Das gefallene Schwert - Miles Cameron - E-Book

Das gefallene Schwert E-Book

Miles Cameron

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Beschreibung

Das Königreich Alba wird von Unruhen erschüttert. Der von allen geliebte König wurde entführt, und nun steht nicht nur sein Leben, sondern auch der verzweifelte Kampf gegen die magischen Bestien der Wildnis auf dem Spiel. Der Rote Krieger, Held zahlreicher Kämpfe mit magischen wie menschlichen Gegnern, wird mit seinem Söldnerheer um Hilfe gebeten. Nun muss er sich entscheiden zwischen dem Kampf gegen die Wildnis und die Schatten seiner eigenen Vergangenheit und dem Kampf um das Herz der edlen Dame, die er liebt ...

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Seitenzahl: 1477

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MILES CAMERON

DASGEFALLENESCHWERT

ROMAN

Aus dem Amerikanischenvon Michael Siefener

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

THE FELL SWORD

Deutsche Erstausgabe 10/2014

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2014 by Miles Cameron

Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Karten: Andreas Hancock

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Schaber Datentechnik, Wels

ISBN: 978-3-641-13191-3

Für die Reenactors

PROLOG

Der Kaiser

1

Liviapolis · Morgan Mortimir

Während der Rote Ritter die Behausung des Wyrm in den Grünen Bergen verließ und südwärts zur Herberge von Dorling ritt, saß Morgan Mortimir, aus Harndon gebürtig, in seinem Klassenzimmer in der kaiserlichen Hauptstadt Liviapolis.

Das Klassenzimmer war mehr als tausend Jahre alt; darin standen dunkle Eichenbänke und massive Tische, an denen je vier Schüler hockten. Die Bänke waren so tief eingeritzt, dass man sich unweigerlich fragen musste, wie die Lehrer diesen Vandalismus hatten übersehen können. Es waren die Kritzeleien von hundert Generationen späterer Magister, und zwar in zehn verschiedenen Sprachen, einschließlich des Archaischen. Die Fenster waren mit Längsstreben unterteilt und boten allen Gelangweilten oder Enttäuschten nur einen verschwommenen Blick auf die Welt dort draußen.

Morgan teilte seine Bank mit drei anderen Personen. Zwei davon waren Nonnen aus einer der großen Städte, in denen es Dutzende von Konventen für adlige Fräulein gab. Es handelte sich um die Schwestern Anna und Katerina, die unter ihren langen braunen Kutten und Brusttüchern beinahe unsichtbar waren. Der andere war sein einziger – fast – Freund, ein Etrusker, dessen Vater der Podesta der ausländischen Kaufleute war: Antonio Baldesce.

Der Logik-Lehrer betrachtete die Klasse.

»Es soll sich jemand melden, der nicht Mortimir ist«, sagte er. »Nennt mir den Grund.«

Sechzehn Schüler der hermetischen Thaumaturgie für Fortgeschrittene wanden sich.

»Na los, meine Kinder«, sagte Meister Abraham. Er war ein Yahadut – der erste, dem Morgan je begegnet war. Außerdem war er einer der freundlichsten Lehrer, die es gab, es sei denn, er fühlte sich missachtet.

Sein Blick bohrte sich in den jungen Etrusker. »Baldesce?«, fragte er mit einer Stimme, die vor akademischer Ungeduld um eine halbe Oktave höher wurde.

Das Schweigen war schmerzhaft.

»Ich will das Problem noch einmal schildern«, begann Magister Abraham mit einer Stimme, die beständig gefährlicher klang. »Warum kannst du die hermetische Macht nicht unmittelbar innerhalb deines eigenen Erinnerungspalastes benutzen?«

Schwester Katerina gab ein leises Geräusch von sich; am ehesten kam es einem Jammern gleich.

Schwester Anna biss sich auf die Lippen.

Aber Baldesce war nicht der Typ eines Jungen – oder eines jungen Mannes –, der rasch in Verlegenheit geriet. »Keine Ahnung«, sagte er und zuckte die Achseln. »Aber sollte mir eine Vermutung erlaubt sein …«

»Nein!«, spuckte Abraham aus. »Vermutungen interessieren mich in diesem Stadium gar nicht. Also, junger Mortimir?«

Mortimir konnte zwar Potentia nicht in Ops übertragen, aber dafür hatte er jedes verfügbare Grimoire gelesen und jede Schriftrolle mit philosophischen Texten studiert, die er in die Hände hatte bekommen können, seien sie nun ethischen oder praktischen Inhalts. Er sah den Magister an – und zögerte.

Würden ihn die anderen besser leiden können, wenn er die Antwort nicht gab?

Vermutlich nicht. Außerdem sollten sie ihm egal sein.

»Magister, ich glaube, man kann das Ätherische durchaus unmittelbar im eigenen Erinnerungspalast manipulieren. Ich vermute jedoch, dass man es nicht tun soll.« Mortimir zuckte mit den Schultern, so wie Baldesce es getan hatte, und doch war es eine gänzlich andere Geste. Mortimirs Schulterzucken deutete an, dass es über dieses Thema noch viel mehr zu sagen gab.

Magister Abraham kratzte sich das Kinn unter dem langen Bart und richtete den Blick auf Mortimir. »Warum hegst du so seltsame und häretische Gedanken?«, fragte er. Er versuchte – vergeblich – zu verbergen, dass er sehr erfreut war.

»Wegen Vetronius’ Gladius Capitalis. Und wegen Heraklits θανατηφόρα σπαθί.«

Schwester Anna zuckte unter seiner Betonung des Hocharchaischen zusammen, die nicht dem an diesem Ort gebräuchlichen Moreanischen, sondern dem Albischen entsprach.

Magister Abraham besaß die seltsame Angewohnheit, sich mit den Fingern gegen die Zähne zu klopfen, und das tat er auch jetzt. Wenn er Tinte an den Fingern hatte, machte dieses Klopfen bisweilen seine Zähne fleckig.

Er nickte. »Ja. Das gefallene Schwert. Eine Waffe, die in der wirklichen Welt dasselbe bewirkt wie in der ätherischen und deshalb beweist, dass sie im Palast der Erinnerung geschmiedet wurde. Doch sie kann auch anderswo eingesetzt werden.« Er erlaubte sich ein schmales Lächeln. »Und was wäre das … Ergebnis … einer Verwendung innerhalb des Erinnerungspalastes?«

Einen Herzschlag lang verstummte er, und fünfzehn Schüler und Schülerinnen erbleichten bei dem Gedanken an die Zerstörung, die es unter den sorgsam gehüteten Erinnerungen und Mechanismen anrichten würde.

»Aber das weißt du nicht, junger Mortimir, oder?«, fragte Magister Abraham. Es war eine rhetorische Frage. Jetzt war es an dem Magister, mit den Schultern zu zucken. »Und nun fort mit euch Kleinen. Die Alchemie wartet auf euch. Mortimir, du bleibst hier.«

Die übrigen Schüler eilten mit gesenkten Köpfen davon, um den Blick des Lehrers nicht auf sich zu ziehen. Manchmal verteilte er am Ende noch Aufgaben – Aufgaben wie Gewitterblitze, die entweder wahllos oder mit voller Absicht geschleudert wurden.

Mortimir setzte sich und spielte mit seinem Paternoster herum, bis auch der letzte Schüler gegangen war, und dann stand er so anmutig auf, wie es seinem rasch wachsenden Körper überhaupt möglich war, und stellte sich vor dem Magister auf.

Der ältere Mann runzelte die Stirn. »Du hast einen brillanten Geist«, sagte er. »Und du arbeitest härter als die meisten dieser Rüpel.« Er zuckte die Achseln und gab Mortimir eine Schriftrolle. »Tut mir leid, junger Mann. Es tut mir wirklich leid, dich mit deinen Fehlern aufzuziehen, und es tut mir leid, dir das hier geben zu müssen.«

Mortimir brauchte das Papier nicht einmal zu entrollen. »Ein Ruf? Vom Patriarchen?«

Der Magister nickte und verließ das Klassenzimmer. Als er die Tür öffnete, hörte Mortimir Baldesces Stimme, und Zervas – noch ein moreanischer Schüler – sagte etwas, worauf die anderen lachten.

Er wusste nicht, ob sie über ihn redeten, aber in diesem Augenblick hasste er sie trotzdem.

Der Ruf in seiner Hand bedeutete, dass er ein weiteres Mal auf die Macht hin getestet werden würde, und wenn er sie dann noch immer nicht hervorrufen konnte, würde man ihn wegschicken. Er hatte sein ganzes Leben dafür gearbeitet, hierherzukommen.

Und nun hatte er versagt.

Manchmal war es wirklich schwer, ein Wunderkind zu sein.

Morgan Mortimir war sechzehn Jahre alt und wuchs so schnell, dass ihm seine Kleider schon in den kürzesten Abständen nicht mehr passten. Doch sein Gesicht wirkte trotz seiner Körpergröße so jung, dass er als Zwölfjähriger durchgehen konnte. Er war zwar groß und dünn, aber das verlieh ihm keine Würde. Er war schlaksig und – schlimmer noch – mit Akne überzogen, die überall im Gesicht andauernd in weißen Pusteln ausbrach, sodass die moreanischen Schwestern im Kurs »angewandte Philosophie« ihn nur »die Pest« nannten.

Und Morgan wusste, dass er eine Pest war. Er war zu jung für die Schule, und – was sich wegen seiner phänomenalen Intelligenz noch verheerender auswirkte – es mangelte ihm an der Fähigkeit, die Welt unmittelbar durch Phantasma oder auch nur durch Alchemie zu beeinflussen. Dabei besaß er das größtmögliche Potenzial.

Doch er bekam die rohe, ungestaltete Macht nicht in den Griff. Es gelang ihm einfach nicht, Potentia in Ops umzuwandeln.

Aber er war klug genug zu wissen, wann er nicht willkommen war. Und für niemanden in der ganzen großen Schule der Höheren Philosophie und Metaphysik war er etwas anderes als der Sündenbock. Die anderen wollten nicht, dass er die Autoritäten zitierte, die er auswendig gelernt hatte, und sie wollten nicht, dass er ihnen mit den Begriffen der Mathmaticka erklärte, wie das Ätherische im Einzelnen funktionierte. Sie wollten nur, dass er entweder die Kraft benutzte und einsetzte, oder dass er ging.

Er saß in einer kleinen Taverne in der größten Stadt der zivilisierten Welt und starrte in einen Becher, der mit Wein gefüllt war.

Nach einer Weile starrte er in den nächsten Becher.

Und dann in den dritten.

Tag und Nacht hatten ihn die Magister in Situationen gebracht, in denen er seine Kraft und Macht hätte einsetzen müssen. Seine Fähigkeit, einen Zauberbann zu entdecken – sogar die feinsten Emanationen von Feigfisch zum Beispiel –, verhalf ihm zu großem Lob seitens der Magister. Jeder einzelne von ihnen war der Meinung, dass er die Gabe besitzen musste. Sein Maß an Potentia war offensichtlich phänomenal.

Aber inzwischen sagten sie es nicht mehr so laut und auch nicht so oft. Und heute hatte ihn der Patriarch gerufen, der jeden Kandidaten überprüfte und ihn zunächst als theologisch verlässlich beurteilen musste, bevor er einen Grad erhielt.

Am nächsten Sonntag würde es dann so weit sein.

Mortimir biss sich auf die Lippe, um nicht weinen zu müssen. Doch es half nicht – er weinte trotzdem. Es war bitteres, dummes Selbstmitleid, und er hasste diese kindische Regung, während er noch heftiger weinte. Der Patriarch würde ihn nach Hause schicken.

Eigentlich war es zu Hause gar nicht so schlecht. Es bedeutete bloß den Verlust von allem, was er je hatte erreichen wollen. Er wollte in Liviapolis leben, wo großartige, in glitzernde Gewänder gekleidete Frauen mit Männern über Philosophie sprachen, die Bücher schrieben, statt das Schwert zu schwingen. Er gehörte hierher und nicht in das barbarische Harndon.

Oder doch?

Sie schickten nicht einmal ein Mädchen an seinen Tisch, das ihm Wein einschenkte. Seine Bedienung war ein griesgrämiger alter Verbrecher mit höhnischem Grinsen. Er winkte nach einem weiteren Becher.

»Zuerst bezahlen«, sagte der Mann in so breitem Archaisch, dass ihn jeder verstehen musste.

Mortimir trug einen albischen Wappenrock und die dazu passenden Stiefel sowie ein Schwert. Also war er offensichtlich ein Barbar und wurde wie ein Narr behandelt.

Er schaute in den Becher mit dem dunkelroten Wein. Es war besserer Wein, als er ihn zu Hause bekommen hätte – ein Wein, gegen den die Weine von Albia nur die Schatten ihres Urbildes waren.

Er fluchte. Er kannte alle Theorien auswendig. Aber er konnte sie nicht in die Tat umsetzen.

Die Pest.

Er hatte sie als Kind gehabt – zumindest sagte man das. Und der Medizinlehrer, der das meiste Interesse an ihm zeigte, hatte mit schrecklicher Endgültigkeit betont, dass die Pest manchmal Hirnschäden hervorrief, die die Möglichkeit, die Macht zu wirken, endgültig zerstörten.

Er bestellte einen vierten Becher guten Weins und beschloss wieder einmal, sich umzubringen. Es war eine Todsünde, und seine Seele würde dafür auf ewig in der Hölle schmoren. Das erachtete er jedoch für angemessen, denn dadurch würde er Gott verletzen – jenen Gott, der es wollte, dass die Sünder bereuten und zu ihm kamen. Nimm dies, du Mistkerl!

Es war der Dualität der menschlichen Natur geschuldet, so wie die Magister der Philosophie sie lehrten, dass er beim fünften Becher Wein die schrecklichen und dummen Fehler seiner eigenen Theologie erkannte.

Und es wird natürlich keinen Wein mehr geben.

Doch an diesem Punkt nahm der Abend eine Wendung, die ihn überraschte.

Eine schöne junge Frau – älter als er und weltlicher, aber gut gekleidet und offensichtlich wohlhabend – blieb vor der Nische stehen, in der sich sein Tisch befand. Sie blickte sich zuerst nur nervös, dann aber geradezu verärgert um.

Der Wein stärkte ihn. Er stand auf und verneigte sich, war höflicher als gewöhnlich. »Meine Herrin? Kann ich Euch behilflich sein?«, fragte er in seinem besten Hocharchaisch, das ihm heute flüssiger als sonst über die Lippen zu kommen schien. Zu Hause in Harndon hatte seine größte Fähigkeit darin bestanden, das Hocharchaische zu lesen und zu sprechen, aber hier bedienten sich sogar die Verbrecher dieser Sprache. Es war die moreanische Landessprache.

Sie drehte sich um, und ihr Lächeln strahlte wie der Schein einer Laterne. »Ah, Herr. Pardon.« Sie errötete. »Ich bin es nicht gewöhnt, in aller Öffentlichkeit mit einem Mann zu sprechen«, sagte sie und hob ihren Fächer, bis er ihr Gesicht bedeckte. Aber es geschah nicht schnell genug, so bemerkte Mortimir die Röte, die wie eine Kavallerie vom Hals aus über ihr Gesicht preschte und …

Er blickte sich um. Es war Stunden her, seit er diese Taverne betreten hatte. Er hatte den Ruf zum Abendgebet nicht beachtet, ebenso wenig wie etliche andere Gäste auch, und nun beschloss sein Magen plötzlich, das neue Hobby der Trunkenheit mit ein wenig Nahrung zu unterlegen. Selbst wenn er später von einer Brücke springen würde. Sich in sein Schwert zu stürzen kam dagegen nicht infrage. Es war zu lang.

Er bemerkte wie im Traum, dass er sich wieder setzte. In irgendeinem Winkel seines Kopfes sagte eine Stimme: Ich glaube, ich bin ziemlich betrunken. Er war schon früher einmal betrunken gewesen – sogar schon zweimal. Aber nicht so wie heute.

»Würdet Ihr Euch zu mir setzen?«, fragte er, als wäre dies das Natürlichste von der Welt.

Ihre Augen blickten ihn über den Rand des Fächers hinweg an. »Nein, das geht wirklich nicht«, sagte sie. »Ich warte auf meinen Vater, der sich verspätet hat, und hier ist wirklich kein Ort, an dem sich eine Dame niederlassen könnte.«

Er vermutete, dass sie ungefähr neunzehn Jahre alt war, aber seine Erfahrung mit Damen – insbesondere mit Moreanerinnen – war äußerst beschränkt. In seiner Klasse befanden sich Nonnen, aber sie alle trugen den Schleier, und abgesehen von ihren Stimmen und der Tatsache, dass es ihm stets gelang, sie in Windeseile zu verärgern, wusste er nichts über sie.

Er konnte auch nicht sagen, ob diese Dame schön oder durchschnittlich oder sogar so hässlich wie die Sünde war, aber ihm gefielen ihr Erröten und ihre Höflichkeit. »Bitte setzt Euch doch zu mir. Ich werde Euch nicht belästigen«, sagte er, stand wieder auf und fragte sich, wie er so grob hatte sein können, sich in ihrer Gegenwart zu setzen. »Nehmt hier Platz, und ich werde durch den Raum spazieren, bis Euer Vater kommt …«

Er wollte den Worten Taten folgen lassen, aber sie streckte blitzartig den Fächer vor. »Ihr werdet nichts so Närrisches tun, auch wenn Euer Angebot für einen Barbaren ungewöhnlich edel ist«, sagte sie und übte einen leichten Druck gegen ihn aus, sodass er sich wieder setzte. Dann ließ sie sich ebenfalls nieder.

Es war wie das Durchblättern einer Bilderbibel. Er musste die Stellen der Erzählung erraten, die fehlten. Wann hatte er sich wieder gesetzt? War sie anmutig?

»Was hat Euch in unsere schöne Stadt geführt?«, fragte sie.

Mortimir seufzte. »Meine Mutter hat mich auf die Akademie geschickt«, sagte er mit ein wenig zu viel Selbstgefälligkeit, wie er sofort bemerkte.

»Ihr müsst sehr klug sein!«, meinte sie.

Er lächelte verbittert. »Sehr klug«, murmelte er.

Plötzlich war der Schankwirt da – der alte Bastard war beinahe kugelrund und hatte keine Haare mehr auf dem Kopf. Er schenkte etwas aus einer Kanne ein, und das Mädchen kicherte und dankte ihm, während sich der Raum ein wenig drehte. »Das bin ich wirklich«, bekräftigte er. »Ich bin so klug, dass …« Er suchte nach etwas, das er sagen konnte.

Du bist so klug, dass du jede einzelne Frage in jedem Kurs beantwortest, obwohl du weißt, wie sehr du deine Kollegen damit verärgerst. Du bist so klug, dass du keine Ahnung von Humor hast. Du bist so klug, dass du nicht einmal mit einem Mädchen reden kannst. Du bist so klug, dass du auch nicht das einfachste Phantasma zu wirken verstehst.

Sie wedelte mit ihrem Fächer. »Wo ist bloß mein Vater?« Es war eine rhetorische Frage. Der nüchterne, analytische Teil seines Verstandes bemerkte, dass sie sich nicht umsah, als sie das sagte. Er vermutete, dass sie es gewohnt war, bedient zu werden, und sich möglicherweise nicht einmal um sich selbst kümmern konnte. Sie lächelte. »Stammt Ihr aus einer guten Familie? Und was bedeutet bei den Barbaren eine gute Familie?«

Sie war richtig komisch. Er lachte. »Mein Vater ist ein Lord«, sagte er. »Nun ja, er war einer. Denn er ist gestorben. Es ist sehr kompliziert.«

Sie seufzte. »Was ist daran so kompliziert? Ich bin nicht in Eile, vor allem dann nicht, wenn Ihr mich weiter mit candischem Wein und Malvasier versorgt.« Der Fächer wedelte wieder. Nun aber bewegte er sich in einem anderen Rhythmus, und auch wenn er ihr Gesicht am Ende wieder verbarg, glaubte Mortimir für einen kurzen Augenblick das ganze Antlitz gesehen zu haben. Er war aufgeregt.

Ich spreche mit einer moreanischen Adligen!, dachte er.

Und versuchte seine Erregung abzuschütteln, denn schließlich beabsichtigte er, sich bald selbst zu vernichten. Doch es gab nur weniges, was er lieber tat, als über sich zu sprechen, und der Wein gebot ihm in keiner Weise Einhalt. »Nun«, meinte er, »ich bin ein Bastardsohn, aber mein Vater hatte keine anderen Kinder, und auch wenn er meine Mutter nie geheiratet hat, bin ich wohl doch sein Erbe.« Er lehnte sich zurück. »Er war ein bedeutender Adliger, aber er besaß eine Burg und ein Stadthaus in Harndon. Meine Mutter lebt noch immer in diesem Stadthaus.« Er zuckte mit den Achseln.

Das Mädchen lachte. »Das klingt wie bei uns am Hof. Du gehörst nicht zur Kirche, nehme ich an?«

Er spreizte die Hände. »Nein, ich bin Privatgelehrter.« Er sagte es mit zu viel Stolz und bemerkte, dass sie sich darüber amüsierte. Er verübelte ihr diese Überheblichkeit und sich selbst sein Unvermögen, ein Gespräch zu führen, ohne gleich anmaßend zu werden.

»Seid Ihr reich?«, fragte sie und schenkte noch etwas Wein in seinen Becher.

»O nein«, antwortete er.

»In diesem Falle hat sie nichts mehr mit dir zu tun«, sagte da eine tiefe, kratzige Stimme. Die adlige Moreanerin drehte sich um, und Morgan hob den Kopf – er war überrascht, wie mühsam das war – und schaute in die blassblauesten Augen, die er je gesehen hatte. Sie saßen in einem mondförmigen Gesicht, das so groß wie der Brustpanzer eines Soldaten war. »Oder, Anna?«

Sie warf mit ihrem Fächer nach ihm und spuckte aus. »Geh weg, du Sohn eines Bastardköters und einer pestbeuligen Straßenhure! Geh in einer Latrine schwimmen!«

Mortimir erhob sich unsicher. »Ist dieser Mann …«

Der Riese strahlte. »Oh, Anna, nur eine Spalte, die so viel mitgemacht hat wie deine, ist groß genug für mein Glied …«

Ihr Fächer traf ihn an der Schläfe. Gleichzeitig rollte draußen der Donner. Doch der Riese zuckte nicht einmal zusammen.

»… für Euch eine Belästigung?«, gelang es Mortimir zu sagen. Er war unverhältnismäßig stolz darauf, diese Phrase aus seinem beschwipsten Kopf herausbekommen zu haben, und griff nach seinem Schwert.

Er trug nämlich ein Schwert. Dafür wurde er auf der Akademie oft verspottet, denn Studenten der Philosophie brauchten für gewöhnlich kein Schwert, und indem er stets eines mit sich führte, wirkte er noch mehr wie ein Barbar. Aber seine Unfähigkeit, auch nur den kleinsten Zauber oder das geringste Phantasma zu wirken, und seine starke jugendliche Sturheit sowie sein Stolz darauf, in den Kriegskünsten ausgebildet zu sein, führten dazu, dass er sich an dieses wichtige Zeichen seines Adelsstandes – zumindest in Albia – klammerte. Also trug er es trotz vieler Warnungen, einiger Drohungen und massenhaftem Spott auch weiterhin um die Hüfte gegürtet.

Und jetzt zog er es.

Der Riese trat von der moreanischen Adligen zurück und betrachtete ihn mit derselben Sorgfalt, die die Lehrer üblicherweise an den Tag legten, wenn sie eine Leiche sezierten – vorausgesetzt, die kirchlichen Würdenträger erlaubten so etwas.

»Du scheinst zu wissen, wie man eine solche Waffe zieht«, sagte der Riese.

Mortimir zuckte die Achseln. »Lasst die Dame in Ruhe«, sagte er.

In der Taverne wurde es still. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, und er fühlte sich wie ein Narr – umso mehr, da der Riese einen Kopf größer war als er und ihn offenbar gleich zu Kleinholz verarbeiten würde. Aber er wusste mit bitterer Gewissheit, dass er zu stolz war, um jetzt nun noch einen Rückzieher zu machen.

»Hure«, sagte der Riese und zuckte mit den Schultern. »Ich habe nichts dagegen, wenn du mit mir kämpfen willst. Ich schätze einen guten Kampf. Aber dafür gehen wir besser nach draußen. Hier drin ist nicht genug Platz.«

Mortimir war noch nie eine Hure genannt worden, aber er wusste, dass dies Kampf bedeutete. Er war nicht allzu sicher auf den Beinen, doch als er den Tisch umrundete, befiel ihn eine Entschlossenheit, die ihn mit großer Tatkraft erfüllte. Mit der linken Hand griff er in seine Geldkatze und warf ein paar Münzen auf die Tischplatte – jeder Edelmann würde das tun.

Diese plötzliche Tatkraft – war das Angst? Es glich der Kraft, die die Lehrer der Natürlichen Philosophie aus den Metallkugeln hervorholten, und in seinen Fingern prickelte es.

Der Riese wich vor ihm zurück. »Leg das Schwert weg, dann werden wir uns einen ordentlichen Kampf liefern«, sagte er. »Wenn du aber darauf bestehst, dieses Ding da zu benutzen, werde ich dich wohl töten müssen. Ich habe doch nicht dich, sondern sie als Hure bezeichnet, du Schwachkopf. Wach endlich auf.«

Mortimir besaß gerade noch genug Verstand, das Schwert wieder in die Scheide zu stecken, und es gelang ihm sogar ohne großes Fummeln. Er hatte den Eindruck, dass ihm der Riese jetzt anerkennend zunickte. Er warf einen Blick zurück und sah, wie die moreanische Dame die Münzen auf dem Tisch einsammelte.

Es dauerte einige Zeit, bis er in den Hof hinausgetreten war, und nun entfernte er seinen Schwertgürtel. Der Riese war gewaltig. Er klang wie ein Nordikaner; das waren die Fremden, die sich der Kaiser als Leibwache hielt.

Dutzende von Männern quollen aus den offenen Türen der Taverne in die heiße Sommernacht hinaus; auch ein paar Frauen waren unter ihnen. Der Riese zog sich das Hemd über den Kopf und enthüllte einen Körper, der nur aus scharfkantigen Brocken fleischfarbenen Felsens zu bestehen schien. Er hatte noch weitere Muskeln … auf seinen Muskeln.

Mortimir trug sein bestes Wams. Er zog es vorsichtig aus, faltete es und wünschte sich, er hätte einen Freund, der ihm die Geldbörse halten konnte. Er wünschte, er hätte überhaupt irgendeinen Freund.

»Ich will vorher bloß sagen, dass du ein tapferer kleiner Kerl bist, weil du es mit mir aufnehmen willst, und ich beabsichtige, dich gut aussehen zu lassen, bevor ich dich erledige«, sagte der Riese. »Aber du musst auch wissen, dass sie eine Prostituierte ist, und in diesem Augenblick starrt sie genauso auf deine Geldbörse, wie ein Trunkenbold auf einen neuen Weinkrug starrt.« Sein Archaisch hatte einen seltsamen Akzent. »Aber ich mag sie. Sie ist sogar meine Favoritin.« Der große Mann zuckte mit den Schultern. »Ich würde sie auch mit dir teilen, wenn wir Schwertbrüder wären.«

Mortimir lachte. Es war verrückt, aber plötzlich fühlte er sich tatsächlich erleichtert. Er war glücklich. Sein Lachen stieg hoch, und die Männer, die in der Tür standen und um den Ausgang des Kampfes miteinander wetteten, lauschten aufmerksam. Und die Wetten änderten sich ein wenig – zwar nicht viel, aber ein wenig. Er hatte doch sterben wollen, und nun musste er sich dafür nicht einmal selbst umbringen.

»Ich bin bereit«, sagte er.

Der große Mann verneigte sich. »Harald Derkensun«, sagte er. »Von der Leibwache.«

Mortimir erwiderte die Verbeugung. »Morgan Mortimir«, sagte er. »Von der Akademie.«

Bei diesen Worten brüllte die Menge auf. Die Akademie wurde in der Stadt sowohl geliebt als auch gehasst – sie galt als eine Bastion des Scharfsinns und gleichzeitig als ein Nest von Häretikern.

Mortimir war keineswegs ungeübt. Er bewegte sich auf den Zehenspitzen, wie es ihm der Waffenmeister seines Vaters beigebracht hatte, und da er nichts zu verlieren hatte, legte er seine ganze Kraft gleich in den ersten Angriff. Mit gespieltem Zögern kam er vor und trat heftig nach dem Knie seines Gegners.

Er traf auch – zwar nicht das Knie des Riesen, aber das Schienbein, und der Riese geriet ins Schwanken. Plötzlich fühlte sich Morgan wieder nüchtern, trat mit dem rechten Fuß noch einmal nach und trieb den Riesen einen halben Schritt zurück, da er nun den Bauch des Mannes traf.

Mortimir fühlte sich, als hätte er gegen eine Scheune getreten. Aber er verlagerte das Gewicht von dem einen Fuß auf den anderen und versuchte noch einmal auszutreten …

Und musste sich gleich danach aus dem Misthaufen kämpfen. Er hatte die Bewegung des Gegners übersehen, die ihn eine Körperlänge weit durch die von Fackeln erhellte Nacht schleuderte. Aber auch wenn er nun schrecklich stank, er war doch unverletzt geblieben, also stürmte er wieder auf seinen Gegner zu, der ganz aus Eisen zu bestehen schien.

»Guter Tritt«, sagte der Riese. »Wirklich sehr gut.« Der gewaltige Mann grinste. »Ich glaube, wir werden hier viel Spaß miteinander haben. Ich dachte schon, ich müsste beide Seiten des Kampfes allein bestreiten, aber anscheinend …«

Mortimir war dünn und drahtig, und sein einziger körperlicher Vorteil bestand in der enormen Länge seiner Arme und Beine. Während der Riese weiter plapperte, machte Mortimir erneut eine Finte, trat zu und erwischte den Arm des Riesen, als dieser ihn gerade schützend vor sich hielt.

Es war ein fast vollendeter Treffer – doch schon wieder segelte er durch die Luft. Diesmal traf er zunächst mit dem Hintern gegen die Stallwand, bevor er wieder in den Dunghaufen hinunterrutschte.

Der Schmerz war heftig, und das Lachen der Menge entzündete ihn wie eine Laterne. Er rollte von dem Misthaufen herunter und rannte auf den großen Mann zu.

Derkensun wartete mit stoischer Gelassenheit auf ihn und war von seiner jugendlichen Wut offenbar enttäuscht. Doch sobald Mortimir in die Reichweite des Riesen gelangt war, machte er mit den Hüften eine schwingende Bewegung, die er dem Wein sowie seinem Glück zu verdanken hatte – und tauchte unter dem Schlag des Nordikaners hindurch, der das Ende dieses Kampfes bedeutet hätte. Er stellte den Fuß fest hinter das Knie des großen Mannes, steckte seinen Kopf unter dessen Arm hindurch und warf ihn zu Boden. Er musste unglaublich fest drücken; es war fast so, als werfe er ein Haus um.

Aber Derkensun ging zu Boden.

Er lag nur so lange dort, bis er etwas gerufen hatte, dann rollte er sich schneller herum, als es einem so großen Mann möglich sein durfte, sprang wieder auf die Beine und rieb sich die linke Schulter. Dabei grinste er von einem Ohr zum anderen. »Guter Schlag, Kleiner!«, brüllte er und trat mit dem linken Bein aus. Mortimir sprang zur Seite – eher aus Instinkt als aus Erfahrung.

Mortimir schnaubte wie ein Bulle. Der Riese grinste.

»Ich vermute, das wird nicht noch einmal funktionieren«, murmelte Mortimir.

Der Riese schüttelte den Kopf.

Mortimir grinste. Das Gefühl der Erlösung war wunderbar; dieser körperliche Rausch machte einen ganz neuen Eindruck auf ihn. Und die Leichtigkeit seines Herzens konnte nicht nur vom Wein herrühren.

Er trat vor und wollte so tun, als ob er mit dem Kopf zustieß, aber dazu kam es nicht. Sobald er sein Gewicht verlagert hatte, lag er bereits keuchend am Boden, und sein Rücken schmerzte.

Der Schmerz stieg ihm bis in den Kopf, dann rollte er auf die Beine und packte den Riesen mit beiden Händen. Das war vermutlich das Dümmste, was er hatte tun können, denn der Mann war so gewaltig, dass er einfach Mortimirs Hände von sich löste und wegbog. Die Mühelosigkeit des Sieges ärgerte Mortimir noch weiter, und so veränderte er seine Haltung und rammte dem Mann das Knie in die Weichteile.

Der Nordikaner taumelte zurück, und Mortimir trat ihm heftig in den Bauch. Der Mann klappte in der Hüfte zusammen, und Mortimirs rechte Hand schoss vor …

Der Riese packte sie mit seiner Pranke, rollte sich nach links und warf den Studenten von sich, wie eine Blide einen Stein schleudert.

Mortimir traf gegen die Mauer der Taverne. Er konnte sich gerade noch über die ganze Sache wundern und sich vornehmen, mit dem Magister darüber zu sprechen, aber dann …

»Verdammter Jesus Christus, du hast mir wehgetan!«, sagte eine kratzige Stimme dicht an seinem Ohr. »Ich wollte dich nicht so schwer verletzen.« Er spürte, wie etwas Kaltes seinen Kopf berührte, das schmerzte. Aber schließlich schmerzte nun alles.

»Du bist ein ziemlich großer Narr«, schnurrte eine weibliche Stimme.

»Und du bist eine große Hilfe«, sagte die kratzige Stimme.

»Wir könnten uns wenigstens sein Geld teilen. Es ist schon viele Monate her, seit du das letzte Mal bezahlt worden bist.«

»Das wäre unehrenhaft, und so etwas würde ich auch nie tun. Außerdem werden wir dicke Freunde werden, wenn er sich erst erholt hat. Die Hexenfrau hat mir das gesagt.« Die kratzige Stimme kicherte. »Falls ich ihn nicht getötet habe. Sie hat gesagt, dass ich ihn vielleicht umbringen werde. Ich hatte versucht vorsichtig zu sein, aber dann hat er mir wehgetan, und ich habe die Kontrolle über mich verloren. Wie üblich.«

Mortimir überprüfte seinen Körper, als befände er sich bei einem Experiment in der Akademie. Das linke Bein bewegte sich, das linke Knie war voller Schmerz, das rechte Bein bewegte sich, der linke Arm ließ sich drehen, die linke Hand ebenfalls … die rechte Hand und der rechte Arm aber schmerzten wie …

»Heiliger Sankt Eustachios und alle verehrten Heiligen und Märtyrer!«, entfuhr es ihm. Er richtete sich ein wenig auf und stellte fest, dass er auf einem Bett lag – einem ziemlich hohen Bett.

»Heilige Mutter Gottes, er ist wach!« Die Frau gab einen Schrei von sich und sprang vom Boden auf, wo sie nackt gelegen hatte. Sie hatte lange Beine und einen muskulösen Bauch, und er hatte den Eindruck feiner Brüste hoch über einem leicht knochigen Brustkorb, und dann gab es da noch diese wundervollen Hüften. Der Anblick ihres Körpers dämpfte die Schmerzen in der gebrochenen Hand und dem ebenfalls gebrochenen Arm.

Der Riese beugte sich über das Bett. »Du lebst! Bei den Göttern!«

Mortimirs Kopf fühlte sich an, als sei ein Stachel hindurchgetrieben worden. Er legte die linke Hand an die Schläfe und stellte fest, dass der rechte Teil seines Kopfes feucht und klebrig war. »Mein Gott, du hast mir den Schädel gespalten!«

»Ach, ich hatte schon schlimmere Kämpfe mit meinen Brüdern«, sagte der große Mann. »Da ist allerdings eine Menge Blut«, gab er zu.

Mortimir zwang sich, den Kopf wieder auf das Kissen zu legen, und der Schmerz ließ ein klein wenig nach. »Wie lange war ich bewusstlos?«, fragte er und versuchte sich an das zu erinnern, was der Medizin-Magister über Kopfwunden gesagt hatte.

»Etwa einen Tag. Oder, Anna? Wie lange war er ohnmächtig?«, rief der Riese.

Die Frau erwiderte etwas, das unfreundlich klang. Sie schien sich gerade ein Kleid über den Kopf zu ziehen. Bevor ihr Haar darüber zum Vorschein kam, spuckte sie aus: »Vermutlich ist es dir egal, dass ich seit zwei Tagen nichts mehr gegessen habe, du vom Christ verfluchter Barbar! Und nun muss ich meinen nackten Körper von einem anderen Barbaren anstarren lassen. Und ich bin sicher, dass du mich nicht einmal bezahlen kannst. Heilige Mutter Gottes, ich öffne mich für dich und schließe mich für dich, alles ganz umsonst, und warum das überhaupt? Ich habe nicht die leiseste Ahnung, denn schließlich stößt du mich nur ab! Du bist der hässlichste Mann, den ich je gesehen habe, und ich bin eine wahre Perle dieser Stadt – die feinste Hetäre von allen. Das ist so, als ob eine prachtvolle Stute bei einem Eber liegen würde. Oh, wie ich mich selbst hasse! Warum mache ich das bloß? Vielleicht ist es die Strafe für meine vielen Sünden. Gott hat mich verflucht, weil ich mich mit der niedrigsten Lebensform in der Gosse paare. Als Nächstes kommt vielleicht noch ein Leprakranker an die Reihe.«

Derkensun betrachtete sie mit einem kleinen Lächeln auf seinem breiten Gesicht. »Bist du fertig?«, fragte er. »Ich hasse es nämlich, dich zu unterbrechen.«

Sie schlug ihn so heftig, wie es ihr möglich war; sie warf den Arm zurück, und ihre Hand bewegte sich wie der Hebel eines Katapults. Die Ohrfeige hallte durch den Raum, und danach hielt sie sich die Hand fest, als hätte der Riese sie verletzt. Dabei hatte er nichts anderes getan, als nur vollkommen still dazustehen, während sich ein schwaches Lächeln in seinen Mundwinkeln eingenistet hatte. Er beugte sich ein wenig vor, schlang die Arme um sie und küsste sie. »Aber«, sagte er langsam, »ich liebe dich.«

»Ich werde nie wieder herkommen«, sagte sie.

Derkensun lachte laut auf. »Wenn du darauf bestehst«, sagte er.

»Ich hasse dich!«, kreischte sie.

»Natürlich«, meinte der Nordikaner.

Als sie fort war, betrachtete der Riese lange die Tür, dann wandte er sich wieder seinem Patienten zu. »Wein?«, fragte er.

»Nie wieder«, sagte Mortimir. An seiner rechten Hand war etwas seltsam. Flammen schienen daran zu züngeln. Als er aber hinsah, war dort nichts als der Schein der warmen Sonne, die durch das einzige offene Fenster des Raumes – es war noch immer höllisch heiß – auf seine Hand und seinen Arm fiel. Aber es fühlte sich angenehm an, und es war viel besser als der Schmerz. Mortimir legte sich zurück.

Sein Gegner kam und brachte ihm gutes Wasser – mit Kohlensäure. Es stammte aus irgendeiner unterirdischen Quelle. »Trink es, und du wirst dich besser fühlen. Die Hexenfrau sagt das. Hör mal, ich muss wieder Wache stehen. Heute bin ich am Ares-Tor postiert. Heute und noch die ganze Woche. Ich komme aber wieder.«

Morgan nickte. »Ich dachte, ihr Nordikaner bewacht den Kaiser?«, fragte er.

Derkensun zuckte mit den Schultern. »Wenn ich am Tor Wache stehen muss, ist sicher irgendwas im Busch. Schlaf jetzt.«

Mortimir hatte ein höchst seltsames Gefühl in Kopf und Händen. Es war, als würde er fliegen, oder als wäre er plötzlich in der Lage, eine neue Sprache zu lesen. Es war alles …

Doch er schüttelte es ab, winkte dem Nordikaner zu und schlief wieder ein.

2

Liviapolis · Aeskepiles und der Kaiser

Aeskepiles, der Magister des Kaisers, schritt vor ihm durch die Empfangshallen des Palastes; zwei nordikanische Wachen mit Äxten in den Händen begleiteten ihn. Ihre scharlachroten, reich bestickten Mäntel zeigten ihren Rang, und die großen Äxte sowie die schwere, lange Kette verdeutlichten ihre Aufgaben. Der Mann zu seiner Linken hatte eine Narbe, die vom rechten Auge bis zum linken Mundwinkel verlief, sodass er wie ein Höllendämon aussah. Der Mann rechts von ihm hatte Tätowierungen, die von der Stirn bis zum Nacken reichten und unter dem Kragen seines feinen Leinenhemdes verschwanden, das unter dem Kettenhemd undeutlich sichtbar war. Pagen folgten ihnen und trugen Helme sowie schwere Reiterspeere und Gesichtsschutz.

Der Kaiser hingegen steckte nicht in einer Rüstung. Er trug ein purpurnes Samtwams über einer scharlachfarbenen Hose und an den Füßen scharlachfarbene Schuhe, die nur er tragen durfte. Jede Schnalle an Schuhen und Gürtel, jeder Spitzenbesatz, jeder Knopf bestand aus massivem Gold. Doppelköpfige Adler waren mit Goldfäden auf Wams und Schuhe gestickt. Ein Page, einer der Palastdiener, trug die große Robe aus purpurner Seide, die ebenfalls mit Adlern bestickt und mit bräunlich-goldenem Pelz besetzt war.

Hinter dem Kaiser schritten weitere Nordikaner her. Jeder hatte seinen eigenen Pagen, und ihnen folgten weitere Amtsträger. Zwei trugen einen Sattel, einer hatte ein Schwert in der Hand, und zwei Sekretäre folgten dicht hinter dem Kaiser und schrieben seine Bemerkungen über die Staatsangelegenheiten und wirtschaftlichen Belange nieder, die ihm vom Majordomus und dem Kammerherrn aus einem ledergebundenen Buch vorgelesen wurden. Die beiden Männer wechselten sich mit ihren Vorträgen ab. Hinter ihnen befand sich Irene, die Tochter des Kaisers, die zusammen mit dem Logotheten der Trommel ging, einem schmalen Mann mit dem asketischen Aussehen eines Mönchs.

»Punkt dreizehn, Majestät. Zahlungsrückstände bei den Palastbediensteten, insbesondere bei der Leibwache.« Der Majordomus räusperte sich.

Kaiser Andronicus hatte das Blut der Paleologen in seinen Adern. Allgemein galt er als der schönste Mann im Reich und vielleicht sogar der ganzen Welt; seine Haut war dunkel gebräunt, das Haar glatt und blauschwarz, der Blick seiner dunklen Augen unter den gewölbten und ausdrucksstarken Brauen wirkte durchdringend. Außerdem hatte er einen langen, dichten Bart, um den ihn all seine Nordikaner beneideten. Tausend Jahre Fortpflanzung der schönsten Prinzen und Prinzessinnen aus der gesamten bekannten Welt hatten seiner Haut eine vollkommene Tönung und seinem Gesicht Züge von beinahe vollendeter Schönheit verliehen, die für gewöhnlich den idealisierten Unsterblichen vorbehalten war. Er schien wie aus Gold oder Bronze gegossen zu sein.

Seine Schönheit spiegelte sich in seiner Tochter wider, die nun die Hand auf den Arm des Logotheten legte. Der dünne Mann errötete und verneigte sich; dann trat sie neben ihren Vater. Irene ähnelte einer heidnischen Göttin.

»Dann bezahl sie«, sagte sie milde.

Der Majordomus verbeugte sich tief. »Imperator, wir haben kein Geld.«

Der Kaiser nickte.

Seine Tochter hob eine Braue. »Vater, wir müssen welches auftreiben«, sagte sie. »Unbezahlte Soldaten sind der Fluch von Kaisern und ganzen Reichen; sie sind für uns das, was die Fliegen für die Pferde sind.«

Der Magister warf einen raschen Blick auf die beiden Mörder, die den Zug anführten. Die Treue der Garde war legendär. Aber unbezahlte Soldaten waren tatsächlich so unangenehm wie der leibhaftige Teufel.

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