DAS FEUER DER VERGELTUNG (Shadow Warriors 3) - Stephen England - E-Book

DAS FEUER DER VERGELTUNG (Shadow Warriors 3) E-Book

Stephen England

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Beschreibung

Großbritannien steht an einem Wendepunkt: eine erstarkte politische Rechte droht, die amtierende Regierung zu gefährden. In diesem aufgeheizten Klima treffen zwei Männer in London ein. Einer von ihnen ist ein Terrorist, verantwortlich für einen der größten Terroranschläge seit dem Elften September. Der andere ist gekommen, um ihn zu töten … "Eine fantastische Reihe eines grandiosen neuen Autors. Sehr zu empfehlen." - Brad Thor Fünfzehn Jahre arbeitete Harry Nichols für die CIA. Fünfzehn Jahre jagte er Staatsfeinde und Terroristen überall auf der Welt. Bis zu jenem Weihnachtsabend, als ein Terroranschlag in Las Vegas hunderte Unschuldige tötete und dabei auch das Leben einer Frau forderte, die er zu beschützen geschworen hatte. Die er liebte. Die Spur seines Widersachers führt Nichols nach London. Auf sich allein gestellt und jenseits des Gesetzes verfolgt er nur ein einziges Ziel: den Mann zu töten, der für diesen Terroranschlag verantwortlich ist, und Vergeltung zu üben. Ganz gleich, was es kostet.

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Shadow Warriors

Das Feuer der Vergeltung

Band 3

Stephen England

This Translation is published by arrangement with Stephen England Title: EMBRACE THE FIRE. All rights reserved. First Published 2013. All rights reserved.

Diese Geschichte ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Orte, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.

 Im Gedenken an Tom Clancy und Vince Flynn, die beide während des Verfassens von DAS FEUER DER VERGELTUNG verstarben.

Zwei Legenden, deren Einfluss auf das Thriller-Genre nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, und denen ich für einen großen Teil meiner Inspiration zu danken habe.

»Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« Römer 12:19

»Vergeltung ist wie ein ins Rollen gebrachter Stein, der, nachdem der Mensch ihn mühsam einen Berg hinaufgehievt hat, mit größerer Wucht wieder zu ihm zurückkehrt und die Knochen bricht, deren Muskelkraft ihn in Bewegung versetzt haben.«

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: EMBRACE THE FIRE Copyright Gesamtausgabe © 2021 LUZIFER Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Peter Mehler Lektorat: Astrid Pfister

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2021) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-587-3

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Das Feuer der Vergeltung
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Epilog
Über den Autor
Nachbemerkung des Autors

Prolog

22. März, 16:03 Uhr Ortszeit London, England

Sie beobachteten ihn, das wusste er. Sie beobachteten ihn nämlich stets. Hunderte lidlose Augen, die durch die Nacht auf ihn herabblickten.

Die niemals blinzelten, niemals ruhten, immer da waren.

Sie kannten sein Gesicht.

Regen fiel aus dem Himmel auf ihn herab. Kein starker Regen, nur ein ständiger Nieselregen. Das eiskalte Wasser rann an seinen Wangen hinunter und sammelte sich in den Bartstoppeln, die den unteren Teil seines Gesichts bedeckten.

Zwischen ihm und der Bushaltestelle befand sich eine tote Zone, oder zumindest hatte sich dort einmal eine befunden – eine sechs Meter lange Lücke in Londons legendärer Videoüberwachung. Genug Raum für einen Mann, um verschwinden zu können.

Verschwinden. Es hatte Zeiten gegeben, in denen er nichts lieber getan hätte, als in der Nacht zu verschwinden und wegzulaufen.

Noch nicht.

Es gab nur eine Kamera, auf der anderen Straßenseite genau gegenüber der Haltestelle, und er zog den Kopf scheinbar wegen des Regens noch weiter ein, während er sich dem hinteren Ende des Doppeldeckerbusses näherte. Er verdeckte sein Gesicht.

Öffentliche Verkehrsmittel stellten immer ein Risiko dar, aber eines, das er eingehen musste, denn die dreißigminütige Fahrt würde ihn an seinen Zielort bringen. Danach …

Er konnte nicht mehr lange so weitermachen, das wusste er. Das wusste er schon, seit er aufgebrochen war. Hinter ihm erschien jetzt eine junge muslimische Frau in einem Hijab und Jeans, die mit ihrem kleinen Sohn auf den Armen in den Bus stieg.

Aber leider blieb ihm keine andere Wahl.

So viele Erinnerungen. Nachdem er die Busfahrt überstanden hatte und wieder allein war, verharrte er für einen Moment auf dem Gehsteig und sah zu dem Haus hinüber, während ihn der Regen bis auf die Knochen durchnässte. Wehmut war in seinen stahlblauen Augen zu erkennen.

So viele Jahre waren seitdem vergangen.

Es war genau die Art von Wohnhaus, von der er erwartet hatte, dass sie es sich aussuchen würde. Das niedrige Tor gab unter seiner Hand nach, als er wie ein Geist auf die Tür zuschritt, während seine schwarze Windjacke von seiner großen, kräftigen Statur herabhing.

Es war ruhig und unauffällig. Einfach nur ein weiteres Reihenhaus. Anonym.

Nichts war wichtiger … besonders in ihrem Gewerbe.

Er warf einen Blick auf das Klingelschild rechts neben der Tür und verglich noch einmal sorgfältig die Adresse, bevor er seine Hand hob, um auf die Klingel zu drücken.

Er hörte das Klingelgeräusch undeutlich durch die Wohnung hallen, während er wartete und seine Augen zurück zu der verlassenen Straße huschten.

Er musste immer wachsam bleiben.

Leise Schritte erklangen, das Geräusch von jemandem, der sich vorsichtig der Tür näherte. »Wer ist da?«

Er drehte sich so, dass sein Gesicht durch den Türspion zu erkennen war. »Ich bin es, Mehreen.«

»Ya, Allah.« Er konnte ihren erstaunten Ausruf selbst durch die Tür hindurch hören. Das Arabisch klang so vertraut in seinen Ohren. Lieber Gott.

Einen Moment später hörte er das Klappern einer Kette, ein Riegel wurde zurückgezogen, und dann schwang die Tür auf.

Die Frau, die im Eingang stand, war Mitte vierzig, und damit beinahe acht Jahre älter als er, und in ihre schulterlangen schwarzen Haare hatten sich bereits verräterische silberne Strähnen geschlichen. Sie rahmten die dunklen Gesichtszüge der gebürtigen Pakistanerin ein. »Das ist ja ewig her, Mehr.«

Es dauerte einen Moment, bis sie ihm antwortete. Eine Mischung unterschiedlichster Emotionen huschten über ihr Gesicht, und für einen kurzen Moment glaubte er, dass sie ihm die Tür vor der Nase zuschlagen und ihn abweisen würde.

»Ja, das ist es in der Tat.« Sie trat einen Schritt zur Seite und schien ihre nächsten Worte sehr vorsichtig zu wählen. »Komm doch rein, wenn du willst … ich mache uns eine Tasse Tee.«

Er folgte ihr in das kleine Wohnzimmer des Appartements, nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit seinen langen Fingern durch das regennasse schwarze Haar, während sie in der Küche verschwand.

Auf dem Couchtisch stand ein gerahmtes Bild, das eine Braut in leuchtendem Weiß in den Armen eines rotblonden Mannes in voller Uniform zeigte, die gerade unter den gezückten Säbeln des Regiments hindurchliefen. Da war etwas an der Art, wie die beiden sich mit leuchtenden Augen ansahen … so voller Hoffnung und voller Liebe.

Ein wehmütiges Lächeln huschte über seine Lippen, als er das Bild in die Hand nahm und die Erinnerungen sofort zurückkamen, denn er war an diesem Tag dabei gewesen und hatte die Pracht dieser Hochzeit miterleben dürfen.

Aber es gab leider noch andere Erinnerungen, und diese … nun, prächtig war alles andere als das richtige Wort dafür.

»Nick war ein guter Mann«, sagte er beinahe beschämt, als sie in das Zimmer zurückkehrte und ihn mit dem Bild in der Hand dastehen sah.

Sie nickte, reichte ihm eine Tasse Tee und nahm das Bild an sich. Trauer war jetzt in ihren Augen zu lesen. »Ja, das war er.«

»Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da sein konnte bei der Beerdigung.« Zu diesem Zeitpunkt war er in Darfur gewesen. Damals hatte er nicht zurückkommen können, denn er hatte einen Job zu erledigen gehabt. »Sie haben mir gesagt, dass es eine Splittergruppe der Provos war … eine Bombe.«

Ein weiteres Nicken folgte, während sie ihn zurückhaltend musterte.

»Ich dachte, das hätte sich gelegt«, sagte er und hob die Tasse Darjeeling an seine Lippen. Dampf stieg von der blassgoldenen Flüssigkeit auf und wärmte seinen vom Regen durchgefrorenen Körper. »Dass diese Probleme hinter uns liegen würden.«

Ein bitteres Lächeln huschte über ihre Lippen. »Das denken wir immer, nicht wahr? Aber Hass … Hass stirbt nie. Alte Männer geben ihn mit ihrem Blut an die jungen weiter. Sie spielen daraufhin Krieg und Patrioten, und gute Männer müssen sterben.«

Gute Männer sterben. Das Lied seines Lebens.

Wenn er die Augen schloss, konnte er alles noch ganz genau vor sich sehen. Den HAHO-Sprung über dem Libanon … wie er auf der Rampe der C-130 neben Nick Crawford und einem anderen SAS-Sergeant steht und sich auf den Sprung in die stockfinstere Nacht vorbereitet.

Er spürt den Ruck, als sich der Fallschirm öffnet, hört das Rattern automatischer Waffen, riecht die Schüsse und auch das Blut.

In jener Nacht hatte er Nick das Leben gerettet und ihn sicher zu ihr nach Hause gebracht.

Aber gute Männer starben.

Er sah zu ihr und bemerkte, dass sie ihn aufmerksam musterte. Ihr Tee stand unangerührt neben ihr auf der Stuhllehne. »Bist du hier, um einen Mann zu töten? So ist es doch, oder, Harry?«

Harry Nichols lehnte sich in dem Sessel zurück, sah sie ernst an und suchte nach den richtigen Worten. »Ich arbeite nicht mehr für die Agency, Mehr.«

Ihre Finger zitterten leicht, als sie ihre Teetasse nahm und er konnte Angst in ihren dunklen Augen aufflackern sehen.

»Das habe ich nicht gefragt.«

Kapitel 1

23. März, 06:09 Uhr Eine Wohnung, London, England

Das frühe Morgenlicht schien ihm durch das niedrige Fenster mitten ins Gesicht, als er von seinem Gebetsteppich aufsah, der nach Mekka ausgerichtet war. »Assalaamu ‘alaykum wa rahmatu-Allah.« Friede sei mit euch und die Barmherzigkeit Allahs und sein Segen. Mit seinen flachen Händen auf den Knien beendete er das Taslim und erhob sich, nachdem die letzten heiligen Worte seine Lippen verlassen hatten.

Er stand auf, faltete den Gebetsteppich ehrfurchtsvoll wieder zusammen und legte ihn in den kleinen Schrank neben seinem Bett. Der Schuhkarton direkt daneben enthielt zwei Mobiltelefone und seine Browning High Power.

Die Pistole war in Großbritannien nicht erlaubt, wie so vieles andere auch, doch für die Anhänger Allahs war es angesichts der Ereignisse, die bald folgen sollten, nicht der richtige Zeitpunkt, um unbewaffnet zu sein.

Er verließ das Zimmer, zog leise die Tür hinter sich zu und lief den schmalen Flur der Wohnung in Richtung Küche hinunter.

»Salaam alaikum, Scheich«, begrüßte ihn eine Stimme. Tarik Abdul Muhammad lächelte und streckte die Arme aus, um seinen Gastgeber zu umarmen.

»Segen und Friede sei mit deinem Haus, mein Bruder.«

Ein Korb mit Knoblauchbrot wurde vor ihm abgestellt, als er sich an den Frühstückstisch setzte und einen knappen Blick in das Gesicht der Frau seines Gastgebers warf.

»Jazak’allah khair.« Möge Allah Sie für Ihre Güte belohnen.

Zurückhaltend, wie sie war, antwortete ihm die Frau nicht, sondern lächelte nur kaum merklich und verließ, die Haare unter einem wallenden Hijab verborgen, den Tisch, so, wie es sich gehörte.

Seit Wochen lebte er nun schon so, dachte er, während er sich ein Stück Brot abriss und in den Mund schob. Er zog von einem Unterschlupf bei einem wahrhaft Gläubigen zum nächsten, blieb jedoch bei keiner Familie länger als ein paar Tage.

So entzog er sich den Blicken derer, die ihn beobachteten.

Er streckte den Arm aus, um das rabenschwarze Haar der fünfjährigen Tochter zu streicheln, die gerade an seinem Stuhl vorbeilief, und lächelte, als sie ihn schüchtern angrinste. Kinder waren wirklich ein Geschenk Allahs.

Ein Geschenk, das er für sich selbst allerdings aufgrund eines größeren Ziels geopfert hatte.

Plötzlich klopfte es unverhofft an der Wohnungstür, und zwar laut und drängend. Seine Gastgeber tauschten einen Blick aus, und die Angst stand ihnen nur zu deutlich in die Gesichter geschrieben.

Die Angst, dass die Tür im nächsten Moment mit einer Ramme in den Händen jener Verbrecher aufgebrochen wurde, die als Sondereinheit bekannt waren. Die Angst, dass ihre Kinder dabei ins Kreuzfeuer geraten könnten.

Tarik legte das Stück Knoblauchbrot auf seinen Teller zurück und warf einen nachdenklichen Blick auf die Distanz zwischen Flur und dem Zimmer, in dem er schlief. Blieb ihm noch genug Zeit?

Es klopfte erneut, und sein Gastgeber erhob sich vom Tisch. »Ich gehe schon«, flüsterte er und wies seine Familie mit einer Geste an, den Raum zu verlassen.

Tarik nickte und beruhigte sie leise auf paschtunisch, während er sie den Flur entlang in das Zimmer führte, welches er in den letzten Tagen sein Zuhause genannt hatte. »Bleib hier«, ermahnte er die Frau und nahm die Schachtel aus dem Schrank. Das kleine Mädchen riss erschrocken die Augen auf, als sie die Waffe in seiner Hand erblickte.

Er bewegte sich lautlos den Flur entlang und auf die Stimmen zu. Die Browning fühlte sich kalt in seinen Händen an und wies ihm den Weg.

»Bruder Tarik«, rief sein Gastgeber laut, als er um die Ecke bog. Ein junger Mann stand in der Tür und redete hastig auf ihn ein. Er war hellhäutig, hatte dunkle Bartstoppeln, und er gestikulierte wild mit den Händen, während er sprach.

Dann entdeckte er die Waffe. »Bitte nicht. Ich bin nicht Ihr Feind.«

»Wer sind Sie dann?«

Sein Gastgeber trat zwischen sie und hob die Hände. »Salaam, Tarik. Abdul ist als Kurier der Bruderschaft zu uns gekommen.«

Die Ichwân.

Tarik lächelte, entspannte den Hahn der Browning und winkte den Kurier hinein und ließ ihn am Tisch Platz nehmen. »Salaam alaikum, mein Bruder.«

»Welche Kunde bringst du mir, Abdul?«, fragte Tarik, der sich jetzt dem jungen Araber gegenüber setzte. Die Browning lag nun zwischen ihnen auf dem Tisch. Seit die westlichen Geheimdienste jeden ihrer Anrufe verfolgten und jede E-Mail überwachten, blieb der Bruderschaft nichts anderes mehr übrig, als für besonders wichtige und kritische Nachrichten auf diese Art der Kommunikation auszuweichen. Auf persönliche Treffen, von Angesicht zu Angesicht.

Aber war das wirklich ein Notbehelf? So war es schließlich in den Tagen des Propheten gewesen, und so war es auch jetzt.

Der Araber leckte sich nervös über die Lippen, und seine dunklen Augen huschten von einem Mann zum anderen, als traue er sich kaum, zu sprechen. »Ich habe leider schlechte Nachrichten, Scheich. Der Prinz ist tot.«

Für einen langen Augenblick glaubte Tarik, sich verhört zu haben. Seine für gewöhnlich sanften blauen Augen loderten zornig auf, als er sich über den Tisch beugte und seine Stimme zu einem Zischen senkte. »Prinz Yusuf?«

»Ja, genau der.«

»Wie ist es passiert? Wann?«

Erneut schoss die Zunge des Mannes nervös hervor und befeuchtete seine Lippen.

»Er wurde vor vier Tagen an Bord seiner Jacht Khaybar erschossen«, sagte er, und seine Finger zitterten, als er ein kleines, wie ein Geldstück geformtes Objekt über den Tisch schob. »Man hat das hier in seinem Mund gefunden.«

Zögernd griff Tarik nach dem Objekt. Es war kein Geldstück, sondern ein Pokerchip.

Ein Pokerchip mit dem Wort Bellagio in dessen Mitte.

Es schien so, als hätte sich plötzlich der Hauch des Todes über den Raum gesenkt, und ein Frösteln fuhr durch seinen gesamten Körper.

Er packte den Boten am Handgelenk. »Wieso hast du das gerade zu mir gebracht?«

06:21 Uhr Die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika, Grosvenor Square, London

»… nur meine Befehle befolgt. Vergib mir, Scheich.«

»Jetzt hab ich dich«, flüsterte Carlos Jimenez mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht. Ihr Schachzug hatte sich ausgezahlt und sie hatten endlich das erreicht, was ihnen nach beinahe einem Monat Überwachung immer noch nicht gelungen war: die Zielperson ausfindig zu machen. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fuhr sich mit der Hand über sein Kinn, während der Audiostream weiterlief. »Wie lange wird es dauern, bis er herausfindet, dass der Pokerchip mit einem Peilsender ausgestattet ist?«

Der große Mann, der am Rande des Tischs saß, lächelte kaum merklich. »Schwer zu sagen, aber ich möchte nicht in Abduls Haut stecken, wenn er es tut.«

Verdammt richtig, dachte Jimenez und sah sich in seinem fensterlosen Büro um. Die Einrichtung war eher spartanisch, in Anbetracht der früheren Position des ehemaligen Marines in der britischen Botschaft.

Zehn seiner fünfundvierzig Jahre hatte er als Marine gedient und danach weitere acht bei der Agency.

Station Chief London lautete nun der Titel, den er seit zwei Jahren trug. Nicht, dass ihn irgendjemand mit Ausnahme seines Teams und seiner Kollegen im Thames House – dem Hauptquartier des britischen Geheimdienstes – oft benutzte.

Denn Anonymität war in diesem Gewerbe wichtiger als anderes andere.

»Sie waren in Vergas, Parker, nicht wahr?«, fragte er und sah seinem Kollegen fest in die Augen.

Thomas Parker starrte auf die blanke Wand, und Tausende Erinnerungen zogen in seinen Gedanken an ihm vorbei, bevor er antworten konnte. Er erinnerte sich noch ganz genau an jene Nacht, und an das Feuer, das in den Himmel über Nevada aufstieg. An den Gestank von Blut und Schießpulver, der das Theater des Bellagio ausgefüllt hatte.

Der Geruch von Kampfer stieg ihm ebenfalls wieder in die Nase. Soman. Ein Nervengift.

»Ja, ich war dabei«, antwortete der Offizier für paramilitärische Operationen.

Und ich konnte es nicht verhindern, beendete er gedanklich den Satz. In dieser Nacht, der Nacht vor Weihnachten, war der Terror über Amerika hereingebrochen.

Als er den Blick von der Wand nahm, bemerkte er, dass der Station Chief ihn anstarrte. Der Mann mochte vielleicht nicht mehr wie ein Bilderbuch-Marine aussehen, es war schließlich acht Jahre her, dass er das Corps für den Geheimdienst verlassen hatte, aber es waren immer noch Spuren zu erkennen, wie die kurz geschorenen, frühzeitig ergrauten Haare oder der Befehlston, den jeder Rekrut nur zu gut kannte.

»Wird das Ganze ein Problem werden?«, fragte er in einem Tonfall, der klarmachte, was er damit meinte.

Thomas zog es vor, den Unterton zu überhören. »Was meinen Sie damit?«

Mit einem schweren Seufzen zog Jimenez die untere Schublade seines Schreibtischs auf und holte eine Flasche Jim Beam und zwei Schnapsgläser mit eingraviertem USMC-Logo daraus hervor. »Ersparen Sie mir das Theater, Parker. Sie wissen genau, was ich meine, denn ich kenne Ihre Befehle so gut wie meine. Sie sind hier, um Tarik Abdul Muhammad zu überwachen, nicht, um ihn zur Strecke zu bringen. Jetzt, wo wir ihn aufgespürt haben, frage ich Sie: Können Sie damit umgehen?«

Parker sah zu, wie der Mann die Flasche Bourbon kippte und die bernsteinfarbene Flüssigkeit ins Glas plätschern ließ. Die Versuchung nagte an ihm.

»Glauben Sie, Kranemeyer hätte mich geschickt, wenn ich es nicht könnte?«, fragte er und bezog sich dabei auf den Leiter des Clandestine Service.

Der CIA Station Chief schüttelte den Kopf und schraubte den Deckel zurück auf die Flasche. »Wahrscheinlich nicht, aber Kranemeyer ist dreitausend Meilen weit entfernt und Sie operieren jetzt in meinem Zuständigkeitsbereich.«

»Wie Sie wissen, war ich schon ein- oder zweimal in einer solchen Lage, Carlos«, antwortete Thomas, richtete sich auf und sah den Marine fest an. »Es wird kein Problem werden.«

Jimenez musterte ihn für einen langen Moment, dann griff er nach den zwei Schnapsgläsern.

»Darauf trinke ich«, sagte er und reichte Thomas eines der Gläser. »Devil’s Cut – hab die Flasche gerade erst aus den Staaten bekommen.«

Er lächelte ein wenig. »Sie glauben ja gar nicht, was so alles ins Diplomatengepäck passt.«

Thomas hörte ihm kaum zu und starrte in seinen Drink. Er wusste, was er tun sollte und was er tun musste. Aber Wissen und Handeln waren nun mal zwei verschiedene Dinge.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Jimenez und hielt inne, als sein eigenes Glas gerade seine Lippen berührte. »Sie trinken Ihren Bourbon doch pur, wenn ich mich recht erinnere, oder?«

Parker lachte. »Ich musste nur gerade an dieses eine Mal in Kabul denken, 2009 – wir beide, dieser Lieutenant mit den braunen Haaren und die einzige Flasche Schnaps im ganzen verdammten Land. Was für eine Party.«

Ja, er erinnerte sich an jene Nacht, an die paar wenigen Stunden Ruhe in einem endlosen Krieg. Bei dieser Erinnerung huschte unwillkürlich ein schwaches Lächeln über sein Gesicht.

Er konnte den Blick des Station Chiefs auf sich spüren, und die Fragen, die unweigerlich darauf folgen würden. Fragen, auf die er keine Antwort hatte … oder zumindest keine, die er ihm geben wollte, aber er wusste, dass die Alternative zu diesen Fragen einer Niederlage gleichkäme.

Also hob er das Glas mit einem Ruck an seine Lippen und spürte, wie der Whiskey seine Kehle hinunterrann, dessen Feuer von einer sanften Zimtnote gemildert wurde.

Aufgeben …

07:03 Uhr Die Wohnung, Ealing, London

Die Couch, auf der er geschlafen hatte, war leer und die Kissen kühl unter ihrer Berührung, als Mehreen aus dem Schlafzimmer kam. Er war offenbar schon seit Stunden fort.

Wohin, konnte sie nicht sagen.

Sie zog ihr Handy aus der Jeanstasche, lief in die Küche und starrte dabei im Halbdunkel auf das leuchtende Display.

Sie wusste, was ihr Job von ihr verlangte, und dass sie diesen Anruf tätigen musste. Denn jeder Kontakt mit fremden Geheimdienstmitarbeitern, selbst mit Verbündeten, musste gemeldet werden, und zwar ohne Ausnahme.

Aber etwas hielt sie zurück. Irgendetwas an Nichols war anders gewesen, etwas, das sie bereits in dem Moment gespürt hatte, als er ihre Wohnung betreten hatte.

Er hatte sich verändert.

Sie kannte seine Geschichte beinahe genauso gut wie ihre eigene. Das hatten alle Geheimdienste gemein. Nichols hatte sich ein Jahr nach den Ereignissen des elften Septembers in den Dienst der CIA begeben, damals noch in das Directorate of Operations.

Er war Offizier für paramilitärische Operationen. Zumindest früher, wenn die Gerüchte über seinen Ausstieg aus der CIA stimmten. Einer der Männer, die immer an vorderster Front im Einsatz waren, und in Schattenkriegen kämpften, von denen die meisten Menschen nicht einmal ahnten, dass sie überhaupt geführt wurden. So wie Nick.

Sie hatte die ganze Zeit über gewusst, welcher Arbeit sie nachgingen. Sie waren Jäger gewesen. Jäger, die andere Menschen jagten. Es gab keinen Grund, sich dieser Realität zu verweigern.

Aber letzte Nacht schien er verändert gewesen zu sein, und zum ersten Mal hatte sie eine dunkle Präsenz in seinen Augen gesehen. Einen Fatalismus, den er noch nie zuvor ausgestrahlt hatte.

Er hatte sie nicht darum gebeten, dieses Telefonat nicht zu führen. Er hatte es nicht einmal erwähnt, obwohl er die Vorschriften bestens kannte. Er hatte die Entscheidung damit ihr überlassen, ohne sie zu verurteilen oder ihr Vorwürfe zu machen.

Er vertraute ihr, auch wenn dieser Gedanke untypisch für Männer wie ihn war.

Vor dem Kühlschrank blieb Mehreen stehen und betrachtete das Foto von ihr und Nick, das dort hing. Ein Schnappschuss, er ohne T-Shirt, seinen drahtigen Arm um ihre Schulter geschlungen. Im Hintergrund erstreckte sich der weiße Strand von Sanna Bay.

Nichols hatte dieses Foto geschossen.

Sie schloss die Augen und erinnerte sich an diesen Moment zurück, als wäre es erst gestern gewesen. Die Männer waren gerade von einem Strandlauf zurückgekommen, oder vielmehr von einem Höllensprint. Sie lachten wie kleine Jungen, schlugen sich ausgelassen auf die Schultern und warfen sich gegenseitig freundschaftliche Beleidigungen zu. Beinahe wie Brüder.

Nick hatte sich neben ihr Strandtuch in den Sand gekniet und ihre Hand an seine Lippen gehoben. Er hatte gelacht und ihr gesagt, wie wunderschön sie sei, und ihre dunklen Haare aus der Stirn gestrichen. Für diesen kurzen Moment war der Krieg vergessen gewesen.

Doch elf Monate später war er tot gewesen.

Brüder, dachte sie, während sie in Gedanken noch ihr Gelächter hören konnte, als sie ihr Handy zurück in ihre Tasche schob. Ohne nachzudenken, hätten sie ihr Leben füreinander gegeben.

In diesem Moment war ihr klar geworden, dass es eine Form von Vertrauen gab, das man nicht verraten durfte.

07:07 Uhr Mortlake Cemetery, Südwest-London

Robert Montfort. So lautete der Name auf dem Grabstein, zusammen mit den Lebensdaten: 1898-1975. Ein Engel aus Granit hielt über ihm Wache, den Kopf im Gebet gesenkt.

Einen halben Meter tief, dreißig Zentimeter vom Kopf des Sarges entfernt. Harry ließ sich mit einem Knie in den knirschenden Pulverschnee sinken und hob mit einem Feldspaten die Erde um das Grab herum aus.

Er hatte mit tief ins Gesicht gezogenem Hut den Bus der Linie 68 zum Friedhof genommen. Eine Fahrt von einer Stunde, die er zwei Sitze hinter einem älteren Sikh mit schneeweißem Bart und traditioneller Kluft und Turban seines Glaubens zugebracht hatte.

Zwei junge Männer waren an der nächsten Haltestelle zugestiegen, erinnerte er sich, während er eine Taschenlampe zwischen die Zähne geklemmt hatte und noch einmal die Abmessungen überprüfte.

Dem Äußeren nach hatten sie Ärger bedeutet.

Der Ältere des Duos hatte sich zu dem Sikh durchgeschlängelt, und dabei seine ausgeblichene Lederjacke zurückschlagen, unter der ein weißes T-Shirt mit dem blutroten Georgs-Kreuz zum Vorschein gekommen war. Sein Atem hatte nach Alkohol gestunken.

»Sieh mal einer an, ein verdammter Pakistani«, hatte er gerufen, bevor er mit seinem Kumpan in betrunkenes Gelächter ausgebrochen war, und noch einige Beleidigungen gelallt hatte.

Dann hatte er sich über den Mann gebeugt und mit einem knochigen Zeigefinger nur wenige Zentimeter von dessen Gesicht entfernt auf den Sikh gedeutet. »Kürzlich was mit kleinen Mädchen gehabt?«, hatte der Schläger ihn dann gefragt und dabei angewidert das Gesicht verzogen. »Ihr Windelköpfe seid doch alle gleich – pädophil seid ihr. Ihr gehört nicht in unser Land.«

Harry hatte bewusst in die andere Richtung geblickt, während die Beschimpfungen weitergingen. Er hatte weggesehen, obwohl er dem Alten hätte helfen können. Helfen müssen. Doch er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man nicht die ganze Welt retten konnte.

Damals wie heute war es wichtig gewesen, nicht aus der grauen Masse hervorzustechen. Im Dunkeln zu bleiben … unscheinbar … unerkannt.

Aber das bedeutete leider auch, in unzähligen Situationen die Augen verschließen zu müssen. Solche Dinge als irrelevant anzusehen. Damit die Mission erfolgreich sein würde.

Die Mission. Er hörte, wie der Feldspaten auf etwas Metallisches traf und beugte sich nach vorn, um mit seiner Taschenlampe in das Loch zu leuchten.

Jetzt hatte er nur noch eine einzige Mission.

Seine tastenden Finger berührten den Rand einer Metallkiste, und er wischte mit eiligen Bewegungen die Erde hinunter. Der Morgen brach bereits an, und es war Zeit, von hier zu verschwinden.

Die Kiste war dreißig Zentimeter lang und zwölf Zentimeter breit, stellte er fest, als er sie aus dem Loch hob. Sie war kleiner, als er gehofft hatte. Sehr viel kleiner sogar, und mit einem rostigen Schloss gesichert.

Er konnte nur hoffen, dass sich ihr Inhalt, der ursprünglich von Agenten der Agency während des Kalten Krieges als letzte Rettung hier vergraben worden waren, in besserem Zustand befand. Er schob die Spitze des kleinen Spatens zwischen das Schloss und verpasste dem Griff einen kräftigen Schlag mit der Handfläche. Ein Hieb genügte, dann sprang das Schloss mit dem Geräusch eines Pistolenschusses auf, der von den Ziegelmauern des nahe gelegenen Krematoriums widerhallte.

Der Deckel klappte auf und darunter kam die alte Isolierung zum Vorschein, die den Inhalt seit beinahe vier Jahrzehnten unter der Erde vor der Feuchtigkeit geschützt hatte … unter anderem eine Schachtel Munition, zwanzig Schuss Kaliber .380 ACP Hardball, Vollmantelgeschoss.

Er griff in die Kiste hinein und befreite ein in Wachstuch gewickeltes Objekt aus seiner Ruhestätte.

Seine Finger schlossen sich um die vertraute Form eines Pistolengriffs.

Als das Wachstuch herunterrutschte, beleuchtete seine Taschenlampe die unverkennbare Kontur einer Walther PPK.

Er lehnte sich mit dem Rücken an den Grabstein, presste die Schultern gegen den Grabengel und starrte auf die Waffe in seiner Hand hinunter. Seine Finger zitterten kaum merklich.

Allerdings nicht aus Angst, denn Angst war jenen vorbehalten, die etwas zu verlieren hatten – und er hatte bereits mehr verloren, als er sich in Erinnerung zurückrufen wollte. Er hatte alles verloren, was ihm je etwas bedeutet hatte.

Es waren auch nicht die Nerven oder die Zweifel, die einen beschlichen, wenn man sich mit dem Gedanken befasste, jemanden umzubringen. Dieses Gefühl kannte er nur zu gut, denn er hatte schon viele Male zuvor getötet. Der Gedanke daran ließ ihn schon lange nicht mehr zögern. Dieser Teil seiner Seele war schon vor langer Zeit gestorben und im Feuer der Kriege versengt.

Diesmal war es anders, denn dieses Mal war es persönlich. Er wusste daher, was er gerade empfand, und auch wie gefährlich dieses Gefühl werden konnte.

Es war Hass.

Kapitel 2

08:28 Uhr Londoner Innenstadt

In die Stadt zurückzukehren, war für ihn stets eine Art Schock, und je länger er ihr fernblieb, umso fremder fühlte sie sich dann für ihn an. War dies immer noch sein Zuhause, oder war es die Wüste, die er hinter sich gelassen hatte?

Drei Monate war er in Somalia gewesen, dachte Darren Roth, während er ungeduldig auf die Fußgängerampel starrte und darauf wartete, dass das grüne Symbol erschien. Wenn er die Augen schloss, konnte er das Blöken der Ziegen in den Dörfern, das Rumpeln des Lastwagenmotors und das Rattern von Handfeuerwaffen in der Nacht immer noch hören.

Drei Monate war er auf der Jagd nach einem schwer zu fassenden Feind gewesen. Militante regionale Truppen, die mit den al-Shabaab sympathisierten.

Ein Schauer lief durch den Körper des schwarzen Mannes, deshalb zog er sich seine Jacke noch fester um seine Schultern. Es war nicht wirklich kalt, aber es waren noch keine dreißig Stunden vergangen, seit er die vierzig Grad heiße somalische Wüste verlassen hatte, und die Luft schien förmlich in seine Ohren und seinen rasierten Schädel zu schneiden.

Seine Augen musterten das Gedränge um ihn herum, während er darauf wartete, dass die Ampel umschaltete. Eine Menschenmenge, die an dieser Londoner Straße für einen Moment lang aufgehalten wurde. Die meisten von ihnen hingen mit leicht gesenkten Köpfen über ihren Handys, so wie das zierliche Mädchen neben ihm, deren Daumen über die kleine Tastatur ihres Telefons huschten und eine Nachricht an eine Freundin oder einen Partner tippten.

Niemand von ihnen hätte in Somalia auch nur für drei Tage überlebt.

Die Ampel blinkte jetzt auf, und die Menge setzte sich in Bewegung. Menschen schoben sich an ihm vorbei und eilten über den Zebrastreifen. Vor sich konnte er das Wachpersonal und den hohen Torbogen des Thames House sehen.

Das Hauptquartier des MI-5.

»Marsh wartet in seinem Büro auf Sie«, waren beinahe die ersten Worte, die Roth hörte, als er die Einsatzzentrale des MI-5 betrat, seine Jacke auszog und sie über die Lehne des leeren Stuhls an seinem Schreibtisch hängte.

Oder zumindest das, was einmal sein Schreibtisch gewesen war, bevor er in den Einsatz aufgebrochen war.

Er hob eine Augenbraue und sah zu der Frau hinüber. »Keine ruhige Minute, was?«

Sie lächelte. »Seine Befehle lauteten, Sie sofort zu ihm hineinzuschicken, sobald Sie da sind.«

Julian Marsh war bereits seit Jahrzehnten Mitglied des Geheimdienstes, schon seit dem Ende des Kalten Krieges und er war außerdem eine lebende Legende.

Roth blickte zu dem gläsernen Büro des Generaldirektors hinüber und nickte grimmig. »Schon in Ordnung.«

»Herein«, rief Marsh, als er anklopfte. Der Direktor kehrte ihm den Rücken zu, die Hände tief in die Taschen seiner Anzughose geschoben, und blickte auf den Gang hinaus, aber er konnte die Reflexion des Mannes im Glas sehen. Ein ernstes Gesicht, von lichter werdendem Haar umrahmt, starrte ihm von der Scheibe entgegen.

Er trug eine maßgeschneiderte graue Hose, eine dazu passende Weste und einen blassblauen Schlips mit einem gestärkten weißen Hemd – so sah Marshs Kleidung immer schon aus. Seine Anzugjacke hatte er über die Lehne eines Sessels in seinem ansonsten eher spärlich eingerichteten Büro geworfen.

»Und die Moral von der Geschichte«, begann Marsh, ohne ihn dabei anzusehen, »leihen Sie niemals einen Ihrer besten Agenten an den MI-6 aus. Womöglich sehen Sie ihn nie wieder.«

Er drehte sich um und bedachte Roth mit einem Gesichtsausdruck, der für Marshs Verhältnisse einem Lächeln am nächsten kam. »Setzen Sie sich«, fuhr er mit einer knappen Handbewegung fort. »Wie war Somalia?«

»Es lief gut, Sir«, antwortete Roth zurückhaltend. Die Regeln der Geheimhaltung galten immer, selbst vor jemandem in Marshs Position.

»Vielleicht findet man im Babylon an der Themse ja die Zeit, mich einzuweihen«, schnaubte der alte Mann. Er bezog sich dabei auf den Spitznamen des stufenförmigen Gebäudes, das als Hauptquartier des MI-6 diente. Er nahm einen Aktenordner von seinem Schreibtisch. »Egal … wir haben wichtigere Dinge zu besprechen. Die Operation PERSEPHONE. Lesen Sie.«

Roth nahm ihm die Akte aus der Hand, öffnete sie in seinem Schoß und blätterte sich durch unzählige Ausdrucke und Überwachungsaufnahmen. Es schien unglaublich, aber es war real, schließlich hatte er es schwarz auf weiß vor sich liegen.

»Wir sind an einer gemeinsamen Überwachungsoperation mit der CIA beteiligt – hier in London?«

»Das sind wir«, antwortete Marsh. »Und jetzt sind Sie es auch. Nachdem man an diesem Morgen die Zielperson endlich lokalisieren konnte, mache ich Sie hiermit zum Leiter unserer Liaison mit unseren amerikanischen Freunden, während wir uns darauf vorbereiten, einsatzbereit zu sein.«

»Wofür genau brauchen Sie mich?«, erkundigte sich Roth, nahm das Foto der Zielperson zur Hand und las den darunter abgedruckten Namen. Tarik Abdul Muhammad.

»Aus dem gleichen Grund, weshalb ich dem Innenministerium geraten habe, die Anfrage abzuweisen«, lautete Marshs giftige Antwort. »Aber Sie wissen ja, wie das läuft. Das Innenministerium um etwas zu bitten, ist so, als würde man sich mit einem Elefanten paaren wollen. Man hat nur sehr wenig Vergnügen dabei, wird höchstwahrscheinlich zerquetscht und es dauert Jahre, bis etwas dabei rumkommt.«

Falls das als Scherz gedacht gewesen war, zeigte Marsh keinerlei Anzeichen von Amüsiertheit, sondern fuhr einfach fort. »Der neue amerikanische Präsident hat die Anfrage höchstpersönlich gestellt, und der Premierminister hatte wohl gerade einen guten Tag. Alles wurde unterzeichnet, besiegelt und ausgeführt, und der Geheimdienst durfte es quasi als nette Geste am Ende gegenlesen. Deshalb hole ich Sie dazu – die Amerikaner sind da an etwas dran, und ich muss unbedingt wissen, was es genau ist.«

Irgendetwas lag in der Stimme des Direktors, was ihm sagte, dass dieser etwas verbarg.

»Was wollen Sie mir damit sagen?«

Marsh griff nach einer zweiten, wesentlich dünneren Akte und warf sie ihm in den Schoß. »Das ist der Mann, den die CIA als Einsatzleiter für ihren Teil der Operation rübergeschickt hat. Thomas Parker. Vor 9/11 war er ein höchst erfolgreicher Manager einer Fortune-500-Technikfirma, die aber zusammen mit den Zwillingstürmen in sich zusammengefallen ist. Das meiste, was wir über ihn wissen, stammt aus dieser Zeit. Auf dem letzten Blatt steht alles, was wir über unsere Kanäle über ihn herausfinden konnten, seit er der Agency beigetreten ist. Ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse.«

Roths Augen überflogen rasch das Dokument und verbanden die einzelnen Punkte miteinander. Er war erschöpft, der Stress des Rückflugs aus Somalia machte sich immer noch bemerkbar.

Aber er war nicht so erschöpft, um das Wesentliche zu übersehen.

»Er ist Offizier für paramilitärische Operationen«, erwiderte er und blickte von dem Dossier auf.

»Exakt«, antwortete Marsh und streckte die Hand nach der Akte aus. »Angeblich sind die Amerikaner für eine Observierung hier, und zwar ausschließlich für eine Observierung, und doch haben sie einem Mitglied der Special Activities Division die Leitung dafür übertragen.«

»Sie denken an eine außerordentliche Überstellung?« Das wäre ihre beste Chance, wenn sie auch mehr als gewagt war. Den Pakistani schnappen und ihn im Schutze der Nacht aus Großbritannien herausfliegen … ihn nach Jordanien bringen, einem der wenigen Länder im Mittleren Osten, die nach dem Arabischen Frühling noch mit dem Überführungsprogramm der CIA kooperierten … ihn in Amman in eine Zelle werfen und ihn für eine Weile König Abdullah Mukhabarat überlassen. Das könnte funktionieren.

Denn es hatte schon funktioniert, und zwar bereits viele Male zuvor.

Marsh sah ihn einfach nur an, ohne ihm zu antworten, und in diesem Moment verstand Roth, dass der ältere Mann gerade das Undenkbare in Erwägung zog.

Dessen Ermordung …

08:53 Uhr Das May Fair Hotel, Londoner Innenstadt

Die Agency machte wirklich keine halben Sachen, dachte Thomas, als er die Tür hinter sich schloss. Sie hatten die gesamte Etage des May Fair Hotels für ihr Personal abriegeln lassen, und bewaffnete Beamte der britischen Antiterroreinheit hielten an den Fahrstühlen Wache.

Nach einem Monat war er sich noch immer nicht ganz sicher, ob sie zu ihrem Schutz hier waren, oder sie einfach nur im Auge behielten. In Anbetracht des fragilen Zustands ihrer speziellen Beziehung in diesen Tagen war es wahrscheinlich beides.

Aber es trug ganz sicher nicht zu ihrer Geheimhaltung bei.

Er warf seinen Mantel aufs Bett und rieb sich mit einer Hand über sein Gesicht. Überwachungsarbeit war nicht annähernd so glamourös, wie es einem die Filme immer weismachen wollten. Stattdessen verbrachte man endlose Nächte in einem Transporter mit kaputter Heizung und versuchte, aus einem halben Kilometer Entfernung halbwegs vernünftige Fotos zu schießen.

Nur die Besten schafften es, bei einer so langwierigen Observierung die Nerven zu behalten, und nur Voyeure konnten so etwas genießen.

Er war einmal einer der Besten gewesen, aber nun war er sich dessen nicht mehr sicher. Er war sich nur noch sehr weniger Dinge sicher.

Am Spiegel im Badezimmer der Suite klebte ein Post-it, dort, wo er es in der vergangenen Nacht hinterlassen hatte. Neun Tage, stand darauf, mit einem stümperhaft dazu gemalten Smiley darunter.

Dieser schien sich jetzt über ihn lustig zu machen. Neun Tage trocken! Das war wahrscheinlich die längste Zeit, die er ohne einen Drink zugebracht hatte, seit er mit sechzehn damit angefangenen hatte – bei einer Party nach dem Abschlussball auf seiner New Yorker Highschool, wenn er sich richtig erinnerte.

Neun Tage, und nun konnte er wieder von vorn beginnen. Er war so verdammt schwach.

Der erste Schritt ist es, sich selbst einzugestehen, ein Problem zu haben. Er konnte die Worte seines Sponsors immer noch hören, eine halbe Welt entfernt. Das Problem war nur, dass niemand erfahren durfte, dass man ein Problem hatte, wenn man Teil des Geheimdienstes war.

Er war schon immer als starker Trinker bekannt gewesen, und das war in seinen Kreisen nichts Ungewöhnliches. Aber es hatte niemals seine Arbeit beeinträchtigt. Niemals! Dafür war er zu professionell.

Zumindest hatte er das bis jetzt geglaubt.

Er knöpfte sein Hemd auf, unter dem seine kugelsichere Weste zum Vorschein kam. Die Briten ließen nicht mit sich handeln, was das Tragen von Waffen anbelangte, aber mit Körperpanzerung hatten sie offenbar kein Problem. Man durfte zwar selbst nicht schießen, aber es war einem erlaubt, mit etwas Glück zu überleben, falls man angeschossen wurde.

Ja, überlegte er angesäuert, das machte wahnsinnig viel Sinn.

Zeit, etwas zu schlafen. Vier Stunden, dann würde alles von vorn beginnen.

09:08 Uhr Thames House

»Sie sind ziemlich spät dran heute, Mehr«, hörte sie, als sie eilig hinter ihrem Schreibtisch Platz nahm und ihr Mittagessen unter ihren Füßen verstaute. Ein weiterer Tag im Büro.

»Ja«, antwortete sie und rang sich ein Lächeln ab, als sie in die grauen Augen ihres Vorgesetzten aufblickte, Alec MacCallum. »In der U-Bahn hat heute ziemliches Gedränge geherrscht.«

Das stimmte sogar, aber es war nicht der Grund für ihre Verspätung. Sie war zu spät, weil sie bis zum letzten Moment in ihrer Wohnung geblieben war und über ihre Entscheidung bezüglich Nichols nachgegrübelt und sich gefragt hatte, ob er überhaupt damit rechnete, zurückzukehren.

Ihr Boss nickte und schien ihre Antwort zum Glück zu akzeptieren. »Die wöchentlichen Bedrohungsbewertungen liegen auf Ihrem Schreibtisch, frisch aus dem GCHQ. Gehen Sie diese so schnell wie möglich durch.«

Sie sah ihm hinterher, als er sich durch den Irrgarten aus Arbeitsplätzen des Geheimdienstzentrums schlängelte und hin und wieder stehenblieb, um mit anderen Beamten zu sprechen. Nachdem er einundzwanzig seiner sechsundfünfzig Lebensjahre bei der SO-13, der Anti-Terroreinheit des London Metropolitan Police Departments verbracht hatte, war MacCallum die naheliegendste Wahl für die Leitung der Section G innerhalb des MI-5 gewesen, und eine von Marshs ersten Ernennungen, nachdem dieser sein Amt angetreten hatte.

Neben dem Generaldirektor gehörten auch sie und Alex zur alten Garde unter der mehrheitlich jüngeren Belegschaft des Sicherheitsdienstes, und das hatte dazu geführt, dass sie seit seiner Ankunft beim MI-5 besonders eng zusammenarbeiteten.

Ihre Finger huschten jetzt über die Tastatur und sie gab ihren Sicherheitscode ein. Es hatte eine Zeit gegeben, in den Jahren nach Nicks Tod, in der es so ausgesehen hatte, als wenn er an ihr interessiert wäre. Die Freundschaft hatte etwas Tröstliches gehabt, denn er war einsam und geschieden und sie eine trauernde Witwe gewesen. Aber ihre professionelle Zurückhaltung ließ sich nicht so einfach abstreifen. Die Mauern, die sie beide um sich herum errichtet hatten, waren längst zu hoch geworden.

Ein schweres Seufzen drang über ihre Lippen, als sie sich dem Stapel der Bedrohungsbewertungen zuwendete. So viele neue Bedrohungen, es wurden nie weniger. Doch es war nun mal ihr Job, sie auf ihre Glaubwürdigkeit hin zu überprüfen.

Sie hatte keine Zeit, über ihre Vergangenheit nachzudenken, und während sie die erste Akte öffnete und ihre Augen das Deckblatt überflogen, fragte sie sich, wieso sie es heute Morgen getan hatte.

11:04 Uhr Im Nordwesten Londons

»Er ist unterwegs«, verkündete der Mann in dem Verfolgerfahrzeug, hob heimlich eine Kamera und schoss ein paar schnelle Aufnahmen, als ihre Zielperson aus der Wohnungstür trat und zuerst nach links und dann nach rechts sah. »Ich wiederhole, habe Sicht auf CERBERUS. Er ist zu Fuß unterwegs und bewegt sich nach Osten. Haben Sie verstanden, Sierra Two?«

Ein kurzer Augenblick verging, bis es in seinem Ohrhörer knisterte und eine Stimme antwortete: »Verstanden, Sierra One – nehmen Verfolgung auf.«

Tarik Abdul Muhammad hatte beide Hände tief in die Taschen seiner Jacke geschoben und schritt gedankenverloren den Gehsteig entlang.

Sein Freund war tot! Es schien unmöglich, diese Tatsache zu begreifen und zu verstehen, was sich ereignet hatte. Er konnte sich noch gut an sein erstes Treffen mit Prinz Yusuf vor Jahren in Lahore erinnern, wenige Wochen nach seiner Freilassung aus Guantanamo.

Dieses Treffen war von Allah bestimmt worden, die Zusammenkunft eines Mannes mit einer Vision mit einem Mann, der über genügend Geld verfügte, diese Vision wahr werden zu lassen.

Eine Vision, die nur wenige Monate später Früchte tragen sollte, als der Himmel über Las Vegas in Flammen aufging und Trümmer der Delta-Airlines-Maschine des Flugs 94 über der Stadt herabregneten. Als seine Mudschaheddin die Türen des Bellagio gestürmt hatten, nach dem Tod trachteten und ihren eigenen fanden.

Das Bellagio. Seine Finger fanden den geriffelten Rand des Pokerchips und drehten ihn, während er weiterlief. Die Amerikaner hatten seinen Freund getötet, und dann hatten sie ihm eine Nachricht geschickt.

Die Nachricht lautete, dass sie ihn finden würden, egal, wohin er auch floh oder wo er Zuflucht suchte. Sie würden ihn töten.

Als würden sie sich selbst für Götter halten, dachte er, während er am Straßenrand darauf wartete, dass der Verkehr vorbeifuhr, und ins Auge der Überwachungskamera über ihm blickte.

Diese Arroganz war einfach unglaublich. Die Hybris des Westens. Obwohl sie sich als überaus verletzlich erwiesen hatten, hielten sie sich offenbar immer noch für überlegen.

Seine Augen huschten über die geschäftige Straße. Gelassen musterte er die Fußgänger, die an ihm vorbeieilten. Yusufs Tod war zweifellos nur ein Test, ein weiterer Teil des großen Plans, den Allah für ihn geschmiedet hatte.

Doch eines wusste er genau: Egal, was die Amerikaner in ihrem Stolz auch vorbereiteten – die Zeit und der Ort seines Todes würden von Allah allein bestimmt werden … und zwar nur von ihm.

12:24 Uhr Thames House

Als wäre er wieder zurück in Somalia, dachte Darren, als er die Unterlagen der Einsatzbesprechung für PERSEPHONE auf seinem Schreibtisch ausbreitete und über Marshs Worte nachdachte.

Mit Verbündeten zusammenarbeiten, denen man nicht trauen konnte, und Freund wie Feind genau im Auge zu behalten – das war die bittere Realität.

Genau wie das Ausmaß einer Rund-um-die-Uhr-Überwachung. Das ließ sich nicht mit einer Handvoll Agenten bewerkstelligen, wie einen das Fernsehen gern glauben ließ. Nach allem, was er dem Einsatzplan entnehmen konnte, waren bereits beinahe vierzig Leute dieser Mission zugeteilt worden. Mehr Personen, als er in Somalia überhaupt kennengelernt hatte, und beinahe die Hälfte von ihnen war erst hinzugezogen worden, nachdem der MI-5 Tarik Abdul Muhammad vor ein paar Monaten in Leicester verloren hatte.

Die Spur war kalt geworden … bis heute Morgen.

Er warf einen Blick auf den Hartschalenkoffer zu seinen Füßen. Ein Geschenk von Marsh, wenn man es so nennen wollte.

»Sie werden als Verbindungsmann zur SO-15 fungieren«, hatte Marsh unter Verwendung der offiziellen Bezeichnung für die Anti-Terroreinheit erklärt, »aber ich will, dass Sie auf alle Eventualitäten vorbereitet sind … ganz egal wie schnell sich diese auch ereignen sollten.«

Vorbereitet, natürlich. Der Koffer enthielt eine Sig-Sauer P229 Halbautomatik-Pistole mit 9mm-Luger-Munition, dazu zwei Magazine mit je dreizehn Schuss, und außerdem einen Schalldämpfer, der auf den Lauf geschraubt werden konnte.

Agenten des MI-5 durften nämlich keine Waffen tragen, zumindest nicht auf britischem Boden. Das hatte er dem Generaldirektor auch erklärt.

Aber Marsh hatte nur mit den Schultern gezuckt, als ob ihn das nicht weiter kümmern würde. »Ich habe Sie für diesen speziellen Fall von dieser Regel entbinden lassen, auch wenn die Innenministerin davon nicht angetan war. Behalten Sie einfach unsere Freunde im Auge und sorgen Sie dafür, dass sie nicht unüberlegt handeln.«

Darren sah auf die Uhr. In weniger als fünf Stunden würde er sich am Grosvenor Square mit seinem Kollegen von der Agency treffen.

Er nahm noch einmal Parkers dünne Akte zur Hand, klappte sie auf und betrachtete das Foto des Amerikaners.

14:39 Uhr Hendon Cemetery, im nördlichen Bezirk von London

Friedhöfe waren schon immer ein vertrauter Teil seines Lebens gewesen, dachte Harry, als er langsam an den Grabsteinen vorüberlief. Viel zu vertraut.

Über die Jahre hinweg hatte er unzählige Menschen beerdigen müssen. Hatte dabei zusehen müssen, wie mit Flaggen geschmückte Särge in die Erde hinuntergelassen wurden und dabei eine schluchzende Witwe an seine Brust gedrückt, während Schüsse als letztes Salut an ihren Liebsten ertönten. Reihen um Reihen weißer Kreuze kündeten als stumme Zeugen von den Leben, die seitdem verloren waren.

Und doch hatte er selbst überlebt, wo andere gestorben waren. Der unerträgliche Kummer, zurückgeblieben zu sein, war die unentrinnbare Schuld jedes Überlebenden … der unbändige Wunsch, an ihrer Stelle gestorben zu sein, und in ihrer Haut gesteckt zu haben, als die tödliche Kugel sie traf.

Ein Granitstein ragte am Ende der Reihe auf. Seine Stiefel knirschten im leichten Schnee, als er davor stehen blieb. Es war ein alter Stein und der Name darauf über die Jahre beinahe verwittert, aber die Inschrift war dennoch zu erkennen. Und sie wandelte mit Gott und war nicht mehr, denn Gott nahm sie hinweg.

Diese Worte trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht, und für einen Moment glaubte er, sich übergeben zu müssen. Denn Gott nahm sie hinweg.

Carol! Er konnte es kaum ertragen, ihren Namen auszusprechen, doch in diesem Augenblick fühlte er sich wieder in jene Nacht in Vegas zurückversetzt, zu jenen gestohlenen Momenten, bevor ihre Welt aus den Fugen geraten war.

Der Geschmack ihrer Lippen auf seinen, salzig von den Tränen, als sie an der Tür gelehnt und ihren Körper fest an seinen gepresst hatte.

»Du musst mir versprechen, dass das nicht das Ende ist.«

Aber genau das war es gewesen, dachte er und fuhr sich zornig über das Gesicht. Denn Gott nahm sie hinweg.

Er sah zu dem schiefergrauen Himmel hinauf, an dem die Wolken langsam über das Angesicht der Erde hinwegzogen und die Sonne verdunkelten. Oft hatte er über das Warum nachgedacht, aber nie eine bessere Antwort gefunden als die, die ihn schon all die Jahre begleitet hatte. Einer wird angenommen und der andere wird verlassen werden.

Und es war immer besser, betrauert zu werden, als derjenige zu sein, der trauerte.

Nach weiteren zwanzig Minuten hatte er schließlich gefunden, weshalb er hierhergekommen war. Ein Grabstein in einer Ecke nahe der Kapelle – klein und unauffällig. Die Inschrift auf dem Stein lautete Company Sergeant Major Nicholas Crawford, British Army. Und darunter befand sich die Losung Who Dares Wins – Wer wagt, gewinnt. Das Gründungsmotto des Special Air Service. Das Credo, nachdem auch Nick sein ganzes Leben lang gelebt hatte.

Harry rechnete beinahe damit, auf dem Stein das Wappen des SAS zu finden – das von flammenden Schwingen umgebene Schwert Excalibur – aber es fehlte. Vielleicht hatte sich Mehreen die Gravur nicht leisten können. Was ihn nicht weiter überraschte, denn das Gehalt eines Staatsdieners war nichts, womit man sich brüsten konnte.

Er hockte sich vor den Stein, zog seinen Handschuh aus und fuhr sanft mit einer Hand über die Inschrift.

Gute Männer sterben, hatte Mehreen letzte Nacht gesagt, und es hatte nie einen besseren oder tapferen Mann als Nick gegeben.

Er war an jenem Wochenende zu Hause gewesen. Ein seltener Moment der Ruhe in einem Leben, das vom Krieg gezeichnet, und dass so früh ausgelöscht worden war.Nick hatte an diesem hellen Frühlingsmorgen seiner Frau einen Abschiedskuss gegeben und war aus der Tür gegangen.Er hatte ihren Wagen genommen, denn sein eigener hatte Probleme mit dem Motor gehabt.

Er hatte seine Tasche auf den Rücksitz geworfen, die Fahrertür geöffnet und sich auf den Sitz fallen lassen. Er hatte den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt … es hatte einen grellen Blitz gegeben und dann war plötzlich alles vorbei gewesen, im Bruchteil einer Sekunde.

In dem Wagen hatte sich eine Bombe befunden, wie die Sondereinheit später bestätigte. Von einer bis dahin unbekannten Splittergruppe der Real IRA dort deponiert.

Sie hatte ihn auf der Stelle getötet, so viel war zumindest sicher. Die Druckwelle hatte sich aus dem Epizentrum der Detonation ausgebreitet und alle Fenster der kleinen Wohnung in Bromley zersplittern lassen, die Mehreen bis dahin ihr Zuhause genannt hatte.

Lange bevor sie seine verstümmelte Leiche aus dem brennenden Wrack ziehen konnte und sich dabei die Füße zerschnitt. Tränen waren an ihren Wangen hinuntergelaufen, als sie fieberhaft nach seinem Puls getastet, aber keinen mehr gefunden hatte.

Keine Verabschiedung.

»Es tut mir leid«, flüsterte er, unsicher, ob seine Entschuldigung der Vergangenheit galt oder den Dingen, die er in Kürze tun würde, während er den kalten Stahl der Walther an seiner Seite spürte.

Und mit ihm, die Überzeugungen, die er verraten würde.

17:04 Uhr Die amerikanische Botschaft, Grosvenor Square, London

»Es ist immer schön, Sie bei uns zu haben, Jules.« Carlos Jimenez lächelte und führte Julian Marsh und seinen Untergebenen um die Sicherheitskontrollpunkte herum, die das Gebäude am Grosvenor Square vor unautorisiertem Zutritt schützten. »Willkommen in den Vereinigten Staaten von Amerika.«

Was, so seltsam es sich auch anhörte, der Wahrheit entsprach, denn eine Botschaft war das Hoheitsgebiet der jeweiligen Nation, eine unantastbare Zuflucht. Heimvorteil.

»Schön, Sie kennenzulernen, Mr. Roth«, begrüßte Thomas nun den schwarzen Mann und streckte ihm die Hand entgegen. Den Namen eines Mannes zu kennen, ohne ihm je vorgestellt worden zu sein, war einer der Vorteile, den man als Geheimagent genoss.

Ein Weiterer war es, auch so gut wie alles andere über ihn zu wissen. Darren Roth war ein ehemaliger Stabsfeldwebel der Royal Marine, Teil der Eliteeinheit des Special Boat Service und Veteran im Irak- und Afghanistan-Krieg, wo er den Tapferkeitsorden für sein Handeln während eines Hinterhalts der Taliban im Jahre 2008 verliehen bekommen hatte. Vor drei Jahren hatte er das Militär für den Geheimdienst verlassen, und es ging das Gerücht um, dass er Marshs rechte Hand war.

Fürs Erste würde Thomas sich jedoch mit den Geheiminformationen begnügen, die ihm zur Verfügung standen, denn selbst ohne die Gerüchte war Darren Roth ein gefährlicher Mann, und es war gut, dass er auf ihrer Seite stand.

Oder zumindest so etwas in der Art.

»Ebenso«, antwortete der MI-5-Agent, und ein entwaffnendes Lächeln blitzte in seinem Gesicht auf.

Das würde nicht funktionieren, dachte Thomas und quälte sich ebenfalls ein Lächeln ab, während der Station Chief der CIA sich umdrehte und sie den Korridor entlang zu den Fahrstühlen führte.

Sie beide waren alte Hasen in diesem Spiel.

18:30 Uhr Die Wohnung, Ealing, London

Sie hatte die Tür abgeschlossen, als sie die Wohnung verlassen hatte, und sie war in diesen Dingen immer sehr gründlich … selbst, als Nick noch gelebt hatte.

So etwas vergaß sie niemals.

Dennoch konnte sie jetzt den Geruch von kochendem Hühnchen riechen, und der Duft von Ingwer und Curry stieg ihr in die Nase, als sie ihren Mantel in dem schmalen Flur aufhängte.

Nichols stand am Herd. Er trug ein schwarzes T-Shirt und dunkle Jeans, was kein ungewöhnlicher Anblick für ihn war, aber er sah dünner aus und auf eine gewisse Art zerbrechlicher.

»Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, als du heute Morgen nicht mehr da warst«, sagte sie und fuhr sich durch ihre feuchten Haare.

»Tut mir leid«, antwortete er, ohne sich zu ihr umzudrehen. Die Entschuldigung klang ernst gemeint. Aber natürlich tat sie das.

Das war Nichols, der sehr geübt im Umgang mit Menschen war. Das war schließlich sein Job gewesen. »Das Abendessen ist so gut wie fertig. Ich hab ein paar Sachen auf dem Markt eingekauft.«

»Das hättest du nicht tun müssen.«

Jetzt drehte er sich zu ihr um und in seinen blauen Augen war Traurigkeit zu lesen. »Und ob.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Es riecht zumindest gut, was auch immer es ist. Es erinnert mich an daheim.«

»Murgh handi«, antwortete er und tauchte einen Finger in den Topf, um zu kosten. Ein traditionelles Hühnchen-Gericht, welches in einem handi zubereitet wurde, einem in der pakistanischen Küche gebräuchlichen Topf.

Sie lächelte, obwohl ein Anflug von Kummer ihren Blick überschattete, als sie sich an den Tisch setzte. Denn das Essen mit dem Finger abzuschmecken, erinnerte sie an Nick.

Es war eine Angewohnheit aus zu vielen Jahren im Einsatz, in denen sie um das Lagerfeuer eines Ziegenhirten gekauert hatten, eingewickelt in Felle, und kalte Militärrationen mit blanken Fingern gegessen hatten. Mit nur einem Gewehr als Gesellschaft. Die beiden waren sich so ähnlich gewesen.

»Du hast viele Monate in Pakistan verbracht, nicht wahr?«

Er nickte. »Die meiste Zeit meiner Karriere über war ich in den Stans«, antwortete er. »Das Beste daran war das Essen. So bin ich auf den Geschmack gekommen.«

Die Stans … Afghanistan, Pakistan und die Handvoll restlicher Staaten zwischen Russland und dem Meer, die meisten davon ehemalige Mitgliedsstaaten der Sowjetunion, die mit dem gleichen Suffix in Farsi endeten, welches so viel wie Heimat der … bedeutete. Aber für Menschen wie sie gab es keine Heimat … nicht mehr.

»Ich bin heute durch die Stadt gebummelt«, erzählte er, stellte die dampfende Schale mit Fleisch zwischen ihnen ab und nahm dann gegenüber von ihr Platz. Das war gelogen, dessen war sie sich sicher – es war kaum wahrnehmbar, aber sie kannte ihn gut genug. Eine Lüge oder eine Halbwahrheit? So oder so, er verheimlichte etwas vor ihr. »Es hat länger gedauert, als ich dachte. Sie hat sich ganz schön verändert.«

»Das hat sie, und das tut sie jedes Jahr mehr«, stimmte sie ihm zu und schob sich ein Stück des in Gewürzen eingelegten Hühnchens in den Mund. Sie kaute langsam darauf herum, während sie ihn ansah. »Leider nicht zu ihrem Besten.«

Er lächelte grimmig. »So wie fast jede Veränderung in diesen Zeiten.«

»Sie sind jetzt hier«, sagte sie mit kühler Wut in ihrem Blick. »Aber das weißt du längst, nicht wahr?«

»Die Islamisten?«

Sie nickte. »Sie stürzen sich wie Parasiten auf den nächsten Wirt, wenn der alte Körper unter ihrer Last zusammengebrochen ist. Wir beobachten zu jedem Zeitpunkt mindestens dreißig dschihadistische Operationen in diesem Land. Fünf davon allein hier in London, keine acht Meilen entfernt.«

»Bist du dir sicher, dass du mir davon erzählen darfst?«, erkundigte er sich leise.

Etwas in seinem Blick wurmte sie. »Genauso sicher, wie ich mir war, als ich heute Morgen keinen Kontaktbericht ausgefüllt habe, als ich im Thames House eintraf.«

18:41 Uhr Die amerikanische Botschaft, Grosvenor Square, London

»Wir werden einen Agenten im Centre brauchen«, sagte Carlos Jimenez und sah von seinen Notizen auf, um den Generaldirektor über den Konferenztisch hinweg anzusehen. »Eine Rund-um-die-Uhr-Präsenz mit Zugang zu allen Details der laufenden Operation PERSEPHONE.«

»Nein!« Thomas sah, wie Marshs Augen aufflackerten und er sich in seinem Stuhl aufrichtete, bevor er Jimenez einen durchdringenden Blick zuwarf. »Auf gar keinen Fall. Das kommt nicht infrage.«

»Nun, Jules …« Der CIA-Station-Chief schüttelte den Kopf und grinste dann wie ein Mann, der sich sicher wähnte, alle Trümpfe in der Hand zu halten. »Zufällig weiß ich, dass Ihre Befehle aus dem Innenministerium lauten, der Agency Ihre volle Kooperation zukommen zu lassen, und wir beide wissen, dass die Genehmigungen dieser Operation weit über meine und Ihre Gehaltsklasse hinausgehen.«

»Ich werde die Befehle meines Innenministeriums befolgen«, lautete seine unterkühlte Antwort. »Aber Kooperation ist das eine, Ihren Leuten einen Freibrief zu geben, sich ungehindert im Thames House aufhalten zu können, eine Andere. Von daher – Nein. Ihre Anfrage wird abgelehnt.«

Jimenez stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus und warf Thomas einen Seitenblick zu, als er antwortete: »Ich kann gar nicht genug betonen, wie ernst Sie die Anwesenheit von Tarik Abdul Muhammad in Ihrem Land nehmen sollten, Jules, angesichts seiner Rolle in der Planung und Durchführung der Anschläge in Vegas. Wenn Sie ihn nicht zur Strecke bringen wollen, werden Sie ihn unter ständiger Überwachung halten müssen … mit wem er spricht oder an wem er auch nur auf der Straße vorbeiläuft. Ob Sie es glauben wollen oder nicht, aber dieser Mann stellt eine ganz klare Gefahr für die nationale Sicherheit Ihres Landes dar.«

»Wie so viele andere«, antwortete Marsh gelassen. »Unser Geheimdienst sieht sich täglicher Bedrohungen ausgesetzt, von den al-Qaida bis hin zum Islamischen Staat. Ganz zu schweigen von den verstreuten irischen Dissidenten und den ganzen restlichen Spinnern, die das gesamte politische Spektrum von ganz Links bis ganz Rechts abdecken.«

»Aber das ist …«

»Hätte die US-Regierung nicht beschlossen, Katz-und-Maus mit seinen Guantanamo-Häftlingen zu spielen«, fuhr der Generaldirektor mit erhobener Stimme fort, um seinem Gegenüber das Wort abzuschneiden, »wäre Tarik Abdul Muhammad keiner von ihnen geworden. Deshalb, Mr. Jimenez, und so lobenswert Ihr Ansinnen auch sein mag … nein. Ich werde mich ganz sicher nicht von Ihnen darüber belehren lassen, diese Sache nicht ernst genug zu nehmen.«

18:43 Uhr Die Wohnung, Ealing, London

»Wieso hast du es nicht getan, Mehr?« Er klang immer noch ruhig und beherrscht, als hätte die Antwort keine Konsequenzen und würde nicht über sein weiteres Schicksal entscheiden.

Wieso hatte sie es nicht getan? Diese Frage war unmöglich zu beantworten. Es war ein Abwägen zwischen zwei richtigen Entscheidungen oder vielleicht auch zwei Falschen.

Denn ihn zu verraten wäre beides gewesen.

Ihre Hände ballten sich unter dem Tisch zu Fäusten, und ihre Knöchel traten weiß hervor, während sie versuchte, die Fassung zu bewahren … oder wenigstens den Anschein davon.

Mit einer groben Geste schob sie die halb leere Schale Hühnchen von sich. Plötzlich war sie nicht mehr hungrig, denn seine bloße Anwesenheit brachte zu viele Erinnerungen zurück.

»Ich werde jetzt duschen und dann ins Bett gehen«, verkündete sie mit brüchiger Stimme. Sie war kurz davor, zusammenzubrechen.

Mehreen sah ihn nicht an, und er hielt sie auch nicht auf, als sie die Küche verließ und dem schmalen Flur bis zu ihrem Schlafzimmer folgte.

Ihre Hand griff nach der Klinke und zog die Tür hinter sich zu. Sie verschloss sie allerdings nicht, denn das war nicht nötig. Nichols würde es respektieren. Das hatte er schon immer.

Sie verzog das Gesicht, als die Gefühle sie übermannten, weigerte sich aber, den Tränen nachzugeben. Ihre Beine gaben jetzt langsam unter ihr nach und sie sank kraftlos auf den Boden. Ungeachtet seiner Fehler – und sie bezweifelte nicht, dass er einige besaß – war er immer für sie dagewesen, als niemand anderes ihr zur Seite gestanden hatte.

Sie und Nick hatten über viele Jahre hinweg versucht, ein Kind zu bekommen. Er hatte sich nichts sehnlicher gewünscht als einen Sohn, aber auch eine Tochter hätte ihn überglücklich gemacht.

Fruchtbarkeitsbehandlungen waren selten in Großbritannien, und die Wartezeiten dafür deshalb sehr lang. Ihnen war irgendwann die Zeit davongelaufen, denn ihre biologische Uhr hatte getickt. Aber sie hatten auch das versucht, und schließlich war es ihnen gelungen.

Sie hatten ihn Adrian genannt, nach Nicks Vater. Sie hatten ein Zimmer ihrer Wohnung in Bromley als Kinderzimmer hergerichtet und es blassblau angestrichen, in der Farbe von Rotkehlchen-Eiern. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie in dem Zimmer gestanden und ihm beim Malern zugesehen hatte. Das war noch nie seine Stärke gewesen, und seine Klamotten waren überall mit Farbe bekleckert gewesen.

Sie hatte sich über ihn lustig gemacht, und er hatte daraufhin die Hand ausgestreckt und ihr einen Farbklecks auf die Nase gemalt. Seine Augen hatten dabei gestrahlt, und sie hatte gespürt, wie sich das Baby in ihr bewegt hatte. In diesem Moment waren sie drei eins gewesen.

Dann war Nick ohne Vorwarnung wieder in den Krieg gerufen worden. Die Pflichten eines Soldaten hatten denen eines Ehemannes gegenüber leider immer Vorrang, und sie war allein zurückgeblieben, im sechsten Monat schwanger.