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Leo Aldan

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Beschreibung

Es ist das Jahr 2029. Die Klimaerwärmung ist fortgeschritten, das Wetter spielt verrückt. Da macht die Vulkanforscherin Dr. Georgina Finley auf einer Expedition in die Antarktis eine erschreckende Entdeckung: Sind unter dem jahrtausendealten Eis mehr als hundert Vulkane erwacht?
Rund um die antarktische Platte registrieren Seismographen merkwürdige Schwingungen. Erdbeben erschüttern Neuseeland und Chile. Eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes kündigt sich an. Doch niemand will Georginas Warnungen glauben, weder Wirtschaftsbosse noch Politiker. Mit einem Mal sieht sich die junge Wissenschaftlerin inmitten eines weltweiten Komplotts aus Machtgier und Manipulation. Jayden Turkov, ein skrupelloser Industrieboss, der den Energiesektor ganzer Kontinente beherrscht, setzt alle Hebel in Bewegung, um sie auszuschalten. Viel Zeit bleibt Georgina nicht, um die Umweltkatastrophe und damit den Tod von Millionen Menschen zu verhindern. Sie trifft eine folgenschwere Entscheidung ...

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Leo Aldan

Das Feuer der Erde

Elaria81371 München

Das Feuer der Erde

 

 

 

 

Unter dem kilometerdicken Eispanzer der Antarktis lauert eine Gefahr. Wissenschaftler haben dort über hundert Vulkane entdeckt.

Eine Theorie sagt: Wenn das Eis weiter schmilzt, lässt der Druck auf die Vulkane nach. Das könnte sie aktivieren und eine weltweite Katastrophe auslösen.

(Geological Society, London, Special Publications, 461, 29 May 2017)

 

1

 

15. Februar 2029, Beardmore Gletscher, Antarktis

 

Die Temperatur hätte niedriger sein müssen. Georgina Finley registrierte es mit einer gewissen Unruhe. Ihre Sinne stellten sich scharf. Es war immer das Wetter, das die Außeneinsätze in der Antarktis gefährdete. Jederzeit konnte es umschlagen.

Georgina raste mit ihrem Schneemobil den im Schatten liegenden Beardmore Gletscher hinauf. Ohne vom Gas zu gehen, nahm sie eine Hand vom Lenker und wischte mit ihrem dicken Handschuh die Tropfen von ihrer Schneebrille. Sie taxierte den kristallklaren Himmel. So weit sah es ganz gut aus, aber hinter den weißen Bergspitzen der Supporters Gruppe zu ihrer Linken schimmerte die Luft in mattem Gelb.

»Mir gefällt das nicht.« Camilles spröde Stimme kam aus dem Helmlautsprecher.

Georginas Assistentin hatte schon ein gutes Dutzend Mal in der Antarktis gearbeitet. Camille und die Laborantin Nicky fuhren versetzt neben ihr und zogen Fahnen aufgewirbelten Schnees hinter sich her.

»Mir auch nicht«, sagte Georgina.

Camille lachte humorlos. »Sollen wir umkehren?«

Und die Mission so kurz vor dem Ziel abbrechen? Georgina hatte einen Verdacht. Über hundert Vulkane gab es unter dem Eispanzer der Antarktis. Vor ihrem inneren Auge explodierte das Eis. Der Ausbruch des Krakatau wäre dagegen harmlos wie ein Feuerwerksböller. Sie schüttelte die Vorstellung ab. Sie brauchte Daten, die Aufzeichnungen aller Seismographen. Fehler konnte sie sich nicht leisten. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren war sie die jüngste Teamleiterin der McMurdo-Station. Sie checkte das GPS: S84°49'55,2" E163°35'42,8" - Höhe 1768 Meter über Normalnull. Der Umkehrpunkt war bereits überschritten. Entschlossen drehte sie den Gasgriff bis zum Anschlag, der Motor heulte auf und das Schneemobil sprang über die Bodenwellen. »Wir fahren weiter zum oberen Camp.«

»Dort werde ich mir erst mal die Finger wärmen«, hörte sie Nicky aus dem Helmlautsprecher.

»Wenn du glaubst, deine Hände einem Mann unter den Pullover schieben zu können, täuschst du dich«, erwiderte Camille. »Das Camp ist unbesetzt.«

Das war so typisch für die beiden. Wo immer Nicky auftauchte, zog sie mit ihren Mandelaugen und ihrem sexy Körper die Blicke der Männer magnetisch an, was sie gerne ausnutzte. Die hagere Camille McFarland fand selten Aufmerksamkeit.

Georgina wischte die Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf die Piste. Sie suchte den nächsten rotgeflaggten Markierungsstab. Eine halbe Meile vor ihr steckte er im Schnee. Dort verbargen sich Gletscherspalten.

Ein explosionsartiger Knall ließ sie zusammenfahren.

Camille deutete nach links Richtung Mount Bartlett. »Gletscherbruch.«

Das hatte gerade noch gefehlt! Es bedeutete neue Gletscherspalten - unmarkierte. Georgina drosselte die Geschwindigkeit. Das Eis unter ihr erschien ihr nicht mehr sicher. Sie steuerte nach rechts, näher an die Flanke der Skaar Ridge, deren Gipfel im Schein der flachen Sonne matt leuchteten. Sie hoffte, so genügend Abstand zu den Spalten zu bekommen.

Am Himmel zog Dunst auf.

Camille bemerkte es auch. »Da braut sich ein Unwetter zusammen.«

Georgina wünschte, sie könnten schneller fahren. Sie hielt sich so weit wie möglich von den Markierungen fern. Es wurden immer mehr: links dicht wie ein Röhricht, auch rechts kamen sie näher. Georgina fädelte sich klopfenden Herzens hindurch.

Major Healey, Kommandant der McMurdo-Station, hatte sie gewarnt: Letztes Jahr war auf dieser Strecke eines der Kettenfahrzeuge eingebrochen. Die Bergung war schwierig gewesen und einem Teammitglied musste wegen Erfrierungen ein Fuß abgenommen werden. Georgina zog es bei diesem Gedanken den Magen zusammen. Sie ließ kein Auge von der Piste.

Plötzlich registrierte sie eine Bewegung vom Polarplateau, eine Bö schüttelte ihren Schlitten und innerhalb weniger Sekunden hüllte sie staubfeiner Schnee ein. Berge und Horizont verschwanden in einem diffusen Weiß, das alles verschluckte. Ein verdammtes White-Out! Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie musste jetzt die Nerven behalten. Kein abruptes Bremsmanöver, die Gefahr war viel zu groß, dass ihre beiden Mitarbeiterinnen in sie hineinrasten. Aber irgendwo vor ihr klafften Gletscherspalten. Schon hatte sie den Befehl zum Anhalten auf den Lippen, da zeichneten sich die Konturen der Landschaft wieder ab. Georgina nahm einen tiefen Atemzug. Glück gehabt. Wäre sie allein unterwegs, könnte sie mehr riskieren. Aber sie hatte Verantwortung. Sie musste so schnell wie möglich auf die Höhen, bevor es schlimmer wurde. »Bleibt genau auf meiner Spur«, rief sie ins Helmmikrofon und ließ den Motor aufheulen. Sie visierte die abgesteckte Spur an, behielt aber den Himmel im Auge.

Hinter der Skaar Ridge, die das Ende der Queen Alexandra Kette bildete, verließ sie den Beardmore Gletscher und steuerte den steilen Anstieg zum Polarplateau hinauf. Auf der Hochebene blies ihr ein heftiger Wind entgegen. Von Süden rollten schwarze Wolken heran.

Nicky schob sich mit ihrem Schneemobil neben Georgina. »Ist das nicht wunderschön«, rief sie begeistert und deutete auf den Himmel hinter sich.

Georgina drehte den Kopf und erblickte eine linsenförmige Lichterscheinung, die über der gesamten westlichen Bergkette aufzog. Im Zentrum erschien sie dunkellila, an den Rändern ging sie in mattes Gelb über. Unwillkürlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. »Hast du so etwas schon mal gesehen, Camille?«

Die schüttelte den Kopf.

Instinktiv zog Georgina die Schultern ein. Unbekannte Wettererscheinungen häuften sich in den letzten Jahren – und meistens brachten sie nichts Gutes. Sie konzentrierte sich wieder auf die Piste. Mit Höchstgeschwindigkeit flogen die Schlitten über das glatte Schneefeld und in weitem Bogen um Mount Wild herum. In einem geschützten Tal dahinter befand sich das Camp und nicht weit davon war der Seismograph verankert. Der letzte, bei dem Georgina Akkus und Datenchips austauschen sollte. Danach war ihre Mission beendet. Mit den Daten von einundzwanzig Seismographen, die vier Jahre lang auf den Puls der antarktischen Vulkane gelauscht hatten, würden sie und ihr Team in die Vereinigten Staaten zurückfliegen. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie beim Gedanken an die Auswertung.

Plötzlich erschien der Schnee vor ihr glatt und glänzend. »Vorsicht! Glatteis!«, schrie sie ins Helmmikrofon. Schon geriet ihr Schneemobil ins Schlingern, der Anhänger verstärkte den Impuls und brachte das Gespann ins Schleudern. Georgina schoss das Adrenalin in die Adern. Im Augenwinkel sah sie Nickys Gefährt auf eine Kante zurutschen.

»Nicky!« Camilles panische Stimme mischte sich im Helmlautsprecher mit ihrer eigenen. »Gegensteuern! Gegensteuern!«

Während sie versuchte, ihr Schneemobil unter Kontrolle zu bringen, kippte Nickys Gespann über die Kante und verschwand.

Georgina stieß einen Schrei aus. »Nicky!« Mit Mühe brachte sie ihren Motorschlitten zum Stehen. Sie sprang von ihrem Sitz und sofort zog es ihr die Füße unterm Körper weg. Reflexartig krallte sie sich an Lenker und Sitzbank fest. »Nicky, melde dich!«, brüllte sie in ihr Helmmikrofon.

Keine Antwort. Irgendwie fand sie Halt und konnte die Steigeisen aufziehen. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie kämpfte sich gegen eisigen Wind zur Kante vor. Zwanzig Meter tiefer sah sie das Gespann. Nicky lag eingeklemmt unter dem Anhänger. Sie bewegte sich nicht.

Um Georginas Brust schien sich eine Klammer zu legen und ihr den Atem auszupressen. Es war ihre Schuld. Sie hatte die Gruppe mit zu hoher Geschwindigkeit auf das Eis gelotst. Schneeflocken sausten wie winzige Geschosse durch die Luft. Der Wind zerrte am Fell ihrer Kapuze.

Camille tauchte neben ihr auf. »Scheiße!«

Georgina agierte wie in Trance. Sie ließ sich bäuchlings über die Kante gleiten. Sie rutschte, fand Halt. »Beeil dich!«, rief sie ihrer Assistentin zu und rannte den Hang hinunter.

Camille folgte fluchend.

Da drang Stöhnen aus dem Helmlautsprecher.

Gott sei Dank, Nicky lebte. Der Druck wich von Georginas Brust. Sie lief schneller. Tränen verschleierten ihre Sicht. »Nicky! Wir kommen!«

An der Unfallstelle überlegte sie nicht lange. Sie stemmte ihre Füße ins Eis, ergriff die Kufe des Anhängers und zog mit aller Kraft. Das Fahrzeug hob sich etwas an. »Zieh sie raus, schnell!«

Camille packte sofort zu und befreite Nicky. Keinen Augenblick zu spät, denn der schwerbeladene Hänger entglitt Georginas Händen und die Kufe landete knapp neben ihrem Fuß.

»Danke!«, hauchte Nicky.

»Bist du okay?«

»Mein Bein.«

Georgina betastete es behutsam. Das Schienbein stand in merkwürdigem Winkel ab. »Gebrochen«, schloss sie. Sie trat beiseite. Camille war die Rettungssanitäterin.

»Beiß die Zähne zusammen!«, gebot Camille. Vorsichtig fasste sie das verletzte Bein und streckte es.

Nickys Schrei fuhr wie eine Klinge in Georginas Herz.

»Verdammter Sanitöter!«, ächzte Nicky.

»Ich weiß, es tut weh«, sagte Camille mit sanfter Stimme. Sie schiente und fixierte den Bruch mit zwei Stangen und einem Seil aus der Ladung.

Gemeinsam legten sie Nicky auf den Hänger. Georgina startete das Schneemobil. Vorsichtig gab sie Gas, doch schon nach wenigen Metern fanden die Steuerkufen keinen Halt auf dem Eis und auch die Antriebsketten drehten durch.

Camille blickte mit grimmiger Miene zur Kante empor. »Wir sitzen fest.«

Georgina stemmte sich gegen die Schneeböen. Es gab nur eine Möglichkeit: »Wir biwakieren hier, bis der Sturm vorüber ist.«

Während Camille das Zelt aufbaute, stieg Georgina auf das Plateau hinauf. Sie versuchte, ihr Schneemobil näher an den Grat heranzufahren. Als es ins Rutschen geriet, riss sie instinktiv eine Wolldecke aus dem Hänger und warf sie vor die Kufen. Das wirkte wie Streusand. Sie wunderte sich, wie selbstverständlich sie reagierte. Sie sicherte das Fahrzeug mit Seilen und Eisnägeln, danach holte sie Camilles Motorschlitten und vertäute ihn neben ihrem. Sie prüfte noch einmal die Knoten. Dem Anhänger entnahm sie das Funkgerät und meldete der McMurdo-Station den Unglücksfall. Ruhig, sachlich, so, als berührte sie das alles nicht. Die Antwort nahm sie wie aus weiter Ferne wahr: Einen Rettungshubschrauber konnten sie vor Ende des Sturms nicht erwarten. So lange müssten sie auf dem Gletscher ausharren.

Verdammte Scheiße. Georgina schnappte sich so viel Ausrüstung, wie sie tragen konnte, und brachte sie ins Zelt.

Camille entfernte die provisorische Schiene von Nickys Bein.

»Kann ich helfen?«, fragte Georgina.

»Wenn du mir den Sani-Koffer bringen könntest. Ich brauche das Antiseptikum, sterile Kompressen …« Camille verkniff das Gesicht. »Das wäre alles nicht passiert, wenn wir Seismographen mit Funkübertragung hätten. Aber dafür geben sie uns kein Geld. Dass Menschen in Gefahr kommen, interessiert sie nicht.« Sie schnitt Nickys Hosenbein auf.

Der Wind rüttelte immer heftiger an der Zeltwand und pfiff um die Verspannungsseile. Der Anblick von Blut machte Georgina nichts aus – außer dass es Nickys war – aber der des Knochens verursachte ihr ein flaues Gefühl im Magen. Georgina atmete tief. Warum hatte sie das Glatteis nicht früher bemerkt?

Camille stabilisierte Nickys Bein mit einer Schiene. Sie verband die Wunde, dann zog sie das zerschnittene Hosenbein so weit es ging über die Bandagen. »Fertig.« Sie strich Nicky über die Wange. »Wenn’s zu schlimm wird, kann ich dir Morphin spritzen.«

Nicky brachte ein verzerrtes Grinsen zustande. »Legaler Dope.« Dann presste sie die Lippen zusammen. »Bei so viel Unfähigkeit hab’ ich das nicht verdient.«

»Unsinn!«, erwiderte Georgina. »Es war das verdammte Eis!«

Camille verengte die Augen. »Das sollte es hier überhaupt nicht geben!«

Georgina fuhr sich mit der Hand übers Kinn. Die Sorge um Nicky hatte diesen Umstand in den Hintergrund treten lassen. Glatteis formte sich nur bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Sie starrte auf das Thermometer. »Draußen ist es plus zwei Grad Celsius.«

Camille lachte auf. »Hier drin vielleicht. Du hast vergessen, den Sensor …«

Georgina schüttelte den Kopf. »Der ist ordnungsgemäß einen Meter vom Zelt entfernt angebracht.«

Und dann hörte sie über das Heulen des Sturms ein Trommeln auf dem Zeltdach … Regen … und das mitten in der Antarktis auf einer Höhe von zweitausendvierhundert Metern! Das war unmöglich. Georgina öffnete den Eingang einen Spalt und der Wind drückte dicke Tropfen herein. Draußen sammelte sich das Wasser in Pfützen auf dem Eis.

»Das gibt’s doch nicht!«, stöhnte sie.

 

Nach einer Stunde wurde es totenstill. Die Zeltwand erstarrte. Es wurde kalt im Zelt. Auf dem Thermometer sah Georgina die Temperatur fallen. Sie fragte sich, ob das das Ende des Sturms bedeutete. Sie griff zum Funkgerät.

Eine verzerrte Stimme antwortete. »Es ist nicht vorbei. Richten Sie sich auf mehrere Tage ein.«

Auch das noch!

Camille half Nicky, die vor Schmerz ihre Augen zusammenkniff, in den Schlafsack und zog den Reißverschluss bis zum Hals zu. Sie baute den Kocher auf und durchsuchte die Essensvorräte. »Ich glaube, wir könnten alle eine heiße Bouillon vertragen.«

Georgina nickte. Mit klammen Fingern machte sie Einträge in ihr Logbuch.

10h35: -13,8 °C

10h40: -17,3 °C

10h45: -21,6 °C

10h50: -28,1 °C

Der Sturm rüttelte erneut an der Zeltwand. Georgina hauchte auf ihre zusammengeballten Hände, bis ihr Atem die Finger einigermaßen erwärmt hatte, dann zog sie Handschuhe an. Draußen fiel die Temperatur weiter. Nach einer Stunde stabilisierte sie sich bei minus zweiundvierzig. So sollte sie zu dieser Jahreszeit und auf dieser Höhe sein - und nicht in den Plusgraden. Jetzt konnte sich Georgina das Glatteis erklären: Die extremen Wetterschwankungen, die seit den letzten fünf Jahren die gemäßigten Breiten heimsuchten, hatten auch die Antarktis erreicht. Das bedeutete: Die Gletscher schmolzen schneller als in den bisherigen Berechnungen angenommen. Welche Folgen hatte das?

Plötzlich zitterte der Boden. Unwillkürlich fuhr Georgina zusammen. Wieder ein Gletscherbruch? Oder vielleicht doch ein Vulkan? Sie lauschte. Es blieb still. ›Jetzt werde nicht hysterisch! Noch ist nichts bewiesen.‹ Die Daten der Seismographen würden Klarheit schaffen. Sie mussten lückenlos sein. Dafür würde sie sorgen – sobald es ging. Georgina ließ den Kopf in die Kapuze ihres Schlafsacks sinken und entspannte Bein- und Schultermuskeln. Das Warten begann.

Draußen heulte der Orkan, wild, mächtig. Unter seinen Böen beugte sich das Gestänge, und jedes Mal, wenn die Zeltwand knallte, schoss Adrenalin in Georginas Adern. Sie wusste, dass das Material für solche Belastungen ausgelegt war, aber ihr Körper reagierte, signalisierte Gefahr. Sie konzentrierte sich auf das Atmen. Ein, aus.

Nicky warf den Kopf hin und her. Sie stöhnte. Georgina hoffte, dass sich die Wunde nicht entzündete. Armes Mädchen. Eine kleine aufgeputzte Straßenratte, wenn nicht etwas Übleres – das war ihr erster Eindruck von Nicky beim Vorstellungsgespräch vor weniger als einem Jahr gewesen. Nicky Friday. Sie hatte sich offen gegeben und mehr als nötig über sich erzählt: An einem Freitag vor vierundzwanzig Jahren hatte man sie als Baby vor einem katholischen Waisenhaus gefunden. Keine Papiere. Eltern unbekannt. Wollte sie damit Mitleid wecken, um den Job zu bekommen? Da gab es Lücken im Lebenslauf, in denen Georgina nichts Gutes vermutete. Auch hatte Nickys Bachelorarbeit nicht die beste Beurteilung. Ein leises ›Bitte‹ und der treuherzige Blick aus den Mandelaugen hatte Georgina tief berührt. Sie hatte ihr trotz besser qualifizierter Bewerber den Job als Laborantin gegeben – und es nie bereut. Nicky bereicherte das Team mit ihrer lebenslustigen Art und, was Georgina nicht geahnt hatte, mit einem immensen Wissen, was Computer betraf.

Der Sturm riss am Zeltdach, als erzürnte ihn das bisschen Gewebe, das ihn hinderte, seine kalten Finger um die Eindringlinge zu legen, die es wagten, sein Reich zu betreten. Wieder konzentrierte sich Georgina auf ihren Atem. Ein, aus. Die Sekunden zogen sich zu Minuten, die Minuten zu Stunden. Eintöniges Einerlei. Kochen, Essen, Liegen. Sie drehte sich auf die andere Seite. Die Trinkflasche drückte gegen ihren Oberschenkel. Georgina schob sie tiefer in den Schlafsack. Es gab keinen Platz, wo sie nicht störte. Aber draußen wäre das Wasser in wenigen Minuten eingefroren.

Camille schnarchte. Georgina fragte sich, wie sie bei diesem Höllenlärm schlafen konnte. Seit Camilles Mann William in der Blüte seines Lebens an Krebs gestorben war, redete sie nicht mehr viel. Zum Labor in St. Louis gehörte sie wie das Inventar. Sie war schon dort, als Georgina die Stelle als Teamleiterin bekam. Die knochige Frau hatte all ihre früheren Vorgesetzten überdauert. Vielleicht waren sie ja vor ihr geflohen. Camille sagte ihre Meinung, unverblümt.

Die Stunden vergingen. Camille erwachte. Sie schälte sich aus ihrem Schlafsack und entzündete den Kocher. Warme Luft breitete sich im Zelt aus. Camille taute Schnee und wärmte den Inhalt einer Konservendose auf. Die Anstrengungen der letzten Tage und Wochen zeichneten Schatten um ihre Augen. Mit fünfundvierzig Jahren hatte sie den Höhepunkt ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit überschritten. Aber Camille war zäh.

Der Geruch von Rinder-Stew breitete sich im Zelt aus. Georgina rappelte sich hoch. Sie tupfte Nicky den Schweiß von der heißen Stirn. Sie ließ eine Tablette in einem Becher Wasser zerfallen. Hoffentlich kam der Rettungshubschrauber, bevor die Schmerzmittel zu Ende gingen.

Nach dem Essen zog sich Georgina auf ihr Lager zurück. Sie schüttelte ihre brünetten Haare aus und bürstete die Hexen heraus. Camille sah ihr mit stoischem Gesichtsausdruck zu. Georgina beneidete sie fast um ihr kurzgeschorenes Haar. Damit hatte sie nicht viel Mühe abseits der Zivilisation.

»Kann ich den Kocher abschalten?«, fragte Camille.

Georgina nickte, legte die Bürste beiseite und zog sich die Mütze über den Kopf.

Der Brennstoffvorrat war nur für Notfälle ausgelegt, aber ein paar Minuten Wärme durch die Flammen konnten sie sich leisten. Georgina mühte sich mitsamt ihrer Thermojacke in den Schlafsack.

Wieder war sie zur Untätigkeit verdammt. Sie hörte dem Heulen des Sturms zu. Sie liebte die Antarktis, die raue Einsamkeit und die unverfälschte Natur. Es schmerzte sie, dass sich gerade hier der Klimawandel am deutlichsten zeigte. Die hochspezialisierten, an diese extremen Bedingungen angepassten Organismen starben zuerst, seltene Algen, winzige Krebse. Der Wandel tötete die einen, die dann Platz für andere machten. So war der Lauf der Dinge. Kurzlebig, vergänglich. Tief im Erdinneren herrschte eine andere Zeitskala. Veränderungen fanden langsamer statt, hatten aber gravierende Folgen. Der Planet selbst atmete und unter seiner Kruste pulsierten Magmaströme wie das Blut in den Adern der Menschen und Tiere. Alles lebte auf dem Rücken der Erde. Solange es der Erde gut ging, ernährte sie ihre Geschöpfe. Aber die Balance war gestört. Die Erde stöhnte. Wenn der Planet sein Gleichgewicht neu einstellte, würden ungeheure Kräfte frei werden – mit fatalen Folgen. Welche? Genau das wollte Georgina herausbekommen.

Aber zunächst forderte das Wetter ihre Geduld heraus. Liegen, warten. Die Zeit kroch dahin.

 

Endlich hörte Georgina die ersehnte Stimme aus dem Funkgerät. Die McMurdo-Station. Nach zwei langen Tagen. Der Hubschrauber würde in wenigen Stunden starten können, sagte jemand. Sie blickte auf ihre Multifunktionsuhr. Die Zeit müsste reichen, um den letzten Chip zu holen.

Sie zog den Reißverschluss des Innenzelts auf. Der Verschluss des Außenzelts ließ sich nur schwer öffnen. Neuschnee lag von außen dagegen. Georgina grub sich an die Oberfläche. Nickys Schneemobil konnte sie nirgends sehen. Sie vermutete es irgendwo unter der Schneemasse, die den Talkessel bis zu halber Höhe füllte. Mit Steigeisen erklomm sie den eisbedeckten Hang. Als ihr Blick auf die oben geparkten Motorschlitten fiel, blieb sie wie angewurzelt stehen. Dick von Eis umschlossen standen sie wie zwei bizarre Kunstwerke da. An Fahren war nicht zu denken. Georgina presste die Lippen aufeinander. Wenn sie auf die Daten nicht bis zur nächsten Expedition in vier Jahren warten wollte, blieb ihr nur noch ein einziger Weg. Mit einem Ruck wandte sie sich um und stieg zum Zelt hinunter. Ihr Entschluss stand fest: Sie würde sich zu Fuß auf den Weg zum Seismographen machen und den Datenchip holen.

»Bleib hier«, sagte Camille in scharfem Tonfall.

Georgina erkannte die Sorge hinter den Worten. »Du kümmerst dich um Nicky!«, erwiderte sie.

Camille schwieg, ihre Nasenflügel bebten.

So schwer Georgina diese Entscheidung fiel, sie sah keine andere Möglichkeit. Wenn sich die vulkanische Aktivität unter dem Eis der Antarktis änderte, dann könnte ein Super-GAU bevorstehen. Georgina wollte das nicht denken. Sie war Wissenschaftlerin. Sie brauchte Daten. Jetzt. Sie packte Werkzeug sowie einen Klappspaten in ihren Rucksack und steckte das GPS ein. »Bis Mittag bin ich wieder zurück.« Sie nahm den Eispickel in die rechte und stapfte los.

Die dicke Montur behinderte ihre Bewegungen. Sie fühlte sich wie eine Pellwurst auf Beinen. Ein Motorschlitten war definitiv die bessere Art der Fortbewegung. Ihre Muskeln schrien bereits seit einer viertel Stunde nach einer Pause, als sie endlich die Südflanke des Mount Augusto erreichte. Schon von weitem sah sie die Notunterkunft, eine winzige Baracke. Zweihundert Meter links davon stand der Seismograph mit seinem orangefarbenen Schutzgehäuse und darüber, an einem hohen Gestell montiert, breiteten sich wie Flügel zwei dunkelblauschimmernde Solarpaneele aus. Sie wunderte sich, dass das Gerät nicht bis oben hin eingeschneit war, wie all die anderen - das letzte hatten sie aus meterhohem Schnee freischaufeln müssen. Dieses Mal brauchte sie wenigstens nicht zu graben.

Beim Näherkommen bemerkte sie dicke Eisschichten um die Hütte und das Gehäuse des Seismographen. Die sahen aus wie in Acryl eingegossen. Sie stöhnte. Da musste sie sich durchhacken. Aus der Ferne drang das Schlagen von Rotorblättern an ihr Ohr. Warum kam der Hubschrauber so früh? Sofort umkehren, war ihr erster Gedanke. Aber das würde den Verlust eines Datensatzes bedeuten. Sie taxierte die Entfernung zum Seismographen. Sie war ja schon fast dort. Entschlossen setzte sie sich in Trab.

Am Gerät angekommen überlegte sie nicht lange, packte ihren Eispickel mit beiden Händen und hackte auf den Eismantel ein. Bei minus achtunddreißig Grad war er fest wie Panzerglas. Mit aller Kraft brach sie Stück für Stück heraus. Die Minuten vergingen. Schweiß lief ihr über den Rücken und ließ die Kleidung an ihrer Haut kleben.

Das Hubschraubergeräusch wurde lauter, ein Schatten streifte sie und wenig später erstarben die Motoren. Georgina hackte verbissen am Eismantel. Der Hubschrauber würde warten. Er musste warten.

Sie arbeitete wie besessen weiter, bis sie eine Bö traf. Sie blickte auf. Vom Polarplateau schob sich eine dunkle Wolkenwand heran. Bei dem Anblick gefror ihr der Schweiß auf der Haut. Schon wieder ein Sturm – und bevor er einsetzte, musste der Helikopter starten. Sie wollte alles hinwerfen und zurücklaufen. Aber die Daten! Die brauchte sie. Deswegen war sie gekommen. Verzweifelt drosch sie auf das Eis ein. Es knackte, splitterte, plötzlich lag die Serviceklappe frei. Sie ließ Schlüssel und Schraubenzieher in der Werkzeugtasche stecken und zerschlug kurzerhand die Luke. Sie nestelte den Datenchip heraus und verschloss ihn in der mitgebrachten Box. Dann warf sie alle unnötigen Ausrüstungsgegenstände zu Boden und lief so schnell sie konnte Richtung Biwak. Abschüssige Stellen rutschte sie auf dem Hintern hinab, rappelte sich wieder auf, verlor das Gleichgewicht, rollte den Hang hinunter. Sie stieß sich die Schulter, prellte sich die Rippen und immer schaute sie auf die heraneilenden Wolken. Ohne Zelt war sie verloren.

Plötzlich trug ihr der Wind das anschwellende Heulen von Triebwerken zu. Höher und immer höher, bis das Schlagen der Rotorblätter einsetzte. Der Hubschrauber startete. Georgina rannte schneller. Winzige Schneeflocken stachen wie spitze Nadeln in ihre Wangen. Selbst wenn der Helikopter fort war, gab es das Zelt. Darin konnte sie den Sturm überstehen. Sehen konnte sie es noch nicht, aber mit jedem Schritt kam sie dem Biwak näher.

Dann trübte sich die Sicht. Eine Bö brachte feinen Schnee. Von einer Sekunde zur anderen schien sie blind geworden zu sein. Georgina taumelte. Konturloses Weiß umgab sie. Sie konnte noch nicht einmal sagen, was oben oder unten war. Das Knattern des Hubschraubers kam von allen Seiten gleichzeitig, mal näher, mal weiter weg. Georgina wischte den Schnee von ihrer Schutzbrille und versuchte das Weiß zu durchdringen. Zwecklos. Panik schnürte ihr die Brust zusammen. Ruhe! Ruhe! Das ist nicht das Ende. Sie fokussierte ihren Blick auf das Display des GPS. Ein kleines Kreuz markierte das Biwak. Laufen, befahl sie sich. Stehenbleiben war der Tod. Sie stemmte sich gegen den Wind.

Eine Bö riss sie von den Beinen. Instinktiv rollte sie sich ab. Ein harter Aufprall, ein stechender Schmerz an der Schläfe, ein Rauschen in den Ohren, übertönt nur vom Schlagen der Rotorblätter. Der Helikopter schien direkt über ihr zu sein. Sie hätte heulen können. Aber das nützte nichts. Nur nicht den Kopf verlieren. Sie rappelte sich auf und lief weiter.

Die nächste Bö lichtete die Schneewolke. Georgina bemerkte einen Schatten über sich. Das wirkte wie ein Stromstoß. Sie schwenkte die Arme wie verrückt und schrie aus Leibeskräften. Dann verdichtete sich der Schnee wieder. Undurchdringliches Weiß umgab sie erneut. Der Hubschrauber so nah … aber er konnte sie nicht sehen. Und selbst wenn, bei dem Wetter konnte er nicht landen. Georgina biss die Zähne zusammen. Sie musste zum Biwak. Das war ihre einzige Chance. Sie fixierte den Punkt auf ihrem GPS und hetzte weiter. Sie verbannte das Hubschraubergeräusch aus ihrem Bewusstsein. Als sie sich entschlossen hatte, den Datenchip zu holen, hatte sie um einen hohen Preis gepokert. Sie hatte verloren. Aber wenigstens Camille und Nicky waren in Sicherheit.

Plötzlich endete das Schneegestöber. Über sich sah Georgina blauen Himmel. Und mitten darin schwebte ein zweimotoriger Armeehubschrauber. Georgina schrie, sprang auf und ab und winkte mit beiden Armen. Drehte er auf sie zu? Er kam tatsächlich näher! Dann stand er über ihr in der Luft, die Seitentür schob sich auf und ein Mann in knallrotem Overall schwebte an einem Seil zu ihr herunter. Einen Moment pendelte er dicht über dem Boden, dann stand er auf seinen Füßen. Georgina sprang auf ihn zu. Hätte er keinen Helm aufgehabt, hätte sie ihn geküsst. Er nickte, schnallte das Geschirr um sie und gab seinem Kumpel an der Winde ein Handzeichen. Georgina spürte einen harten Ruck und schwebte schon in der Luft, als die nächste Schneewolke herbeifegte. Dicht an den Mann gepresst ging es rasend schnell in die Höhe. Jemand zog sie und ihren Retter in den Hubschrauber. Die Tür wurde geschlossen. »Nehmen Sie Platz, Ma’am, und schnallen Sie sich an.«

Georgina sank auf den nächsten Sitz. »Thanks, Guys!« Sie kannte die beiden aus der Kantine. Sergeant Jones und Sergeant Adams. Ohne die Jungs hätte sie den Sturm allein im Zelt überstehen müssen, falls sie es überhaupt geschafft hätte. »Ihre Drinks heute Abend gehen auf meine Rechnung.«

Die beiden stießen sich an und grinsten.

Georgina lächelte. Mehr als die Getränke würden sie nicht bekommen, auch wenn sie sich vielleicht mehr erhofften.

Von einem Platz auf der anderen Seite des Gangs blickte Camille herüber. Nicky lag auf einer Trage gegenüber der Tür, von ihrem Arm führte ein Schlauch zu einem Tropf über ihr. Sie hob den Kopf. Erleichterung stand in den Gesichtern der beiden Frauen, aber auch eine Frage. Georgina nickte ihnen zu. Sie zog den Behälter mit dem Chip aus ihrer Tasche und hielt ihn triumphierend wie eine Trophäe in die Höhe.

»Dann hat sich’s ja gelohnt«, sagte Nicky.

Georgina beugte sich vor und drückte den beiden Mitarbeiterinnen wortlos die Hand. In ihrem Herz spürte sie, dass sie mehr als die Arbeit und die Liebe für die Antarktis verband.

 

Wenige Tage später schob Sergeant Woodrop Nicky im Rollstuhl zu der wartenden Militärmaschine. Alle nannten ihn wegen seines Alters und der langjährigen Dienstzeit nur Grandpa. »Hast du von allen ein Autogramm bekommen?«

»Das von Major Healey fehlt mir noch.« Nicky warf dem Leiter der McMurdo-Station einen bittenden Blick zu. Ihr glattes Haar glänzte in der tiefstehenden Sonne wie das Gefieder eines Raben. Er beachtete sie nicht. Mit langen Schritten ging er neben Georgina. Sie redete auf ihn ein. Dabei hatte sie ihre Schulmeistermiene aufgesetzt. Die kannte Nicky nur zu gut. Sie grinste in sich hinein, spitzte aber die Ohren.

»Sir, achten Sie auf Erdstöße. Wenn sie stärker werden oder häufiger, sehen Sie zu, dass sie mit ihren Leuten die Antarktis verlassen.«

Nicky horchte auf. Hatte ihre Chefin die Daten schon sichten können? Oder sprach sie die Warnung aufgrund einer Ahnung aus? Georginas Miene verriet es ihr nicht. Sie beobachtete den Major. Sein Gesicht zeigte keine Gefühlsregung. »Ma’am, ich bin hier stationiert, bis man mich zurückbeordert.«

Nicky entging sein Unterton nicht. Er nahm es nicht ernst. Oder hielt er sich einfach nur stur an seine Befehle?

»Ich werde ihnen die Auswertung der Daten zuschicken, Sir, sobald ich sie habe.«

»Ich werde sie mir ansehen.« Major Healey richtete den Blick in die Ferne. Für ihn war das Gespräch anscheinend beendet.

Nicky sah ihre Chance: »Sir«, flötete sie. Sie hielt ihm einen Filzschreiber und eine Ansichtskarte hin. Geschwungene Namenszüge und krakelige Unterschriften bedeckten das Foto der McMurdo-Station fast völlig. »Bitte.«

Der Major sah sie durchdringend an. »Die junge Dame ist sehr hartnäckig.«

Nicky lächelte ihn betörend an. »Der wichtigste Mann darf doch nicht fehlen.«

»Ist da überhaupt noch Platz?«

»Klar! Ich habe extra eine Stelle für Sie freigehalten!« Nicky drehte die Karte herum und deutete auf ein kleines weißes Fleckchen in der Mitte.

»Die Augen von jungen Hunden und jungen Damen«, murmelte der Major. »Da soll einer widerstehen.« Er griff nach dem Stift. »Was gibt es da zu grinsen, Sergeant Woodrop?«

Der stand stramm. »Nichts, Sir!«

Während der Major seine Initialen auf die Karte malte, sah Nicky, wie Georgina den Blick noch einmal über die Wohn- und Arbeitscontainer der Station und über die Gletscher schweifen ließ. Es kam ihr so vor, als ob sich ihre Chefin für immer von hier verabschiedete.

 

2

 

Manhattan, New York

 

Jayden Turkov las die Geschäftsberichte, während sein Hubschrauber über die Hochhäuser von Manhattan flog. Edgar T. Humm auf dem Sitz gegenüber presste die Knie zusammen wie ein Mädchen. Turkov ließ sich nicht täuschen. Er spürte die eiskalten Augen, die ihn abtasteten, nach einer Schwäche suchten. Um Generalvertreter für Nordamerika zu werden, würde manch einer morden. Das Geld, das Ansehen, die Macht. Turkov liebte sie alle drei gleichermaßen. Mit einer ruckartigen Bewegung gab er Humm die Mappe zurück. »Die Umsatzsteigerung könnte besser sein.« Er fasste sein Gegenüber ins Auge. »Viel besser!«

In Edgar Humms Gesicht zeigten sich keine Emotionen. »Dann werden wir den Druck erhöhen.«

»Ich verlasse mich ganz auf Sie«, erwiderte Turkov. Ihm entging das triumphierende Lächeln nicht, das für Sekundenbruchteile um Edgar T. Humms Mundwinkel huschte. Das Kräftemessen reizte ihn, obwohl er den Ausgang voraussah.

Unter ihnen tauchte das Flachdach des New York Times Towers auf. Es schien immer größer zu werden. Der Helikopter schwebte auf den mit einem weißen H markierten Landeplatz zu. Lichter blinkten. Ein leichter Ruck, dann fuhr das Heulen der Motoren herunter. Beim Aussteigen reichte Turkov seinem Mitarbeiter die Hand, dabei ließ er seine Muskeln spielen. Humm wäre fast in die Knie gegangen.

»Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.«

Humms Pupillen weiteten sich kurz.

Turkov lächelte. Humm hatte verstanden, dass er sich keinen Misserfolg leisten konnte.

 

Ein Lift brachte Turkov vom Dach zu seiner Bürosuite im obersten Stockwerk. Dicke Teppiche schluckten das Ticken der Absätze von High Heels. Teure Parfüms mischten sich in die Luft. Turkov ließ seinen Blick über die engen Röcke und knappbemessenen Blusen seiner Mitarbeiterinnen gleiten und blieb an einem Etuikleid hängen. Es schmiegte sich um wohlgeformte Brüste und einen knackigen Hintern. Er versuchte, sich ihren Namen ins Gedächtnis zu rufen. Belinda? Melinda? Er machte eine mentale Notiz, sie am Nachmittag zum Diktat in sein Büro zu bestellen.

»Frau Professor Doktor Risslinger wartet bereits«, rief ihm seine Sekretärin durch die offene Tür zu.

»Danke, Grace!« Er schenkte der Frau ein Lächeln. Hässlich wie ein Sumoringer, aber hundertfünfzig Prozent zuverlässig und loyal. Eine Burg. Und darauf kam es in dieser Position an. »Schicken Sie sie in fünf Minuten herein.«

Seine beiden Bodyguards, die ihm vom Hubschrauber gefolgt waren, bauten sich schweigend links und rechts der Tür auf.

Auf seinem Schreibtisch lagen bereits die Forschungsberichte und die Biographie der Besucherin. Er goss sich einen Whisky ein und trat an die Fensterfront. Während er in den grauen Dunst über den Hochhäusern Manhattans blickte, ließ er den vierzig Jahre alten Single Malt langsam die Kehle herunterlaufen. Janet Risslinger. Persönlich hatte er sie noch nie getroffen. Bei seinen Untergebenen war sie als unbeugsam und hartnäckig gefürchtet. Jetzt hatte sie sich bis zur höchsten Instanz vorgearbeitet: bis zu ihm. Er versuchte, sie sich vorzustellen: wahrscheinlich so ein verbissener Wissenschaftlerinnentyp, Bulldoggengesicht, Brille. Auf der einen Seite bewunderte er Zielstrebigkeit. Andererseits konnte er Widerstand nicht dulden.

»Mr. Turkov?«, kam eine feste Frauenstimme von der Tür.

Er wandte sich um.

Lange, seidig glänzende, brünette Haare, schwarzer, enganliegender Rock. »Doktor Risslinger?«

»Professor Doktor«, korrigierte sie und lächelte betörend.

Hochgebumst, fuhr es Turkov spontan durch den Kopf. Er lud sie mit einer Geste ein, auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.

Turkov wartete, bis sich Frau Professor Doktor gesetzt hatte. Er ließ sich in seinem Ledersessel nieder. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Sie lehnte sich etwas vor. »Lieber Mr. Turkov, ich möchte Sie bitten, meinen Antrag auf Forschungsgelder noch einmal zu überdenken.«

Jayden nickte. »Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?«

Janet Risslingers Blick streifte sein Whiskyglas. »Nein, danke«, sagte sie höflich, doch Turkov bemerkte den kühlen Unterton in ihrer Stimme.

Er lächelte. »Sehen Sie, meinen Berichten zufolge sind Ihre bisher gewonnenen Ergebnisse inakzeptabel.«

Sie hob den Kopf. »Die sind korrekt, Sir.«

Jadyen fixierte sie. »Man kann sie verschieden auslegen. Und so wie Sie es tun, können wir Ihre Arbeit nicht weiter finanzieren.«

Doktor Risslinger sprang auf. »Sir, ich kann die Ergebnisse doch nicht dahingehend ›massieren‹, dass sie in Ihre Vorstellungen passen!«

»Kein Mensch wird sich dafür interessieren.« Turkov stand auf. »Das Gespräch ist beendet!«

Janet Risslinger nagte an ihren Lippen.

Er beobachtete sie wortlos. Sie wusste so gut wie er, dass sie ohne seine Gelder ihre Position als Fakultätsleiterin nicht lange halten konnte.

»Können wir einen Kompromiss finden?«, bot sie an.

Turkov nickte bedächtig. »Wenn Sie etwas mehr Einsatz zeigen würden.« Er gab den Bodyguards ein verstohlenes Zeichen. Sie schlossen die Tür.

Turkov trat hinter sie und legte seine Hände auf ihre Brüste, dabei rieb er seine Erregung an ihrem Hintern. »… ein bisschen Entgegenkommen Ihrerseits …«

Janet Risslinger zitterte. Ihr Konflikt heizte Turkov noch mehr an.

 

3

 

Hudson River, New York

 

Das Schaufelradboot, ein Gag, den sich die Organisatoren hatten einfallen lassen, um den Geldgebern etwas zu bieten, dampfte den Hudson hinauf. Nur wenige Menschen lehnten an der Reling und betrachteten die Skyline von Manhattan. Die meisten hielten sich in den klimatisierten Salons auf, in denen sich Stühle vor Rednerpult und Projektionswand reihten.

Georgina saß in der ersten Reihe. Sie war eine der Rednerinnen dieser Session. Der Mann neben ihr roch nach Zigarettenrauch. In ihrem Nacken glaubte sie, die Blicke der Zuschauer zu spüren. In Gedanken ging sie die Punkte ihres Vortrags durch: In der Antarktis braute sich unter dem Eis eine Katastrophe zusammen. Noch ahnte es keiner. Noch konnte sie verhindert werden. Georgina rief sich die Daten und Berechnungen ins Bewusstsein. Sie hatte keinen Fehler gemacht.

Professor Weily von der Universität Hawaii in Hilo stieg auf das Podium. Seine Begrüßungsworte unterstrich er mit weiträumigen Gesten. Seine Nase trug er etwas zu hoch, sein strikt nach hinten gekämmtes Haar und der Tweed-Anzug erinnerten Georgina schmerzhaft an ihren Vater, einen fanatischen Prediger, der jedem seine absurde Weltanschauung aufzwingen wollte, engstirnig, rechthaberisch. Als Kind hatte sie so viele Fragen gehabt: Wie fliegen die Vögel? Warum sind bunte Schichten in den Bergflanken? Was ist unter der Erde? ›Wer zu viel fragt, glaubt nicht und wer nicht glaubt, der kommt in die Hölle!‹ Der Vater hatte es nicht geschafft, ihr den Wissensdurst mit Drohungen vom ewigen Feuer herauszubrennen. Fünf lange Jahre hatte sie auf ihren achtzehnten Geburtstag gewartet, dann war sie geflohen. Sie wollte endlich Antworten finden, die Wahrheit über das Höllenfeuer. Sie studierte Vulkanismus. Weder Satan noch gequälte Seelen gab es im Feuer der Erde. Georgina lernte die Lavaströme zu messen, zu berechnen. Nichts war, wie es ihr Vater behauptet hatte. Dass das feurige Erdinnere einmal wirklich zur Hölle werden könnte, hatte sie nicht geahnt, bis sie die Daten aus der Antarktis ausgewertet hatte. Und nun brauchte sie Geld, um ein Vorhersagemodell zu entwickeln.

Georgina zuckte zusammen, als Professor Weily sie aufrief.

Sie erhob sich. Sie hörte ihr Herz schlagen, als sie zum Podium schritt. Das war der Moment, vor dem sie sich immer gefürchtet hatte: Den Kopf herausstrecken zu müssen, um die Menschen mit einer schrecklichen Wahrheit zu konfrontieren. Am liebsten wäre sie zur Tür hinausgerannt. Sie legte einen Apfel auf das Rednerpult. Sie strich über ihre Notizen, damit niemand bemerkte, wie ihre Hände zitterten. Langsam ließ sie den Blick über die Gesichter der Teilnehmer gleiten. Einige kannte sie: die Professoren Mahal aus Dubai, Sinh aus New Delhi, Müller aus Potsdam und Garcia aus São Paulo. Hervorragende Wissenschaftler. Sie alle hatten sich, so wie sie selbst, für Forschungsgelder im Bereich Klimatechnik beworben. Der Kampf darum war hart und nicht immer fair, ein Gerangel. Unwillkürlich flog Georginas Blick zu den hinteren Reihen, wo die Sponsoren saßen – ihre Gesichter im Schatten, ihre Mienen undurchdringlich. Ihr Geld brachte Forschungsergebnisse an die Öffentlichkeit – oder ließ sie für immer in der Schublade verschwinden. Georginas Magen zog sich zusammen. Sie räusperte sich. »Sehr verehrte Damen und Herren. Naturkatastrophen haben bereits fünf Mal in der Erdgeschichte fast das gesamte Leben auf der Erde ausgelöscht. Ereignisse, die das ausgelöst haben, werden wieder eintreten: Man nimmt an, dass einer der Supervulkane ausbrechen wird. In etwa achtzigtausend Jahren. Eine lange Zeit, wie es scheint, aber eins ist bei diesen Berechnungen nicht berücksichtigt worden: die aktuellen Vorgänge unter der Antarktis.« Sie legte eine Pause ein und ließ den Blick über das Publikum schweifen. Manch einer hob den Kopf, andere zogen die Brauen hoch. Georgina registrierte es zufrieden. Jetzt hörten sie zu. Sie fuhr fort. »Ich komme gerade von der Antarktis und habe die Daten von einundzwanzig Seismographen über einen Zeitraum von vier Jahren dabei: Die Aktivität von fast hundert Vulkanen unter dem Eis hat in erschreckendem Maße zugenommen.«

Ein Herr im linken Flügel meldete sich. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er irritiert. »Ich dachte wir sprechen in dieser Sitzungseinheit über Klimaerwärmung und nicht über Vulkanismus?«

Mit der Frage hatte sie gerechnet. »Sehen Sie«, Georgina deutete mit dem Laserpointer auf eine Animation, die an eine Leinwand links von ihr projiziert wurde. »Ein kilometerdicker Eispanzer lastet auf der Antarktis. In den letzten Jahren ist er um mehr als zehn Prozent geschrumpft. Um den Gewichtsverlust aufzuwiegen, bräuchte man mehr als sieben Milliarden Empire State Buildings!« Sie nahm den Apfel, biss ein Stück heraus und hielt ihn in Richtung Publikum. »Wenn noch so ein Anteil, wie von diesem Apfel, davon verschwindet, unterschreitet der Druck des Eises einen kritischen Punkt: Die Vulkane brechen aus. Bei der jetzigen Schmelzrate bleiben uns höchstens zwei Jahre bis zum Super-GAU.« Sie warf den angebissenen Apfel in den Papierkorb neben dem Pult.

»Die übliche Schwarzmalerei«, raunte einer der Sponsoren, stand auf und ging zum Buffet mit den Häppchen und Getränken an der Seitenwand. Er war groß, hatte breite Schultern und schmale Hüften. Sein kantiges Gesicht war glattrasiert. Er nahm ein Glas Sekt und musterte Georgina von oben bis unten. »Seit Jahrzehnten machen Wissenschaftler wie Sie Panik, um sich groß zu tun, um Gelder und Positionen zu erlangen, und am Ende bleibt der vorhergesagte ›Super-GAU‹ aus. Was sollte bei Ihnen anders sein?«

Georgina kannte diesen Mann: Jayden Turkov. Mit seinen dunklen Haaren und dem Bartschatten hätte sie ihn sexy finden können, wenn er nicht so ein arroganter Klotz wäre. Doch wenn es um Forschungsgelder ging, war er die erste Adresse. Von Umweltschutz wollte er nichts wissen. Das war bekannt. Ihn zu überzeugen, würde nicht einfach werden. »Ist der Schaden des Klimawandels nicht schon groß genug?«, erwiderte sie. »Die letzte Sturmflut hat Hollands Deiche zerstört. Ein Fünftel der Niederlande ist ans Meer verloren, Amsterdam steht unter Wasser. Ebenso Jakarta, Sydney, Shanghai. Erinnern Sie sich noch an New Orleans? Oder Fiji? Vom Meer verschlungen!« Sie ließ eine Weltkarte projizieren und deutete auf die Antarktis. »Große Eismassen sind im letzten Jahrzehnt geschmolzen, die Auswirkungen folgten relativ langsam. Jetzt stehen wir vor einer schlagartigen Schmelze der Gletscher und damit vor einer unvorstellbaren Katastrophe. Wir müssen einen weiteren Verlust des Eises sofort stoppen!«

»Da lehnen Sie sich aber ganz schön aus dem Fenster!« Turkov stellte betont lässig sein Glas beiseite. »Ein Zusammenhang zwischen der Klimaerwärmung und Vulkanismus konnte nie nachgewiesen werden.«

Georgina zuckte zusammen. Sie hatte den Kopf herausgestreckt. Sie kam sich vor wie auf einem Schafott. Gleich kam das Fallbeil. Sie atmete tief durch. Es ging nicht um sie, es ging um die Erde. »Mit allem Respekt, Mr. Turkov, weiter Treibhausgase zu produzieren ist Wahnsinn. Das Klima ist bereits irreparabel verändert. Wir müssen den Ausstoß von Kohlendioxid nicht nur stoppen, wir müssen die Konzentration in der Luft drastisch herunterbringen! Noch haben wir eine Chance, die Katastrophe zu verhindern, aber wenn wir nicht sofort handeln, ist es zu spät!«

»Professor …« Jayden Turkov warf einen Blick in das Programmheft, dann sah er Georgina mit kalten Augen an. »… Mrs. Finley, unsere Wirtschaft ist genauso fragil wie das Klima. Die Märkte sind weltweit miteinander verwoben und in delikater Balance. Wenn Sie einen Aspekt darin radikal ändern, bricht das ganze System zusammen. Industrien gehen pleite, Millionen Menschen werden arbeitslos. Das sollte eine Wissenschaftlerin aus St. Louis berücksichtigen, bevor sie so sensationelle Forderungen stellt!«

Georgina entging der Spott in seiner Stimme nicht. Auch hatte er ihren Doktortitel weggelassen. Absichtlich. Sie hob den Kopf. »Das ist mir klar. Aber die letzte Temperaturmessung auf dem antarktischen Plateau betrug plus zwölf Grad Celsius. Manche Leute würden das als ziemlich sensationell bezeichnen!«

Die Anwesenden lachten.

Turkov verzog keine Miene, aber seine stahlblauen Augen blitzten, als er seinen Blick in Georgina bohrte. »Der Planet wird sich daran gewöhnen müssen. Außerdem kann mir niemand erzählen, dass der Klimawandel von menschlichen Aktivitäten ausgeht. Er entspringt natürlichen Zyklen, Sonnenprotuberanzen, Veränderung in der Umlaufbahn der Erde. Sie werden das besser wissen, als ich.«

Georgina stemmte ihre Fäuste in die Hüften. »Machen Sie es sich da nicht ein bisschen zu einfach?« So borniert konnte der Mann doch gar nicht sein! Sie holte tief Luft. »Ich will es für Sie noch einmal sehr vereinfacht darstellen: Man holt Milliarden Tonnen Öl und Kohle aus der Erde und verbrennt sie. Was vorher fest und gebunden war, wird jetzt zum Gas – zum Treibhausgas, welches die Temperatur des Planeten steigen lässt. Ist das so schwer zu verstehen?« Sie sah ihn herausfordernd an. »Sie wollen die Verantwortung von sich schieben, um eine Ausrede für Geschäfte mit der Umwelt zu haben!«

Turkovs Gesicht verfinsterte sich. »Sie sollten aufpassen, mit wem Sie sich anle…« Weiter kam er nicht, denn ein gewaltiger Stoß erschütterte das Boot. Instinktiv hielt sich Georgina am Rednerpult fest. Es kippte und riss sie zu Boden. Stühle rutschten, Punschbowlen und Sektgläser zerbarsten, Menschen schrien. Ein Tisch sauste knapp an Georginas Kopf vorbei und schlug in die Seitenwand ein. Was zum Teufel war los? Sie arbeitete sich gegen die Schräglage zu einem Fenster vor und klammerte sich an einer der angeschraubten Bänke fest. Draußen sah sie eine schwarze Wolkenwalze, die über der östlichen Skyline hing. Sturm peitschte den Fluss und jagte Wellen über das Deck. Georgina konnte es nicht fassen. Mit Sicherheit war vor dem Wettersturz gewarnt worden und wieder einmal hatte man die Naturgewalten nicht ernst genommen.

Matrosen fingen die herumrutschenden Möbel ein und vertäuten sie, Sponsoren und Professoren mühten sich in die Schwimmwesten, Bodyguards schafften Turkov aus dem Salon, einige Leute übergaben sich. Der säuerliche Geruch schlug Georgina auf den Magen. Sie arbeitete sich zur Tür vor.

Während sie sich die Treppe zum Oberdeck hinaufkämpfte, zerrte der Sturm an ihrem Kleid, riss das Wasser von den Radschaufeln und jagte die Gischt über den Hudson. Die Bekleidung klebte Georgina völlig durchnässt auf der Haut. Endlich fand sie eine windgeschützte Stelle. Es war eine Schnapsidee der Organisatoren gewesen, das Sponsorentreffen trotz Sturmwarnung auf einem Boot zu veranstalten. Aber vielleicht hatte es sein Gutes, vielleicht würde der eine oder andere Sponsor jetzt mehr Geld in die Umweltforschung stecken. Vor Georginas innerem Auge tauchte das überhebliche Gesicht von Turkov auf. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Der Mann machte die Menschen zu seinen Marionetten! Auf neue Erkenntnisse, auf Fakten, hörte er nicht. Georgina schob angewidert den Gedanken beiseite.

Stampfend und schlingernd erreichte das Boot den Anlegeplatz. Der Wind wurde eisig. Zitternd drückte sich Georgina an einem Reporter vorbei, der mit aufpeitschender Stimme in die Kamera redete: »Gerade verlassen sie das Schiff. Sie sehen geschockt aus, als ob sie erst jetzt begriffen haben, dass das Wetter außer Rand und Band geraten ist. Da hinten sehe ich …«