Das ferne Dorf meiner Kindheit - Yavuz Ekinci - E-Book

Das ferne Dorf meiner Kindheit E-Book

Yavuz Ekinci

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Beschreibung

Ein großer Familienroman, der fast ein Jahrhundert umspannt, die gewaltvolle Geschichte eines zerrissenen Landes widerspiegelt und von zwei Völkern erzählt, die ihrer Herkunft, ihrer Sprache und all dessen beraubt werden, was einen Menschen ausmacht. Rüstem wächst in einem kleinen Dorf in den Bergen auf. Seine Mutter ist bei seiner Geburt gestorben, er lebt mit seinem Vater und den älteren Geschwistern im Haus seiner Großeltern. Zwischen dem Vater und dem Großvater herrscht ständiger Streit, auch das Verhältnis zwischen den Großeltern ist angespannt. Doch sind sie Rüstems wichtigste Bezugspersonen in einer archaischen Welt, die geprägt ist von patriarchalischen Strukturen, religiösen Riten, Aberglaube, Gewalt und einem politischen Konflikt, der sich dem Jungen nur nach und nach erschließt: Sein ältester Bruder ist in die Berge gegangen, immer wieder durchsuchen Soldaten das Haus der Familie und in der Schule wird ihm verboten, seine Muttersprache Kurdisch zu sprechen. Als seine Großmutter im Sterben liegt, entdeckt Rüstem ein Familiengeheimnis, das viele Jahrzehnte zurückführt in eine Zeit, als in dem längst verfallenen Nachbardorf noch armenische Familien lebten. Zusammen mit seinem Vater macht Rüstem sich auf den Weg dorthin, um der Großmutter ihren letzten Wunsch zu erfüllen.

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Seitenzahl: 428

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Yavuz Ekinci

DAS FERNE DORF MEINER KINDHEIT

Roman

Aus dem Türkischenvon Gerhard Meier

Verlag Antje Kunstmann

Für Mirza Ali

INHALT

WEINTRAUBEN

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

GRANATAPFEL

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

FEIGEN

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

»Kurê min, dinya siya darekê ye«, pflegte mein Großvater auf Kurdisch zu sagen: Mein Sohn, die Welt ist der Schatten eines Baumes.

Als ich meinen Vater von dem Strick herunterschnitt, an dem er baumelte, musste ich daran denken, wie enttäuscht mein Großvater immer ausgesehen hatte, wenn er diesen Satz zu mir sagte: »Kurê min, dinya siya darekê ye.«

Mein Herz war voller Hass, Wut, Abscheu … Tag für Tag ging ich durch Tausende Höllen und Fegefeuer. Ich! Das Paradies aus den heiligen Schriften, an dem wir Menschen uns in unserer Vorstellung erfreuen, hatte ich längst vergessen. Meine Großeltern, meine Eltern und meine Geschwister richteten den Blick auf den Horizont und warteten eine Ewigkeit auf dieses Paradies. Ich war noch ein kleines Kind, als Ebubekir das Haus verließ und in die Berge ging, um uns dieses Paradies zu bringen, auf das wir so hofften. Es vergingen Jahre, doch weder kam das Paradies zu uns, noch kehrte Ebubekir, der es doch einfangen und mitbringen sollte, nach Hause zurück. Mit jedem Tag entfernte sich dieses Paradies ein Stück mehr von uns, bis es nur noch ein Märchen war, das sich hinter dem mythischen Berg Kaf auflöste. So riss ich schließlich das Bild vom Paradies Stück für Stück aus mir heraus und ersetzte es nach und nach durch ein Bild der Hölle, die ich aus meinem Zorn nährte.

»Kurê min, dinya siya darekê ye«, sagte mein Großvater mit enttäuschtem Blick auch, als er sich im Krankenhaus vor Schmerzen wand. Die Wartezeit meiner Großeltern auf Erden neigte sich dem Ende zu, mein Vater jedoch verzweifelte allmählich so sehr, dass er sich schließlich vor Ablauf seiner Wartezeit verabschiedete. Als Erbe hinterließ er einen Sohn, der Wut auf Wut häufte und sich im Schatten unruhiger Seelen hin und her wälzte. Mit jedem Atemzug nahm ich die Schreie dieser Unglücklichen in mir auf und starrte Abend für Abend mit zornfunkelnden Augen auf die Überreste verlorener Leben, bis sich ihre ruhelosen Schatten ins Fegefeuer zurückzogen.

Mein Vater … Am Tag, als er jede Hoffnung verlor, hängte er sich mit einem Strick an der Decke auf, und der Anblick seines herabbaumelnden Körpers brannte sich auf meine Pupillen. Das Leben glitt an meinen feuchten Augen vorbei, während ich wie betäubt durch den Flur des Krankenhauses, über den Friedhof, durch die Straßen wandelte. Es befremdete mich, wie fröhlich die Passanten und die Krankenhausärzte vor sich hin leben konnten. Während ich im Korridor auf den Autopsiebericht wartete, fragte ich mich immer wieder: »Warum merken diese Leute nicht, wie unglücklich sie sind?« Es war schwer für mich, zwischen lauter glücklichen Menschen zu leben, die von ihrem Unglück nichts wussten.

Die Wünsche und Erwartungen anderer hatten mich beschädigt und einen Menschen aus mir gemacht, der jede Orientierung verloren hatte und der, wohin er auch blickte, nur noch den Tod sah. Ich saß da, presste meine Hände an den Kopf wie ein ausgehungerter Bär seine Tatzen, und Wut und Hass trafen erst meine Stirn, dann meinen Blick. Mit dem Bild meines am Strick hängenden Vaters vor Augen legte ich mich schlafen. Mitten in der Nacht fuhr ich aus dem Bett und zitterte wie ein Zweig im Sturm. Wenn ich die Augen einen Spalt öffnete und in das von Angst und Wut gefärbte Dunkel starrte, war alles um mich herum still und ruhig. Die Stille polterte in mich hinein, und ich legte mich wieder ins Bett, Heimstätte meines zertrümmerten Schlafes.

Der unerwartete Selbstmord meines Vaters verwandelte mein Bett in ein Grab, mein Haus in einen Friedhof und schließlich meinen Körper in einen Leichnam. Wenn ich mit angezogenen Knien dalag und mit jeder Faser auf den Schlaf wartete, drückte die Wut plötzlich schwer auf meine Brust, und so, wie der Erzengel Gabriel in der Hira-Höhle Mohammed befohlen hatte: »Lies!«, so befahl sie mir: »Erzähle!« Doch war das der Wut noch nicht genug, sie packte und schüttelte mich und rief immer wieder: »Erzähle! Erzähle! Erzähle!« Mich erfasste ein Feuer, und ich zerschmolz, dann erstarrte ich in Sprachlosigkeit, schließlich aber hauchte ich auf die Wörter, die mir bis zu jenem Tag wie tot auf der Zunge gelegen hatten, und erschuf mit ihnen eine neue Welt.

WEINTRAUBEN

»Die Hölle ist nicht da, wo wir leiden, sondern da, wo niemand hört, wie wir leiden.«

Mansur Halladsch

EINS

NACHTS STREIFTEN IN MIŞRÎTA die Männer der Nacht umher, an den Quellen machten Geister große Feuer und wuschen sich, in den Bächen trieben Hexen ihr Unwesen, und auf dem Friedhof stiegen Tote aus ihren Gräbern. Tagsüber legte ich mich ins Gras, sah zum Himmel empor, der über dem von steilen Bergen umgebenen Mişrîta in steter Bewegung war, und beobachtete, wie die dahinziehenden Wolkenhaufen sich mit der Sonne balgten und sich im Garten meines Gedächtnisses zu Geschichten und Gesprächen auswuchsen. Wenn es dunkelte und die Wolken unsichtbar wurden oder sich verzogen, stoben Sterne über den Himmel, als sprängen Tänzer auf eine Bühne. Sie waren verstreut wie Glassplitter, aber in meinem Kopf fügten sie sich zu Bildern und Stimmen zusammen. Wenn ich die Augen schließe und mich Dunkelheit umfängt, erwachen noch heute Geschichten von damals in mir wie Prinzessinnen aus einem tiefen Schlaf.

Märchen! Wenn in jenem fernen Dorf meiner Kindheit alles unter Schnee begraben lag und kein Reisender es mehr erreichen konnte, stand die Zeit still. In diesen langen Winternächten schien das Leben zu verrußen wie der Docht einer Öllampe. Unsere ganze Freude und unser Trost waren dann die Märchenerzähler und die dengbej, die kurdischen Barden, die beim Singen eine Hand ans Ohr hielten, dabei die Luft einsogen, als wollten sie sie verschlucken, und dann ihre Lieder nicht nur in unser kleines Zimmer, sondern in die Welt hinauszurufen schienen. Die Märchen, die wir damals hörten, wenn wir um den Ofen versammelt bis zum Morgen beisammensaßen, wurden in dem nahezu unbekannten Land meiner Kindheit zwischen den Bergen lebendig. So konnte es vorkommen, dass derjenige, der mir ein Märchen erzählte, zum Helden dieses Märchens wurde. Damals konnte die Wirklichkeit ein Märchen werden und ein Märchen Wirklichkeit. Ein Berg konnte sich in eine endlose Ebene verwandeln, einen Ort, der mir Angst machte, und mir verging die Lust, allein irgendwohin zu gehen.

Ich fürchtete mich. Wenn ich den Bach überquerte, konnten mir Hexen den Weg abschneiden; wenn ich mich beim Friedhof herumtrieb, konnte ich auf einmal den erblindeten Toten gegenüberstehen, die in ihre Leichentücher gehüllt herumwandelten; wenn ich aus dem Brunnen Wasser trank, konnten mich die Geister packen, die an der Quelle ein Feuer entfachten und tanzend ihre Wäsche wuschen; wenn ich zum Nachbarn hinüberging, konnten mir die Männer der Nacht auflauern, jene weißen Schatten, deren Köpfe bis in den Himmel reichten. Jeden Abend ging ich voller Furcht, solchen Märchenbildern zu begegnen, ins Bett und hielt mich wie an einem Talisman an den Worten fest, die mein Großvater stets sagte, wenn er gerade ein Märchen erzählt hatte und wie ein Weiser ins Dunkel blickte: »Märchen, mein Sohn, gehen nie zu Ende!« Wenn Märchenerzähler und Zuhörer sich in ihre je eigene Welt zurückzogen, erwachten die Märchenhelden im Garten meines Gedächtnisses zum Leben, als bräuchten sie dazu die Stille und die Dunkelheit.

Die Dunkelheit! Manchmal fiel sie ganz plötzlich aus den Bergen herab und erfasste mich. Oder aber ich war so in eine Beschäftigung oder ein Spiel vertieft, dass ich gar nicht merkte, wie die Sonne unterging und die Dunkelheit in Diebesstille alles umzingelte. Dann fühlte sich mein Herz beim Heimgehen an, als wollte es zerspringen. Bei jedem Rascheln und Knacken flüsterte ich Bismillah, wie unser Imam Molla Mahfuz es uns beigebracht hatte, weil das gegen Dunkelheit und Angst half. Bald atmete ich im Rhythmus dieser Formel: »Bismillah! Bismillah! Bismillah!« Dennoch tat sich mit jedem Rascheln und jedem Knacken eine große Leere in meinem Brustkorb auf, und weil sie nicht zu füllen war, verwandelte sie sich in ein Ungeheuer, das alles verschlang. Während die Leere allmählich meinen ganzen Körper erfasste, begann ich, heftig zu zittern. Mir schlotterten die Knie, und in meiner Vorstellung wurde jedes Funkeln zum Geist, jeder winzige Schatten zum Mann der Nacht, jeder Schemen zu einem Toten, der seinem Grab entstiegen war. Trotzdem verließ ich Abend für Abend das Haus, getrieben von dem Wunsch, all diese Phänomene zu sehen. Als handelte es sich um alte Bekannte, erzählten die Bewohner Mişrîtas von Geistern, die um große Feuer herumtanzten, von weiß gekleideten, baumhohen Männern der Nacht, von umherwandelnden blinden Toten, von der Schlangenkönigin Sahmaran, die jeden Morgen zum Trinken an den Brunnen kam und dabei ihr schwarzes Haar hinter sich herschleifte, von Hexen mit haarigen Ohren, die ihre bis zum Boden herabhängenden Brüste übereinanderschlugen und kleine Kinder entführten. Nie aber traf ich jemanden, der eines jener Geschöpfe mit eigenen Augen gesehen hätte. Jeder berichtete davon, als erzählte er nur weiter, was angeblich einem Verwandten von ihm widerfahren war, der nunmehr unten auf dem Friedhof von Mişrîta ruhte.

Wenn ich mich mit all den Märchen und Geschichten im Kopf, die ich den Abend über gehört hatte, schließlich ins Bett legte, defilierten die ums Feuer tanzenden Geister an mir vorbei, die großen Männer der Nacht, die Schlangenkönigin, die Hexen mit den zum Boden hängenden Brüsten, die in ein Leichentuch gehüllten Toten, Mirza, der reitend den Riesen trotzte, der Phoenix, der aus der Unterwelt heraufgeflattert kam, der siebenköpfige Riese, der seine Augen in der Hand trug, die am Brunnen eingeschlafene Heldin Zin und noch Hunderte von anderen Figuren, und in meinen Ohren hallte die Stimme meines Großvaters nach, der stets, bevor er zu erzählen begann, mit tiefer Stimme befahl: »Hör zu!«

ZWEI

MIŞRÎTA WAR EIN ZWISCHEN STEILE BERGE eingezwängtes größeres Dorf mit an die hundert Häusern. Es erinnerte an eine weit verstreute Schafherde und bestand aus Grüppchen von vier, fünf aneinandergebauten Häusern, die jeweils um einen Brunnen herum angeordnet waren. Form und Bauart dieser Häuser hatten die Menschen geprägt, die hier als Erste sesshaft geworden waren und den Gedanken an feste Behausungen überhaupt erst aufgebracht hatten. Vereinzelt gab es im Dorf aus Ziegeln oder Zement gefertigte Häuser, die allermeisten aber bestanden aus Stein und Lehm.

Ein Haus mit irdenem Dach und steinernen Mauern zu errichten, dauerte Tage, Monate, Jahre. Aus riesigen Felsen mussten mit Vorschlaghämmern Steinblöcke herausgeschlagen werden, die man mit kleinen Hämmern in die gewünschte Größe und Form brachte. Das war nicht nur äußerst mühsam, sondern erforderte auch viel Geduld. Mit dem Senkblei in ihren verschwitzten, schwieligen Händen stellten die Maurer zwar genaue Berechnungen an, doch wurden die Mauern irgendwie nie so richtig gerade. Die einen waren bauchig, die anderen nach innen gewölbt. Anstrengend war auch, die Mauern mit Lehm zu verputzen und mit farbiger Erde zu tünchen. Die Wände wurden erst weiß gestrichen, dann färbte man sie vom Boden bis auf halbe Höhe mit violetter Erde. Weil das Steineklopfen, das Verputzen und Tünchen so eine Plackerei war, bauten die Leute die Häuser aneinander und sparten sich so ein paar Mauern. Was dadurch entstand, glich in der Regel einem unförmigen Eisenbahnwagon. Ziegel- oder Betonhäuser ließen sich innerhalb weniger Tage errichten. Dann noch ein wenig verputzen und tünchen, und schon konnte man einziehen. Doch bestand zwischen den beiden Bauarten noch ein weiterer beträchtlicher Unterschied. Häuser aus Stein und Lehm waren nämlich im Winter schön warm und im Sommer kühl, die aus Beton oder Ziegeln hingegen im Winter kalt und im Sommer heiß. Außerdem hielten Steinhäuser eine Ewigkeit.

Auch unser Haus in Mişrîta war aus Stein und Lehm gebaut. Wenn es auch hieß, den Grundstein dazu habe mein Ururgroßvater Vezir gelegt, so blieb doch ein Rätsel, ob es wirklich so gewesen war. Als Erstes sei der Stall angelegt worden, dessen Außentür aus einem einzigen Stück Holz bestand, angeblich vom Stamm eines Weißdornbaums. Die Nachkommen meines Ururgroßvaters bauten bei Familienzuwachs an die vorhandenen Mauern jeweils ein weiteres Haus oder Zimmer an und verputzten das Ganze erneut. Da die Anbauten aus unterschiedlichen Zeiten stammten und von verschiedenen Maurern durchgeführt worden waren, ergaben sie ein sehr unförmiges Bild.

An Regentagen tropfte es durch die Zimmerdecken, besonders schlimm im Frühling und im Herbst. Mein Vater zog dann stundenlang die Steinwalze übers Dach, um den aufquellenden Lehm zu glätten, doch er war bereits so aufgeweicht, dass das Wasser problemlos seinen Weg fand. Und wenn ich zu meinem Vater hinaufkletterte, um das Unkraut auszurupfen, das dort im Frühjahr wucherte und die im Vorjahr an den Zimmerdecken befestigten Plastikfolien durchbohrte, begann es nur noch mehr hereinzutropfen. Meine Großmutter und meine Schwestern mussten dann so viele Teller, Eimer, Töpfe, Pfannen und alte Teekessel aufstellen, dass unser Haus im Frühjahr und im Herbst einem Feld aus Behältnissen glich.

Die Decke unseres Wohnzimmers hatte mein Großvater mit bunten, blumengemusterten Folien ausgelegt. Anstatt mir die Feldblumen draußen in der Natur anzusehen, konnte ich nun stundenlang drinnen auf dem Rücken liegen und unsere Decke anstarren. Manchmal huschten Ratten übers Dach, und wo der Lehm weggespült war, trappelten sie über die Folien, was uns gehörig auf die Nerven ging. Mein Großvater überlegte, wie dem beizukommen sei, und hatte schließlich die Idee mit der Stechahle, die er von da an immer in der Tasche trug. Sobald er wieder hörte, wie eine Ratte über uns hinwegtrappelte, fasste er sich in die Tasche und befühlte das kühle Metall der Stechahle, so, wie ein Räuber sich mit einem lautlosen Griff an die Pistole oder den umgeschnallten Patronengurt seiner Waffen vergewissert. Die Ratte war sich nicht bewusst, dass sie ein Geräusch verursachte, und hielt sich daher für unsichtbar. Erst hastete sie über die Folie, dann hielt sie schnuppernd inne. Mein auf der Lauer liegender Großvater war aufgeregt wie ein Jäger, der endlich das Wild vor dem Lauf hat, und sobald er die Position der Ratte ausgemacht hatte, stieß er zu und rammte der Ratte das kalte Metall in den Unterleib. So, wie ein geköpftes Huhn eine Zeit lang weiterflattert, wand sich die Ratte noch eine Weile, und meinem Großvater war anzusehen, wie sehr er es genossen hatte, sie zu töten. Stolz auf seine Methode, holte er ein Taschentuch heraus, wischte das Blut von der Stechahle und steckte sie wieder ein, griffbereit für die nächste Jagd.

Das im Frühjahr und im Herbst durchs Dach sickernde Regenwasser sammelte sich erst auf den Folien und lief schließlich durch die Löcher, die mein Großvater auf der Rattenjagd hineingestochen hatte. So tropfte es auf unsere Teppiche und Kissen herab, bis sie klatschnass waren. Wenn dies geschah, hatte meine Großmutter für die Ratten, die Folien, die Stechahle und meinen Großvater nichts als Flüche übrig.

Wenn das Wasser in die Gefäße prasselte, klang es in der Nachtstille wie ein gewaltiges Rumpeln. In meinem Bett zählte ich die Tropfen, was mich entweder einschläferte oder ewig wach hielt. Wer nachts auf die Toilette musste oder zum Morgengebet aufstand, stieß manchmal gegen ein Gefäß und verschüttete das Wasser. Am häufigsten passierte das meinem Vater, während mein Großvater, obwohl er nicht besonders gut sah und meist mit einem Stock ging, kaum je etwas verschüttete. Wenn mein Vater wieder etwas umstieß, schimpfte mein Großvater ihn aus wie ein kleines Kind und seufzte: »Nach wem ist dieser blinde Tollpatsch nur geraten? Höchstens nach einem seiner Onkel.«

Meine Großmutter legte sich nach dem Morgengebet nicht wieder ins Bett, sondern leerte die Gefäße aus, bevor wieder jemand dagegenstoßen konnte. Manchmal, wenn ich selbst nicht mehr schlafen konnte, half ich ihr dabei.

Wir hatten einen weißen Teekessel mit rotem Tulpenmuster, von dem die Farbe stellenweise abgeblättert war wie Schuppen von einer Haut. Der Henkel war schon seit jeher kaputt, und ich wollte wissen, wie das passiert war, doch jedes Mal, wenn ich danach fragte, hieß es bloß, der Kessel sei eben auf den Boden gefallen. Ich hatte aber das Gefühl, dass man mir etwas verheimlichte, denn die Erwachsenen schluckten, wenn ich danach fragte, hatten plötzlich Schweißperlen auf der Stirn, und in ihren Augen lag ein seltsames Schweigen, sodass ich immer wieder nachbohren musste. Was von der weißen Farbe noch übrig war, wirkte verschossen, wohingegen das Rot der Tulpen glänzte wie neu, und gerade deshalb mochte ich den Teekessel so gern.

Als ich noch klein war, kochte meine Großmutter mir in dem Teekessel jeden Tag ein oder zwei Eier. Wegen des kaputten Griffs war es schwierig, den Kessel vom Feuer zu nehmen, und meist verbrannte sie sich dabei die Fingerspitzen. Irgendwann musste sie das leid gewesen sein, denn sie hörte auf, den Kessel zu benutzen. Wie jeder Gegenstand, der seine Funktion eingebüßt und somit ausgedient hatte, wurde der Teekessel mit dem Tulpenmuster und dem kaputten Griff irgendwohin verräumt. Nicht aber weggeworfen, denn meine Großmutter hatte große Not erlebt und konnte sich deshalb von aussortierten Dingen nur schwer trennen. Entweder weil sie noch daran hing oder weil sie dachte, irgendwann würden sie vielleicht doch noch zu etwas nütze sein. Als uns schließlich die Gefäße zum Tropfenauffangen ausgingen, holten wir den Kessel wieder hervor, und meiner Großmutter war ihre Genugtuung anzusehen.

Wenn er voll war, leerte den Teekessel immer ich aus. Meine Großmutter sagte, er habe zur Aussteuer meiner Mutter gehört und sei einmal ziemlich teuer gewesen. Heute kriegte man für den Preis gerade noch zwei Säcke Mehl oder einen Sack Zucker. Weil meiner Mutter der Kessel sehr lieb gewesen sei, habe sie ihn fast nie benutzt und ihn nur aus seinem Karton geholt, wenn von auswärts Gäste ins Dorf oder zu uns nach Hause gekommen seien. Deswegen erinnerte mich der Kessel immer an meine Mutter, die ich nie kennengelernt hatte, an ihr blasses Gesicht auf den paar Schwarz-Weiß-Fotos, die wir von ihr hatten. Und ich wurde ganz still und grübelte, warum sie mich verlassen hatte.

Das trübe Regenwasser aus dem Kessel schüttete ich vom Balkon auf die unten scharrenden Hühner und lachte lauthals, wenn sie vor Schreck auseinanderstoben. Meine Großmutter schimpfte, weil ich die Hühner so quälte, doch ich machte ungerührt weiter. Eines Tages, als ich vor dem Haus mit Steinen spielte, übergoss meine Großmutter mich mit eiskaltem Wasser. Klatschnass begann ich zu weinen und auf den Kessel, die Hühner, das Wasser zu fluchen. Meine Großmutter streckte den Kopf zum Fenster heraus, und lachte den davonflatternden Hühnern hinterher.

Auf einen schneereichen Winter folgte ein verregneter Frühling, tagelang prasselte es auf uns ein. Die Leute starrten erst stundenlang zum Fenster hinaus, dann beschlossen sie, auf einen der umliegenden Berge zu ziehen und dort darum zu beten, dass der Regen aufhören möge. Wer auf diese verrückte Idee gekommen war, weiß keiner. Erst behauptete jeder, er sei es gewesen, als wir aber in den anderen Dörfern dafür ausgelacht wurden, wollte es keiner mehr gewesen sein. Mein Großvater hatte die Idee von Anfang an nicht für gut befunden. Seiner Ansicht nach hatte alles seinen tieferen Sinn, und so hielt er den Dauerregen für eine Art Strafe Gottes. Wenn der Regen etwas nachließ, zog mein Vater stundenlang die Walze übers Dach, nur um dann festzustellen, dass es tropfte wie zuvor. Als er eines Tages auch noch eine Plastikschüssel umstieß und das Wasser sich über den Boden ergoss, rief mein Großvater, der mit einem Kissen auf dem Bauch vor sich hin schaukelte, ohne aufzublicken: »Bist du blind, oder was? Pass doch auf!« Da stieg meinem Vater die Wut, die ihm jahrelang auf die Brust gedrückt hatte, plötzlich in den Kopf. Herausfordernd blickte er meinen Großvater an und versetzte der Schüssel einen Tritt. »Ich hab’s satt! Ich hab’s satt, jeden Tag die verdammte Walze zu ziehen! Ich habe die Nase voll! Von diesem Haus und diesem Dorf! Im Sommer gehe ich entweder von hier weg, oder ich baue mir ein Haus aus Beton. Ein neues Haus! In das es nicht ständig hereinregnet!« Mein Großvater riss die Augen auf, warf sein Kissen beiseite, sprang auf wie ein Klappmesser, fuchtelte drohend mit dem Zeigefinger herum und stauchte meinen Vater vor aller Augen zusammen. Ein neues Haus aus Ziegeln oder Zement komme überhaupt nicht infrage, und allein schon der Gedanke daran sei pure Dummheit und Undankbarkeit. Mein Vater sagte nichts, biss sich auf die Lippe und zog sich mit geballten Fäusten in sein Zimmer zurück. Bis sich das Wetter wieder freundlicher zeigte, wurde über das Thema neues Haus nicht mehr gesprochen.

Sobald es aber wärmer wurde, fuhr mein Vater in die Stadt und holte für das Haus, das er sich in den Kopf gesetzt hatte, Ziegel und Zement. Anstatt dem von meinem Großvater, meinem Urgroßvater und meinem Ururgroßvater nach und nach errichteten, wagonähnlichen Gebilde neue Mauern hinzuzufügen, war er fest entschlossen, ein eigenes Haus zu bauen. Das Dach würde er betonieren und damit dem Theater um den Regen, das Getropfe, die durchlöcherten Folien, die Walze und den Haufen Gefäße ein für alle Mal ein Ende setzen. Die Spannung zwischen ihm und meinem Großvater wuchs derart an, dass sie einander beim Essen nicht mehr ins Gesicht schauten, ja, mein Großvater tat sogar, als säße mein Vater überhaupt nicht mit am Tisch.

Es machte meinen Großvater fuchsteufelswild, dass mein Vater dennoch in aller Stille die Vorbereitungen für den Hausbau vorantrieb, und irgendwann platzte es aus ihm heraus, und die beiden stritten bis spät in die Nacht. Verbissen, wie mein Vater war, sagte er kaum ein Wort, sodass mein Großvater irgendwann seinen Gehstock mit dem Pferdekopfknauf packte und ihm damit drohte. Als das nicht die gewünschte Wirkung zeigte, versuchte er es anders und warf den Stock zu Boden. Er hatte Tränen in den Augen, schluckte schwer und rief mit zittriger Stimme: »Herrgott, lass mich zu meinen Toten! Nimm mich zu dir, damit ich nicht mehr in dieser schnöden Welt leben muss!« Dann hob er seinen Stock wieder auf und schlich in sein Schlafzimmer wie ein besiegter Soldat. Meine Großmutter, die immer bemüht war, sich nicht einzumischen, stand auf und ging meinem plötzlich so bekümmerten Großvater murrend hinterher.

Während aus dem Schlafzimmer wütendes Gemurmel kam, saß mein Vater wie blutleer da, starrte mit ausdruckslosen Augen auf den Teppich und zog die Stirn in tiefe Furchen. Er sah so abgekämpft aus, dass die unter der Haut sich abzeichnenden Wangenknochen wie weiße Striche wirkten. Vor lauter Beklommenheit und angestauter Wut schnaubte er, dass sich seine Nasenflügel blähten. Schließlich löste er sich aus dem Schneidersitz und streckte die Beine aus. Die Haut an seinen Füßen war rissig, die Zehen waren zusammengepresst und unförmig. Beim Wehrdienst hatte er sich einen Pilz geholt, seither hatte er praktisch keine Zehennägel mehr, stattdessen waren die Zehenspitzen von dunkler, vertrockneter Haut überzogen. Er zog die Füße zu sich heran und kratzte sich schwer schnaufend zwischen den Zehen. Erst als er das warme Blut auf seiner Haut spürte, hielt er inne. Als horchte er auf dunkle Stimmen in seinem Inneren, blickte er unruhig zur Decke, dann stand er auf und verließ das Zimmer; sein Gesicht war so bleich wie ein in der Dunkelheit zu Boden segelndes Laubblatt.

Am nächsten Morgen ließ sich mein Großvater zunächst nicht blicken. Erst als Molla Mahfuz am frühen Nachmittag zum Gebet rief, kam er aus seinem Zimmer. Ohne die Katze zu beachten, die ihm mit erhobenem Schwanz um die Beine strich, stellte er sich an die Haustür und horchte auf den von den Bergen widerhallenden Gebetsruf; es war, als nähme er ihn wie Wasser in sich auf. Dass die kräftige Stimme des Mollas von den Felsen widertönte, erschien ihm wie ein großes Wunder Gottes. Er glaubte fest daran, dass die Felsen, die Bäume und die ganze Welt zusammen mit Molla Mahfuz den Namen Gottes wiederholten, um zum Gebet zu rufen. Als der Ruf verstummte, erhob mein Großvater seine mächtigen Hände, sprach die erste Sure des Korans, führte die Hände zum Gesicht und strich sich über den Bart. Die Katze, der nicht die erhoffte Zuwendung zuteilwurde, stolzierte in die Küche, und ich bewunderte ihr glänzendes schwarzes Fell, die weiße Schwanzspitze, die leuchtenden grünen Augen.

Mein Großvater nahm am Brunnen unterhalb des Hauses seine Waschung vor, dann verrichtete er auf der Steinplatte daneben in aller Ruhe sein Gebet. Wenn er dabei das Gesicht nach rechts und links wendete, konnte man deutlich die rote Stelle auf seiner Stirn sehen, die von der Berührung mit dem Stein herrührte. Er hob die Hände, und sagte in flehendem Ton: »Gott, bitte mach mich nicht zum Mörder an meinem Sohn! Und führe uns nicht in fremde Gefilde, o Herr!« Als er aufstand, versuchte ich, sein Gebet nachzuahmen. An den Stellen, an denen die Steinplatte unzählige Male von einer Stirn, von Händen und Knien berührt worden war, glänzte sie, als wäre sie aus Glas. Auch ich legte die Stirn an jene glatte Stelle und machte nach, was ich bei meinem Großvater beobachtet hatte. Nach dem Gebet erhob ich wie er die Hände und rief: »O Herr! O Herr!« Mein Großvater fuhr mir durch die feuchten Haare und sagte: »Es ist furchtbar, sein eigenes Kind zu töten. Gott möge niemandem diesen Schmerz bereiten!« Schweigend gingen wir ins Haus zurück. Dort saß mein Vater und starrte die Abbildung auf dem Wandteppich an. Sie zeigte einen Hirsch, der von einem Felsen in einen Abgrund blickt, in dem der zerschmetterte Körper eines Mannes liegt. Den Teppich hatten im Jahr zuvor meine Schwester Fatma und meine Großmutter zusammen gewoben. Mein Großvater sagte, das Bild beziehe sich auf die Geschichte von Siyabend und Xecê. An manchen Sommerabenden, wenn die Sterne besonders hell funkelten, hielt mein Großvater eine Hand ans Ohr und erzählte ausschweifend jene Geschichte, so als riefe er sie ins Dunkel hinein. Meine Großmutter lauschte, wie die herzergreifende Stimme meines Großvaters durch die Nacht hallte, und stets kamen ihr dabei die Tränen, und sie weinte bitterlich. Und ich betete darum, diese Geschichte eines Tages auch so erzählen zu können. Mit seiner anrührenden Stimme, dem wehmütigen Blick, den zusammengekniffenen Augen und der Hand am Ohr saß mein Großvater vor mir wie ein Denkmal.

Nun trat er an den Wandteppich heran, berührte mit den Fingern die gläsern dreinschauenden Augen des Hirsches, seufzte ein paarmal, dann griff er nach seinem Stock und ging ans Fenster. Er deutete mit dem Stock auf den höchsten Felsen, und so aufgeregt, als könnte seine Hand ihn berühren, sagte er: »Genau auf diesem Felsen habe ich mal einen Hirsch erlegt. Damals gab es hier in den Bergen noch viele davon. Meiner hatte ein sehr großes Geweih, das habe ich hier über der Tür aufgehängt.« Mühsam sah er zu dem Geweih hoch. Während ich ihn wie immer voller Neugier und Bewunderung anblickte, wandte mein Vater sich nicht einmal um, hatte er die Geschichte doch schon unzählige Male gehört und wusste genau, was mein Großvater sagen und welches Gesicht er dabei machen würde. Ich stand auf und bestaunte den hoch aufragenden Berg. Mir schwirrten Schemen vor den Augen, bis ich schließlich meinte, am Gipfel des Berges einen Hirsch zu sehen. »Gibt es denn am Halkis noch Hirsche?«, fragte ich. Niedergeschlagen erwiderte mein Großvater: »Nein, hier gibt es keine Hirsche mehr. Auch die sind längst von hier fort.« Er streckte den Kopf zum Fenster hinaus und sah lange auf den Berg, als suchte er nach den fortgezogenen Hirschen. Schließlich wurde es seinen Augen zu viel. Er schloss das Fenster, nahm mich bei der Hand und sagte: »Los, steh auf, gehen wir raus.« Während er mich mit seiner knochigen Hand festhielt und zur Treppe zog, wiederholte er ein paarmal hintereinander: »Jetzt gehen wir zum Mann aus Stein!«

DREI

WÄHREND MEINE KINDHEIT MICH GEFANGEN hielt, galoppierte meine Fantasie auf ferne Horizonte zu. Mein Großvater zog mich mit zitternder Hand zum Mann aus Stein. Als wir am geplünderten, zerstörten armenischen Dorf und dem darunterliegenden Friedhof vorbeikamen, fiel mir auf, wie dunkel und leer sein Blick war. Ich begriff, dass ihn jede Nacht Albträume heimsuchten, denn er war verwundet von der Scham über seine Sünden.

Als wir das Haus verließen, hatte sich der Griff meines Großvaters etwas gelockert. Auf einmal bückte er sich, packte einen der Ziegel, die mein Vater herbeigeschafft hatte, und schleuderte ihn zu Boden, dann noch einen und noch einen. Ich blickte zum Haus und sah, wie uns mein Vater verwundert durch das Fenster beobachtete. Wie ein schmaler Schatten stand er hinter dem Vorhang. Irgendwie wusste ich, dass er besonders mich verstohlen anschaute und ein Zeichen von mir erwartete. Von den zerschmetterten Ziegeln stieg eine Staubwolke auf, die allmählich sogar die Sonne verfinsterte. Irgendwann wurde mein Großvater müde und hörte auf. Er wischte sich den Schweiß von der heißen Stirn und rief: »Die begreifen es nicht und werden es nie begreifen!« Auf einmal wandte er sich zum Fenster und beschimpfte meinen dort wartenden Vater so lange, bis er keine Luft mehr bekam. Dann fixierte er mich mit seinen meereskalten Augen, packte mich wieder an der Hand und zog mich weiter. Ich wandte mich immer wieder zu meinem Vater um, der inzwischen unentschlossen an der Tür stand. Mein Großvater hastete fort, schwer atmend, schwitzend, röchelnd, dabei klagte er, was für ein Dummkopf mein Vater doch sei. Bevor wir um die Ecke bogen, deutete er noch mal auf die Stelle, an der mein Vater sein Haus bauen wollte, dann ging er dorthin zurück und maß mit großen Schritten aus, wie lang die Mauern wohl sein würden. Er rechnete aus, inwiefern sich der Bau für meinen Vater auszahlen würde, und stieß dabei ein freudloses Gelächter aus. Mit anhaltender Wut erging er sich darin, was unser eigenes Haus, das er von seinem Großvater geerbt habe, doch für einen unbezahlbaren Wert darstelle. Fünf Generationen seien in dem Haus geboren und aufgewachsen. Verwundert sah ich mit an, wie ihm schließlich sogar die Tränen kamen. Er kam einfach nicht darüber hinweg, dass mein Vater durch seinen Neubau unser altes Haus seinem Schicksal überlassen wollte.

Was uns auf unserem hastigen Marsch durchs Dorf an Hühnern, Gänsen, Enten, Truthähnen oder Küken über den Weg lief, stob schreiend und flatternd davon. Auf alle, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachten, hieb mein Großvater mit seinem Stock ein. Ich hob einen langen Zweig auf und machte es ihm nach. Ich spießte eine Melonenschale auf, an der Hühner herumgepickt hatten, und trug sie gravitätisch vor mir her, als hielte ich bei einer Schulfeier die türkische Fahne hoch. Als eine Kuh mich bettelnd ansah, schleuderte ich ihr die Schale vor die Füße. Die Kuh zermalmte die verstaubte, verdreckte Schale, Speichel und Melonensaft troffen aus ihrem Maul. Mein Großvater deutete mit dem Stock auf das Tier und rief: »Wenn dein Vater wenigstens so viel Hirn hätte wie diese armselige Kuh, würde er sich nicht einfallen lassen, ein Haus aus Beton oder Ziegeln zu bauen!« Er blickte sich um, als suchte er nach einem Schuldigen. »Ach, von wem hat Mirza das nur? Er muss nach seinen hirnlosen Onkeln geraten sein.« Plötzlich hatte ich vor Augen, wie mein Vater in Kuhgestalt auf einer schmutzigen Melonenschale herumbiss, während ihm weißer Speichel auf die Brust lief. Mein Großvater zog mich weiter, und ich bekam ein furchtbar schlechtes Gewissen, wie ich so was überhaupt denken konnte, und schloss mehrmals hintereinander kurz die Augen, um das Bild aus meinem Kopf zu verscheuchen.

Während wir an von Steinmauern umgebenen Feldern vorbeikamen, grüßte mein Großvater immer wieder zu Bauern hinüber, die Tabakstauden bewässerten, und fuchtelte mit seinem Stock herum wie mit einem Zauberstab. Als erzählte er eine Legende, sprach er davon, wie sie das steinige Gelände in jahrelanger Arbeit in Felder umgewandelt hatten. Alles sei voller Bäume, Felsen und Steine gewesen, und er starrte auf das Stück Land vor sich, als wären sie immer noch da. Die Bäume seien entwurzelt, die Steine mit Hämmern und Spitzhacken zerkleinert worden, dann habe man die Felder mühsam mit Zugtieren bestellt und ringsum Steinmauern errichtet. Als mein Großvater mir ausführlich erklärte, warum es manchmal drei, vier Jahre dauerte, ein Feld anzulegen, bewunderte ich ihn umso mehr. Ich zog meine Hand aus dem Griff seiner knochigen Finger und blickte lange auf die so mühselig gewonnenen Felder, die Steinmauern, die von mächtigen Eichen gesäumt waren, und die dahinterliegenden Felsen, die sich bis zum Bach erstreckten. Es wunderte mich nicht, dass der Großteil der Felder zu Lebzeiten meines Ururgroßvaters Vezir angelegt worden war, denn worüber man sich im Dorf auch unterhalten mochte, irgendwann kam man unweigerlich auf Vezir zu sprechen. Erst sprach man immer ein kurzes Gebet für ihn, dann erzählte man sich, unter welchen Schwierigkeiten er dieser steinigen Gegend Felder abgetrotzt, wie er Obstbäume gepflanzt und besonders, wie er einmal einen Bären erlegt hatte. Er war damals auf dem Heimweg von einem Nachbarn gewesen, als ihm plötzlich ein riesiger Schatten, gegenüberstand, mit dem er stundenlang kämpfte und den er schließlich mit einem Hieb seines Dolches besiegte. Erst am Morgen hatte sich herausgestellt, dass der Schatten ein mächtiger Bär gewesen war. So rasch, wie Regenwolken am Himmel aufziehen können, hatte sich die Nachricht von jener Heldentat in sämtlichen Bergdörfern verbreitet, und von da an hatte man Vezir den »Bärentöter« genannt. Zudem war er dafür berühmt, einen Baum samt der Wurzel ausreißen zu können, und man erzählte sich, er gebiete über Hunderte von Geistern. Obwohl meine Großmutter Vezir nie kennengelernt hatte, sagte sie beharrlich über mich, dass ich ebenso stark und mutig sei wie er; mein Großvater verglich mich allerdings eher mit seinem Vater Resul, der für seine außerordentliche Intelligenz bekannt gewesen war.

Wir durchquerten den fast ausgetrockneten Bach und marschierten an Eichen vorbei. Das Zwitschern der Vögel und das Zirpen der Grillen klangen wie eine süße Melodie, dann war plötzlich das Gekreische aufflatternder Spatzen zu hören, und ich fuhr zusammen. Mein Großvater blieb stehen und spitzte die Ohren. Dann fasste er meine Hand noch fester und zog mich sanft in eine bestimmte Richtung. Ein Schwarm Spatzen kreiste aufgeregt um einen großen Baum herum. Ich ging langsam darauf zu und entdeckte um einen Ast gewickelt eine lange schwarze Schlange. Ich bat meinen Großvater, stehen zu bleiben, und zeigte auf die Schlange, deren Kopf über ein Vogelnest gebeugt war. Mein Großvater hob Kiesel auf und begann, sie auf die Schlange zu werfen, ich versorgte ihn mit weiterer Munition. Die verdutzte Schlange wurde mehrmals getroffen und fiel schließlich zu Boden. Sofort zerdrückte mein Großvater mit seinem Stock ihren Kopf, aus dem feucht und flaumig ein gelbschnabliges Spatzenjunges herausschaute. Die Vögel, die uns wütend umkreisten, versuchte mein Großvater mit seinem Stock zu vertreiben. Er trat auf die Schlange und schritt ihren noch verzweifelt zuckenden Körper vom Schwanz her bis zum Kopf ab, als wollte er sie abmessen, und aus dem zerschmetterten Schlangenkopf drückte es noch zwei Spatzenjunge heraus, die aussahen, als wären sie in eine klebrige Flüssigkeit getaucht worden. Mein Großvater packte die Schlange am Schwanz und schleifte sie hinter sich her, immer noch umkreischt von Spatzen. Schließlich ließ er sie auf einen Ameisenhaufen am Wegesrand fallen, und augenblicklich machten sich die Ameisen über den Körper her. Dann fuhr mir mein Großvater mit seinen knochigen Fingern durch die Haare und fragte mich, ob ich mich vor der Schlange gefürchtet hätte, und obwohl mir noch immer die Knie zitterten, sah ich ihm kühn ins Gesicht und behauptete, ich hätte überhaupt keine Angst gehabt. Vor Freude flackerten seine Augen auf wie die Flamme einer Öllampe kurz vor dem Erlöschen. Er drückte mich fest an die Brust und küsste mich immer wieder auf Stirn und Haare. »Mein Enkel ist eben ein richtiger Mann. Angst kennt er keine. Bravo! Bist eben doch nach mir geraten. Du bist so klug wie dein Urgroßvater Resul und so mutig wie mein Großvater Vezir. Nur gut, dass du nicht wie dein armer Vater und seine Onkel bist!«

Er fuhrwerkte mit seinem Stock in der Luft herum. »Da, schau nur!« Und ich schaute zum hoch aufragenden, mächtigen Scheich-Fethaddin-Berg. Mein Großvater zupfte mich am Ärmel und sagte noch einmal: »Schau! Da zwischen den Eichen. Das Grabmal. Schau genau hin!« Ich blinzelte, und da sah ich es wie zum ersten Mal.

Das Grabmal des Derwischs Scheich Fethaddin war ein Wallfahrtsort. An einem bestimmten Tag im Frühjahr versammelten sich dort unter hundertjährigen Eichen die Menschen aus allen umliegenden Dörfern, Männer und Frauen, Jung und Alt, und blieben bis zum Abend. Es wurde gekocht, gespielt, getanzt und gebetet. Auch wurden Wettkämpfe aller Art veranstaltet: Steinweitwurf, Zielschießen, Laufen, Ringen, Dame, Schach, sodass man dort regelmäßig seine Kräfte messen konnte. Für junge Männer und Frauen war es eine Gelegenheit, sich kennenzulernen, und nach der Wallfahrt kam es gehäuft zu Verlobungen und Hochzeiten. Auch passierte es immer wieder, dass junge Mädchen am Tag der Wallfahrt mit ihrem Verehrer davonliefen. Mit der Zeit wurde das regelrecht zur Tradition, und weder dem Mädchen, das von zu Hause ausriss, noch dem Jungen, der es »entführte«, wurden Vorwürfe gemacht. Dass man seit Jahrhunderten auf Entführungen dieser Art mit solcher Milde reagierte, hatte damit zu tun, was für ein großer und barmherziger Mann Scheich Fethaddin gewesen war.

Auch in jenem Frühling trat unsere ganze Familie die Wallfahrt zu Scheich Fethaddin an. Weil der Weg lang und steil war, ritten mein Großvater und ich auf einem Esel. Zwischen dessen gespitzte Ohren hindurch konnte ich den Pfad vor uns sehen. Meine Schwestern Fatma, Zehra, Dilber und Bınevş hatten sich dem Anlass entsprechend herausgeputzt. Meine Großmutter blieb immer wieder stehen und flüsterte ihnen etwas zu. Auf halbem Weg stieg mein Großvater vom Esel, um meiner Großmutter Platz zu machen.

Zur diesjährigen Wallfahrt kam auch Latife mit, die Tochter des Imams Molla Mahfuz. Im Dorf lief sie immer mit einem Pferdeschwanz herum, nun aber trug sie ihre schwarzen Haare offen, und sie wogten im Wind wie ein Weizenfeld. Mit dem weißen Rock und der blauen Bluse erinnerte sie an einen von Wolken durchzogenen Himmel. Möglichst unauffällig trieb ich mich bei dem Baum herum, unter dem ihre Familie lagerte, und wenn Latifes Mutter nicht herschaute, lächelten wir beide uns an. Als ich später müde in den Armen meiner Großmutter lag, verkündete ich, dass ich eines Tages Latife entführen würde. Eine Weile sah sie mich verdutzt an, dann strich sie mir übers Haar und küsste mit ihren trockenen Lippen mehrmals meine Stirn: »Jetzt ist der Junge schon so alt, dass er ein Mädchen entführen will!« Als sie meinem Großvater und meinem Vater von meinem Plan erzählte, nahm mich mein Großvater sichtlich stolz in die Arme und sagte: »Da schlägt er ganz nach seinem Urgroßvater. Auch der hat hier meine Mutter auf sein Pferd gehievt und ist mir ihr auf und davon!« Mein Vater hingegen aß schweigend weiter und sah mich dabei missbilligend an.

Tatsächlich hatten sich mein Urgroßvater Resul, mit dem mein Großvater mich immer wieder verglich, und meine Urgroßmutter Xecê bei einer solchen Wallfahrt kennengelernt. Resul hatte eine kräftige Stimme und war einer der besten dengbejs der Gegend. Wenn er die Hand ans Ohr legte und zu singen begann, war im Nu eine Menge um ihn herum versammelt, manche Leute stiegen sogar auf Bäume, um ihn besser zu hören. Als Xecê damals seine melancholische Stimme hörte, fühlte sie sich sofort magisch zu ihm hingezogen. Und als sie ihm schließlich gegenüberstand, verschlug es ihr den Atem. Wenn mein Großvater von dieser ersten Begegnung erzählte, betonte er allerdings, die beiden seien sich nie darüber einig gewesen, wie sie tatsächlich verlaufen sei. Resul behauptete, Xecê habe sich auf den ersten Blick in ihn verliebt, während Xecê sagte, dass vielmehr Resul ihr den Hof gemacht habe.

Tatsächlich scheint es so gewesen zu sein, dass Resul gleich nach jener Wallfahrt bei Xecês Vater um ihre Hand angehalten hat. Xecês Eltern hatten zwar neun Söhne, aber nur die eine Tochter, und die wollten sie nicht leichtfertig hergeben. Besonders die Mutter hütete ihre Tochter wie ihren Augapfel und wollte sich nicht auf Resuls Gesuch einlassen. Selbst als sich Verwandte und Freunde für das Paar einsetzten, blieben Xecês Eltern hart. Da fasste Resul seinen Entschluss, und bei der nächsten Wallfahrt hob er Xecê auf sein Pferd und ritt mir ihr davon. Xecês Eltern waren so aufgebracht, dass sie den beiden fast bewaffnete Reiter hinterhergeschickt hätten, die sie töten sollten. Doch die Ältesten aus den umliegenden Dörfern griffen ein und machten der Familie eindringlich klar, dass mit großem Unheil zu rechnen habe, wer sich gegen jene jahrhundertealte Tradition auflehnen wolle. Das flößte der Familie solche Angst ein, dass sie von ihrem Vorhaben abließ. Kurz darauf feierten die beiden Familien eine Hochzeit, die vierzig Tage und vierzig Nächte dauerte. Ein Jahr später kam mein Großvater zur Welt, das Jahr darauf mein Onkel Ömer. Doch das Glück sollte nicht von Dauer sein, denn als die Kinder noch klein waren, brach der Weltkrieg aus, und Resul wurde eingezogen. Er sollte nie wieder nach Hause zurückkommen.

Xecê wollte sich damit nicht abfinden und wartete ihr Leben lang auf seine Rückkehr. Als bekannt wurde, dass sie Witwe war, erzählten immer wieder Verwandte aus anderen Dörfern von Verehrern, die gerne um ihre Hand anhalten würden, doch Xecê ließ sie nicht einmal ins Haus und behauptete bis zu ihrem Tod steif und fest, ihr Resul werde eines Tages gesund wieder auftauchen.

Ein Jahr später kamen wir wieder zum Wallfahrtsort und ließen uns unter demselben Baum nieder. Meine Großmutter hob mich vom Esel, und meine älteste Schwester Fatma begann sofort, das Essen vorzubereiten, Zehra, Dilber und Bınevş packten unsere Sachen aus. Meine Großeltern und ich gingen zum Grabmal und grüßten dabei nach links und rechts andere Ankommende. Vor dem Grabmal verrichtete mein Großvater ein kurzes Gebet, dann traf er sich mit Freunden zum Mühlespielen. Meine Großmutter lehnte sich mit dem Rücken ans Grabmal und sagte lange Gebete auf, die ich kaum verstand. Dabei wischte sie sich immer wieder Tränen aus den Augen. Auch ich hob die Hände und betete für meine Mutter und für meinen Bruder Ebubekir, der mit großem Pomp verabschiedet worden und nie zurückgekehrt war.

Dann sah ich eine Weile meinem Großvater beim Mühlespielen zu. Allmählich wurde mir der Radau, den die Männer dabei veranstalteten, zu viel, und ich wollte aufstehen, doch mein Großvater legte mir die Hand auf die Schulter und sagte schulmeisterhaft: »Setz dich wieder hin und schau zu!« Doch als Zehra vorbeikam, folgte ich ihr zum Grabmal. Wir beteten noch mal für meine Mutter und Zehra begann, laut zu schluchzen. Ich hatte keine Erinnerung an meine Mutter und wusste nicht, was ich tun sollte. Zehra rief: »Lieber Gott, schütze unseren Ebubekir! Steh ihm bitte bei, damit wir ihn nicht verlieren!« Das traf mich mitten ins Herz, und ich schloss die Augen und betete auch noch einmal für Ebubekir. Seit er nicht mehr da war, sprach mein Vater noch weniger als zuvor. Seine Ohren schienen nur noch die Stille wahrzunehmen, seine Augen nur noch die Dunkelheit, seine Zunge kannte nur noch das Schweigen. Ich hängte einen Stofffetzen an einen der Wunschbäume rund um das Grabmal, und an das löchrige Gestein des Grabmals selbst klebte ich kleine Wunschkiesel. Auf dem Weg zu unserem Baum zählte ich an meinen Fingern die Jahre ab, die Ebrubekir bereits verschollen war, und bestürzt stellte ich fest, dass wir schon das zweite Mal ohne ihn hierherkamen.

Ich fühlte mich entsetzlich einsam, und um mich abzulenken, sah ich den großen Jungs beim Steinewerfen zu. Ich hockte auf einem kleinen Felsen und versuchte, mir für später, wenn ich selbst einmal mitmachen dürfte, ihre Technik einzuprägen. Mir fiel auf, dass meine Schwester Bınevş und einer der Jungen sich immer wieder heimlich zublinzelten. Als Bınevş merkte, dass ich sie beobachtete, senkte sie beschämt den Blick. Auch ich schaute gleich wieder weg und fing an, mit einem Stock im Boden nach Regenwürmern zu pulen. Als ich einen erwischte, drückte ich mit dem Stock zu. Er versuchte, sich davonzuschlängeln, doch ich drückte fester zu, und schließlich zerriss es ihn in zwei Teile, die beide weiterzuckten.

Ich war ganz in dieses Spiel vertieft, als Bınevş mir auf einmal Geld in die Hand drückte. Ich lief zu den Verkaufsständen, die Händler unter den Bäumen aufgebaut hatten, und gab alles für Waffeln aus. Ich liebte Waffeln, und weil nach Beerdigungen üblicherweise Waffeln angeboten wurden, wünschte ich mir manchmal sogar, ein Schwerkranker würde sterben, schämte mich aber gleich dafür und bekam ein schlechtes Gewissen.

Bevor ich die Waffeln jedoch aufessen konnte, deutete mein Großvater mit seinem Stock auf das Grabmal, nahm mich bei der Hand und führte mich zum Mann aus Stein. Es waren eigentlich drei Steine, drei Felsbrocken, die mein Großvater nacheinander mit dem Stock berührte. Er sah zum Himmel, dann zum Grabmal, schließlich wieder auf die Felsbrocken und sagte: »Das ist Chuk, das da sein kleiner Sohn und das sein Esel mit einer Ladung Holz auf dem Rücken.« Er sah mich an, als wollte er fragen, ob ich ihm so weit folgen könne. »Chuk war ein gottloser Mann, der zwei Jahre lang rund um das Grabmal Bäume fällte. Als er im dritten Jahr mit einer Ladung Holz zurück nach Hause wollte, wurde es Scheich Fethaddin zu viel, er zog sein Schwert und verwandelte den Mann, den Jungen und den Esel mit einem Hieb seines Schwertes in Felsbrocken.« Mit dem Stock zeigte mein Großvater auf die Stelle, wo sie das Schwert getroffen hatte. Dann sah er wieder zum Himmel hinauf, und während er so dastand, hatte ich plötzlich ein langes, scharfes Schwert vor Augen und bekam es mit der Angst. »Warum hat Scheich Fethaddin auch den kleinen Jungen in einen Fels verwandelt?«, fragte ich. Da ließ mein Großvater meine Hand los und ging zweimal um den kleinsten Felsbrocken herum, als untersuchte er ihn. Er ließ keine Schwertspuren erkennen. »Mit dem Schwert verletzt hat Scheich Fethaddin den Jungen nicht«, sagte mein Großvater lächelnd und strich mir über die Haare. »Er hat ihn nur in einen Fels verwandelt.« Ich stellte mir vor, wie das Gesicht des Jungen immer härter wurde und schließlich versteinerte. »Und wann ist die Strafe zu Ende?«, fragte ich. »Darf der Junge wieder in sein Dorf und zu seiner Mutter zurück?« Doch merkte ich, dass meinem Großvater diese Fragen lästig wurden, und so sagte ich nichts mehr. Als mein Großvater mich hochhob und auf den versteinerten Esel setzte, konnte ich mich jedoch nicht mehr zurückhalten und fragte, ob der Scheich nicht auch mich in einen Stein verwandeln würde. Mein Großvater musste lachen und küsste mich auf die Stirn. »Nein, Junge, dich nicht, denn wir sind Muslime, und wir haben hier auch keine Bäume gefällt. Nur wer so was tut, wird versteinert.« »Wer war dieser Chuk?«, fragte ich. Mein Großvater starrte angsterfüllt über das nahe gelegene Dorf hinweg auf die Ruinen des alten Dorfes, das von den Erwachsenen »Dera« genannt wurde. »Da, schau da hin«, sagte er, und ich blickte zu den verfallenen Häusern, die kaum mehr als Steinhaufen waren. Auf einem Maulbeerbaum ließ sich ein Spatzenschwarm nieder. »Hat der Scheich auch das Dorf bestraft?«, fragte ich, worauf sich die Miene meines Großvaters verfinsterte. E r s treichelte m ir n och e inmal übers Haar und ließ seinen Blick über die Trümmer schweifen. Dann nahm er seine lederüberzogene Schnupftabaksdose aus der Jackentasche, lud sich eine Prise auf den kleinen Finger, zog sie die Nase hoch und nieste dann ein paarmal hintereinander, dass seine Augen tränten und es ihn nur so schüttelte. Benommen wie ein geköpfter Widder, stand er da, starrte vor sich hin, sagte: »Dinya siya darekê ye«, und wischte sich mit seinen riesigen Händen die Tränen aus dem Gesicht.

VIER

»GOTT MÖGE UNS VERZEIHEN! Gott möge uns verzeihen!«, sagte Molla Mahfuz.

»Amen, Amen! Gott möge uns allen verzeihen!«, rief mein Großvater aus und musste dabei so lachen, dass ihm die Tränen kamen. Haci Nâsir führte gerade seine schwarze Stute in eine Mulde und versuchte abzuschätzen, ob der Esel, den sein Sohn Kasim am Zügel hielt, so von hinten an sie herankommen würde. Als die Stute in der Mitte der Mulde stand, sagte er: »Jetzt, Junge, jetzt!« Kasim zog den Esel näher, spitzte den Mund und rief: »Tschu, tschu!«, während sein Vater murmelte: »Hoffentlich klappt es diesmal!« Er redete der Stute gut zu, als müsste er ein Kind besänftigen, und streichelte ihren Rücken. Der silbern glänzende Esel begann, an der Stute zu schnuppern, sodass sie unruhig wurde und mit dem Schwanz ausschlug, als verscheuchte sie Fliegen. Der Esel fletschte die Zähne, und alle warteten gespannt. Haci Nâsir rief »Sch, sch, sch«, packte mit beiden Händen den knüppeldicken, hochragenden Penis des Esels, streichelte ihn, und da bäumte sich der Esel auf und sprang auf die Stute. Während er sichtlich Mühe hatte, sich auf der viel größeren Stute zu halten, stieg Haci Nâsir »Bismillah« rufend in die Mulde hinab, und versuchte, den Penis an die richtige Stelle zu schieben. Mit angehaltenem Atem verfolgten alle die Begattung. Vom Feld her feuerten die Bauern sie an, eine Kuh blökte, ein Hahn krähte lange, ein Esel schrie, und immer wieder war das »Bismillah, Bismillah!« Haci Nâsirs zu hören. Ich starrte wie gebannt auf das Geschehen, und gerade als ich dachte, nun würde es der unter dem Schwanz der Stute herumfuhrwerkende Esel gleich schaffen, mit seinem schwarz glänzenden Penis in sie einzudringen, da tat die Stute einen Schritt nach vorn, der Esel geriet aus dem Gleichgewicht, eines seiner Beine rutschte ab, und er schlug der Länge nach in die Mulde. Sein Penis schwang dabei nur haarscharf am Kopf des fluchenden Haci Nâsir vorbei, der gerade noch zur Seite springen konnte. Alle Umstehenden hielten sich den Bauch vor Lachen, nur Molla Mahfuz sagte mit seiner üblichen Ernsthaftigkeit: »Haci Nâsir, ist es das wirklich wert? Du siehst doch, dass der Esel es nicht hinbekommt. Schlag dir das Maultier doch endlich aus dem Kopf.«

Vor Wut kochend, schrie Haci Nâsir seinen Sohn an: »Entweder dieser Esel paart sich jetzt mit der Stute, oder du tust es! Hast du mich verstanden? Diese Stute bringt mir ein Maultier auf die Welt!« Mit einem Stock hieb er auf die Stute ein, bis er außer Atem kam. »Wäre mein Maultier nicht weggelaufen, müsste ich mich nicht den ganzen Tag mit diesem unfähigen Esel abplagen. Seit einem Jahr suche ich jetzt schon nach ihm, und nirgends findet sich auch nur die geringste Spur. Einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt. Meinen Sohn Mehmduh nimmt das so mit, dass er kaum noch was isst. Wahrscheinlich wäre er nicht so traurig, wenn er seinen Vater verlieren würde. Gestern ist er schon wieder losgezogen, um das Maultier zu suchen, weil er es nicht mehr ausgehalten hat. Molla Mahfuz, mach uns doch bitte ein Amulett oder beschwöre diesen Esel! Wenn er es nicht schafft, geht es ihm an den Kragen, das könnt ihr mir glauben. Dann bringe ich ihn runter zum Bach und schlage ihm mit dem Beil den Schädel ein!« Doch Haci Nâsir erntete damit nur noch mehr Gelächter. Mein Großvater ließ sich prustend zu Boden sinken, und mit Blick auf Molla Mahfuz sagte er: »Du versündigst dich, Haci Nâsir! Wenn dein Maultier krank wäre, würde ich mir die Sache eingehen lassen … Aber einen Esel beschwören, damit er kopuliert?«