Die Tränen des Propheten - Yavuz Ekinci - E-Book

Die Tränen des Propheten E-Book

Yavuz Ekinci

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer heute behauptet, er sei ein Prophet, dazu berufen von dem Erzengel Gabriel, der kann nur verrückt sein. Aber wie verrückt sind die, die die Welt so akzeptieren, wie sie ist? Yavuz Ekinci erzählt eine Hiobsgeschichte in modernen Zeiten. Mehdi ist Informatiker. Er lebt in der großen Stadt. Seine Frau ist mit seiner Tochter in die Ferien gefahren, ohne ihn. Und wäre Mehdi in diesen Tagen des Alleinseins nicht der Erzengel Gabriel erschienen, der ihm verkündete, er sei der Botschafter Gottes, dann wäre sein Leben vielleicht normal weiter gegangen. Aber als er behauptet, ein Prophet zu sein, verlässt ihn seine Frau umgehend. Ihm ist es recht, so kann er ungestört auf weitere Offenbarungen warten. Allein, es kommen keine. Also macht er sich auf, zieht durch die Stadt und fängt an zu predigen. Aber niemand will auf diesen Verrückten hören, dessen Weltfremdheit so offensichtlich ist. Die Tränen des Propheten erzählt von den Verwerfungen der Menschen, die es schon immer gegeben hat, von den Grausamkeiten und Verzweiflungen. Aber was ist wahr, was ist der Wahn eines Einzelnen, der sich für den Erlöser hält und zur Umkehr aufruft? Zu welcher Umkehr? Eine Erlösung, das macht dieser wilde, verzweifelte Roman deutlich, wird von den Religionen nicht zu erwarten sein. Und doch, wer weiß? Vielleicht ist es der Narr, dem die Menschen zuhören, der sieht, was sie wissen, aber nicht sehen wollen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 231

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ZUM BUCH

Mehdi ist Informatiker. Er lebt in der großen Stadt. Seine Frau ist mit seiner Tochter in die Ferien gefahren, ohne ihn. Und wäre Mehdi in diesen Tagen des Alleinseins nicht der Erzengel Gabriel erschienen, der ihm verkündete, er sei der Botschafter Gottes, dann wäre sein Leben vielleicht normal weiter gegangen. Aber als er behauptet, ein Prophet zu sein, verlässt ihn seine Frau umgehend. Ihm ist es recht, so kann er ungestört auf weitere Offenbarungen warten. Allein, es kommen keine. Also macht er sich auf, zieht durch die Stadt und fängt an zu predigen. Aber niemand will auf diesen Verrückten hören, dessen Weltfremdheit so offensichtlich ist.

Die Tränen des Propheten erzählt von den Verwerfungen der Menschen, die es schon immer gegeben hat, von den Grausamkeiten und Verzweiflungen. Aber was ist wahr, was ist der Wahn eines Einzelnen, der sich für den Erlöser hält und zur Umkehr aufruft? Zu welcher Umkehr? Eine Erlösung, das macht dieser wilde, verzweifelte Roman deutlich, wird von den Religionen nicht zu erwarten sein. Und doch, wer weiß? Vielleicht ist es der Narr, dem die Menschen zuhören, der sieht, was sie wissen, aber nicht sehen wollen.

„Yavuz Ekincis Schreiben ist so poetisch wie politisch - es verbindet Mythen und Mystik, Ideologie und Prophetie, Zärtlichkeit und Gewalt.“ Deniz Utlu

ÜBER DEN AUTOR

Yavuz Ekinci, 1979 in Batman/Türkei geboren, beschäftigt sich in seinem literarischen Werk mit dem Leben der Kurden in der Türkei. Nach einem Studium der Erziehungswissenschaft arbeitet er seit 2001 als Lehrer und ist Herausgeber einer Publikationsreihe mit kurdischer Exilliteratur.

Ekinci erhielt für seine Veröffentlichungen zahlreiche Preise, darunter den Yunus Nadi Story Award, den Human Rights Association Story Award sowie den Yasar Nabi Nayir Noteworthy Story Award. Zuletzt erschien Der Tag, an dem ein Mann vom Berg Amar kam (Kunstmann 2017).

YAVUZ EKINCI

Die Tränen des Propheten

Roman

aus dem Türkischenvon Oliver Kontny

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Inhalt

FRÜHLING

I’m Your Man

SOMMER

Die ganze Welt ist meinem Auge Kerbala

HERBST

I Auf einem langen, schmalen Pfad bin ich

II Ach, Kamelführer!

III Requiem

IV Mondscheinsonate

V Erbarme dich, mein Gott

VI Highway 61

VII Im Kerker hab ich dich vermisst

VIII Du warfst mich in einen finstren Brunnen ohne Leiter

WINTER

Feuerpredigt

FRÜHLING

 

Ich, Johannes, euer Bruder und Gefährte in der Bedrängnis, in der Königsherrschaft und im standhaften Ausharren in Jesus, war auf der Insel, die Patmos heißt, um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses für Jesus. Am Tag des Herrn wurde ich vom Geist ergriffen und hörte hinter mir eine Stimme, laut wie eine Posaune. Sie sprach: Schreib das, was du siehst, in ein Buch und schick es an die sieben Gemeinden: nach Ephesus, nach Smyrna, nach Pergamon, nach Thyatira, nach Sardes, nach Philadelphia und nach Laodizea!

Da wandte ich mich um, weil ich die Stimme erblicken wollte, die zu mir sprach. Als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter und mitten unter den Leuchtern einen gleich einem Menschensohn; er war bekleidet mit einem Gewand bis auf die Füße und um die Brust trug er einen Gürtel aus Gold. Sein Haupt und seine Haare waren weiß wie weiße Wolle, wie Schnee, und seine Augen wie Feuerflammen; seine Beine glänzten wie Golderz, das im Schmelzofen glüht, und seine Stimme war wie das Rauschen von Wassermassen. In seiner Rechten hielt er sieben Sterne und aus seinem Mund kam ein scharfes, zweischneidiges Schwert und sein Gesicht leuchtete wie die machtvoll strahlende Sonne. Als ich ihn sah, fiel ich wie tot vor seinen Füßen nieder. Er aber legte seine rechte Hand auf mich und sagte: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, doch siehe, ich lebe in alle Ewigkeit und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt. Schreib auf, was du gesehen hast: was ist und was danach geschehen wird. (1,9–19)

Dann hörte ich, wie eine laute Stimme aus dem Tempel den sieben Engeln zurief: Geht und gießt die sieben Schalen mit dem Zorn Gottes über die Erde! Der erste ging und goss seine Schale über das Land. Da bildete sich ein böses und schlimmes Geschwür an den Menschen, die das Kennzeichen des Tieres trugen und sein Standbild anbeteten. Der zweite Engel goss seine Schale über das Meer. Da wurde es zu Blut (…)

Der vierte Engel goss seine Schale über die Sonne. Da wurde ihr Macht gegeben, mit ihrem Feuer die Menschen zu verbrennen. Und die Menschen verbrannten in der großen Hitze. Dennoch lästerten sie den Namen Gottes, der die Macht über diese Plagen hat. Sie bekehrten sich nicht dazu, ihm die Ehre zu geben. Der fünfte Engel goss seine Schale über den Thron des Tieres. Da kam Finsternis über das Reich des Tieres und die Menschen zerbissen sich vor Angst und Schmerz die Zunge. (…)

Der sechste Engel goss seine Schale über den großen Strom, den Euphrat. Da trocknete sein Wasser aus, sodass den Königen vom Aufgang der Sonne der Weg offen stand. Dann sah ich aus dem Maul des Drachen und aus dem Maul des Tieres und aus dem Maul des falschen Propheten drei unreine Geister hervorkommen, die wie Frösche aussahen. Es sind Dämonengeister, die Wunderzeichen tun; sie schwärmten aus zu den Königen der ganzen Erde, um sie zusammenzuholen für den Krieg am großen Tag Gottes, des Herrschers über die ganze Schöpfung. (…)

Die Geister führten die Könige an dem Ort zusammen, der auf Hebräisch Harmagedon heißt. Und der siebte Engel goss seine Schale über die Luft. Da kam eine laute Stimme aus dem Tempel, die vom Thron her rief: Es ist geschehen. Und es folgten Blitze, Stimmen und Donner; es entstand ein gewaltiges Erdbeben, wie noch keines gewesen war, seitdem es Menschen auf der Erde gibt. So gewaltig war dieses Beben. Die große Stadt brach in drei Teile auseinander und die Städte der Völker stürzten ein. Gott hatte sich an Babylon, die Große, erinnert und reichte ihr den Becher mit dem Wein seines rächenden Zornes. Alle Inseln verschwanden und es gab keine Berge mehr. Und gewaltige Hagelbrocken, zentnerschwer, stürzten vom Himmel auf die Menschen herab. (16,1–21)

I’M YOUR MAN

Viertausendeinhundertzwölf Jahre, nachdem Abraham seinen Sohn Ismail auf den Berg Moriah brachte, um ihn dort zu opfern, eintausendneunhundertvierundachtzig Jahre, nachdem Jesus in Betanien ans Grab des Lazarus getreten war und rief: »Lazarus, komm heraus!«, eintausenddreihundertzweiundneunzig Jahre, nachdem Utbah ibn Abi Waqqas in der Schlacht von Uhud Mohammed einen Zahn ausschlug, zweitausendneunhundertsieben Jahre, nachdem Potifars Gemahlin Suleika Joseph das Gewand zerriss; dreitausendsiebenundsechzig Jahre, nachdem Hiob die Maden, die aus seinem Fleische fielen, vom Boden auflas und wieder in seine Wunden setzte, sechstausendeinhundertundvier Jahre, nachdem Aeneas seinen Sohn Askanios an seine Seite nahm und seinen Vater Anchises auf dem Rücken aus dem brennenden Troja trug, sechstausendvierundneunzig Jahre, nachdem der listige Odysseus dem Melanthios Ohren, Nase und Geschlechtsteil abschnitt und an die Hunde verfütterte, siebentausendundzwei Jahre, nachdem Gilgamesch das von Uta-napischti erlangte Unsterblichkeitskraut an eine Schlange verlor, vierhundertzwölf Jahre, nachdem Don Quijote an einem heißen Julimorgen auf dem Rücken von Rosinante in ein großes Abenteuer aufbrach, stieg der sechsflügelige Erzengel Gabriel zur Erde hinab und sagte zu Mehdi: »Siehe!«

Es war im Monat April. Das Telefon klingelte. Mehdi kam aus dem Bad, mit einer Schere, einem Hühneraugenpflaster, einer Mullbinde und Wattebäuschchen. Er legte die Utensilien auf dem Tisch ab und ging ans Telefon. Mit ihrer sich überschlagenden Stimme klang seine Tochter Şinda wie eine Nachtigall, als sie ihrem Vater vom Meer vorschwärmte, in dem sie geschwommen war, von den bunten Muscheln, die sie am Strand gesammelt hatte, von den Delphinen, die sie gesehen hatte. Und sie fragte, ob er sich gut um ihren Vogel Mavi und den Fisch kümmere. Mehdi sagte, dem Wellensittich und dem Goldfisch gehe es bestens und sie würden auch schön ihr Futter fressen. Er vermisse sie sehr und sie möge das Telefon doch bitte ihrer Mutter geben. Sara nahm das Telefon und sagte vorwurfsvoll: »Es wäre schön, wenn du mitgekommen wärest. Ein paar Tage zusammen hätten uns gutgetan.« Mehdi kniff die Augen zusammen und sagte in einem völlig anderen Ton: »Ein andermal fahren wir zusammen weg. Ich muss gerade ein bisschen für mich allein sein.« Seine Frau schwieg lange und fragte dann mit der den Frauen eigenen Intuition: »Ist bei dir alles in Ordnung? Wird alles wieder gut? Ich habe Angst, große Angst. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl.« Um sie zu beruhigen, sagte Mehdi fröhlich: »Mir geht es gut, Schatz. Mach dir keine Sorgen. Alles in Ordnung. Habt einen schönen Urlaub. Ein andermal …« Er lauschte dem schweren Atmen seiner Frau und sagte liebevoll: »Bis bald, Schatz. Gute Nacht! Ich küsse euch.« Dann legte er auf.

Mehdi nahm das Hühneraugenpflaster, die Mullbinde, Schere und Wattebäuschchen vom Tisch und eilte ins Bad zurück. Er zog seine Socken aus, rollte sie zu einem Ball zusammen und warf sie in den schon vollen, braunen Wäschekorb, setzte sich auf den Badewannenrand, holte tief Luft und zog seinen Fuß bis zum Bauch hoch. Mit dem Zeigefinger berührte er leicht das Hühneraugenpflaster auf seinem rechten großen Zeh. Der Schmerz schoss ihm bis in die Brust und er ächzte. Mit der linken Hand umfasste er dann fest seinen Knöchel, kniff die Augen zusammen, biss die Zähne aufeinander und riss mit einer raschen Bewegung das Hühneraugenpflaster ab. Der Schmerz war so stark, als hätte man ihm einen Spieß in die Brust gestoßen. Tränen schossen ihm in die Augen. Mit beiden Händen hielt er seinen Fuß, beugte sich hinunter und blies auf sein Hühnerauge. Er schniefte und wischte sich die Tränen aus den Augen. Als der Schmerz etwas nachgelassen hatte, berührte er das Hühnerauge, dessen Sporn so groß wie eine Linse war. Die Haut war hart und rau wie Schmirgelpapier, und es wurde täglich größer, so kam es ihm jedenfalls vor. Er stand auf, hüpfte auf einem Fuß zum Badezimmerschrank und holte den Bimsstein. Er tupfte das Hühnerauge mit Watte ab und entfernte die Hornhaut mit dem Bimsstein. Die abgeschliffenen Hautzellen pustete er von seinem Fuß, stand auf, ließ in eine Schüssel warmes Wasser ein und tauchte den wehen Fuß hinein. Er wartete so lange, bis die Haut richtig aufgeweicht war, zählte im Kopf bis tausend, nahm dann den Fuß heraus und trocknete ihn ab. Er nahm eine schwarze, reife Feige, die er aus dem Kühlschrank geholt hatte, und halbierte sie. Eine Hälfte legte er auf das Hühnerauge und wickelte die Mullbinde fest um Zeh und Feige. Er wusch seine Hände mit flüssiger Zitronenseife, trocknete sie ab und verließ das Bad.

Er hinkte in die Küche, füllte Wasser in den Teekessel und stellte ihn auf den Herd. Während er darauf wartete, dass es kochte, sang er »I’m Your Man« mit, was gerade im Radio lief. Als das Wasser kochte, stellte er den Herd aus und nahm aus dem Schrank ein Päckchen frisch gemahlenen Kaffee. Als er es öffnete, zog ein verführerischer Duft in die Küche. Er sog den Duft ein und gab drei Löffel Kaffee in die French Press, goss den Kaffee mit kochendem Wasser auf und ließ ihn ziehen.

Auf seinem Handy öffnete er Twitter und überflog die neuen Tweets. Den Tweet »Lang lebe die Hölle für die Tyrannen!« retweetete er. Er schaute nach den neuen Posts mit dem Hashtag »Eine bessere Welt ist möglich« und likte ein paar von ihnen. Dann las er die Tweets unter #metoo. Da waren Frauen, die von ihren Chefs belästigt wurden, Mädchen, die von ihren Brüdern vergewaltigt worden waren, und Kinder, die sexuell ausgebeutet wurden. Die Tweets deprimierten ihn. »Die Welt ist so was von schrecklich geworden«, murmelte er und veröffentlichte unter dem Hashtag #einebessereweltistmoeglich folgenden Tweet: »Ein Mensch ist so groß wie sein Schmerz.« Dann schloss er die Twitter-App und öffnete Instagram. Schnell überflog er die Posts. Katzen, aufgeblühte Blumen, Fotos von lesenden Leuten, Selfies, Reklameposter, Bilder von Kindern, Wolken, schicken Frauen, charismatischen Männern … Er likte das von einem Verlag gepostete Cover von »Ein finsterer Bruder«, einem neuen Sachbuch über den Teufel, und repostete es. Er goss den aufgebrühten Kaffee in eine Tasse und trank einen Schluck. Dabei schmetterte er synchron mit Leonard Cohen: »I’m your man«.

Er nahm die Tasse in beide Hände und sog den Kaffeeduft ein. Er hatte gerade erst zwei Schlucke genommen, als aus dem Kinderzimmer die Schreie des Wellensittichs drangen. Er stellte die Tasse ab und lief zum Kinderzimmer, fand die Fenster offen und die dünnen Gardinen im Wind wehend vor, während der Wellensittich sich von innen gegen die Käfigstäbe warf und aus vollem Leibe schrie. Mehdi schloss die Fenster, zog die Gardinen vor und öffnete behutsam die Käfigtür. Der Vogel kam heraus und flog zwei Runden durchs Zimmer. Mehdi beobachtete ihn besorgt. Er erwartete, dass der Vogel sich irgendwo niederließ. Tatsächlich flog er die Lampe an, entschied sich aber im letzten Moment um, umkreiste Mehdis Kopf viermal, immer schneller, und flog dann mit einem hörbaren Knall direkt gegen die Wand. Bestürzt schrie Mehdi: »Mavi!«, und sprang auf den abgestürzten Vogel zu. In diesem Moment schlug ein Blitz ein. Der Donner übertönte Mehdis Stimme. Die Scheiben erbebten, die Fenster öffneten sich wieder, die Gardinen wehten im Wind.

Mehdi nahm den reglosen Leib des Vogels in seine Handflächen und hob ihn auf. Ein leichtes Brennen stieg aus seiner Brust in die Kehle hinauf. Seine Augen wurden feucht, er hatte einen Frosch im Hals und sein Atem stockte. Er streichelte das blaue Gefieder des Vogels. Aus dem winzigen, gelben Schnabel rannen drei Tropfen Blut und fielen auf den Teppich. »Dieses Malheur hat doch die undankbare Katze zu verantworten«, maulte er und rief nach ihr: »Inci, wo bist du?« Er küsste den Vogel, legte ihn auf der Kommode neben Şindas Bett ab und begann, nach der Katze zu suchen.

Er schaute im Wohnzimmer, im Bad, auf dem Balkon, doch die Katze fand er nicht. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Ratlos ging er zurück ins Wohnzimmer. Sein Blick fiel auf das Aquarium. Der Fisch schwamm auf eine seltsame Weise gegen das Glas. Mehdi gab ihm etwas Futter. Der Fisch kümmerte sich nicht um die Bröckchen, die erst auf dem Wasser schwammen und dann langsam sanken, sondern drängte immer wieder gegen die Scheibe. Als Mehdi sich zu ihm herunterbeugte, sprang der Fisch mit einem Mal aus dem Wasser hoch. Mehdi zuckte zusammen. Der Fisch fiel auf den Tisch und glitt auf den Teppichboden. Er zappelte so stark, dass Mehdi ihn nur mit äußerster Mühe einfangen und ins Aquarium zurückwerfen konnte. Der Fisch drängte noch zweimal gegen die Scheibe, dann sprang er wieder heraus. Dieses Mal rutschte er Mehdi unentwegt aus den Händen. Erst als er reglos unter dem Tisch lag, konnte Mehdi ihn aufheben und ins Wasser zurückwerfen. Der Fisch streckte seinen Kopf aus dem Wasser und blickte Mehdi an. Dabei klappte er sein Maul auf und zu, als täte er einen letzten Atemzug. Dann lag er reglos auf der Wasseroberfläche wie ein vom Baum gefallenes Blatt auf einem herbstlichen See. Mehdi starrte den Fisch irritiert an. Sein Mund trocknete aus, das Blut schoss ihm in den Kopf. »Inci, Inci! Wo bist du?«, schrie er wütend und sprang auf, um die Katze zu suchen.

Er rannte nacheinander ins Bad, in die Küche, auf den Balkon, ins Wohnzimmer, ins Schlafzimmer, auf die Toilette. Er suchte unterm Bett, hinter den Schränken, unterm Tisch, im Bücherregal, auf dem Kühlschrank und in der Badewanne. Er fand die Katze nicht. Atemlos von seiner Tour durch das Haus sank er zu Boden und keuchte. Der einzige Ort, den er vergessen hatte, war unter den Sesseln. Er wischte sich erst den Schweiß von der Stirn, bevor er sich umständlich herunterbeugte, um unter den Sesseln zu schauen. Er hörte ein Geräusch aus der Ferne. Mehdi hielt inne und lauschte dem Klang. Immer lauter wurde er, drang durch Fenster, Wände und Decke, schien alle Möbel zu durchziehen und den Raum gänzlich zu füllen. Ein Klang wie von eintausend Menschen, die ihre schweren Ketten gegen Felsen schlagen. Wie von Abertausenden Soldaten, die ihre Schwerter auf ihre Schilde prallen ließen, von unzähligen Reitern, die ihre Speere in den Boden stießen, von Hunderten von Legionären, die mit Rammböcken gegen die Pforten einer Festung anrannten. Ein Klang wie von Dutzenden von Schmieden, die ihre Hämmer auf Ambosse niedergehen ließen. Der Raum war von einem Klirren und Klappern und Schlagen und Rauschen erfüllt.

Mehdi hielt sich die Ohren zu. Ihm wurde schwarz vor Augen, sein Atem stockte. Über seinen Rücken rannen Ströme kalten Schweißes. Sein Mund wurde trocken. Sein Gesicht gelb. Jetzt troff der kalte Schweiß ihm von der Stirn. Seine Knie zitterten, er verlor den Gleichgewichtssinn. Seine Lungen fiepten, als lastete ein Gewicht von mehreren Tonnen auf seiner Brust. Dreimal hintereinander ertönte ein Donner am Himmel. Alles Glas begann zu bersten und zerplatzte in feine, kristalline Stücke, die wie winzige Eisbröckchen durch den Raum schossen. Mehdi kauerte sich auf den Boden, um sich vor den Glassplittern zu schützen, kniff die Augen zu und bedeckte seinen Kopf mit den Armen. Dreimal, viermal hintereinander schlug der Blitz ein und in Begleitung des Rauschens Hunderter Flügel stieg ein Erzengel mit sechs Fittichen vom Himmel herab. Mehdi, der wie ein Embryo neben einem Sessel am Boden kauerte, hob seinen Kopf und starrte den Engel mit weit aufgerissenen Augen an.

Der Engel tat zwei Schritte auf Mehdi zu, fasste ihn an den Schultern und sagte: »Siehe!« Um den Blick des Engels zu vermeiden, kniff Mehdi seine Augen fest zu und drehte den Kopf weg. Der Engel aber schüttelte ihn und sagte wieder: »Siehe!« Voller Furcht öffnete Mehdi die Augen. Er konnte aber nichts mehr sehen. Er blickte nach rechts und nach links wie einer, der in einem dichten Nebel verloren gegangen ist. Seine Augen waren geblendet vom weißen Licht, das alles überflutete. Es gelang ihm nicht mehr, sie offen zu halten. Am liebsten hätte er vom Boden aus einen Satz in Richtung Tür gemacht, um zu fliehen, doch bewegen konnte er sich nicht. Der Engel riss ihn bei den Schultern, rüttelte ihn durch und sprach: »Schau! Öffne deinen Augen!« Ängstlich öffnete Mehdi seine Augen wieder. Jetzt sah er den sechsflügeligen Engel.

Der Engel sprach: »Oh Mehdi! Du bist der Gesandte Gottes und ich bin Gabriel!« Er legte seine Finger auf Mehdis Augenlider, Lippen und Ohren, zart, wie wenn man den Flügel eines Schmetterlings berührt, und seine Schwingen setzten sich in Bewegung. Der Engel verschwand aus Mehdis Sicht. Mehdi stürzte zu Boden wie ein tödlich verwundeter Mensch.

SOMMER

 

Als das Zeitalter der Katastrophen anbrach, überstürzten sich die Ereignisse in der Großen Stadt. Menschen mit Schaum vor dem Mund, blutunterlaufenen Augen, Hass in der Seele und Finsternis im Herzen stürmten in die Straßen, in denen Griechinnen, Armenier, Jüdinnen, Aramäer, Chaldäerinnen und Kurden lebten, und brachen in ihre Häuser ein. Eine Wolfsmeute mit Säbeln und Beilen ging auf Menschenjagd. Sie plünderten und raubten, vergewaltigten und mordeten. Griechen, Armenierinnen, Juden, Chaldäerinnen, Aramäer und Jesidinnen ließen nicht nur ihre Häuser, Grabstätten und heiligen Orte zurück, sondern auch ihre Vergangenheiten und ihr Eingedenken. Sie flohen. Manche ertranken im Meer, manche verdursteten in der Wüste. Manche fielen in den Bergen der Wildnis zum Opfer. Manchen wurden an abgelegenen Orten die Kehlen aufgeschlitzt, andere wurden in Brunnenschächte direkt hinter ihren Häusern geworfen.

Tagelang hielt das Plündern und Morden an. Die unverhofft hereinbrechende Katastrophe erfasste aber nicht nur die Menschen, die in der Großen Stadt lebten, sondern auch jene, die längst in ihrer Erde begraben lagen. Die alten Friedhöfe der Großen Stadt wurden mit Schaufelbaggern und Bulldozern ausgehoben, mit Planierraupen und Schuttlastwagen entweiht. Sarkophage und Grabsteine, Altäre und alte Bäume wurden aus der Erde gerissen. Manche Toten hatten seit eintausend Jahren in der Erde dieser Stadt geruht und darauf gewartet, dass der Erzengel Israfil am Jüngsten Tag sein Widderhorn blasen würde. Jetzt wurden ihre Gebeine achtlos in der Gegend verstreut. Straßenköter knabberten daran und verschleppten sie in den Straßen der Stadt. Andere landeten auf Müllhalden und in Schuttgruben. Die leidenden Seelen der ihrer Ruhestätte beraubten Toten aber strömten aus in die Straßen und Häuser der Großen Stadt. Dort, wo ehemals die Friedhöfe gelegen hatten, wurden Kasernen und Einkaufszentren, Stadtvillen, Apartments und Bürohochhäuser errichtet. Es blieben nur unverbundene Wunden, unstillbare Schreie, die unruhigen Seelen unbestatteter Toter und eine ohrenbetäubende Stille zurück.

Die Große Stadt lag jetzt da wie eine nicht abgeräumte Speisetafel nach einer ausladenden Feier. Abgeknabberte Knochen, halb ausgetrunkene Gläser, umgestürzte Becher, leere Flaschen, welke Blumen, Schmutzgeschirr und zusammengeknüllte Servietten, ölige Löffel und achtlos neben den Tellern zurückgelassene Messer mit dreckiger Schneide. Brotkrumen wie Flügel toter Schmetterlinge. Zigarettenstummel voller Lippenstiftflecken. Überquellende Aschenbecher. Zerbrochene Stühle.

* * *

Ich bin Baba Venga. Der Seher, dem die Zukunft offenbar ward. Ich höre Stimmen aus der anderen Welt und weiß um meinen eigenen Tod. Tag um Tag kommen Hunderte an meine Türe, um die Zukunft zu erfahren. Er kommt! Der Erwählte, auf den die ganze Menschheit wartet, er kommt! Der Langerwartete wird nicht vom Himmel herabsteigen, sondern von unter der Erde, aus einem Brunnenschacht, kommen. Er ist es, der dem Zeitalter der Katastrophen als Prophet gesandt wurde. Er ist weder klein noch groß. Seine Augen sind ständig gerötet. Zwischen seinen beiden Schulterblättern trägt er das Siegel, das ihn als Propheten ausweist. An seinem rechten großen Zeh hat er ein Hühnerauge. Er ist es, dessen Name Mehdi lautet.

Aus dem Buch der Prophezeiungen

DIE GANZE WELT IST MEINEM AUGE KERBALA

In jenen Tagen aber, als die Endzeitprophezeiungen eine nach der anderen eintraten, als finstere Männer mit den abgetrennten Köpfen ihrer Opfer posierten, als Menschen, die noch nie am Meer gewesen waren, verzweifelt versuchten, eines zu überqueren, als Städte zu Schutt und Asche, die Meere zu Friedhöfen, unsere Seelen zu Kadavern wurden und das Böse als Tugend galt, als Güte und Aufrichtigkeit mit Füßen getreten wurden und Gerechtigkeit von Erden floh, als Finsternis in die Herzen einkehrte, als die Menschen ihre Träume, ihre Märchen, ihre Lieder und ihre Geschichten verloren und nach Fakten schnappten wie Fische nach dem Angelhaken, als Friedhöfe zu Neubaugebieten und die Toten mit dem Aushub an den Straßenrand geworfen wurden, als Menschen vor Gefechten in Kellern Zuflucht suchten, dort aufgespürt und bei lebendigem Leib verbrannt wurden und Mütter in der Asche nach den Knochen ihrer Kinder suchten, als die Angst Fleisch und Blut annahm und auf den Straßen herumlief, als Rache das Vergeben verdrängte – in jenen Tagen also, als das Zeitalter der Katastrophen in seiner ganzen Pracht über die Erde herrschte, da lebte in einem abgelegenen Wohnviertel ein Mann namens Mehdi.

Mehdi hatte eine hohe Stirn und eine auffällige Nase. Sie war lang, gebogen und spitz und hatte einen Haken. Wer dieses Gesicht einmal sah, konnte es nicht mehr vergessen. Mehdi war ein gottesfürchtiger Mensch, der das Böse mied und ein unauffälliges Leben führte.

Der Überlieferung nach hat Gott, als er die Welt erschuf, alle Vögel zu sich gerufen und gebeten, ihm jeweils eine ihrer Federn zu geben. Die Krähe und der Rabe, der Falke und die Eule, das Rebhuhn, der Spatz, die Taube, der Pfau, die Schwalbe, der Papagei, der Fasan und der Fink und alle anderen Vögel gaben Gott eine ihrer Federn. Die Fledermaus aber riss sich sämtliche Federn aus und häufte sie vor ihrem Schöpfer auf. Mehdi war wie die Fledermaus: in allem, was er tat, maßlos und extrem. Schaute er Nachrichten im Fernsehen, von denen eine schlimmer war als die andere, weinte er stundenlang und war untröstlich. Wenn er auf der Straße einen elenden, leidenden Menschen sah, tat er in der Nacht kein Auge zu und grübelte bis in die Morgenstunden, was er dagegen tun könnte. Mehdi redete gern mit Menschen, die neben der Spur waren, und mit Menschen in seinem Kopf. Er nahm sich Zeit für die Mühseligen und Beladenen. Um seine aufgewühlte Seele zu beruhigen, zog er sich gern in eine Ecke zurück und las oder hörte Musik.

Früher sagte man: Feuchtigkeit zerstört das Mauerwerk, der Gram den Menschen. Mehdi war vom Gram gezeichnet. Er war noch keine vierzig, doch wer ihm ins Gesicht sah, hätte geschworen, er sei mindestens fünfzig. Haar und Bart waren bereits ergraut, das Gesicht eingefallen, die Wangen welk und die hohe Stirn tief zerfurcht. Das ganze Gesicht war fahl und rissig wie ein ausgetrockneter Bachlauf. Die Sorgen hatten über die Jahre um die Augen viele Fältchen hinterlassen, die Augen selbst waren keineswegs leblos, aber sie starrten oft ins Leere.

Man sagt: Das Leben endet so, wie es begann. Mehdis Leben hatte mit einigen Seltsamkeiten begonnen und voller Seltsamkeiten ging es weiter. Es begann mit der Schwangerschaft seiner Mutter Zehra, die den Tischler Hüseyin geheiratet hatte. Sieben Jahre blieb die Ehe kinderlos. Im siebten Jahre aber tat Hüseyin, was ihm alte weise Frauen aus der Nachbarschaft geraten hatten, nämlich aus sieben Familien, deren Oberhaupt den Namen Mehmet trug, Windeln zu sammeln und sich aus diesen ein Hemd zu nähen. Er zog es an und Zehra kochte die Kräuter, die sie vom blinden Yusuf bekommen hatte. Im Dampf dieser Kräuter schliefen sie hoffnungsvoll miteinander und in jener Nacht wurde Zehra schwanger.

In jener Nacht, da Zehra mit Mehdi schwanger ward, geschahen an vielen verschiedenen Orten höchst seltsame Dinge. In der Großen Stadt gab es ein Erdbeben. Auf dem Josua-Hügel der Großen Stadt zerbrach der Grabstein des Propheten Josua. Der Fledermausfluss trat über die Ufer und die antike Stadt al-Medina wurde überschwemmt. Den Fischen im Abraham-Karpfenteich in Urfa wuchsen Flügel, sie erhoben sich wie die Vögel in die Luft und stiegen in den Himmel. In Teheran aber brachen in jener Nacht auf unerklärliche Weise zur gleichen Stunde sieben Feuer in sieben weit voneinander entfernten Wohnvierteln aus. Auf der Anhöhe von Gırnavaz bei Nusaybin erschienen den Menschen kurz vor Morgengrauen Dschinne in weißen Kleidern. An der Grabungsstätte Göbeklitepe quoll aus einem der riesigen, prähistorischen Steinbrocken zuerst Blut, dann begannen die Tiere auf den Steinreliefs, schrille Schreie auszustoßen, ein Gelärme, das bis in die Morgenstunden anhielt, und der deutsche Archäologe Klaus Schmidt wurde unter einem der umstürzenden Steine begraben und starb.

Während all dies geschah, schwebte eine geheimnisvolle Helligkeit vom Himmel und legte sich auf Zehras Stirn. Stundenlang wusch Zehra sich das Gesicht, um den weißen Fleck auf ihrer Stirn zu entfernen, aber er ging nicht weg. Sie suchte Kräuterheiler und weise Frauen auf, Ärzte in ihren weißen Kitteln und Wunderimame in heruntergekommenen Häusern.

Den Empfehlungen der Kräuterweiber gemäß zerstieß sie Maden mit frischen Kräutern und rieb sich die Paste auf die Stirne. Den Empfehlungen der Wunderheiler gemäß schluckte sie an drei Morgenden rohen Knoblauch auf nüchternen Magen. Sie benutzte die Salben, die Ärzte ihr verschrieben, und den Anweisungen der Knotenspuckerinnen folgend stieg sie in der Dunkelheit aufs Dach und wusch sich siebenmal mit roter Erde. Sie fügte sich dem Rat des Imams aus der Moschee um die Ecke und betete dreimal die Sure Ichlās und fünfmal Yā Sīn, trank dann von dem Wasser, über das er Gebete gesprochen hatte, und legte ein Amulett mit heiliger Schrift um. Der weiße Flecken auf ihrer Stirn stand jetzt da wie ein kleiner Vollmond. Er ging nicht nur nicht weg, sondern wuchs mit jedem Tag.

Im siebten Monat ihrer Schwangerschaft träumte Zehra von einem Engel mit sechs Flügeln. Er kam zu ihr und reichte ihr einen Säugling, auf dessen Stirn die Sonne stand. Er sprach: »Fürchte dich nicht! Das göttliche Licht auf seiner Stirne ist das Zeichen seines Prophetentums. Du wirst einen Sohn gebären. Du sollst ihn Mehdi nennen. Er ist es, der die vergammelte, faulige Menschheit retten und das Reich Gottes auf die Erde bringen soll. Wenn er kommt, werden Unterdrückung und Unrecht ein Ende haben und das Angesicht der Erde wird von Gerechtigkeit überzogen werden, wie das Meer von Wasser überzogen ist. Johannes taufte die Menschen mit Wasser, Jesus taufte sie mit Feuer, Muhammed taufte sie mit dem Wort und Mehdi wird sie mit Erde taufen.« So sprach der Engel. Am Morgen nach ihrem Traum wurde Zehra gewahr, dass der weiße Flecken von ihrer Stirn verschwunden war.