IM ANGESICHT DES FEINDES (Shadow Warriors 4) - Stephen England - E-Book

IM ANGESICHT DES FEINDES (Shadow Warriors 4) E-Book

Stephen England

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Beschreibung

Nach dem Terroranschlag auf Balmoral in Schottland ist Ex-CIA-Agent Harry Nichols auf sich allein gestellt und auf der Flucht – vor dem britischen Geheimdienst, aber auch seinen früheren Arbeitgebern. Um unterzutauchen, bleibt ihm nur eine Wahl: seine paramilitärische Erfahrung zu nutzen und sich dort zu verstecken, wo man ihn am wenigsten vermuten wird – unter seinen größten Feinden … "Eine fantastische Reihe eines grandiosen neuen Autors. Sehr zu empfehlen." - Brad Thor Seine Flucht führt ihn nach Belgien. Mit seinem über die Jahre erworbenen Wissen taucht er bei der muslimischen Bevölkerung unter und gibt sich als zum Islam konvertierter Dschihadist aus. Doch er ahnt nicht, dass sich die jungen Männer in seinem Umfeld bereits radikalisiert haben und einen Terroranschlag planen. Während die Grenzen zwischen Freund und Feind für ihn immer mehr verschwimmen, versucht er alles, die geplanten Anschläge zu behindern und die belgischen Geheimdienste zu warnen, ohne jedoch sich selbst zu erkennen zu geben. Aber wie oft kann ein Mann allein die Welt retten … und zu welchem Preis?

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Im Angesicht des Feindes

Band 4

Stephen England

übersetzt von Peter Mehler

 This Translation is published by arrangement with Stephen England Title: PRESENCE OF MINE ENEMIES. All rights reserved. First Published 2014. All rights reserved.

Dieses Buch ist respektvoll all jenen gewidmet, welche im Polizei- oder Geheimdienst undercover arbeiteten und dabei ihr Leben und insbesondere ihre Seelen im Kampf für die Gerechtigkeit riskierten.

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: PRESENCE OF MINE ENEMIES Copyright Gesamtausgabe © 2022 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Peter Mehler Lektorat: Manfred Enderle

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2022) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-706-8

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

Inhaltsverzeichnis

Im Angesicht des Feindes
Impressum
Prolog
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Teil 2
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Epilog
Anmerkungen des Autors
Über den Autor

»Du deckst mir den Tisch / vor den Augen meiner Feinde.« Psalm 23, 5

»We have done with Hope and Honour, we are lost to Love and Truth, we are dropping down the ladder rung by rung …« Rudyard Kipling, »Gentlemen-Rankers«

Prolog

11. Juni, 05:43 Uhr Ortszeit, Ein Appartement Sint-Jans-Molenbeek, Belgien

Lichter, die in der Dunkelheit der Nacht aufblitzen. Rot, weiß und blau. Die Farben einer Flagge, die in der salzigen Brise über dem Heck eines Zerstörers weht.

In dieser Nacht sind es die Farben des Todes. Das Heulen von Sirenen füllt die Luft, traurig und trostlos. Blut klebt an seinen Händen, als er ihren Körper in den Armen hält und in ihr Gesicht sieht, aus dem ihm leblose Augen entgegenblicken. »Nicht aufgeben. Lass dir bloß nicht in den Sinn kommen, jetzt aufzugeben.«

Der Klang seiner Stimme, der sich irgendwie fremdartig in seinen Ohren anhört. Kühl und weit entfernt. Voller Kummer.

Dann scheint der Boden unter ihm wegzubrechen, und ihr Gesicht zerfließt, um von einem anderen ersetzt zu werden, einer älteren Frau, deren dunkles Haar bereits von Silber durchzogen ist.

Tränen des Leids und der Verzweiflung schimmern in ihren dunklen Augen. Ihre Stimme bebt vor Wut. »Du drehst dich einfach um und läufst von all dem weg, was du getan hast … von  den Leben, die du zerstört hast. Als ob sie nie existiert hätten, als ob sie gar nicht real gewesen wären.«

Eine Pistole taucht in ihrer Hand auf, zielt geradewegs auf ihn, und Feuer flammt aus der Mündung auf. Kugeln bohren sich durch Fleisch und Muskelgewebe. Und dann fällt er. Fällt. Fällt …

Der Mann erwachte urplötzlich, hob seinen Kopf von der zusammengefalteten Jacke, die er als notdürftiges Kissen benutzte. Seine nackte Brust glänzte vom Schweiß, und sein gesamter Körper zitterte, als hielte ihn ein Fieber im Griff.

Es war ein Traum. Nur ein Traum.

Nur dass es eben kein Traum war, dachte er, während sich seine Atmung langsam beruhigte, er sich aufstemmte und gegen die abgewetzten Kissen der Couch lehnte. Er sah im Dunkeln an sich hinab, wo die verfärbten Pockennarben noch immer jene Stelle markierten, wo sich die beiden Kugeln Kaliber 45 ihren Weg durch seinen Oberkörper gebahnt hatten.

Viel zu real, so wie alles, was sich davor ereignete. Der Tod war gekommen, um ihn zu holen, nur um ein weiteres Mal an der Tür abgewimmelt zu werden. Ein willkommener Besucher, und eigentlich längst überfällig.

Er stand auf, spürte einen dunklen Schmerz durch seinen Körper schießen, als er sich aufrichtete, und tapste barfuß über den schmuddeligen, mit Zigarettenflecken versehenen Teppich zu dem Waschbecken. Die heiße, schwüle Luft des belgischen Hochsommers quoll bereits in das Appartement, und auch der Straßenlärm drang deutlich hörbar durch die Fenster.

Über zwei Monate, und eine völlige Genesung lag noch immer in weiter Ferne.

Das Gesicht eines Fremden starrte ihn aus dem Spiegel an, als er sich schwer gegen das Becken lehnte, gezeichnet und ausgemergelt – ein Schatten seines früheren Ichs. Einzig die dicken Bartstoppeln vermochten etwas von der Blässe seiner Wangen zu verbergen. Augen von der Farbe gebläuten Stahls starrten ihn aus tiefen, leeren Höhlen an.

Augen, die schon so vieles in ihrem Leben gesehen hatten. So viel Tod.

»Bismillah«, sagte er, und seine Lippen bewegten sich dabei kaum. Dann drehte er den Wasserhahn voll auf und ließ das Wasser in das Becken laufen. Im Namen Gottes.

Er benutzte seine linke Hand, um damit seine rechte zu waschen, ließ sich das kalte Wasser durch die Finger rinnen und wusch sich bis zu den Handgelenken hinauf, bevor er das vertraute Ritual mit der anderen Hand wiederholte. Dann nahm er etwas Wasser in den Mund, spülte ihn aus und spie es in das Becken zurück.

Reinheit. Der Wunsch eines jeden wahren Gläubigen. Reinheit in den Augen seiner Mitmenschen. Und den Augen Gottes.

Gott. Harry Nichols schüttelte den Kopf, fuhr sich mit tropfenden Händen über sein Gesicht und durch seine dunklen Haare. Bückte sich, um sich die Füße zu waschen.

Er hatte ein ganzes Leben im Krieg zugebracht. Um das Böse zu bekämpfen. Und doch war ihm irgendwo auf diesem Weg sein eigener Glaube abhandengekommen.

Verloren in dem ihn verspottenden Echo und den unbeantworteten Fragen.

Er bemerkte eine Bewegung hinter sich, als er sich aufrichtete – der Umriss seines Zimmergenossen, im morgendlichen Zwielicht kaum sichtbar, der seine rechten Zeigefinger an die Decke richtete und das Takbir zu rezitieren begann.

»Es gibt keinen Gott außer Allah«, flüsterte er, und ein Schatten schien über sein Gesicht zu huschen, »und Mohammed ist sein Prophet …«

Teil 1

Kapitel 1

19. Juni, 15:27 Uhr Alliance Base Paris, Frankreich

In dem Konferenzzimmer war es kühl, beinahe kalt, dachte Anaïs Brunet und starrte mit verschränkten Armen den Mann in einer französischen Militäruniform am anderen Ende des Tisches an.

Ein fensterloser und schallisolierter Raum, tief in dem unauffälligen, streng bewachten Bürogebäude im fünfzehnten Arrondissement verborgen, welches das französisch-amerikanische Terrorismusabwehrzentrum die letzten fünf Jahre über beherbergte, und von denen sie drei Jahre lang all deren Aktivitäten als Leiterin des General Directorate for External Security (oder DGSE, wie es in der Presse gemeinhin bezeichnet wurde) überwacht hatte.

»Er ist erst seit drei Wochen undercover, Lucien«, sagte sie schließlich und räusperte sich. »Das ist noch viel zu früh, um Ergebnisse zu erwarten.«

Wenn es überhaupt je welche gab, was sie jedoch nicht hinzufügte. Der Versuch, einen Agenten in ein islamistisches Terrornetzwerk zu schmuggeln, war ein überaus riskantes Unterfangen. Besonders dann, wenn es sich um eine Splittergruppe handelte, die so abgeschottet und verschworen operierte wie die in Molenbeek in Belgien.

»Ich weiß, ich weiß«, antwortete General Lucien Gauthier eilig und schüttelte den Kopf. Der ehemalige Fremdenlegionär hatte nur fünf Jahre zuvor noch Truppen im Norden Malis befehligt und als Teil der Operation Serval Stützpunkte der Dschihadisten ausgehoben, und der Wechsel von der aktiven Aufstandsbekämpfung zur reinen Geheimdienstarbeit, als er die Leitung der Alliance Base übernommen hatte, war ihm nicht immer leicht gefallen. »Aber hätte er nicht zumindest mittlerweile Kontakt zu uns herstellen sollen?«

Brunet zuckte mit den Schultern. Ihr Mann war bereits mehr als die von ihr erwähnten drei Wochen im Einsatz, aber erst mit zunehmender Nähe zu den von ihnen verdächtigten Zielpersonen hatten sich die Kommunikationsprotokolle geändert. »Was sollte LYSANDER denn ihrer Meinung nach tun, mon general? Mit uns Kontakt halten oder sich mit den Islamisten anfreunden? Armand konnte bestätigen, dass er noch lebt – zumindest bis vor achtundvierzig Stunden – also glaube ich nicht, dass wir ein Problem haben.«

»Das haben wir auch nicht, Anaïs«, sagte Gauthier schließlich mit zitternder Stimme, als er sie über den Konferenztisch hinweg anblickte. »Das haben wir nicht … noch nicht. Aber wenn das nächste Mal eine Bombe in dieser Stadt explodiert … oder in Marseilles, oder in Nizza … Sie haben doch gesehen, was in England los ist, die Unruhen in den Straßen. Sie haben die Demonstranten vor der amerikanischen Botschaft hier in Paris gesehen, nach dem Drohnenangriff im Sinai letzte Woche.«

Er holte tief Luft, bevor er weitersprach und dabei mit dem Zeigefinger auf das Eichenholz des Tisches tippte, um jedes Wort zu unterstreichen. »Unsere Uhr läuft ab.«

Dagegen ließ sich nichts sagen, sosehr es sich Brunet auch gewünscht hätte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber in diesem Moment öffnete sich die Tür des Konferenzzimmers, um einen Mann mittleren Alters, etwas älter als sie, in einem dunklen und etwas zerknitterten Anzug und locker sitzender Krawatte hereinzulassen – zweifellos der gnadenlosen Hitze in Paris geschuldet.

»Daniel«, sagte sie und erhob sich, um den Chief of Station Paris der CIA, Daniel Vukovic, zu begrüßen – einen Karrieristen des Intelligence Directorate der Agency, der schon mehrere Jahre in Frankreich verbracht hatte. »Bitte, setzen Sie sich doch – wir sprachen gerade über LYSANDER.«

23. Juni, 16:13 Uhr Ortszeit Das Russell Senate Office Building Washington, D.C.

»… werfen weitere Fragen auf, nachdem nach und nach immer mehr Details über den Drohnenangriff auf der Sinai-Halbinsel letzten Dienstag auftauchten, bei dem mehr als dreißig Zivilisten zu Tode kamen und bei dem es sich offensichtlich um den fehlgeschlagenen Versuch handelte, den führenden Geistlichen des Islamischen Staates, Umar ibn Hassan, auszuschalten. Zu diesem kontroversen Thema begrüßen wir jetzt bei uns die Menschenrechtsaktivistin Claire Zmirak. Herzlich willkommen, Claire. Könnten Sie uns darlegen, wie sich die Lage für Sie darstellt?«

»Natürlich, Matt. Danke, dass Sie mir Gelegenheit dazu geben. Zuerst möchte ich klarstellen, dass …«

Senator Roy Coftey verzog beim Klang der Stimme der Frau das Gesicht und widmete sich wieder dem Gesetzesentwurf auf seinem Schreibtisch, während die CNN-Übertragung weiterlief. Die Meldungen über das Desaster im Sinai vor drei Tagen rissen seither nicht ab, füllten die Fernsehnachrichten und breiteten sich in den sozialen Medien wie ein Lauffeuer aus.

Und auf dem Capitol Hill waren alle in Panik.

Wie nicht anders zu erwarten, resümierte der ehemalige Green Beret ironisch und schüttelte seinen massigen Kopf. Daran hatte sich wenig geändert, seit er ein Special-Forces-A-Team im Dschungel einer Gegend anführte, welche später von den Überlebenden nur noch ›Nam‹ genannt werden sollte.

Ein langer, bitterer Krieg, den er und seine Brüder gewonnen, die Politiker aber verloren hatten. Und das alles umsonst.

Er war nach Washington gekommen, um das zu ändern. Um die Dinge in Ordnung zu bringen. Aber was hatte sich geändert, nun, drei Jahrzehnte später?

Wahrscheinlich er selbst.

Der Drohnenangriff war eine CIA-Operation gewesen, in die er als Vorsitzender des Senate Select Committee on Intelligence eingeweiht worden war. Jene Art von Einsatz, deren Führung in den Händen der Agency zu überlassen er hart gerungen hatte. Bis zum letzten Moment in kompletter Zusammenarbeit mit dem ägyptischen Militär ausgeführt – etwas, das Kairo nun abstritt, um seinen Moment scheinheiliger moralischer Entrüstung voll auskosten zu können.

Aber trotz aller Vorsicht und Kontrolle war irgendetwas da draußen in der Wüste schiefgegangen. Und nun gierten die üblichen Verdächtigen nach Blut.

»… ich denke wirklich, dass Menschen wie Mr. Carr das eigentliche Problem dieser Geschichte nicht verstehen«, sagte Claire Zmirak und lenkte mit ihrer Stimme seine Aufmerksamkeit wieder auf den Fernseher. »Es geht in der Hauptsache gar nicht darum, dass dieser Angriff fehlschlug, dass unschuldige Zivilisten getötet wurden oder dass sich Hassan nicht unter den Toten befand, sondern darum, dass er niemals hätte durchgeführt werden dürfen. Umar ibn Hassan ist amerikanischer Staatsbürger, in Duluth, Minnesota geboren, keine dreißig Meilen von meiner Heimatstadt entfernt.«

Und er beschloss, Krieg gegen sein Geburtsland zu führen. Sic semper proditores.

So ergeht es den Verrätern.

Aber sie war noch nicht fertig und überhörte einfach einen undeutlichen Einwand ihres Gastgebers. »Und als amerikanischer Staatsbürger verdient er es, vor einem Gericht angehört zu werden – und nicht von seiner eigenen Regierung in einem fremden Land umgebracht zu werden. Präsident Norton muss dafür zur Rechenschaft gezogen werden – diese Art von willkürlichem Mord aus der Ferne war kennzeichnend für die Hancock-Administration, und er ist angetreten, dem ein Ende zu bereiten – nicht, um die gleiche Politik fortzuführen.«

Aber so wie alle Präsidenten, hatte auch Norton bei seiner Ankunft im Oval Office feststellen müssen, dass die Realität ein wenig … anders aussah, als er es sich vorgestellt hatte, dachte Coftey und schaltete den Fernseher auf stumm, um sich wieder seiner Arbeit zu widmen. Realpolitik. Dem Bereich, in dem jene, die damit beauftragt waren, dafür sorgten, dass die Welt weiterhin funktionierte, weitab vom Elfenbeinturm.

Einen Moment später klingelte das Handy des Senators. Als er die Stimme am anderen Ende hörte, wurde sein Gesicht immer länger. »Ellis hat was gesagt?«

Er schüttelte den Kopf, klemmte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter und stand auf, um nach seinem Anzugjackett zu greifen. Das war nicht gut – das war alles andere als gut.

»Er und ich … wir hatten eine Abmachung.«

24. Juni, 06:24 Uhr Ortszeit Das Appartement Sint-Jans-Molenbeek, Belgien

»… die amerikanische Regierung ist bislang noch eine Erklärung für ihre Rolle bei dem Angriff schuldig geblieben, welcher letzte Woche im Sinai das Leben unschuldiger Zivilisten forderte. Sie …«

Die Stimme des französischen Nachrichtensprechers fuhr fort, als Harry Nichols die kleine Küche des Appartements betrat. Die Geschichte aus dem Sinai wurde mit jedem Tag trostloser. Ein gescheiterter Einsatz der Agency. Wie so viele andere, die er selbst über die Jahre miterlebt hatte.

»Die werden uns umbringen, Mann«, hörte er eine Stimme und sah zu seinem Wohngenossen, der mit einem halb verzehrten und mit Marmelade beschmierten Bagel vor dem Kühlschrank stand und auf den Fernseher starrte. »Jeden Tag bringen sie auf der ganzen Welt mehr wahre Gläubige um.«

Yassin Harrak. Einer der beiden Brüder, mit denen er sich das Appartement teilte. Beide entstammten der zweiten Generation eingewanderter Marokkaner. Der jüngere Bruder, Reza, besuchte die Universität in Brüssel, wo er studierte, um ein Ingenieur zu werden. Yassin … nun, Yassin arbeitete, oder suchte vielmehr Arbeit.

Er hatte keinen Job, seit Harry ihn kennengelernt hatte – und es hätte ihn auch nicht überrascht zu erfahren, dass er seit der Schule noch nie gearbeitet hatte. Viele junge Belgier arbeiteten nicht, und die meisten von ihnen waren Moslems. Die allermeisten.

Es war schwer zu sagen, ob Rezas Abschluss einen großen Unterschied gemacht hätte.

»Es kümmert sie nicht, niemanden kümmert es«, fuhr der junge Mann fort und schüttelte den Kopf. Eine Mischung aus Wut und Verzweiflung stand ihm in sein dunkelhäutiges Gesicht geschrieben. »Sie werfen Bomben auf unschuldige Frauen und Kinder, und es kümmert sie nicht – so lange sie selbst in Sicherheit sind. Solange es nicht sie selbst betrifft. Und es wird nie aufhören, bis es sie betrifft – bis es sie dort trifft, wo sie leben. In ihrer Nachbarschaft, wo ihre Kinder spielen.«

»Inschallah«, raunte Harry und legte auf seinem Weg zum Kühlschrank, aus dem er einen Tetrapak Orangensaft zog, Yassin als Geste des Mitgefühls eine Hand auf die Schulter. So Gott will.

Ein vertrauter Vers, der in den vergangenen Wochen noch öfter zu hören war, angefacht von der eskalierenden Lage im Mittleren Osten. Die Angst des jungen Mannes war immer lauter artikuliert worden, zusammen mit seinem Wunsch, zurückzuschlagen.

Harry nahm einen Schluck Saft, stellte ihn dann auf dem Rollwagen in der Mitte der Küche ab, griff nach einem Messer und begann, sich ebenfalls Marmelade auf seinen Bagel zu schmieren. Er hatte von den islamistischen Überzeugungen seiner Gastgeber gewusst – schließlich war das der Grund gewesen, weshalb sie ihn bei sich aufgenommen hatten. Und doch …

»Du hast letzte Nacht geträumt, Bruder«, begann Yassins Stimme hinter ihm wieder. Harry spürte, wie ihm die Luft im Hals steckenblieb und sein Blut bei den Worten gefror. Seine Fingerknöchel am Griff des Buttermessers traten weißlich hervor. Umdrehen und zustoßen – tief in die Kehle. Die Klinge war nicht scharf, aber das musste sie auch nicht sein. Bohre das Messer nur tief genug hinein, und …

»Wieder Syrien, nicht wahr?«, fragte der junge Mann, schaltete den Fernseher ab und kam zu dem Tisch zurück.

Die Frage ließ die Anspannung wieder aus Harrys Körper weichen, und seine Finger zitterten nur noch ein wenig, als er seinen Bagel zu Ende schmierte und das Messer dann neben sich ablegte. Entspann dich.

»Ja, genau«, log er und sah Yassin an. In den Augen des jungen Mannes lag nichts als reines Mitgefühl. »Es war, als wäre ich wieder dort gewesen. Als wäre …«

Er schüttelte den Kopf, als spürte er etwas, das er nicht in Worte fassen konnte. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, damit du es verstehst. Ich …«

Yassin lächelte und hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. »Ist schon in Ordnung, Bruder, ist okay. Das musst du auch nicht. Die Rolle, die du in Allahs Kampf gespielt hast, die Wunden, die du im Dschihad gegen den abtrünnigen Tyrannen in Damaskus erlitten hast … wenn doch nur mehr von uns eine solche Gelegenheit bekommen würden.«

»Ich sah, wie Menschen bei dem Versuch, Regierungsstützpunkte einzunehmen, von Maschinengewehren niedergemäht wurden«, sagte Harry plötzlich, als könnte er sich nicht mehr zurückhalten. Ohne Yassin anzublicken, fuhr er fort: »Leuchtspuren, die durch die Nacht zischten. Männer, die ich kannte, mit denen ich noch wenige Stunden zuvor das Brot teilte, wurden von Artilleriegeschossen zerfetzt.«

»Und wurden als Belohnung für ihre Tapferkeit ins Paradies geführt«, intonierte Yassin ehrfürchtig und mit einer perversen Begeisterung in seinen jungen Augen.

»Alhamdullilah«, erwiderte Harry und schwieg einen Moment lang. Gepriesen sei Allah. »Aber du kannst das Paradies nicht sehen, wenn du in der Nacht da draußen bist und um dich herum tapfere Männer sterben. Und du hörst auch nicht die Gesänge der Frauen, die einen Märtyrer an ihrem Busen willkommen heißen. Alles, was du hörst, sind Schreie.«

14:07 Uhr Alliance Base Paris, Frankreich

»… und ich vertraue natürlich darauf, dass Sie mich über die Entwicklungen auf dem Laufenden halten, Lucien«, sagte Anaïs Brunet und strich ihren Rock glatt, als sie sich erhob.

»Certainement, madame le directeur«, antwortete Gauthier, der für einen Moment so wirkte, als würde er in alte militärische Gewohnheiten zurückfallen und vor ihr salutieren. Dann drehte sie sich um, zog die Bürotür hinter sich zu und lief eilig den langen Korridor hinunter, zu dem Fahrstuhl.

Die Alliance Base war ein dunkler Ort, zumindest kam er ihr immer so vor. Irgendetwas in dem Gemäuer selbst, voller unheilvoller Vorahnung. Die wichtigsten Büros, zu denen auch Gauthiers zählte, befanden sich im Zentrum des Gebäudes, so weit wie möglich von den Außenwänden entfernt.

Jedes Fenster des Gebäudes war durch dickes, kugelsicheres Glas ersetzt worden, welches Licht nur hinein ließ … und nichts wieder hinaus. Ein schwarzes Loch.

Nicht zu vergleichen mit den Firmenbüros, die sie vor einem Jahrzehnt als Geschäftsführerin in der französischen Luftfahrtbranche kennengelernt hatte, dachte Brunet. Die Fahrstuhltüren schlossen sich, nachdem sie den Knopf für das Erdgeschoss gedrückt hatte. Sie strich sich eine Strähne ihres rabenschwarzen Haars aus der Stirn und lehnte sich gegen die Rückwand des Fahrstuhls.

Ihr Wechsel von der Privatwirtschaft in den öffentlichen Dienst war relativ reibungslos verlaufen und im Prinzip die logische Weiterführung der Pflege der Verträge gewesen, die sie für Astrium mit dem französischen Militär geschlossen hatte.

Sich aber an die schattenhafte Welt der Geheimdienste zu gewöhnen, hatte viel, viel länger gedauert. Und nun, wo sie sich der islamistischen Bedrohung gegenüber sah, in ihrem eigenen Land …

Die Fahrstuhltüren öffneten sich und sie betrat das, was ein amerikanischer Geheimdienst-Offizier, der hier vor Jahren einmal stationiert war, inoffiziell den »Schweinepferch« getauft hatte – einen großen, offenen Bereich voller Arbeitsplätze, mit riesigen Flachbildfernsehern, die an der nördlichen Wand befestigt und mit Nachrichtensendern rund um die Welt verbunden waren, hauptsächlich aus den Vereinigten Staaten und Europa.

Brunet schnappte Bruchstücke aus Unterhaltungen von Analysten auf, die zusammengedrängt an ihren Tischen standen, während sie auf ihrem Weg zum Ausgang an ihnen vorbeilief – alle auf Französisch, der Dienstsprache hier. Eine nette Geste, wo doch ein Großteil ihres Budgets von der CIA beigesteuert wurde.

Und dann sah sie ihn, den leeren Schreibtisch mitten in dem Gewühl um ihn herum, den herangeschobenen Bürostuhl und den dunklen, abgeschalteten Monitor.

Ihr Gesicht verwandelte sich zu einer Grimasse, als sie sich an die Beerdigung erinnerte, als wäre sie erst gestern gewesen. Victor Mandel. Einundvierzig – über ein Jahrzehnt jünger als sie – ein Ehemann und Vater von zwei Kindern. Vormals Militär und erfahrener DGSE-Analyst, einer ihrer Besten.

Vor einem Monat war er getötet worden, erschossen an Bord eines Zuges auf der Fahrt von Caen nach Paris, wo er einen verfrühten Sommerurlaub mit seiner Familie verbracht hatte.

Ein junger Algerier war mitten in dem überfüllten Zug aufgestanden, hatte »Allahu Akbar!« geschrien und eine Glock aus seiner Jacke gezogen.

Und ganz der Soldat, der er bis zum Ende war, hatte sich Mandel auf ihn gestürzt, eine Kugel in die Brust bekommen und immer noch weiter verzweifelt um die Waffe gerungen. Dann hatten ihn zwei weitere Kugeln getroffen.

Fünfzehn Minuten später war er gestorben, mit dem Kopf im Schoß seiner jugendlichen Tochter, und sein Blut hatte ihre weiße Bluse durchtränkt.

Ein Angriff wie so viele zuvor, und sie alle hatten ihren Ursprung in Brüssel gehabt. Genauer gesagt im Bezirk Sint-Jans-Molenbeek.

So durfte es nicht weitergehen. Brunet schürzte die Lippen, schüttelte den Kopf und wandte sich zögernd zum Gehen. Es hing sehr viel mehr von dem Erfolg von LYSANDER ab, als sie bereit war, zugegeben.

Alles hing davon ab …

18:33 Uhr Ortszeit Ein Reihenhaus Abbey Road, London

»… der Proteste auf Londons Straßen, während unterdessen die Untersuchungen im Mordfall des bekannten rechtsradikalen Verlegers Arthur Colville andauern und die Koalitionsregierung in Westminster darum ringt, ihre Macht nach dem Fall der Labour-Partei zu festigen. Darüber wollen wir jetzt mit der Politologin Naveen Bhargava sprechen. Naveen, könnten Sie …«

Die Stimme des BBC-Moderators dröhnte aus dem Flachbildfernseher, der auf einem Standfuß im Arbeitszimmer stand, als der Mann in den abgedunkelten Raum zurückkehrte. Schlank und von mittelgroßer Statur hatte er die Lebensmitte gerade erst hinter sich gelassen. Die Ärmel seines weißen maßgeschneiderten Hemdes waren bis zu den Ellenbogen aufgerollt. Zwischen seinen langen Fingern hielt er ein Glas Single-Malt-Whiskey, und das Kristall funkelte im Licht des Fernsehers.

Bevor er zu seinem Sessel zurückkehrte, blieb er vor dem Bücherregal stehen, und seine Augen glitten über die willkürlich arrangierten Bücher hinweg – goldgefasste Ausgaben von Shelley, Byron und Kipling zwischen Werken von Rousseau und Solschenizyn und einer zerlesenen Taschenbuch-Erstausgabe von Das Kapital, die sich hinter einem alten Foto verbarg.

Drei Männer an einer Straßenecke in West-Berlin – zwei Amerikaner und ein Engländer.

Frank Beecher, David Lay … und eine sehr viel jüngere Ausgabe von ihm, vor unzähligen Jahren.

Wir drei Spione, dachte Julian Marsh mit einem ironischen Lächeln, als er die Fotografie aus dem Regal nahm und in seiner gegerbten Hand herumdrehte.

Die schlechten alten Tage während des Kalten Krieges – direkt an der Frontlinie, wo der Osten und der Westen aufeinandertrafen.

Längst vergangen, wie so vieles, dachte der Generaldirektor des britischen Security-Service, stellte die Fotografie wieder in das Regal zurück und kehrte zu seinem Sessel zurück, wo er sich in dessen bequeme Tiefen fallen ließ, den Kristallschwenker auf dem danebenstehenden Beistelltisch abstellte und seine Lesebrille abnahm.

Ehemaliger Generaldirektor, korrigierte er sich, wie so oft in den letzten Wochen. Denn auch das gehörte der Vergangenheit an. Seine Karriere war nur ein weiteres Opfer der politischen Unruhen geworden, in denen das Vereinigte Königreich seit dem Terroranschlag auf die Königsfamilie vor zwei Monaten versank.

Seit der Security-Service mit der Ermordung Arthur Colvilles in Verbindung gebracht wurde, eines Zeitungsverlegers, der im Zuge des Terrorangriffs damit begonnen hatte, hunderte Geheimdokumente zu veröffentlichen, welche das Versagen des Services bei der Verhinderung dieses Anschlages nachzeichneten.

Vier Tage später hatte man ihn tot aufgefunden, erschossen in seinem Haus in den Midlands, zusammen mit drei Mitgliedern seines Sicherheitsteams. Die meisten von ihnen regelrecht hingerichtet.

Es gab keine Hinweise auf den Mörder, aber im Zuge der Enthüllungen … wies der anklagende Finger der Medien direkt auf den MI-5.

Marsh seufzte, rückte seine Brille zurecht, nahm die Fernbedienung auf und schaltete die BBC-Nachrichtenübertragung aus. Weder um die Nachrichten noch die Sicherheit des Landes musste er sich Sorgen machen. Nicht mehr.

Auf der Höhe des medialen Feuersturms hatte ihm das Innenministerium nahegelegt, zurückzutreten, ein letzter verzweifelter Rundumschlag, die Katastrophe in letzter Sekunde noch zu verhindern, von einer Regierung, deren Tage ohnehin gezählt waren. Parlamentsmitglied Daniel Pearson hatte im House of Commons bereits ein Misstrauensvotum ausgerufen, keine drei Tage, nachdem er den Service verlassen hatte.

Jeder hat seine Zeit. Das Misstrauensvotum wurde mit einer überwältigenden Mehrheit gebilligt und stürzte die Regierung. Zurück blieb ein Chaos, in dem die verfeindeten Parteien erbittert um eine Mehrheit kämpften.

Um die Ordnung in einem Land wiederherzustellen, welches geradezu dazu verdammt schien, sich selbst zu entzweien.

Und genau das war die ganze Zeit über Corvilles Plan gewesen, überlegte der ehemalige Geheimdienstchef. Mit seinem Tod war dem Verleger das gelungen, was er zu Lebzeiten nicht erreichen konnte.

Marsh schüttelte den Kopf, nippte an seinem Scotch und lehnte sich in seinen Sessel zurück. Und nichts davon ging ihn mehr etwas an, redete er sich ein. Wieder und wieder – ein Impuls, eine Angewohnheit, die genauso schwer abzulegen war, wie sich jeden Morgen ein frisch gebügeltes Hemd aus dem Schrank zu nehmen. Eine Sucht. So mächtig wie eine Droge.

Er schaltete die Lampe neben seinem Sessel ein, nahm mit einem rastlosen Seufzen seine Ausgabe von Dostojewskis Die Dämonen auf dem Beistelltisch zur Hand und schlug sie an der Stelle auf, wo ein Zeitungsschnipsel die Seite markierte.

Als junger Mann hatte er in Cambridge – wo ihn der MI-5 rekrutierte – seine Leidenschaft für klassische Werke entdeckt, und wenn dieser erzwungene Rücktritt für etwas gut war, dann vielleicht dafür, ihm zu gestatten, endlich wieder den Leidenschaften seiner Jugend zu frönen.

Zumindest einigen von ihnen.

Er las für etwa fünf Minuten, dann klingelte sein Handy. Eine ihm unbekannte Nummer war auf dem Display zu sehen. Zaghaft nahm er den Anruf entgegen. »Ja?«

»Julian, es ist etwas passiert«, begann ein Mann, und Marsh erkannte die Stimme sofort wieder. Phillip Greer. Der Leiter der D-Branch des Security-Service – die Terrorbekämpfung. »Besteht die Möglichkeit, dass wir uns treffen können?«

Marsh seufzte tief und starrte für einen langen Moment an die Decke seines Arbeitszimmers. »Worum es auch geht … ich kann Ihnen nicht helfen, Phillip. Meine Freigabe ist nicht mehr, was sie einmal war, wie wir beide wissen.«

»Es betrifft unseren gemeinsamen Freund in den Midlands«, antwortete Greer nach einer kurzen Pause. Arthur Colville. »Der Buchladen, Julian … morgen Nachmittag um siebzehn Uhr?«

Der ehemalige Generaldirektor fluchte in sich hinein und schüttelte den Kopf. Meinetwegen. »Morgen um siebzehn Uhr.«

19:03 Uhr Ortszeit Parc du Cinquentenaire Brüssel, Belgien

Es war ein wundervoller Abend, um mit der Familie durch den Park zu spazieren, dachte der Mann, und ein wehmütiges Lächeln huschte über sein dunkles, wettergegerbtes Gesicht.

Klar und mild. Die hellen Strahlen der untergehenden Sonne warfen einen langen Schatten vor ihn, während er auf den Arcade du Cinquentenaire zulief – den riesigen dreifachen Triumphbogen, welcher das Zentrum des U-förmigen Gebäudes bildete – und sich durch die ganz offensichtlich ziellos herumstreifenden Grüppchen von Menschen schlängelte.

Wenn ihm jemand gefolgt war – was nicht der Fall war, dessen war er sich sicher, nachdem er sich in den letzten Stunden immer wieder über die Schulter gesehen hatte – würden sie es jetzt schwer haben, ihn zwischen den unzähligen Touristen und Urlaubern nicht zu verlieren. Eine Gruppe von ihnen hatte sich um eine junge Frau und ihre Staffelei am Rand des Gehweges geschart.

Seine eigenen Kinder, nun ja … er lächelte. Sie waren aus dem Alter für solch einfache Freuden heraus, erwachsen und in der ganzen Welt verstreut.

Sein Sohn arbeitete als Broker in Hongkong. Seine Tochter lebte in Toronto und arbeitete als Klimaaktivistin.

Nur er war übrig, er und Claire, seit Jahrzehnten vereint.

Er sah zu dem Torbogen hinauf und zu der grünlichen Bronze der Statue, die weit über ihm aufragte. Eine Wagenlenkerin, welche die Provinz Brabant verkörperte, bildete das Zentrum einer Quadriga und stand aufrecht in dem Wagen, mit der belgischen Flagge in ihrer Hand.

Sein Blick huschte von der Statue, um die Mauerwand daneben nach dem Zeichen abzusuchen, einer einfachen, unauffälligen Kreidelinie, die ihn darüber informieren würde, dass die Übergabe stattgefunden hatte.

Der Ausweis in der Brieftasche des Mannes wies ihn als Armand Césaire aus, einen Beamten des französischen diplomatischen Dienstes mit Sitz in Quai d’Orsay in Paris, der sich seit einigen Monaten als Teil des Stabs des Ambassade de France hier in Brüssel befand, etwa sechs Kilometer westlich des Parks.

Es war sein richtiger Name, den er von seinen Eltern vor beinahe sechzig Jahren bekommen hatte, in seinem Geburtsort Guadeloupe in den Antillen. Sein Arbeitsplatz aber befand sich weiter östlich in Paris, am Boulevard Mortier gelegen, in dem beeindruckenden Gebäude, welches als Hauptquartier des DGSE diente.

Er hatte mehr als drei Jahrzehnte als Agent für den Auslandsnachrichtendienst gearbeitet – die meiste Zeit davon in Afrika, wo ihm seine Hautfarbe zugutekam, um vor Ort Informanten für Frankreich anzuwerben, zu einer Zeit, als sich das Land in den letzten Zügen des sterbenden Kolonialismus befand.

Und nun … war er hier gelandet, wo die Saat jener Jahre die bittersten Früchte trug, und verteidigte sein Land, wie eh und je.

Die Mauer war nackt und leer, und seine Augen konnten nicht den leisesten Hinweis auf das finden, wonach er suchte, während er ohne anzuhalten durch den Torbogen schritt und sich nach außen hin nichts von dem Grund seines Hierseins anmerken ließ.

LYSANDER hatte noch keinen Kontakt hergestellt …

Kapitel 2

25. Juni 08:09 Uhr Brüssel, Belgien

Angst. Eine namenlose Panik schien ihn zu übermannen. Seine Beinmuskeln protestierten nach der langen Nichtbenutzung, während er weiter in die Pedale trat. Die Räder seines Fahrrads verschwammen, als er die überschattete Brüsseler Straße hinunterraste und eine Kreuzung überquerte. Schneller und schneller. Als würde er versuchen, den Dämonen zu entkommen, den Geistern der Vergangenheit, die sich in seinem Geist zusammenscharten und die Gedanken an alles andere erstickten.

Sie schrien nach Aufmerksamkeit, nach Wiedergutmachung, die längst überfällig war.

Der Nebel lichtete sich lange genug, dass Harry Nichols die Gruppe Touristen ausmachen konnte, die vor ihm auf dem Fußweg angehalten hatte. Seine Hand hieb auf die Fahrradklingel, um sie zu warnen, und er lehnte sich nach rechts, um sein Rad in der letzten Sekunde um sie herum zu lenken.

Fluche in drei verschiedenen Sprachen hallten ihm nach, während er wieder Fahrt aufnahm und weiterfuhr … ohne zu wissen, wohin.

Flucht.

Er hielt erst an, als ihn die Erschöpfung übermannte, am Rand des Cinquentenaire – einem großen, weitläufigen Park in Brüssel, nur wenige Kilometer von seinem schmuddeligen Appartement in Molenbeek entfernt.

Er lehnte das Fahrrad an einen Baum und ließ sich auf eine Parkbank fallen. Seine Beine brannten vor Erschöpfung, und er hätte sich beinahe zusammengekrümmt. Er biss sich auf die Zunge, um nicht wegen der Schmerzen in seiner Seite laut aufzuschreien. Die Wunden in seinem Bauch verheilten noch und erinnerten ihn jedes Mal daran, wenn er versuchte, wieder zu seiner alten Kondition zurückzufinden. Aber die Einschränkungen, die sie mit sich brachten, förderten die Erkenntnis, dass er nie wieder so sein würde wie früher.

Das, was ihm vor zwei Jahrzehnten noch so leicht vorgekommen war, als er das CIA-Training auf der Farm in Camp Peary, Virginia, absolvierte, war nun, da er sich der Vierzig näherte, kein Klacks mehr.

Aber er hatte keine andere Wahl. Nicht, wenn er am Leben bleiben wollte.

Aber willst du das wirklich? Eine quälende Stimme irgendwo tief in ihm stellte diese Frage, nein, verlangte eine Antwort. Beharrlich, unnachgiebig.

Er hatte eine Karriere damit zugebracht, am Leben zu bleiben – fünfzehn Jahre als paramilitärischer Einsatzleiter für die amerikanische CIA, euphemistisch auch »Special Activities Division«, genannt. Er hatte für die Flagge gekämpft, überall auf der Welt.

Kämpfte. Überlebte, wo andere – und bessere – Männer als er über die Jahre hinweg gestorben waren. Das Schuldgefühl der Überlebenden, die vielleicht erdrückendste Last. Der Moment, wenn dich deine eigene Menschlichkeit einholte und du feststellst, dass du die Welt nicht retten kannst. Du konntest ja noch nicht einmal die retten, die du liebtest.

Sein eigener Glaube war zu Staub zerfallen, hatte ihn haltlos zurückgelassen. Das Ende aller Träume.

Das Gesicht einer Frau, die ihn von einem Foto ansah, während Flammen das Papier verzehrten, es umkreisten, bis ihr Gesicht schließlich verschwand und nur verkohlte Glut übrigblieb. Glut dessen, was hätte sein können.

Aber das lag alles in der Vergangenheit … oder nicht?

Harry lehnte sich gegen die Parkbank, sog tief die Luft ein. Seine Seite pulsierte, als er sich an Yassins Worte vom Tag zuvor erinnerte.

Er kannte die Gefahr, hier nach Brüssel zu kommen – nach Molenbeek. Und er war trotzdem gekommen, weil ihm keine andere Wahl blieb. Als humpelndes, verwundetes Tier, das Schutz vor seinen Häschern suchte.

Und genau das war Molenbeek für ihn. Eine Zuflucht. Der letzte Ort, an dem ihn seine ehemaligen Auftraggeber vermutet hätten. Dass er sich verstecken würde, vielleicht nicht direkt vor ihren Augen, aber unter genau jenen Menschen, die er berufsmäßig zur Strecke gebracht hatte. Die er gejagt hatte.

Aber jetzt … er schloss die Augen, kämpfte gegen die Schmerzen an, ballte seine rechte Hand zur Faust, bis die Knöchel seiner linken, die er auf die Armlehne der Bank gelegt hatte, weiß hervortraten.

Nun kam er zu der gleichen unausweichlichen Schlussfolgerung, die er so furchtbar unterschätzt hatte. Er war zu nahe an die Flamme herangeflogen.

Echos aus seiner Vergangenheit, die nun zurückkehrten, um ihn zu verfolgen. Und dieses Mal gab es kein Team. Keine Verstärkung. Kein Hilfsnetzwerk. Keine Extraktion.

Die Schmerzen ließen nach. Er öffnete die Augen, um den Park abzusuchen – nach Bedrohungen, wie immer. Überwältigt von der Ironie des Ganzen.

Er hatte Jahre allein verbracht, jenseits der Grenzen. Hatte in den dunkelsten Winkeln der Welt den »Krieg gegen den Terror« geführt … bis jetzt.

Er schüttelte den Kopf, und der verbitterte Geist eines Lächelns huschte über sein Gesicht.

Eloi, Eloi, lama sabachthani …

Mein Gott, oh mein Gott, wieso hast du mich verlassen …

16:53 Uhr Ortszeit Ein Buchladen Londoner Innenstadt

Er besuchte Cyrils Laden jetzt schon seit beinahe dreißig Jahren, dachte Julian Marsh, als er die Tür des kleinen Buchladens öffnete und die Glocke darüber klingelte. Er lag versteckt in einer kleinen Seitenstraße im Londoner West End.

Dreißig Jahre, und so wenig hatte sich verändert – das spärlich beleuchtete Interieur mit seinen hoch aufragenden Bücherregalen, die sich bis tief in das edwardianische Gebäude erstreckten und dabei an schattenhafte Höhlengänge erinnerten. In den letzten Jahren war es Cyrils Enkelsohn gelungen, das Geschäft ins Internet zu verlagern, aber der Laden war geblieben, und wenn auch nur aus dem einen Grund, weil Cyril der Einzige war, der wusste, wo sich jede einzelne seiner raren Ausgaben genau befand.

Er hörte das Geräusch von Schritten hinter sich, und dann eine dröhnende Stimme, die »Julian!« rief, bevor der Besitzer höchstpersönlich um eines der Regale bog.

Er kannte Cyril nur als alten Mann, seit er vor so vielen Jahren das erste Mal den Eingang seines Buchladens verdunkelt hatte, aber genau wie sein Laden … hatte auch er sich kaum verändert.

Seit Ewigkeiten kahlköpfig zeugte nur sein dicker Schnurrbart auf seiner Oberlippe von seinem Weg durch die Jahreszeiten des Lebens, dessen Farbe sich von Braun zu Silber und schließlich zu dem Weiß von Schnee gewandelt hatte.

Vielleicht war er aber auch nur versöhnlicher in seiner Bewertung des Alters geworden, nun, da er selbst alt geworden war.

»Es ist ja eine Ewigkeit her«, begrüßte ihn Cyril warmherzig. »Ich hatte schon geglaubt, du hast eine andere Quelle für deine Sammlung gefunden.«

»Niemals«. Der ehemalige Generaldirektor lächelte. Der ältere Mann war einer seiner wahren Freunde; eine Freundschaft, die auf ihrer gemeinsamen Liebe zu seltener Literatur beruhte und die ihm rare Momente des Trostes während seiner einsamen Jahre als Agent des MI-5 gespendet hatte.

»Ah!«, rief Cyril aus, und sein Gesicht hellte sich augenblicklich auf. »Dein Timing ist aber wie immer perfekt, Julian – ich wollte dir gerade eine E-Mail schreiben. Letzte Woche … habe ich es gefunden.«

Es gab nur eine Sache, die er mit »es« meinen konnte, und Marsh spürte, wie er von dem Überschwang seines Freundes beinahe mitgerissen wurde. »Den Puschkin?«

»Ja! Oder da, sollte ich vielleicht besser sagen«, korrigierte sich der Buchhändler, und seine alten Augen funkelten vor Aufregung. »Puteshestvie v Arzrum. Die Erstausgabe.«

Die Reise nach Erzerum, dachte Marsh. Die Aufzeichnungen des russischen Schriftstellers aus dem neunzehnten Jahrhundert über seine Reise in den Kaukasus Ende der 1820er-Jahre. Eine Ausgabe, nach der er schon über ein Jahrzehnt lang suchte.

»Ich habe sie hinten für dich aufbewahrt – wenn du sie sehen möchtest«, fuhr sein Freund fort, aufgeregt wie ein kleines Kind.

Und das wollte er, mehr als alles andere auf der Welt. Ein Schatz, nach so langer Zeit endlich gefunden – aber Marsh gelang es nicht, Greers Stimme aus seinem Kopf zu vertreiben. Düster und unheilschwanger. Es betrifft unseren gemeinsamen Freund aus den Midlands.

»Ich denke, ich sehe mich erst mal eine Weile um«, sagte der ehemalige Generaldirektor, tätschelte im Vorbeigehen seinem alten Freund die Schulter und hielt auf die Wendeltreppe zu, die in die zweite Etage führte, wo er damit rechnete, auf den Agenten der Terrorabwehr zu treffen. »Ich komme dann noch einmal zu dir.«

»Bist du sicher, dass du nicht vorher einen Blick darauf werfen willst?«, rief der alte Mann ihm nach, und etwas in seiner Stimme ließ Marsh stehen bleiben. War das möglich?

Er und Greer … sie beide kannten Cyril, schon seit Jahren. Und seine Anstellung beim

MI-5 war alles andere als ein Geheimnis, wie es früher vielleicht gewesen wäre – besonders jetzt und nach seinem Ausscheiden, welches öffentlicher nicht hätte sein können.

»Wenn ich es mir recht überlege«, antwortete er und drehte sich um, »würde ich sie doch gerne sehen.«

Cyril verschwand mit einem für ihn typischen rätselhaften Lächeln im hinteren Teil des Ladens, und Marsh blieb an der Ladentheke stehen und musterte gedankenverloren einen Stapel Bücher, die an dessen Kante balancierten. Disraelis Sybil zwischen Stevensons Die Abenteuer des David Balfour und einem Roman von Thomas Hardy. Ganz oben auf dem Stapel und scheinbar gedankenlos dorthin befördert lag eine Ausgabe der Sturmhöhe aus dem späten neunzehnten Jahrhundert.

»Da haben wir sie«, verkündete der Buchhändler ein paar Minuten später, als er mit einem kleinen Buch in seinen Händen wieder auftauchte. Seine Stimme bebte mit ehrlicher Begeisterung, als er sie Marsh reichte. »Die Erstausgabe von Puteshestvie v Arzrum. Überaus selten.«

Der ehemalige Geheimdienstler nahm Cyril das Buch ab und schlug mit sanfter Ehrfurcht dessen verwitterte Seiten auf. Und da war es, direkt hinter der zweiten Titelseite. Ein Schnipsel eines sehr modernen Papiers, in der Mitte gefaltet, und darin – eine Adresse.

Phillip, Sie gerissener Mistkerl.

18:16 Uhr Ortszeit Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika Paris, Frankreich

»… um dem ferngesteuerten Morden ein Ende zu bereiten, welches die amerikanische Außenpolitik der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts kennzeichnete. Es muss – und wird – hier enden. Wir …«

Die Türen der Botschaft schlossen sich hinter Daniel Vukovic, während die Menge aus Demonstranten hinter ihm in Sprechchören »Drohnen töten Kinder! Drohnen töten Kinder!« intonierte.

Großer Gott, was für ein Desaster, dachte der CIA Chief of Station und reichte seinen Koffer einem Kind in der Uniform eines Marine Lance Corporals. Dann trat er einen Schritt zurück, um seine Schlüssel und sein Handy in einen Korb zu legen, bevor diese den letzten Metalldetektor passierten.

Er war im Ausland gewesen, als die ersten Nachrichten aus Abu Ghraib eingetrudelt waren, und die Aufregung über die Ereignisse in Sinai erinnerten ihn für seinen Geschmack viel zu sehr an diese Zeit. Gegenwind. Von jeher der Fluch direkter Maßnahmen.

Er schüttelte den Kopf, nahm auf der anderen Seite des Röntgengerätes seinen Koffer entgegen, rückte seine Erkennungsmarke zurecht und begab sich tiefer in die Botschaft hinein, die Korridore hinunter bis zu dem stark gesicherten Teil, der als Paris Station bekannt war.

Und das alles wäre so vermeidbar gewesen. Wenn sich die Agency doch nur auf ihren eigentlichen Auftrag konzentriert hätte – dem Sammeln von Geheiminformationen – wie es noch Anfang der Neunziger der Fall gewesen war, als er sich als junger Mann dem Intelligence Directorate angeschlossen hatte, anstatt sich in jene beinahe paramilitärische Organisation zu verwandeln, zu der sie in den Jahren nach dem elften September geworden war.

Aber der Kalte Krieg war seit über einem Jahrzehnt beendet und die Agency war eine Einrichtung, die nach einer neuen Aufgabe suchte.

Rückblickend absolut verständlich, vielleicht sogar vertretbar. So wie das Drohnenprogramm selbst eine natürliche Reaktion auf die in den Medien über Jahre heiß diskutierte Streitfrage über den Umgang mit gefangenen Terroristen war.

An irgendeinem Punkt aber, und niemand konnte genau sagen, wann, war es einfacher geworden, jemanden zu töten, als ihn zu fangen. Weniger Lärm, weniger Drama – zumindest dann, wenn alles glattlief.

Er hatte Verständnis dafür, was nicht zwangsläufig bedeuten musste, dass es ihm gefiel.

Oder er seine Rolle leichter akzeptierte, am Ende alles aufräumen zu müssen.

Und nun, wo sein Einsatz zusammen mit den Franzosen seine Aufmerksamkeit erforderte … war er sich der Fallstricke menschlicher Geheimoperationen nicht weniger bewusst als sonst, aber selbst er musste zugeben, dass SIGINT ihnen nichts genutzt hatte – und nichts dazu beigetragen hatte, die vorherigen fünf Anschläge in Frankreich zu verhindern.

Die einzige Lösung hatte darin bestanden, einen Mann einzuschleusen, und er betete, dass dieser am Leben blieb.

LYSANDER. Vukovic wies sich auf seinem Weg in die Station mit seinem Namensschild vor einem weiteren uniformierten Marine aus. Eine ironische Wahl eines Codenamens. Die Westland Lysander war ein britisches leichtes einmotoriges Verbindungsflugzeug während des Zweiten Weltkriegs gewesen, damit beauftragt, SOE-Offiziere ins besetzte Frankreich zu schmuggeln, um dort Verbindung zur Resistance aufzunehmen.

Viele von ihnen waren von der Gestapo kurz nach ihrer Landung geschnappt worden – verraten von Doppelagenten und gegen deren Verbindungsleute in London ausgetauscht worden.

Man konnte nur hoffen, dass es dem heutigen Namensvetter besser erging. Mit etwas Glück …

17:29 Uhr Ortszeit »The Nell« The Strand, London

Nell Gwynnes Gesicht starrte Marsh von einem Porträt über der Bar an, als sich der ehemalige Generaldirektor durch den gut besuchten Pub drängte.

Eine wunderschöne Frau, dachte er gedankenverloren, während seine Augen die Sitzbänke nach Greer absuchten. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er sich an ihre Geschichte erinnerte. Gwynne, eine relativ skandalumwitterte Londoner Schauspielerin Ende des sechzehnten Jahrhunderts, war wohl vor allem als Geliebte von König Karl II. bekannt geworden – den Nell mit dem für sie charakteristischen respektlosen Witz stets »Charles den Dritten« genannt hatte, weil er ihr dritter Liebhaber mit dem Namen Charles gewesen war.

Dann erspähte er den Agenten der Terrorbekämpfung in der dunkelsten Ecke des Pubs, mit dem Rücken zur Wand, die Reste eines beinahe verzehrten Abendessens auf dem Teller vor sich und ein Glas Bier direkt daneben.

»Julian«, rief Greer, als er sich ihm näherte und auf die Bank ihm gegenüber glitt. »Schön, Sie wiederzusehen.«

Marsh saß für einen Moment nur da und musterte seinen alten Kameraden misstrauisch. Er war ein großer Mann, groß und hager, beinahe gebrechlich, mit einem Raucherkrächzen in der Stimme und einer dicken Brille auf seiner Hakennase.

Aber das Äußere konnte täuschen, das wusste der ehemalige Generaldirektor nur zu gut. Und egal, welche Adjektive auf Phillip Greer auch zutreffen mochten, »gebrechlich« war keines davon.

»Was soll die ganze Geheimnistuerei, Phillip?«, brach Marsh schließlich das Schweigen. »Zuerst Cyrils Laden, jetzt hier … was werden Sie mir als Nächstes verraten? Dass Sie Ihre Leute angewiesen haben, mich bis hierher zu überwachen?«

»Das habe ich in der Tat«, antwortete Greer ruhig und pflückte ein versprengtes Pommes frites aus dem Massaker auf seinem Teller. »Zwei von meinen Männern – denen ich persönlich vertraue.«

Er zuckte mit den Schultern, schob sich das Pommes frites in seinen Mund und wischte sich das Salz von den Fingern. »Sie sind für einige Leute in hohen Ämtern noch immer von Interesse, Julian. Und ich wollte dafür sorgen, dass sie von unserem Treffen nichts erfahren.«

Meinetwegen.

»Gehört Ashworth dazu?«, fragte der ehemalige Generaldirektor gelassen, ohne Greer aus den Augen zu lassen. Patrick Ashworth war der ehemalige Leiter des Joint Terrorism Analysis Centre oder »JTAC«, wie es in Insiderkreisen genannt wurde, und war nach Marshs erzwungenem Rücktritt zum neuen Generaldirektor des Service ernannt worden.

Greer sah ihn einfach nur an. »Patrick ist …«

»Ein guter Mann«, unterbrach ihn Marsh, als sein Gegenüber eine Pause machte und nach den richtigen Worten suchte. »Ein guter Mann, und ein erfahrener Agent mit einer langen Karriere im Service. Ich sollte mir von meiner persönlichen Abneigung gegenüber diesem Mann nicht den Blick auf seine Fähigkeiten verstellen lassen. Der Premierminister hätte eine weitaus schlechtere Wahl treffen können.«

»Er ist ein guter Mann, dessen ›lange Karriere‹ Ende der Neunziger begann«, erwiderte Greer bissig, der offenbar nun die Worte gefunden hatte, nach denen er suchte. »Er hat sich seine gesamte Karriere über auf Terrorismus fokussiert, das ist alles, was er kennt. Die Welt, die wir kennen, Julian, ist ihm fremd.«

Und trotzdem dreht sich die Welt auch ohne uns weiter. Wie sie es immer getan hat.

Marsh schüttelte den Kopf und lächelte angesichts des aufgebrachten Tones, den sein Kollege anschlug. »So geht es den meisten unseren Kollegen heute. Verschwenden Sie nicht Ihre Zeit damit, dem ancien régime nachzutrauern, Phillip. Damit ist niemandem geholfen. Also, weshalb baten Sie mich, heute hierher zu kommen?«

Greer schien für einen Moment einfach weiterreden zu wollen, aber dann schüttelte er den Kopf und griff nach seinem Bierglas. »Die Untersuchung Arthur Colvilles Ermordung betreffend ist so gut wie … beendet. Der Medien wegen wird man sie noch für ein paar Monate am Laufen halten, aber wir haben unseren Mann.«

»Ist das ihr Ernst?«

Er nickte, zog ein dreifach gefaltetes Stück Papier aus dem Koffer neben sich und schob es dem ehemaligen Generaldirektor über den Tisch zu.

»Sollten Sie mir das wirklich zeigen?«, fragte Marsh zögernd. Er ließ seine Fingerspitzen auf dem Rand des Papiers ruhen. »Sie wissen, dass man meine Freigabe …«

»Zum Teufel mit Ihrer Freigabe, Julian. Dass Sie raus aus dem Spiel sind, ändert nichts an der Sachlage, dass Sie immer noch einer der wenigen Männer sind, denen ich vertraue. Wir haben das mit einer Überwachungskamera in einem Retail Park aufgenommen, neun Meilen östlich von Colvilles Anwesen«, fuhr Greer fort, während Marsh das Papier auseinanderfaltete und einen Screenshot von einer Überwachungskamera vor sich sah. »Drei Stunden nach dem ermittelten Todeszeitpunkt. Es ist Harold Nichols.«

18:59 Uhr Ortszeit Das Appartement Sint-Jans-Molenbeek, Belgien

»Wenn er seine Hand ausstreckt, kann er sie kaum sehen«, flüsterte Harry, der laut in Arabisch aus dem Koran vorlas, der offen vor ihm auf dem Tisch lag, während er allein in dem Appartement saß. »Und wem Allah kein Licht gibt – für den ist kein Licht.«

Er schob seinen Stuhl zurück, ließ sich auf den Boden fallen und begann mit einer Reihe von Liegestützen und zitierte dabei den nächsten Vers aus dem Gedächtnis. Seine Armmuskeln spannten sich unter der Belastung, während er versuchte, sich vom Boden abzustoßen. Zwischen keuchenden Atemzügen rezitierte er die Worte. »Siehst du denn nicht, dass Allah es ist, den alle lobpreisen, die in den Himmeln und auf Erden sind, und sogar die Vögel im Fluge?«

Runter und wieder hoch. Runter und wieder hoch. Schweißperlen erschienen auf seiner nackten Brust, während er sich weiter antrieb, sich zwang, die Schmerzen in seiner Seite zu ignorieren. »Und Allahs ist das Königreich der Himmel und der Erde, und zu Allah ist die Heimkehr.«

Dann hörte er den Schlüssel im Schlüsselloch und hielt seine Position noch etwas länger, bis sich die Tür öffnete und Rezas Stimme ihn begrüßte.

»Ah, da bist du ja, Ibrahim«, sagte die Stimme, und er rollte sich auf den Rücken und erblickte den Jüngeren der beiden Brüder, der die Küche betrat. »Salaam alaikum, mein Bruder.«

»Wa‘ alaikum as-salaam«, antwortete Harry, stand auf, griff nach der Hand des jüngeren Mannes und zog ihn zu einer kurzen Umarmung heran. »Wo ist Yassin?«

»Im Boxklub«, antwortete Reza, legte seine Laptoptasche auf den Stuhl, wandte sich dem Kühlschrank zu und nahm eine Dose Pepsi heraus.

Schon wieder, dachte Harry, wischte sich mit seinem Unterhemd den Schweiß von der Stirn und lief zurück zu dem Tisch. Der Boxklub war in den letzten Wochen zu Yassins abendlichem Lieblingsort geworden – der Ort, an dem er jede freie Minute zu verbringen schien, wenn er nicht gerade nach Arbeit suchte, jemanden in der Nachbarschaft für etwas Geld nebenbei aushalf oder zum Beten in die Moschee ging.

»Ich werde auch in ein paar Minuten hingehen«, fuhr der junge Marokkaner fort, öffnete die Dose und kippte sich den Inhalt hinunter. »Wieso kommst du nicht einfach mit?«

Er deutete auf den Boden, wo Harry eben noch seine Liegestütze gemacht hatte. »Du versuchst, wieder in Form zu kommen, Bruder … dort wird es schneller gehen.«

Nein. Wenn er für längere Zeit den westlichen Geheimdiensten entgehen wollte, musste er sich zurückhalten. Er wollte schon ablehnend den Kopf schütteln, aber Rezas nächste Worte nagelten ihn fest.

»Du solltest heute wirklich mit uns kommen, Mann. Ein paar von unseren Brüdern trainieren ebenfalls dort, und nach dem Training treffen sie sich zum Gebet. Es macht Spaß – ich denke, du wirst sie mögen.«

Wenn doch nur mehr von uns eine solche Gelegenheit bekommen würden. Yassins Worte des gestrigen Tages schossen ihm durch den Kopf. Das Feuer in den Augen des jungen Mannes, als er vom Dschihad sprach. Wenn es dort etwas herauszufinden gab …

»Gepriesen sei der Name Allahs, subhanahu wa ta’ala«, sagte Harry und zwang sich zu einem Lächeln. Lobgepriesen und erhaben ist er. »Ich hole nur schnell mein T-Shirt – dann können wir gehen.«

18:03 Uhr Ortszeit »The Nell« The Strand, London

Nichols, dachte Marsh. Greers Stimme und der Lärm des Pubs um sie herum schien zu verstummen, als er die Aufnahme des großen, dunkelhaarigen Mannes betrachtete.

Der ehemalige CIA-Agent, der einige Monate zuvor in Großbritannien aufgetaucht war, ganz allein – und ohne Vollmacht handelte. Abtrünnig geworden war.

Er war auf der Suche nach Tarik Abdul Muhammad gewesen, dem in Pakistan geborenen Terroristen, der mutmaßlich für die Anschläge am Weihnachtsabend in Las Vegas verantwortlich gewesen war.

Und dann die Attacke auf Ihre Majestät persönlich, dachte er. Als Nichols sein Ziel lokalisiert hatte, war der Angriff bereits im Gange gewesen. Und gute Männer hatten ihr Leben verloren.

Marsh schüttelte den Kopf. Seine Finger strichen über die grobkörnige und undeutliche, in ihrer Botschaft aber unmissverständliche Überwachungsaufnahme.

Das leichenblasse Gesicht des Amerikaners, die Art, wie er sich auf der Ladentheke des Mini-Marts abstützte.

Als wäre er verwundet – und das war er wohl, ausgehend von ihren besten Informanten.

Schwer verwundet, und doch war es ihm irgendwie gelungen, vom Hafen in Aberdeen bis zu Colvilles Anwesen in den Midlands zu gelangen. Um den Mann zu finden, der den Anschlag auf die Queen finanziert und gehofft hatte, England in einen Bürgerkrieg treiben zu können.

Und um ihn umzubringen … ihn damit zu einem Märtyrer seiner Sache zu machen, der Colville immer werden wollte. Um mit seinem Tod mehr zu erreichen als in seinem Leben.

»Mein Gott … was haben Sie getan?«, murmelte der ehemalige Generaldirektor zu dem Bild. Dann sah er zu Greer auf. »Sind Sie sicher?«

»Ziemlich sicher«, antwortete der Agent mit kalter und entschlossener Stimme. »Der Mann, der Arthur Colville ermordete und sein Sicherheitsteam ausschaltete, ließ selbst einiges von seinem Blut am Tatort zurück. Wir haben DNA-Proben vor über einem Monat an unsere amerikanischen Freunde geschickt, und sie wurden bestätigt. Er ist es.«

Ein beeindruckender Mann. Wie ihr eigenes Versagen, ihn zu finden, eindeutig demonstrierte.

Er hatte britische Staatsbürger gefoltert und getötet, um an die Informationen zu gelangen, die ihn schließlich zu seiner Zielperson geführt hatten. Hatte nicht nur einen, sondern gleich zwei ehemalige Agenten des Security-Service für seine Zwecke vereinnahmt. Ein blutiger Rachefeldzug, der in jener Nacht in Aberdeen endete, als eine Bombe Tarik Abdul Muhammad und seine Leibwächter tötete und seinen Wagen in ein flammendes Inferno verwandelte.

»Dann wäre die Sache damit geklärt, nicht wahr?«, begann er, faltete das Papier wieder zusammen und schob es wieder zu seinem Kollegen zurück. »Wir hatten mit seinem Tod nichts zu tun, egal, wie belastend die Begleitumstände anfangs auch wirken mochten. Die Hexenjagd der Presse kann zu einem Ende gebracht werden und der Service sich wieder seiner Arbeit widmen.«

»Ich wünschte, es wäre so einfach, Julian«, antwortete Greer und steckte die Aufnahme wieder in seinen Koffer, »aber nichts davon wird je an die Öffentlichkeit gelangen. Wir …«

»Wieso denn das, um Himmels willen?«, wollte Marsh wissen. Seine dunklen Augen funkelten, als er sich über den Tisch beugte. Seine eigene Karriere war vorbei, das wusste er – aber nun ging es um den Service. Es war nie um etwas anderes gegangen.

»Denken Sie darüber nach«, antwortete der Agent der Terrorbekämpfung ruhig und wühlte danach für einen Moment in seinem Koffer herum, bis er einen dünnen Aktenordner daraus hervorzog. »Diese Meldung zu veröffentlichen wird niemandem nutzen … am wenigsten uns. Und auch die Amerikaner sind nicht sonderlich erpicht darauf, dass die Medien von der Rolle erfahren, die ihr Agent in der ganzen Sache spielte. Und welchen Unterschied würde es machen? Die Beziehungen zwischen dem Service und der Agency sind gut dokumentiert. Wenn sich herausstellt, dass ein amerikanischer Paramilitär für Colvilles Ermordung verantwortlich ist, werden die Medien einfach annehmen, dass der MI-5 ihn anheuerte, um für sie die Drecksarbeit zu erledigen. Dass die Amerikaner das ›Problem‹ für uns aus der Welt schafften.«

Er hatte recht, das war das Schlimmste an der Sache. Das Narrativ der Medien und in der Blogosphäre war bereits zu tief eingesunken, um noch ausgelöscht zu werden. Ihnen blieb nichts weiter übrig, als den Kopf in den Sand zu stecken und zu hoffen, die Sache aussitzen zu können.

»Dann muss ich Sie noch einmal fragen, Phillip – was hat das Ganze mit mir zu tun?«

Greer schwieg einen Moment lang und musterte ihn eingehend über den Tisch hinweg.

»Ich glaube«, begann er und schob die Akte über die Tischplatte, »dass an der Sache noch mehr dran ist, als wir bislang wissen. Sehen Sie sich das an.«

Der ehemalige Generaldirektor hob die Akte auf und blätterte sie auf. Es dauerte einen Moment, bis er verstand, was er vor sich sah, und als er es schließlich verstand, klappte er die Akte ruckartig zu. Er hob den Kopf, um Greers Blick zu begegnen, und zischte: »Haben Sie jetzt völlig den Verstand verloren?«

19:20 Uhr Ortszeit Der Boxklub Brüssel, Belgien

Das Innere des Boxklubs war kühl und spärlich beleuchtet. Die Ventilatoren arbeiteten Überstunden, um die Sommerhitze zu vertreiben, als Harry Reza in das Gebäude folgte und seine Augen hin und her huschten und jeden dunklen Winkel absuchten.

Wohl wissend, in welche Gefahr er sich womöglich begab. Von allen Seiten.

Laute Rockmusik hallte von den Wänden wider und übertönte beinahe alle anderen Geräusche. Sie passierten kleine Gruppen von Menschen, die sich um die verschiedenen Ringe versammelt hatten. Ein Afrikaner mit einer Kufi – einer traditionellen islamischen Kappe – auf seinem grauer werdenden Schopf, um den sich Teenager, höchstwahrscheinlich seine Studenten, geschart hatten.

Junge Männer mit freien Oberkörpern, deren Brustkörbe vom Schweiß glänzten, tanzten unter den Lichtern herum und schlugen mit Boxhandschuhen aufeinander ein. Und dann sah er Yassin, in einem Ring am hinteren Ende des Gebäudes, im Zweikampf mit einem anderen jungen Araber. Die beiden umkreisten einander wie Katzen und warteten auf eine Gelegenheit für einen gezielten Schlag.

Er war nicht sehr gut, erkannte Harry, der beobachtete, wie Yassin eine Lücke in der Deckung nutzte – nur um feststellen zu müssen, dass es keine gewesen war, und zurückzuckte, als sein geschmeidiger Gegner einen Haken gegen die Seite seines Kopfschutzes landete. Zumindest noch nicht. Jeder musste irgendwo anfangen.

Aber er erholte sich schnell, schoss nach vorn und deckte die Arme und Schultern seines Gegners mit einem Hagel von Schlägen ein. Zwang ihn, zurückzuweichen.

»Los, Yassin!«, rief Harry, der sich mühte, Begeisterung in seine Stimme zu legen, und klopfte Reza auf die Schulter.

Beide standen am Rand des Rings und sahen zu, wie die beiden Boxer umeinander herumtänzelten und immer wieder Angriffe antäuschten. Die Schläge, die sie austauschten, schienen immer intensiver zu werden, bis schließlich ein Summton aus einem in einer Ecke des Ringes liegenden Handys ertönte. Beide Boxer ließen bei dem Signal ihre in den Handschuhen steckenden Fäuste sinken, und der Araber gab Yassin einen spielerischen Klaps auf die Schulter. »Bis zum nächsten Mal, Mann – du wirst besser.«

»Ibrahim!«, rief Yassin, sprang über die Seile des Rings, eilte auf Harry zu und umarmte ihn stürmisch. »Ich hätte nicht gedacht, dich heute Abend hier zu sehen.«

»Ich hab ihn hergeschleppt«, erklärte Reza und grinste. »Er hat geschrien und um sich getreten.«

»Marwan«, sagte Yassan und blickte über seine Schulter zu seinem Sparringspartner, der herangelaufen kam und sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn und den Schultern wischte. »Ich würde dir gern einen Freund von mir vorstellen … Ibrahim Abu Musab al-Almani.«

»Salaam alaikum«, sagte der junge Mann lächelnd und streckte die Hand nach Harry aus. »Freut mich, dich endlich kennenzulernen.«

Endlich? Irgendwo in Harrys Kopf schrillte eine Alarmglocke. Er kniff die Augen zusammen und musterte den Boxer aufmerksam, während er die erwartete Antwort hervorpresste. »Wa‘ alaikum as-salaam, Bruder.«

»Schön, dass du dich uns heute Abend anschließt«, fuhr Marwan fort, der Harrys Zögern nicht bemerkt zu haben schien. »Nach allem, was Yassin mir erzählte, hast du in Syrien gekämpft?«

Syrien. Die Worte trafen Harry wie ein Schlag ins Gesicht. Seine Gedanken rasten. Wie viel hatten sie einander erzählt? Wem hatten sie noch davon berichtet?

Er konnte nicht anders, als Yassin einen finsteren Blick zuzuwerfen – einen anklagenden Blick. Eine Warnung.

Der junge Marokkaner lachte und schüttelte den Kopf. »Entspann dich, Mann – Marwan ist ein Bruder. Du bist hier unter Freunden.«

Du bist nicht in der Position, das zu beurteilen, hätte Harry am liebsten geantwortet, aber er tat es nicht, sondern starrte stattdessen Yassin noch einen langen Moment an. Ihm würde später noch genug Zeit bleiben, sich um ihn zu kümmern.

»Ja, das habe ich«, antwortete er schließlich und wandte sich wieder Marwan zu. »Als die Bomben fielen … konnte ich nicht mehr einfach nur zusehen. Ich musste etwas tun … und meinen Glaubensbrüdern zu Hilfe eilen.«

»Subhanallah«, seufzte Marwan leise, und seine Augen funkelten bei Harrys Geständnis. Ehre sei Allah. »Ein Mann, mit dem ich hier in diesem Klub trainierte, als ich mit dem Boxen anfing, zog ebenfalls in den Krieg, um gegen den Abtrünnigen in Damaskus zu kämpfen.«

Er schwieg für einen Moment, und dann veränderte sich seine Stimme kaum merklich. »Er wurde drei Wochen später getötet, bei einem Luftangriff, kurz nach seiner Ankunft.«

»Mash’allah.« Harry lächelte und streckte die Arme aus, um den jungen Mann bei den Schultern zu fassen. So, wie es Allahs Wunsch ist. »Das Blut der Märtyrer ist ein wunderbares Geschenk in den Augen Allahs.«

»Allahu akbar«, hörte er Reza hinter sich raunen, und auch die anderen jungen Männer stimmten leise in die Lobpreisung ein.

Wechsle das Thema.

»Du bist ein guter Kämpfer«, sagte er und nickte in Richtung des Rings. »Ich habe früher selber geboxt – auf dem Gymnasium in Deutschland.«

»Warst du gut?«

»Ich rede es mir gern ein«, beantwortete Harry lächelnd Yassins Frage. »Ich war damals ein sehr stolzer junger Mann. Und sehr weit von der Wahrheit entfernt, wie alle, die von so viel Stolz erfüllt sind.«