtee vielleicht so etwas Ähnliches wie Wei ßer Tee war? Sah er wirklich weiß aus? Sein Duft war jedenfalls ganz und gar unvergleichlich, zart und frisch und irgendwie verheißungsvoll. Betty beugte sich weiter vor, ihr Hals schmerzte bereits, aber sie konnte nicht mehr viel sehen. Ihre Haare stürzten in ihr Gesicht. Der fremde Mann unten hob plötzlich den Kopf und schaute zu ihr hinauf. Seine Augen waren so dunkel wie das Meer im Winter, dachte Betty. Doch da fiel sie auch schon. Sie fiel kopfüber in die Tiefe des dunklen Kontors, geradewegs auf den fremden Mann zu. Sie konnte nicht einmal mehr schreien.
Es machte einen Ruck und sie spürte einen festen Griff um ihre Oberarme und um die Taille. Der fremde Mann, der sie gefangen hatte, schwankte leicht. Aber einen Augenblick später setzte er sie bereits auf die Füße und trat einen Schritt weit zurück.
Seine Augen blitzten. Lachte er etwa über sie?
Betty schluchzte auf. Tat ihr etwas weh? Immerhin hatte sie sich nicht den Hals gebrochen. Allerdings schien Anton genau das zu befürchten. Vom Zwischenboden hörte man nun nämlich ein leises Wehklagen.
Der alte Asmussen schnaufte empört und suchte zunächst nach seiner Brille, die er offenbar aufsetzen wollte, bevor er mit seinem Donnerwetter begann.
Der Fremde sah Betty wieder in die Augen. »Oh, ich habe Sie gar nicht kommen sehen. Darf ich mich Ihnen vorstellen? Mein Name ist John Francis Jocelyn, Kaufmann aus Kanton.« Er lächelte ihr zu. »Kanton ist eine Handelsstadt in China.«
»Ich weiß, wo Kanton liegt«, platzte es aus Betty heraus. »Andere offene Handelsstädte gibt es in China ja nicht.« Wie dieser fremde junge Mann sie ansah! Auch wenn er sie aufgefangen hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie einander nun kannten. Gehörte es sich etwa, eine fremde Person aufzufangen? Und sie dann so zu mustern, dass sie ganz weiche Knie bekam? Andererseits mochte sie sich nicht ausdenken, was passiert wäre, wenn er sie nicht gefangen hätte. Bettys Füße standen jetzt wieder sicher auf dem dunklen Steinboden. Sie wich einen Schritt zurück.
In diesem Moment hatte Asmussen offenbar seine Brille wiedergefunden und sie auf seine dicke rote Nase gesteckt. Nun musterte er Betty voller Wut. »Betty! Was erlaubst du dir, du freches Gör, hier im Nachthemd und mit offenen Haaren von der Decke zu fallen und meinem Geschäftspartner in die Arme zu springen...!« Er musste sich an der Lehne seines geschnitzten Kontorstuhles festhalten, so erbost war er.
Betty zuckte zusammen. Sie strich sich die Haare mit einer fahrigen Handbewegung aus der Stirn. Sie war völlig durcheinander. Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst und wäre wieder oben in der Luke zum Teelager verschwunden.
»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, die junge Dame trägt kein Nachtgewand, sondern ein hübsches Sommerkleid nach der Mode, und sie hat auch keine unfrisierten Haare, ihr ist lediglich bei dem Sturz eben die Haarspange abhandengekommen. Es ist meine Schuld. Ich habe die junge Dame zu fest gepackt! Das lag wohl daran, dass sie doch recht schwer ist.«
Den Beginn seiner Rede fand Betty wunderbar. Ein erwachsener Mann, der sie verteidigte! Wie alt mochte er sein? Anfang zwanzig vielleicht. Aber ihr Hochgefühl dauerte nur einen winzigen Moment. Schwer! Wie konnte dieser Mann es nur wagen, sie als schwer zu bezeichnen! Betty spürte, wie nun auch in ihr die Wut aufstieg. Was bildete sich dieser fremde Geschäftsmann nur ein?
Asmussen schnaubte unterdessen wie ein altes Walross. »Hier muss keiner glauben, dass er mich für dumm und dösig verkaufen kann. Du fällst hier einfach ins Kontor, Betty. Gut. Du hast gelauscht. Auch gut. Anton macht das ständig, nur dass er denkt, ich merke das nicht. Aber das ist verziehen. Sommerkleid, meinetwegen. Für mich sieht das aus wie ein Nachthemd. Aber warum bist du unfrisiert? Ausgerechnet du, wo du hier herumstolzierst wie eine junge Dame, seit du vier Jahre alt bist. Was habt ihr da oben getrieben? Wozu hast du dir die Haare geöffnet? Was zu viel ist, das ist zu viel. Wo ist denn bitte sehr die Haarspange, wenn sie der jungen Dame eben erst aus dem Schopf gefallen sein soll?« Sein aufgequollenes Gesicht war unterdessen so rot wie ein Strauß Mohnblumen.
»Ja, dann müssen wir wohl die Haarspange suchen, um zu beweisen, dass sie bei dem Sturz herausgefallen ist!«, sagte John Francis Jocelyn mit erhobener Stimme. Betty war sofort klar, zu wem er das sagte. Seine Worte richteten sich an Anton, den er vielleicht nicht gesehen hatte, aber von dessen Existenz er zweifelsohne wusste, denn Anton saß immer noch oben auf dem Zwischenboden und jammerte leise vor sich hin.
»Die Spange! Die Spange!«, wiederholte der junge Kaufmann nun immer deutlicher. »Wo mag nur diese Span-ge sein? Sie wird mir doch nicht einfach vor die Füße ge-fal-len sein?«
Hoch oben über ihnen hatte Anton endlich verstanden, dass er die Spange suchen und hinabwerfen sollte. Betty hörte das Anreißen eines Zündholzes, dann zeugten der schwache Schein eines flackerndes Lichtes und der muffige Duft verbrannten Fetts davon, dass er eine Talgkerze angesteckt hatte, um besser sehen zu können. Anscheinend rutschte er jetzt auf den Knien über den Boden, um die Spange zu finden. Wie gut, dass der alte Asmussen etwas schwerhörig ist, dachte Betty. Hoffentlich beeilte Anton sich und warf die Haarspange in einem Moment nach unten, in dem sein Vater in eine andere Richtung sah! Aber warum dauerte es so lange? Was um alles in der Welt machte er da oben?
»Hier unten ist jedenfalls keine Haarspange!«, trompetete der alte Asmussen nun und sein Gesicht rötete sich noch mehr. »Damit steht fest, dass du da oben mit aufgelöstem Haar gesessen hast. Was in Dreiteufelsnamen hast du in diesem Aufzug da oben mit meinem Sohn getrieben? Denkst du etwa, ich hätte nicht gemerkt, dass du in einem Alter bist, wo manche Mädchen schon herumpoussieren? Ich habe ja nichts dagegen, wenn ihr beiden euch später mal bekommt, ganz im Gegenteil, wenn ich das so sagen darf, aber doch noch nicht jetzt!« Er merkte selbst, dass er zu weit gegangen war, und räusperte sich in sein riesiges seidenes Taschentuch. »Du bist im vergangenen Winter erst vierzehn Jahre alt geworden! Wir sind hier doch nicht bei den Hottentotten!«
»Aber mein Herr!« Der junge Kaufmann sah den alten Teehändler strafend an.
Betty schluckte. Oben heulte Anton fast unhörbar vor sich hin. Was sollte sie nur tun? Und wie sah sie aus? Vorn war das Kleid vom Herumrutschen auf dem Zwischenstock voller Staub. Nun bemerkte sie auch noch, dass eine der engen Nähte in der Taille des Kleides geplatzt war. Das musste wohl geschehen sein, als der junge Kaufmann sie aufgefangen hatte. Sie spürte, wie sie bis zum Haaransatz errötete. Gut, dass Asmussen und sein Gast offenbar nicht gesehen hatten, dass man an dieser Stelle bereits einen Blick auf ihr Unterhemdchen werfen konnte. Betty wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Schon kullerte eine Träne über ihre Wange und tropfte auf ihren nackten Hals.
Der junge Kaufmann sah sie erschrocken an. Dann machte er plötzlich eine kleine Drehung, bückte sich blitzschnell und zauberte im Herumdrehen einen kleinen Gegenstand aus der Tasche seines Übermantels. Er legte ihn mit einer leichten Bewegung auf den Boden und hob ihn gleich darauf selbst wie der auf. »Ach, da ist sie ja, die verlorene Haarspange. Bitte sehr, junge Dame. Verzeihen Sie mir, dass ich sie nicht gleich gefunden habe. Wo hab ich nur meine Augen? Die Spange lag hier unter dem Tisch!« Er sah sie bedeutungsvoll an.
Betty hatte schon Luft geholt, um ihm zu erklären, dass das nicht ihre Spange war und dass sie keinesfalls von einem Fremden irgendeinen Gegenstand entgegennehmen würde, da hatte er mit einer Hand ihre Haare ergriffen, sie nach hinten in den Nacken geschlungen und mit einer einzigen schnellen Bewegung mit der Spange befestigt. »Sie gestatten doch!« Sie hatte gar nicht die Zeit, irgendetwas zu gestatten.
Er nickte ihr kurz zu und wendete sich sofort wieder Asmussen zu. »Was halten Sie nun von dem Tee?«
Asmussen rieb sich den grauen Bart. »Also wenn das so ist, Betty, dann ist das wohl doch alles so weit in Ordnung. Und nun nimm deinen heulenden Freund Anton von da oben und lasst euch nicht wieder beim Lauschen auf dem Zwischenboden erwischen! Oder wobei auch immer!« Er grummelte. »Und renne hier nicht im weißen Kleid herum, wenn das schon kein Nachthemd ist. Du bist doch keine Braut. Noch nicht, mein Kind! Ich möchte dich doch sehr darum bitten, die übliche Reihenfolge einzuhalten. Wenn dein Vater dich so sieht, bekommt er einen Herzkasper!«
»Den haben Sie ja nun schon fast bekommen, Mister Asmussen«, entgegnete der junge Mann noch, bevor Betty den Mund aufmachen konnte. Betty schob die Tür auf und lief ins Freie, ohne ihn noch einmal eines Blickes zu würdigen.
Durch den schmalen Gang zwischen den Häusern erreichte sie die Laube auf der anderen Seite der Silberschmiede. Hier glänzte immer noch der morgendliche Tau auf den Blüten der Kapuzinerkresse, die violetten Wicken, die sich an der Laube hinaufkringelten, öffneten eben ihre Blüten. Poffmanntje, der alte schwarze Kater, stolzierte mit angewidertem Gesichtsausdruck und hoch gehobenen Pfoten durch das hohe feuchte Gras.
Betty ließ sich auf die schmiedeeiserne Bank fallen. Die Spange aus dem Haar zu ziehen, war schwieriger, als sie gedacht hatte. Die Spange hatte sich wie ein gordischer Knoten in ihre Haare geschlungen und hielt sie im Nacken umschlossen, fest und sanft zugleich. Es ziepte. Sie zog und zerrte und brauchte Minuten, um sie herauszuziehen. Dann hielt sie sie endlich in den Händen. Ihre Haare fielen ihr wieder bis weit über die Schultern, und das nun schon zum dritten Mal an diesem Tag.
Die Spange war wunderschön. Betty war sich sicher, dass sie niemals zuvor einen auch nur im Entferntesten ähnlichen Gegenstand gesehen hatte. Das war keine gewöhnliche Haarspange. Es war eine breite Schließe aus feinem Silber, dessen Mittelteil ein schimmernder blauer Stein in der Form eines Hasen bildete. Umrahmt war der Hase von winzigen silbernen Blättern, die wie die Glieder einer kleinen Kette miteinander verschlungen waren. Vielleicht gehörte dieser seltsame Gegenstand eher zu einem Gürtel oder er war Teil einer Brosche? Und vielleicht fiel es ihr deswegen so schwer, die Spange noch einmal ins Haar zu setzen? Sie hätte sich zu gern einmal damit im Spiegel betrachtet.
Sie drehte die Spange in ihren Händen und wusste nicht, wie man sie verwendete. Sie sah aus, als berge sie ein Geheimnis. John Francis Jocelyn, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Im gleichen Moment ärgerte sie sich. Wie konnte sie nur an die sen fremden jungen Mann denken! Sie würde ihm die Spange zurückbringen und dann würde sie ihn einfach vergessen. Einen ungehobelten Kaufmann aus der Fremde, der es wagte, sie, Betty Henningson, Tochter eines Silberschmieds, aufzufangen und dann auch noch für schwer zu befinden.
Aber wie hatte Francis ihr nur die Spange ins Haar gesetzt? Sie fühlte noch seine Hände, errötete deswegen bereits wieder, ärgerte sich darüber und konnte sich doch nicht daran erinnern, welche Handgriffe er gemacht hatte. An der Unterseite der Spange gab es eine einfache Schlaufe aus einem feinen rötlichen Metall. Aber wie sollte man ihr dickes Haar dort nur hindurchfädeln?
Bestimmt kam das Schmuckstück auch aus China. Sie strich mit der Hand über den blauen Stein und steckte die Spange dann in die Tasche ihres Kleides. Am besten war es wohl, wenn sie sich ins Haus zurückschlich und sich als Erstes wieder etwas zurechtmachte. Dann würde sie Frau Pannfisch zu den Asmussens schicken, damit sie die Schließe zurückgeben konnte. Oder, noch besser, sie schickte Anton damit, den traf schließlich eine Mitschuld an der ganzen peinlichen Angelegenheit. Und er konnte ihr auch gleich ihre eigene Haarspange zurückgeben.
2
»Da bist du ja! Warum bist du denn so schnell weggelaufen?« Antons helle Augen blickten wie immer etwas erschrocken. Jetzt ließ er sich neben sie auf die Bank fallen. Sie fühlte die Wärme seines weichen Körpers und das beruhigte den Aufruhr in ihren Gedanken sofort.
»Betty! Dein Vater ruft dich!« Die Stimme vom anderen Ende des Gartens her war schrill. Das war Frau Pannfisch. Betty ärgerte sich, weil die Alte immerzu versuchte, sie zu erziehen. Und natürlich hatte ihr Vater nicht nach ihr gerufen, das hätte sie schon gehört. Frau Pannfisch hatte wohl nur gesehen, wie Anton durch die Gartenpforte geschlüpft und zur Laube gestrebt war.
Anton schnitt eine Grimasse. »Die Alte soll dich doch endlich mal in Ruhe lassen. Komm mit zum Deich. Ich muss dir von dem Streit erzählen, den ich mit meinem Vater hatte. Ich glaube, er will mich loswerden. Heute Morgen hat es schon angefangen. Und dass dann plötzlich dieser fremde Kaufmann aufgetaucht ist und gefragt hat, ob ich mit nach Hinterindien reisen soll, kann doch auch kein Zufall sein. Komm bitte schnell mit, Betty! Es ist schrecklich!« Es war ihm deutlich anzusehen, wie aufgeregt er war. »Jetzt schleicht die alte Pannfisch schon da vorn im Gemüsegarten herum. Hier können wir uns nicht in Ruhe unterhalten!«
»Ist der fremde Kaufmann noch bei euch?«, fragte Betty und ordnete im Aufstehen ihr Kleid. »Ich fand ihn ganz und gar gewöhnlich und aufdringlich!«
Anton schüttelte den Kopf. »Gewöhnlich? Nein, das war er sicher nicht. Er hat vor seiner Abreise gesagt, dass er zu den Teehändlern nach Bremen und Hamburg weiterreisen und dann noch einige Silberschmiede in Holland besuchen will. Mein Vater sagt, er ist gewiss ein guter Geschäftsmann und auch nicht aufdringlich. Aber er hat verrückte Ideen. Was er bei den Silberschmieden will, weiß mein Vater auch nicht.« Vor lauter Aufregung zitterte Anton jetzt sogar leicht, obwohl es bereits warm war und die Sonne schon seine helle Haut gerötet hatte. »Ehrlich gesagt fand ich ihn eigentlich ganz freundlich und er sah auch gut aus, oder? So abenteuerlich und verwegen!« Er schob Betty fast zum Gartentor hinaus. »Heute Morgen hatte ich mich noch so auf den Tag gefreut. Nicht nur, dass wir jetzt ganz vergeblich so früh aufgestanden sind. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass alles verdorben ist.«
Betty legte dem Freund beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Wir gehen morgen früh noch einmal los. Bestimmt hält sich das Wetter und dann können wir vielleicht eine gute Fotografie von mir am Deich machen.«
»Von dir könnte ich überall eine gute Fotografie machen«, antwortete Anton, und Betty spürte, wie allein das Wort Fotografie bei ihm die Stimmung wandelte. »Nur dass du zum Fotografieren still sitzen müsstest und das tust du ja nicht. Also müssen wir viel Licht haben und viele helle Stoffe, die das Licht reflektieren, dann muss ich nicht so lange belichten! Dein helles Kleid ist perfekt, genau so hatte ich es mir vorgestellt. Kannst du das morgen noch einmal anziehen?« Er lächelte ihr schüchtern zu. »Wenn wir zusammen sind, fühle ich mich immer gleich viel besser.«
Betty tat so, als hätte sie diese Bemerkung gar nicht erst gehört. Anton sagte öfter Dinge, die jedes Mädchen zum Erröten gebracht hätten. Nur bei ihr funktionierte das niemals. Vielleicht lag es daran, dass sie einander schon seit ihrer frühesten Kinderzeit kannten. »Ich kann so nicht mitkommen, ich muss erst noch ins Haus und mir die Haare zusammenbinden. Und das Kleid... sieht es wirklich aus wie ein Nachthemd?«
Anton sah sie ruhig an. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Ich finde, dein Kleid sieht sehr gut aus. Selbst wenn ich mal die Belichtungszeit für eine Fotografie außer Acht lasse. Vor allem sieht es gut aus, wenn du es vorne noch etwas mit der Hand abstaubst. Das Herumrutschen auf dem Boden ist ihm nicht so gut bekommen. Und hier ist deine Spange. Tut mir leid, dass ich sie nicht schneller gefunden habe.« Er griff in seine Hosentasche und reichte ihr die schmale Silberspange. »Hat dieser John Francis Jocelyn dir übrigens irgendeine andere Spange geschenkt? Ich hab mich nicht getraut, nach unten zu sehen, aber es kam mir so vor, als wenn sich die Sache mit den offenen Haaren plötzlich geklärt hätte.«
Betty nahm ihre eigene Haarspange zwischen die Zähne, ordnete ihr Haar und steckte es sich im Nacken zusammen. Der lose Teestaub ließ sich leicht vom Kleid klopfen, er rieselte ins Gras und leuchtete im Sonnenlicht wie goldener Schnee. Betty sah fasziniert zu, wie er zu Boden sank, bis Anton hörbar aufseufzte.
»Ach, die Spange, das war nur irgendeine Klammer, die am Boden lag. Vielleicht hat eine eurer Mägde sie dort verloren. Nun komm endlich.« Was sagte sie da nur? Warum schwindelte sie? Anton konnte man doch gar nicht anschwindeln und sie wollte es auch nicht tun. Was war heute nur los mit ihr? Bildete sie sich das nur ein oder sah Anton sie jetzt auch merkwürdig von der Seite her an?
Es war immer noch sehr früh. Sie gingen durch die kleine Pforte an der Seite des Gartens und folgten dem Weg zum Hafen. Schon wehte ihnen ein zarter Meerwind entgegen. Die Flut im Dollart wellte sich auf, deshalb roch er frisch und seidig und überhaupt nicht nach dem modrigen Wattenmeer oder gar nach Fisch, wie sonst manchmal. Betty war sogar sicher, dass bei dieser Flut keine Schiffe mit frischem Fang anlanden würden, denn weder war der zarte Duft von zappelndem Fisch zu riechen noch der Moder der dunklen Steinkrebse, die den Fischern mit in die Netze gingen.
Soeben schlug die Kirchturmuhr halb sieben. Anton ging mit einigem Abstand neben Betty her. Früher hatten sie sich an den Händen gehalten, wenn sie zusammen zum Deich liefen, aber diese Zeiten waren schon lange vorbei. Betty hatte einige Male festgestellt, dass die Frauen, die vor ihren Haustüren standen und sich mit Nachbarinnen unterhielten, mittlerweile immer verstummten, wenn Anton und sie gemeinsam an ihnen vorbeigingen. Beim Spazierengehen konnten sie sich jedenfalls nicht mehr in Ruhe unterhalten.
Auf dem Deich war der Wind noch etwas frischer. Das Meer am Dollart glitzerte in der Morgensonne. Es würde ein heißer Tag werden, das spürte man schon jetzt.
Betty wartete, bis Anton seine Jacke ausgezogen und ins Gras gelegt hatte, dann raffte sie ihre Röcke etwas hoch und ließ sich daraufplumpsen. Anton nahm schräg neben ihr im Gras Platz und hielt mindestens sechs Fuß Abstand, so wie es sich gehörte.
»Vater will, dass ich bald eine Lehre anfange. In einem anderen Handelshaus.« Anton stöhnte. »Damit ich auf andere Gedanken komme.«
Betty riss einen Grashalm aus und zupfte die kleinen wei ßen Blüten ab, die er gebildet hatte. »Hast du mit ihm einmal über die Fotografie gesprochen? Mein Vater sagt, in Leer gibt es jetzt schon zwei neue Studios für Fotografie. Und in Hamburg müssten es bestimmt Dutzende sein. Was sage ich, Hunderte!« Sie warf den Grashalm fort und riss einen weiteren aus.
»Hamburg? Wie kommst du darauf? Hat dein Vater irgendetwas gesagt? Oder warum sprichst du ausgerechnet von Hamburg?« Wenn Antons Stimme derartig verschnupft klang, war er wirklich verstimmt.
Betty zuckte erschrocken mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich habe das nur so dahingesagt, weil es die größte Stadt ist, von der ich gehört habe. Außer London natürlich. Und Paris. Und einigen anderen Städten. Ich wollte doch nur sagen, wo es jetzt schon überall Fotografen gibt. Was ist so schlimm an dem Wort Hamburg?«
»Tut mir leid, ich habe es nicht so gemeint«, sagte Anton versöhnlich. »Es ist nur komisch, weil mein Vater heute Morgen auch von Hamburg gesprochen hat. Es gibt dort eben Dutzende Teehandelshäuser und nicht nur zwei, wie hier bei uns. Er will, dass ich dort eine Lehre mache, bei einem befreundeten Kaufmann, der auch eine Niederlassung in Hamburg hat und eine in Kanton. Aber das kann ich nicht. Du weißt doch, dass ich das nicht kann! Ich hasse diese verdammten Teekrümel. Ich mag den Geruch nicht und ich mag sie nicht anfassen. Weißt du noch, wie damals die ekelhafte Schlange aus einer der Kisten gekrochen ist?«
Daran erinnerte Betty sich allerdings noch sehr gut. Der Lagermeister Smit hatte fast einen Herzschlag bekommen, als sich das lange braune Tier aus der Kiste kringelte. Anton hatte einen gurgelnden Schrei ausgestoßen und war wild um sich fuchtelnd hinausgerannt. Betty indes fand das Tier vor allem interessant. Allein wie es sich bewegte. Und die Schlange wirkte keineswegs besonders unternehmungslustig, sondern eher, als sei sie froh, endlich der dunklen Kiste entkommen zu sein. Zudem wusste man ja, warum sie in der Teekiste gewesen war. »Aber das war doch nur, weil die Händler in Kanton die Kiste schwerer machen wollten, um auf das Gewicht von 65 Pfund zu kommen, das kann man aus ihrer Sicht doch verstehen«, sagte Betty. »Manchmal legen sie ja sogar Steine hinein. Aber die Schlange ist bestimmt eher zufällig hineingekrochen, und niemand hat sich die Mühe machen wollen, sie herauszuziehen. Schließlich war man froh über das Extragewicht, das die Kiste auf die Waage brachte. Du weißt doch, das war im vorletzten Jahr, als die Teepreise plötzlich gestiegen waren.« Als Smit die Schlange mit einem Spaten in zwei Hälften hackte, hatte sie weggesehen und selbst fast aufgeschrien, als sie das Geräusch zermatschenden Fleisches hörte und das Klingen des Spatens auf dem Steinboden.
»Wenn man dich so hört, könnte man denken, DU solltest lieber bei Vater eine Lehre machen oder irgendwo bei einem großen Teehandelshaus in Hamburg!«
Betty seufzte. »Du weißt genau, wie gern ich das täte! Nur dass niemand mich als Lehrling nehmen würde. Sie würden doch sofort merken, dass ich ein Mädchen bin. Da müsste ich mich schon als Anton verkleiden. Und du würdest solange bei meinem Vater als Betty herumlaufen, ein Mieder anziehen und ein schönes Kleid mit Rüschen, und Silber polieren!« Sie kicherte.
»Wäre mir jedenfalls lieber, als dauernd bitteren Tee zu probieren und ihn zu verschachern und mir anzuhören, warum ein Teehändler vor Schlangen keine Angst haben darf!«
»Wenn ich plötzlich einen Flaum am Kinn hätte, würde es bei mir zu Hause ohnehin niemand merken!« Betty rollte sich auf den Bauch, streckte den Arm aus, stupste Anton an und musste noch mehr lachen.
Aber Anton schüttelte nur ernst den Kopf. »Da wäre ich mir aber nicht so sicher! Wenn ich allein an den Gesellen Elkhuber denke! Wie der dich immer ansieht aus seinem langen Gesicht, einfach ekelhaft!«
Betty ging gar nicht auf ihn ein. »Ich kann mir aber gar nicht vorstellen, dass dein Vater dich zu einer Lehre zwingen will, die du nicht möchtest. Mein Vater sagt immer, dass dein Vater dich viel zu sehr verwöhnt!«
Anton lachte auf. »Das ist umgekehrt genauso. Mein Vater sagt, dass dein Vater dir einfach keinen Wunsch abschlagen kann und dass er nicht streng genug mit dir ist!«
»Ja, wenn ich Stoff für ein neues Kleid möchte oder noch eine von den dummen silbernen Haarspangen, oder ein Buch über Haushaltsführung, dann kann er mir keinen Wunsch abschlagen. Aber sonst?« Betty verzog das Gesicht.
Anton sah sie ernst an. »Was möchtest du denn wirklich?«
Betty zuckte die Schultern. »Ach, ich weiß es nicht.« Wie kam es nur, dass sie plötzlich so ein seltsames Gefühl im Bauch verspürte? Und dass die Spange von John Francis Jocelyn in der Tasche ihres Kleides fast zu brennen schien? Sie tat so, als ob sie sich ein wenig zurechtsetze, und fühlte heimlich, ob sie noch da war. Sie sah, dass Anton die Stirn runzelte. Er bemerkte einfach immer alles! Sie müsste endlich aufhören, an diesen Morgen zu denken und an den fremden Kaufmann.
»Hast du deinen Vater denn in letzter Zeit mal wieder nach einer Anstellung bei einem Fotografen gefragt?«
»Gibt es nicht, hat er gesagt, da lernt man nichts, und das ist auch kein Handwerk und kein Gewerbe und sie bilden keine Lehrlinge aus, und das sind alles Hungerkünstler und Hallodris! Man kann vielleicht die Fotografie als Steckenpferd haben, aber es ist kein ehrbarer Beruf. Und sie wird sich auch nicht durchsetzen. Kein Mensch will eine Abbildung von sich haben, so wie er wirklich ist, sagt mein Vater. Ein ordentlicher Kaufmann lässt sich in Öl malen.« Anton ahmte den dozierenden Ton seines Vaters nach. »Was soll ich nur tun?«
»Warum schickt er dich denn nicht mit Mister Jocelyn nach Ostindien? Dann lernst du doch, dich wie ein Kaufmann zu gehaben!« Sie erschrak selbst über das, was sie da gesagt hatte.
Anton sah sie einen Moment lang erschrocken an, dann rückte er näher und tat etwas, was er lange nicht mehr getan hatte. Er robbte auf sie zu, streckte die Arme aus und kniff Betty auf beiden Seiten leicht in die Taille. Sie lachte auf, so sehr kitzelte das.
»Du willst mich also loswerden. Sehr interessant!« Anton wich ihren Händen aus, die nun nach seinen Knien griffen. Da war er besonders kitzlig. »Vielleicht muss ich dich öfter mal durchkitzeln!«
Betty schüttelte den Kopf und ordnete ihre Kleider, als Anton sich wieder neben sie plumpsen ließ. Dieses Mal sogar etwas näher. Sie musste immer noch lachen. Was war das für ein merkwürdiger Sommertag, leichter und gleichzeitig schwerer als alle Tage zuvor! Sie hatte die ganze Zeit das eigenartige Gefühl gehabt, etwas verloren oder vergessen zu haben. Jetzt fiel es ihr wieder ein: Sie dachte daran, wie John Francis Jocelyn sie in seinen Armen aufgefangen hatte. Sie spürte seinen festen Griff immer noch. Die Morgensonne glitzerte auf dem Meer.
»Wo bist du mit deinen Gedanken?« Anton schüttelte verdrossen den Kopf. »Ich glaube, dieser Inder hat es dir angetan.«
»Unfug, er ist doch kein Inder. Zumindest sieht er nicht aus wie einer.« Betty zögerte. »Jedenfalls nicht so, wie ich mir Inder vorstelle. Und wie sie in Büchern abgebildet sind. Andererseits sieht er auch nicht aus wie die Männer hier. Er hat die gleiche Hautfarbe und er ist groß wie ein Engländer, aber er hat dunkle Augen. Ich bin mir ganz sicher, dass Francis kein Inder ist. Er handelt nur in Indien. Und in China! Und er scheint so viel vom Tee zu verstehen. Findest du ihn nicht auch interessant und geheimnisvoll?«
»Francis nennst du ihn also schon«, wiederholte Anton tonlos. Er hatte die ganze Zeit in Bettys Gesicht gesehen, jetzt aber schaute er an ihr vorbei in Richtung Stadt. Er kniff die Augen zusammen, so als wolle er etwas Bestimmtes genau erkennen. War er etwa eifersüchtig?
Betty kräuselte die Nase. »Riecht es hier nach Tee? Ich habe solche Sehnsucht nach einer guten Tasse Chinatee! Seltsam, ich meine fast, sie riechen zu können!« Sie zog die Stirn in Falten, wie immer, wenn sie einem Duft besonders genau nachspüren wollte. »Riechst du nichts, Anton? Das riecht verbrannt! Ich glaube, jemand verbrennt eine Teekiste! Und einiges anderes noch dazu!«
In diesem Augenblick schrie Anton Asmussen auf. Er schrie so laut, wie Betty noch niemals einen Menschen hatte schreien hören. Betty sah ihn entsetzt an, dann wich sie zurück und folgte seinem Blick und der ausgestreckten Hand, die in Richtung Stadt zeigte. Dort kräuselte sich eine dunkelbraune Rauchsäule in den Sommerhimmel hinauf. Sie kräuselte sich genau über dem Teehandelshaus Asmussen und darunter stand der halbe Dachstuhl in Flammen. Schon begann die Kirchenglocke ihr schnelles Geläut, das den Gefahren durch Sturm, hohe Fluten und Feuer vorbehalten war. Betty fuhr der hohe sirrende Ton bis ins Mark. »Euer Haus brennt!«
»Die Talgkerze auf dem Zwischenboden«, antwortete Anton wie zu sich selbst. »Ich habe vergessen, sie auszumachen, als ich so schnell zu dir herübergerannt bin! Ich dachte, dass dieser Fremde hinter dir hergelaufen ist. Weil er sich gleich nach dir verabschiedet hat. Ach, Betty! Jetzt ist alles aus!« Anton sprang auf die Füße und rannte in Richtung des Feuers, ohne von Betty weiter Notiz zu nehmen. Betty raffte seine Jacke an sich und eilte ihm hinterher.
Die Straßen schienen menschenleer zu sein, nicht einmal auf dem Marktplatz war mehr eine Menschenseele zu sehen. Nur die beiden alten Kapitäne Pollmann und Nevermann, die beide nicht mehr gut laufen konnten, bewachten noch die Marktstände für die Händler und fuchtelten hinter Betty her, als sie an ihnen vorbeistürzte.
Die Nachbarn hatten bereits eine Löschkette gebildet, als Betty atemlos das Handelshaus der Familie Asmussen erreichte. Sie warf Antons Jacke über eine Hecke und reihte sich ohne nachzudenken hinten mit ein, da, wo die anderen Frauen und Mädchen die Eimer, in denen das Wasser schwappte, von Hand zu Hand reichten. Wie es aussah, stand das ganze Lager in Flammen, in dessen Kontor sie am Morgen aus der Luke gefallen war. Immerhin schien die Brandmauer zum Wohnhaus der Asmussens bislang zu halten. Der Wind war eingeschlafen. Oben am Himmel stand eine einzige starre weiße Wolke, so als sähe sie dem Brand zu. Der Rauch zog fast gerade in den frühsommerlichen Himmel hinauf.
Die Pumpe, an der drei Männer wie um ihr Leben pumpten, stand mit einer ihrer Stützen bereits auf dem Grundstück der Henningsons, von dort führte ein weiterer dicker Schlauch bis in ihren Brunnen, der von Frau Pannfisch überwacht wurde.
Anton hatte sich vorne bei den Männern mit eingereiht. Betty sah seinen schmalen Rücken und die sich über dem Hemdkragen kräuselnden Locken. Anton hielt den Kopf gesenkt, hievte die Eimer und gab sie weiter, ohne seinen Nachbarn in der Löschkette anzusehen. Zitterte er oder war das nur die in der Feuersbrunst flackernde Luft? Bettys Augen brannten.
Einer der emsigsten Löschhelfer schien der Geselle Elkhuber zu sein. Er war der Vorderste in der Kette, allerdings stand er auf der westlichsten Leiter, die vom Qualm noch nicht umwabert war. Der Geselle brüllte mit seiner lauten Stimme und in seinem schwäbischen Tonfall Kommandos hinunter, die keiner verstand und die keiner brauchte, weil hier ein jeder wusste, was er zu tun hatte. Elkhuber schüttete mit seinen langen Armen einen Eimer Wasser nach dem anderen ins Feuer, dass es nur so spritzte, und besaß sogar die Frechheit, nebenbei noch zu Betty herunterzuwinken. Betty tat, als habe sie das nicht gesehen.