Artifact Space - Miles Cameron - E-Book

Artifact Space E-Book

Miles Cameron

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Beschreibung

Die Galaxis ist besiedelt. Großschiffe bringen Passagiere und Fracht von einem Sternsystem zum anderen, und ihre Handelsrouten sind die Adern der menschlichen Zivilisation. All das wäre jedoch nicht möglich ohne den kostbarsten Rohstoff von allen: Xenoglas. Es ist nur auf City erhältlich, einer riesigen Orbitalstation – und genau dorthin ist Marca Nbaro unterwegs. Dass sie allerdings gar keine Offiziersanwärterin ist, sondern auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit, das darf niemand wissen …

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Das Buch

In der fernen Zukunft hat die Menschheit die Weiten der Galaxis besiedelt. Großschiffe von unvorstellbaren Ausmaßen transportieren Waren und Menschen in einer Menge, die eine ganze Stadt füllen würde. Doch nun werden die Großschiffe angegriffen, von einem unbekannten Gegner, der dort draußen in der ewigen Nacht zwischen den Sternen unbarmherzig zuschlägt und die Lebensadern der interstellaren Gesellschaft anzapft. Alle diese Handelsrouten verlaufen zwischen City, der größten Orbitalstation der Menschheit, und Tradepoint, einer Station am anderen Ende, wo mit einer außerirdischen Spezies um Xenoglas gehandelt wird, dem Rohstoff, auf dem der Fortschritt der Galaxis beruht. Für Marca Nbara war es schon immer ihr Lebenstraum, ihrer tristen Vergangenheit zu entkommen und ins All aufzubrechen. Alles, was sie dafür braucht, ist ein gefälschtes Patent als Fähnrich der Marine und eine Gelegenheit, sich an Bord des Großschiffs »Athen« zu schmuggeln. Doch das ist leichter gesagt als getan – und als sie es endlich schafft, muss Marca feststellen, dass die größten Gefahren noch vor ihr liegen.

Der Autor

Miles Cameron hat mittelalterliche Geschichte studiert und als Soldat selbst an vielen Kriegsschauplätzen gekämpft. Inzwischen widmet er sich jedoch ganz dem Schreiben und dem historischen Schwertkampf. Miles Cameron ist verheiratet und lebt in Kanada.

MILES CAMERON

ARTIFACTSPACE

ROMAN

Aus dem Englischen von Bernhard Kempen

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

ARTIFACTSPACEDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 03/2024

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2022 by Miles Cameron

Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Nutzung eines Designs von Blacksheep-UK.com und einer Illustration von Depositphotos

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-30918-3V001

diezukunft.de

1

»Ihr gutes Recht«, sagte der Pfandleiher, jedoch ohne Verurteilung oder moralischen Vorwurf im Tonfall. Er sagte es einfach nur und rieb sich den Kopf. »Ist das echt?«

Marca Nbaro musste sich zwingen, nicht zu knurren. »Ja.«

»Als könnte ich einem Junkie vertrauen«, sagte der Mann, aber wieder ohne besonderen Tonfall. Er hatte einen schlimmen Cerisus, und sein spärliches Haar war strähnig, die Folge einer gescheiterten Verjüngung.

Nbaro war nicht klar gewesen, dass ihre gestohlene »Sozialhilfe«-Kleidung einen so schlechten Eindruck machte.

Der Mann drückte auf einen Knopf in der kleinen Statuette. Es war ein geflügelter Löwe in Gold und Emaille. Ein holografisches Wappen erschien.

»Nun gut«, sagte er. »Ich denke, ich könnte Ihnen zweitausend leihen. Oder ich könnte es jetzt für drei kaufen, in bar.« Er nickte gelassen, doch zum ersten Mal hatte sich eine Spur von Emotion in seinen Tonfall geschlichen, und dabei handelte es sich um Gier. »Jemand würde hierfür töten.«

Ach wirklich?, dachte Nbaro.

»Nur Leihe. Ich werde wiederkommen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Wie Sie meinen. Es gibt nicht viele Junkies mit patrizischen Patenten, oder?«

Sie hielt ihm ihren Tab hin – ein billiges Ding, aber das beste, das sie sich leisten konnte und das nicht kontrolliert wurde.

»Leihe«, sagte sie.

Er sah sie an. »Mit Netzhautscan. Oder die halbe Summe in bar.«

Ein Netzhautscan würde eine reale Spur hinterlassen. Doch falls man sie bis in dieses Pfandleihgeschäft zurückverfolgen konnte, war Nbaro sowieso erledigt.

»Netzhautscan«, sagte sie.

Der Hacker war der Nächste. Eine ehemalige Klassenkameradin …

Sarah kam ihr in den Sinn, und Nbaro musste schlucken.

Eine ehemalige Klassenkameradin hatte den Hacker für sie ausfindig gemacht. Eine ehemalige Klassenkameradin, die an ein Bordell verkauft worden war und nicht daran zerbrochen war. Noch nicht.

Nbaro lief zügig zwischen den gotischen Säulen des restaurierten Palazzo unter der Xenoglaskuppel hindurch. Es war der allerschönste Ort der Welt, zumindest ihrer Welt, und das war City, das größte Orbital in der Menschheitssphäre. Sie war hier völlig fehl am Platz in ihrer schlampigen Recyclingkleidung, die Art von Kleidung, die von den Fürsorgezentren ausgegeben wurde, durch die Sozialhilfe für Nichtbürger, Obdachlose und Bettler, die von allen als SNOB bezeichnet wurde. Sie lief schnell und zielstrebig, weil das ihr einziger Schutz war.

Wenn ich schon eine Bettlerin bin, dann will ich wenigstens wie eine geschäftige Bettlerin aussehen.

Nbaro ging unter einer Leuchte mit eingebetteten PTZ-Kameras und Audiolink hindurch. Sie zog sich die Kapuze ihrer Recyclingjacke über den Kopf und fragte sich, ob alle Bettler, die sie jemals gesehen hatte, vor irgendwem auf der Flucht waren.

Falls der Dominus bereits nach mir sucht, werde ich auf sämtlichen Kameras von City auftauchen.

Sie hätte genauso gut ihre Uniform tragen können. Sie befand sich in der Einwegtasche für einen Raumfahrerhelm, die sie dabeihatte. Ihre Waisenhaus-Uniform. Eigentlich war es die »Akademie der Klinik für staatliche Waisen«, aber jeder sprach nur vom »Waisenhaus«. Angeblich sollte die Einrichtung Kindern, die durch den Dienst ihrer Eltern im DMK verwaist waren, einen Schulabschluss verschaffen.

In Wirklichkeit war es die Hölle.

Vielleicht bin ich ein Dummkopf, dachte Nbaro.

Aber im Weiß ihrer Waisenhaus-Uniform wäre sie noch viel auffälliger.

Ein Sicherheitsbeamter warf ihr einen Blick zu und drehte sich dann herum, damit er sie besser betrachten konnte. Er trug einen dunkelblauen Raumfahreranzug, ähnlich wie die des Raumdienstes, und ein Abzeichen in Form eines geflügelten Löwen.

Er hob lässig eine Hand und kam auf sie zu, worauf sie stehen blieb.

Er lächelte. »Betteln ist hier nicht erlaubt, ja?« Seine Stimme war angenehm und tief.

Nbaro nickte.

»Soll ich Sie irgendwohin begleiten?«, fragte er.

Sie ließ sich nicht von seinem Anschein der Freundlichkeit täuschen. Sie zog den Kopf ein, schüttelte ihn und entfernte sich. Sie blickte nicht zurück, und er folgte ihr nicht.

Und dort am Ende der Piazza war ihr Mann. Er war klein und wirkte irgendwie zu alt und zu … dumm … um ein berüchtigter krimineller Hacker sein zu können. Aber er saß am richtigen Tisch, und neben seinem Kaffee lag eine altkatholische Bibel.

Er schaute auf, als Nbaro sich setzte.

»Scheiße, Mädchen, du bist so auffällig wie ein verdammter Starliner in einem militärischen Raumdock.« Er blickte sich um. »Ich sollte einfach gehen.«

»Ich habe das Geld.«

Er hob seinen Tab.

Nbaro aktivierte ihren, und das Geld wurde überwiesen. Einfach so – zweitausend Dukaten. Ihr Tab piepte.

Er stand auf. »Ich habe es in der Orbitalniederlassung gemacht«, sagte er zu ihr. »Dieses Schiff hat eine verdammte KI. Ein kleiner Rat? Leg dich nicht mit KIs an, Schwester. Eine Schiffs-KI wird ihre Leute wie eine Mutter mit einem verlorenen Kind beschützen. Wenn sie dich in die Mangel nimmt, bist du praktisch tot. Also habe ich das Schiff nicht angerührt. Katalavenis?«, fragte er auf Griechisch. »Verstanden?«

»Ich habe verstanden.« Noch etwas, wovor ich mich in Acht nehmen sollte.

»Gut. Hiermit tue ich deiner Freundin einen Gefallen. Die Sache ist erledigt. Ciao.«

Von wegen Gefallen! Ich habe dich dafür bezahlt.

Orbitalniederlassung?

Das machte ihr Sorgen. Der Raumdienst hatte ein riesiges Hauptquartier, ein eigenes kleines Orbital, nahe den Schiffswerften von New London. Wie …?

Er drehte sich um und verschwand in der großen Menschenmenge.

In glücklicheren Zeiten hatten Nbaro und Sarah hier in ihren Uniformen gesessen und die Leute beobachtet. Patrizier, Raumfahrer, Soldaten. Alle möglichen Leute, die einkauften und plauderten und flirteten …

Bevor der Dominus Sarah an ein Bordell verkauft hatte.

Bevor …

Scheiße.

Nbaro sah die zwei Männer aus dem Netzwerk der Lifte und Gassen hinter der Fassade des alten Venedig auf der anderen Seite des Platzes kommen. Sie kannte beide. Sie gehörten zur »Sicherheit« des Waisenhauses, Schläger, die durch die Korridore streiften und machten, wonach ihnen der Sinn stand.

War es ein dummer Zufall? Oder waren sie ihr seit dem Pfandhaus gefolgt?

Nbaro ließ ihren Tab zu Boden fallen und bückte sich, um ihn aufzuheben. Doch statt wieder aufzustehen, kroch sie zwischen den Tischen auf die Säulenhalle zu. Eine Touristin bemerkte sie und griff nach ihrem modischen kleinen Rucksack, aus Angst, dass die Bettlerin ihn mitnahm. Ein anderer, ein Gyne aus den Stationen, legte siese Hand auf siesen Tab.

Nbaro kroch einfach weiter.

Ich bin so verdammt nahe.

Wenn der Hacker seinen Job gemacht hatte …

Es war völlig verrückt. Das Risiko war irrsinnig, aber …

Niemand wird es mir wegnehmen. Ich werde bis zum Tod darum kämpfen.

Nbaro musste bis zum Hauptzylinder von Old City gelangen, bis zum weltraumseitigen Ende. Das war noch eine lange Liftfahrt entfernt. So hatte sie es geplant. Und in der Kabine konnte sie sich umziehen.

Aber nun standen diese zwei Drecksäcke zwischen ihr und den Liften.

Die Kuppel, in der sich die Piazza San Marco sowie die meisten der ursprünglichen Gebäude befanden, die den Platz umgaben, befand sich in einer eigenen Xenoglasblase an der Außenwand des Zylinders, der Old City war. Dort war die Rotationsschwerkraft am höchsten gewesen, in den alten Tagen, bevor man künstliche Gravitation in größerem Ausmaß genutzt hatte. Jeder Lift und jede Bahn von den zwei Docks an den Enden des Zylinders führten nach San Marco, weil dort alle Raumfahrer und Touristen sein wollten. Underside mit den schäbigen Bars, Bordellen und sonstigem Nachtleben lag fast genau unter ihren Füßen und war bereit, sie auf unterschiedlichste Weise um ihre digitalen Dukaten zu erleichtern.

Nbaro erreichte die Arkaden und erhob sich hinter einer Säule. Keine Sicherheit, keine Schläger. Ein paar neugierige Touristen. Und natürlich die Kameras.

Sie lief durch die Säulenhalle, den Kopf eingezogen, und bemühte sich, in der Menge unterzutauchen. Sie warf einen Seitenblick zu den zwei Waisenhaus-Offizieren und ging weiter.

Die beiden schauten sich auf der Piazza um. Das bedeutete … dass sie Nbaro nicht auf dem Schirm hatten und sie auch nicht aus der Ferne oder über die Kameras beobachteten.

Immer noch im Spiel.

Nbaro änderte ihren Plan. Sie konnte den ganzen Weg durch den Säulengang bis zum anderen Ende zurücklegen und dann einen Touristenlift nach Underside nehmen. Dort konnte sie in einen Lift zum Dock steigen und sie einfach …

Scheiße.

Beide sahen sie fast gleichzeitig, und beide lächelten.

Nbaro wusste, was dieses Lächeln bedeutete.

So will ich auf gar keinen Fall sterben.

Sie gab jede Vorsicht auf und rannte los.

Sie rannte an den Ladengeschäften und Kaffeehäusern der Arkaden vorbei auf die alte Kathedrale zu, deren eigenartige Kuppeln sich im Flutlicht als Silhouetten vor der Dunkelheit des Alls abzeichneten. Der Planet darunter kam gerade in Sicht. Sein reflektiertes Sonnenlicht war fast zu grell nach all der künstlichen Beleuchtung. Der Platz rechts von ihr war voller Menschen, und nun rannte sie von den Liften weg.

Marca Nbaro war langbeinig und schnell, und keiner der Rüpel von Dominus hatte eine ausgesprochene Begabung zum Laufen. Doch nach drei Schritten sah sie, wie einer auf seinen Tab schaute, und ihr wurde klar, dass ihr nur noch wenige Optionen blieben.

Ich muss es in Richtung Dock versuchen, dachte sie. Jetzt oder nie. In Undersidekönnen sie fünfzig Freunde auf mich hetzen.

Nbaro brachte eine Säule zwischen sich und ihre Verfolger und bog in einen Wartungskorridor ab, der mit »Notfallpersonal« beschriftet war. Sie trat durch die Tür und hatte bereits das Gefühl, die falsche Entscheidung getroffen zu haben, denn die Tür brauchte viel zu lange, um sich zu schließen. Außerdem ging sie ein absurdes Risiko ein, wenn sie glaubte, dass es hinter den Fassaden der Geschäfte Wartungskorridore gab.

Ich bin eine Idiotin.

Nbaro rannte. Sie war nun hinter der Reihe der Läden für die Raumfahrer und Touristen auf dem Platz. Köpfe drehten sich herum, aber sie lief weiter, bis sie eine Gangkreuzung erreichte. Dort bog sie erneut ab, ließ sich von ihrem intuitiven Verständnis leiten, wie die Station aufgebaut war, dass es hier irgendeinen Zugang zu den Lücken zwischen den Abteilungen geben musste …

Eine Leiter und ein Lift nach unten. Eine Frau, die aus dem Lift kam.

Nbaro stürmte an ihr vorbei, drückte auf den Knopf, und die Gittertüren schlossen sich zischend. Sie hörte stampfende Schritte, und Bruks, der Schrecken der Korridore damals im Waisenhaus, kam um die letzte Ecke.

»Nbaro, halt! Wir können darüber reden.« Er hielt einen Tab in einer Hand … und eine kleine subletale Waffe in der anderen.

»Darüber reden« bedeutete, dass er ihr die Scheiße aus dem Leib prügeln würde oder er und sein Partner sie vergewaltigen würden. Wahrscheinlich beides. Nbaro wusste, wie so etwas lief.

Die große Frau runzelte die Stirn und drückte den Überbrückungsknopf. Der Lift versank im Boden.

Ohne ersichtlichen Grund hatte die Frau neben dem Lift ihr soeben das Leben gerettet.

Während Nbaro sich entfernte, hörte sie die Frau fragen: »Kannst du dich irgendwie ausweisen, Kumpel?«

Der Lift hatte nur zwei Haltepunkte – oben und unten –, und nun versank er im Hauptzylinder von Old City. Für einen Moment glitt sie durch die frühere Panzerung – massive Platten aus Zeronit und Stahl. Dann erstrahlte die Kabine in hellem Licht und stoppte, und die Tür ging auf.

Ein Frachtlift. Von einem internen Verladedock zu einem der großartigen Vakuumkanäle von City. Nbaro trat durch die Tür, und jemand rief etwas im Dock, aber sie ging einfach weiter, hinaus durch die offene Luke und …

»Verdammt!«, entfuhr es ihr.

Nbaro befand sich sehr weit oben im Zylinder, und von hier aus gesehen lag der »Himmel« in der künstlichen Schwerkraft nun unter ihr. Was bedeutete, dass ihr Verladedock auf dem Kopf stand, zehntausend Meter unter ihr.

Ein kleines Raumboot mit einem simplen Hydrofusionstriebwerk hatte an die Luftschleuse angedockt und wurde nun entladen – Kisten aus Rezyklat mit Waren für die Läden. Nbaro war in Versuchung, das Boot zu stehlen. Vermutlich würde sie es sogar schaffen.

Aber in dieser Richtung lauerte der Wahnsinn. Die KI, die den Kanal überwachte, könnte sie innerhalb von Sekunden abschalten.

Das ist völlig verrückt.

Statt das Boot zu stehlen, überquerte Nbaro die Luftschleusenbrücke und trat auf eine Straße von Underside. Als sie die Luke hinter sich schloss, verschwand das künstliche Sonnenlicht des Hauptzylinders und wurde durch strahlende LED-Beleuchtung ersetzt. In der Luft mischten sich die Gerüche nach Urin und Essen.

Zurück in Underside. Der letzte Ort, an dem sie sein wollte.

Nbaro blinzelte. Trotz allem knurrte ihr Magen. Aber es kam nicht infrage, jetzt innezuhalten.

Sie überquerte zwei Passagen ohne Zwischenfall, und sie war nur noch einen kurzen Gang vom Platz von Underside entfernt, als der Schlag sie seitlich gegen den Kopf traf.

Es war ein starker Hieb. Schmerz flammte auf, zusammen mit Wut, und Nbaro rollte sich ab, wie man es ihr beigebracht hatte, obwohl eine harte Hand ihren Kragen packte.

Sie erschlaffte. Sie war bestenfalls halb bewusstlos, und es fiel ihr nicht schwer, ein wenig zu übertreiben. Sie wusste, dass man sie lebend wollte. Er würde sie lebend wollen.

»Ich habe sie«, sagte der Mann in seinen Tab.

Nbaro rammte ihre Klinge in seine Leistenbeuge und riss sie hoch, außerhalb seines Brustpanzers. Sie zerschnitt die Arterie, wo sie vom Rumpf ins Bein überging. Das Blut schien über ihre ausgestreckte Hand zu explodieren, dann starb der Mann an ihrer Seite. Nbaro sog seinen letzten Atemhauch ein, während sie sich nahe wie ein Liebespaar waren.

Karlo. Das war jetzt …

Keine Köpfe drehten sich herum.

… befriedigend …

Nbaro rollte ihn von sich herunter. Sie war mit seinem Blut besudelt. Es klebte überall an ihr, an ihren Händen.

Ich habe ihn getötet.

Ich habe ihn getötet …

Keine Zeit für diese Scheiße.

Nbaro befand sich hinter einem Restaurant oder einer Taverne in einem Gang, den sie schon früher als Abkürzung zum Platz davor genommen hatte, und die herumliegenden Kondome und sonstigen Spielzeuge deuteten darauf hin, dass andere Leute ihn für unterschiedlichste Zwecke benutzt hatten. Aber die Taverne hatte eine Küche, deren Tür offen stand, damit der Koch etwas rauchen konnte.

Zufällig trat er in diesem Moment nach draußen. Er schaute in ihre Richtung … dann kehrte er ihr absichtlich den Rücken zu und entzündete irgendetwas.

Nbaro war in Versuchung, sich zu bekreuzigen. Stattdessen schlüpfte sie an ihm vorbei und hinein, durch die Küche in den Waschraum. Er war winzig und dreckig, und sie hatte keine Zeit, gründlich zu sein.

Im kleinen Waschraum gab es keine Kamera. Das überprüfte sie, bevor sie sich entkleidete und den blauen Anzug des rangniedrigsten Offiziers des Raumdienstes anlegte. Ein Fähnrich. Sie wusch sich das Gesicht, so gut sie konnte, versuchte es mit einem Recyclinghandtuch abzutrocknen, das nicht dazu geeignet war, Wasser aufzunehmen. Sie steckte die Füße in vorschriftsmäßige Stiefel, die sie auf dem Schwarzmarkt gekauft hatte. Sie waren zu groß.

Dann blickte sie in den Spiegel der Kabine. Sie hatte noch etwas Blut unter dem Mund und drei Flecken wie Kastenzeichen auf der Stirn. Also säuberte sie sich noch einmal.

Keine Zeit. Keine Zeit. Sobald sie die Leiche finden …

Sie hatte auch Blut unter den Fingernägeln.

Nbaro zog die Waisenhaus-Handschuhe an, die genauso weiß wie ihr Anzug waren.

»Fähnrich Marca Nbaro«, sagte sie zur Frau im Spiegel, »meldet sich an Bord.«

Sie klang gut. Sie war von sich selbst überrascht. Erst vor neunzig Sekunden hatte sie einem Mann, den sie hasste, das Leben entrissen.

»Meldet sich an Bord«, wiederholte sie.

Nbaro ging durch die Vorderfront des Restaurants hinaus, und ihr Dienstblau fühlte sich plötzlich wie eine Rüstung an. Die Sicherheit schaute sie nicht einmal an. Raumfahrer lächelten oder runzelten die Stirn, doch sie gingen ihr aus dem Weg.

Sie lief zwei schäbige Blocks weiter bis zum Platz von Underside, schob sich durch die Menge und bestieg einen Lift.

Das hätte ich von Anfang an tragen sollen.

Ich habe mir zu viele Gedanken gemacht. Wie üblich, verdammt!

Zehn Minuten später hatte sie den Rest ihres Gepäcks aus einem Schließfach in Spaceside geholt – einen Seesack und eine nicht standardgemäße längliche Reisetasche –, und dann, ohne dass sie darüber nachdenken wollte, war sie in Dockside. Sie salutierte dem Wachposten der Orbitalpatrouille und wurde ohne Ausweiskontrolle durchgelassen. Der diensthabende Soldat grüßte nur zurück.

Irgendwie versetzte ihr das einen Stich.

All ihre Taschen mussten durch Schnüffler und Scanner weitergeleitet werden, und die Matrosin am Sicherheitscheck grinste.

»Nette Schwerter, Miz«, sagte sie.

Nbaro versuchte zurückzulächeln, aber ihre Furcht war zu stark. Sie hörte, wie sich die Lifttüren hinter ihr öffneten, und sie zwang sich dazu, ihre Taschen entgegenzunehmen und der Matrosin zuzunicken. Dann ging sie in fast Nullschwerkraft zum nächsten Schlauch, eine lange Nabelschnur aus verstärktem Kunststoff, die durch den riesigen offenen Raum der Docks bis zum mattschwarzen Rumpf des Schiffs verlief, das an hundert solcher Verbindungen über ihr hing.

»Der Offiziersschlauch, Miz«, sagte der Matrose am Sicherheitssensor. »Der da ist für die unteren Dienstränge.«

Nbaro konnte das Großschiff kaum erkennen. Die dicke Nabelschnur war nicht für Touristen konstruiert worden. Und sie erlebte einen Moment der Panik, weil dieser Teil in keiner Simulation vorgekommen war und sie nicht wusste, welchen Schlauch sie nehmen sollte.

Ein anderer Raumfahrer im hellgelben Gurtzeug für Frachtbeförderung hob eine Augenbraue. »Ihr erstes Mal, Miz?«, fragte er. »Der da.«

Nbaro bedachte ihn mit einem dankbaren, geistesabwesenden Nicken.

Verdammt!

Sie konnte es sich nicht verkneifen, zu den Liften zurückzuschauen.

Niemand, den sie kannte. Aber drei Männer, kräftig gebaut …

Geh weiter!

Nbaro erreichte den Zugangstunnel, der ewig lang zu sein schien, wie er in der sehr geringen Schwerkraft über ihr aufragte. Sie hangelte sich hinauf, hielt sich immer mit einer Hand fest, wie man es ihr unerbittlich beigebracht hatte. Ihr Seesack hüpfte mit ihr, wurde beschleunigt, wenn sie sich zu schnell bewegte, und zerrte dann an der kurzen Leine, mit der er an ihr hing wie ein treues Haustier in einer Holoaufführung. Ihre Schwerttasche sah aus, als könnte sie ein Musikinstrument enthalten – an einem Ende breit wie der Schalltrichter einer Trompete, am anderen spitz zulaufend, schmal genug für den Hals einer Gitarre.

Es war erstaunlich kalt im Kunststofftunnel. Die Simulationen schienen niemals der Realität gerecht zu werden. In den Sims …

Meine Sim-Erfahrungen werden irgendwann mein Tod sein.

Nbaro hatte alles viel … sauberer erlebt. Ordentlicher. Und wärmer, gelinde gesagt.

Zumindest gab es hier Luft. Sehr kalte Luft.

Sie blickte in den Tunnel hinunter zu Dockside. Halb erwartete sie eine Verfolgung oder Verhaftung oder eine Durchsage …

Vielleicht hat nur dieses eine Mal etwas tatsächlich geklappt.

Nbaro lächelte nervös und zog sich weiter voran. Sie war allein im Schlauch, es war ein Routinetag am Dock, und das riesige Frachtschiff wurde nicht einmal für den nächsten Flug beladen. Die meisten Besatzungsmitglieder waren bestimmt noch in der Stadt bei ihren Familien.

So hatte sie es zeitlich geplant. Mehr oder weniger.

Die Rotation von City wirkte sich auf alle habitablen Abschnitte aus, doch die Großschiffe waren an den nicht rotierenden Enden angedockt. Nbaro war damit aufgewachsen, sie vom Waisenhaus aus zu beobachten. Sie waren so riesig, dass sie von fast überall zu sehen waren, wie sie mehrere Kilometer weit über die Docks und den Zylinder hinausragten. Und sie waren markant. Großschiffe hatten die Form von Schwertklingen, nadelspitz am Bug, wo sich ihre Railgun-Röhren öffneten, während das breite Heck die schweren Triebwerke trug. Streng genommen waren sie nicht aerodynamisch, aber sie waren gebaut worden, um enorme Geschwindigkeiten auszuhalten – bis zu 0,3 c –, bei denen interstellare Partikel und atomarer Wasserstoff beiseitegewischt werden mussten. Sie waren so groß, dass sich bei Unterlichtgeschwindigkeit der Widerstand des Mediums bemerkbar machte, weshalb sie entsprechend geformt waren. City hatte vielleicht Hunderte oder sogar Tausende von Schiffen in ihren kommerziellen und militärischen Flotten, aber es gab nur neun Großschiffe, und Nbaro kannte sie alle: die Dubai und die Athen, die New York und die Venedig, die Hongkong und die Tokyo, die London, die Samarkand und die Tyros.

Und nun würde Marca Nbaro auf einem davon dienen.

Hochstaplerin.

Sie schaute sich erneut um. Sie würde es schaffen.

Vielleicht.

Endlich hatte Nbaro das Ende der Leine erreicht und stellte die Füße auf die kleine Plattform. Obwohl der lange Tunnel aus Plastahl mit Atmosphäre gefüllt war, gab es eine Luftschleuse. Selbstverständlich. Sie kam sich dumm vor, weil sie sich keine Luftschleuse vorgestellt hatte. Aber es gab keine Sim für »an Bord gehen«. Nun musste sie improvisieren. Ihr einziger Flug auf einem Kriegsschiff des Raumdienstes war völlig anders abgelaufen, und sie hatte es bestiegen, während es fest an die Station angedockt war.

Sie legte eine Hand auf die gelbe Tafel neben der Schleuse. Sie war kalt, selbst durch die Handschuhe ihrer Uniform, doch der Chip in ihrer Handfläche wurde von der Vorrichtung ausgelesen, und die Luftschleuse öffnete sich zischend. Ihr großer Seesack trieb durch irgendeine Bewegung ihrer Schultern nach vorn, dann stürzte sie mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden der Schleusenkammer.

Künstliche Schwerkraft. Die Begrenzung fühlte sich eigenartig an, als sie die Schwelle zwischen Schlauch und Kammer überschritt.

Und dann befand sich Marca Nbaro an Bord der Athen.

Sie konnte das Grinsen nicht von ihrem Gesicht fernhalten, trotz des Konflikts zwischen Begeisterung und Besorgnis. Die Schleuse schloss sich hinter ihr, und sie blickte zu einer wunderschönen Anzeige auf, ein barockes Instrument aus Messing oder Bronze, das handgemacht aussah und mit einem Bildschirm aus geschliffenem Kristall ausgestattet war. Das Instrument und die innere Luke strahlten hohes Alter und Kunstfertigkeit aus. Und sorgfältige Instandhaltung.

Ich bin da.

Die Anzeige wechselte von Rot zu Gelb zu Grün, und als Nbaro daraufhin den Handschuh auf die innere Tafel legte, wurde sie mit einem tiefen musikalischen Klang wie von einer Glocke belohnt.

Die Innenluke, die auf jeder Messingfläche mit einem Laubwerkmuster graviert war, als wäre es etwas aus einem Museum, öffnete sich wie eine Irisblende. Die Lamellen glitten fast gleichzeitig aneinander vorbei. Das alles raubte Nbaro den Atem und das wenige, was noch von ihrer Fassung übrig war, sodass sie schließlich wie eine erschrockene Ratte durch die Innenschleuse trat und ungeschickt ihren Seesack hinter sich herschleppte.

Die Ausbildung und ständige Wiederholung retteten sie. Automatisch wandte sie sich dem Heck zu und salutierte forsch, obwohl sie nichts sehen konnte außer dem Banner des DMK, das im Vakuum des Alls schwebte. Sie wusste, dass dieser Salut eine Zeremonie war, die viel älter als die Weltraumepoche war.

Nbaro kostete es aus, nur ein wenig.

Ich schaffe das.

Nach dem Salut drehte sie sich zum Offizier auf dem Deck herum, der entspannt in einer Borduniform dastand, in einem mitternachtsblauen Anzug wie ihrem, abgesehen von zwei dünnen goldenen Streifen an beiden Manschetten.

»Fähnrich …« Nbaros Stimme klang wie eine Feder, die über Papier kratzte. Sie räusperte sich. »Fähnrich Marca Nbaro meldet sich an Bord«, sagte sie.

Es geht los.

Die Mundwinkel des Offiziers zuckten. Es war nicht ganz ein Lächeln, aber durchaus freundlich, auf militärische Weise.

»Willkommen an Bord, Miz Nbaro«, sagte er. »Sie sind recht früh dran.«

Er war ein Oberleutnant und stand damit weit genug über ihr, dass sie vorsichtig sein musste.

»Ja, Sir«, sagte sie.

Nbaro hätte gern gesagt: Sir, ich habe noch einmal über alles nachgedacht, und ich war nicht immer gut zu anderen Menschen, und viel von dem, was Sie lesen werden, ist gelogen, und ich werde vielleicht verfolgt, also dachte ich mir, dass ich ganz allein an Bord komme, und Sie wissen ja, im Waisenhaus ist es furchtbar, und habe mein ganzes Leben lang darauf gewartet, hier sein zu können …

Weil sie abgelenkt war, entging ihr, was er sagte. Ihre braune Haut rötete sich.

Ich bin eine Idiotin. Das wird niemals klappen. Das ist Wahnsinn.

Der Leutnant lächelte. »Er wird jeden Augenblick hier sein. Zum ersten Mal an Bord der Athen?«, fragte er, als wäre sie eine vollwertige Person.

»Ja, Sir«, sagte sie.

Er wird mich durchschauen.

»Den Tab, bitte«, sagte er.

Nbaro kämpfte ihren Schrecken nieder.

Was könnten sie mir antun, wenn sie mich erwischen? Mich rauswerfen? Zur Hölle mit ihnen allen, wenn sie es versuchen!

Sie zog ihren Uniformhandschuh aus und sah, dass sie immer noch Blut unter den Nägeln hatte, aber nun war es zu spät. Sie griff in eine Anzugtasche und holte ihren Tab hervor – das kleinste und billigste Modell, das vom Raumdienst autorisiert war: keine KI, kaum imstande, alle notwendigen Systeme zu lesen. Erheblich kostspieliger, als sie sich leisten konnte. Und er enthielt die große Lüge. Die Lüge des Hackers.

Armut, beim Pfandleiher registriert, auf dem Tab ein Kontostand von minus sechs Dukaten. Und eine Liste von Vorstrafen.

Warum?

Ach ja: keine andere Wahl.

Nbaro wartete auf irgendein kleines Problem mit ihrem billigen Tab oder den Moment, in dem seine scharfen Augen das getrocknete Blut bemerkten, aber er nahm den Tab entgegen und sah ihn sich an.

»Die Codes, bitte«, sagte er.

Genauso wie im Waisenhaus. Nicht dass sie als Waise jemals ein solches Gerät besessen hätte. Aber ein paar andere hatten eins gehabt.

Jene, die kooperierten.

Nbaro tippte den Code ein.

Er hielt den Bildschirm vor eine Art Lesegerät. Er verzog das Gesicht.

Sie konnte ihren eigenen Schweiß riechen.

»Sie sind nicht im System«, stellte er fest. »Die KI sagt …« Er hob eine Augenbraue. »Aha.«

Nbaro konnte nicht mehr atmen.

Ach du Scheiße!

»Aha, ich verstehe. Morosini hat gerade ein Update von der Orbitalniederlassung bekommen, und da hätten wir Sie.«

Er zuckte mit den Schultern, als würde so etwas jeden Tag passieren, und gab ihr den Tab zurück.

»Jetzt sind Sie im System. Ihr Tab hat jetzt Ihre Codes, die Lage Ihrer Kabine, Ihres Arbeitsplatzes, Ihrer Kampfstation und eine Menge Arbeitsanweisungen, die ich Ihnen zu lesen empfehle, sobald Sie die Gelegenheit dazu finden.«

Nbaro nickte. Fassungslos.

»Ja, Sir.«

Das war alles? Es hat geklappt? Irgendein drittklassiger Hacker in Castello hat es hingekriegt?

»Wir haben Ihren Netzhautscan, die Fingerabdrücke und den Handabdruck heruntergeladen. Jede Tür, die sich für Sie öffnen soll, wird es tun. Wenn nicht, dann soll sie es auch nicht. Sie würden zweifellos allein den Weg zu Ihrer Kabine auf O-3 finden, aber ich besorge Ihnen einen Führer. Die Athen ist ein wunderbares Schiff, aber nach mehreren Jahrhunderten ist sie zu einem Labyrinth geworden.«

Nachdem ihr Gehirn nun wieder funktionierte, nahm Nbaro das ordentliche Achterdeck in sich auf: die großartige Bronzestatue von Athene, einer antiken terranischen Göttin, den dunkelblauen Samt, der die schützende Mattierung auf jeder Wand und in jedem Korridor jedes City-Schiffs überzog, die glänzenden Bronze-Einfassungen, die stellenweise kunstvoll mit Akanthusblättern verziert waren, die Ölgemälde von früheren Meistern der Athen, insgesamt mehr als zwanzig. Während ihrer Eignungsprüfungen hatte sie sich irgendwann all ihre Namen eingeprägt, aber jetzt waren sie vergessen, gelernt und weggeworfen wie eine Menge Himmelsnavigation und ein großer Haufen Mathematik.

Alles war alt. Und unfassbar.

Ich bin hier.

Der Deckoffizier grinste breit. »Wir freuen uns sehr, dass Ihnen unser Schiff gefällt«, sagte er.

»Es ist unglaublich«, sagte Nbaro. »Sir.«

»Sie haben ja keine Ahnung«, sagte er. »Es ist wirklich unglaublich. Ich bin seit vier Jahren an Bord, und ich glaube nicht, dass ich schon alles davon gesehen habe.«

Sie schaute sich die Gemälde an. Eines von Elena Svaro war ziemlich alt, in einem impressionistischen Stil, den heute niemand mehr benutzen würde, und sie war in einer aktivierten Kampfrüstung gemalt worden, mit offenem Visier und der Wölbung ihres gepanzerten Lufttanks, der sich wie ein Flügel über ihre linke Schulter erhob. Nbaro glaubte, dass Svaro der zweite Kapitän gewesen war, jedenfalls waren die Svaros einer der mächtigsten Patrizierclans. Und schon sehr alt. Gepanzerte Rüstungen waren abgeschafft worden, als EMP-Strahlen eingeführt wurden.

»Meine Vorfahrin.« Der Offizier reichte ihr die Hand. »Ich bin Anthony.«

Nbaro zuckte zusammen, doch dann schüttelte sie seine Hand.

»Anthony Svaro«, fügte er hinzu. »Außer Dienst dürfen Sie mich Anthony nennen.«

Sie nickte überwältigt. »Sir.«

Sie betrachtete den sechsten Kapitän.

Ricardo Nbaro. Mein Vorfahr.

Sein blauschwarzes afrikanisches Gesicht vermittelte eine offene Freundlichkeit, selbst über die Jahrhunderte hinweg, und den Vorwurf, dass sie zu verschlossen, zu wortkarg war.

Ich bekenne mich schuldig, Vorfahr, aber ich bin auch hier, um etwas zu verändern. Ich kann das schaffen. Lass es mich versuchen.

Ein Glockenton kam von der Luke zur hinteren Sektion, die Kristallanzeige blinkte, dann trat ein kleiner Mann in engem Overall hindurch. Seine hochgerollten Ärmel offenbarten komplexe Tattoos, von denen sich einige bewegten, und alle betonten die Muskeln, die ein beständiges Training in hoher Schwerkraft verrieten.

»Bootsmann Locran, wären Sie so nett und bringen Sie Fähnrich …?«

»Nbaro, Sir«, sagte sie.

Er behandelte sie tatsächlich wie einen Menschen. Nbaro war so etwas nicht gewohnt, und es machte sie misstrauisch. Was wollte er?

»Genau … Fähnrich Nbaro zu ihrer Kabine, bitte.« Er hielt inne.

Jetzt kommt’s.

»Wo ist der Rest Ihrer Ausrüstung, Miz Nbaro?«

Ich habe keine Ausrüstung. Ich habe sechzehn Strafpunkte, und ich bin nicht einmal mehr ein Kadett. Wenn sie mich schnappen, werden sie mich nicht disziplinieren, sondern verkaufen. Oder töten.

Hör auf damit.

»Ich bringe sie an Bord, sobald ich mich eingelebt habe«, sagte sie. »Sir.«

Der Deckoffizier nickte. »Gehen Sie, Miz Nbaro.«

Der Bootsmann lächelte freundlich. »Folgen Sie mir, Miz Nbaro.«

Sie hob ihren Seesack auf, der sich in künstlicher Gravitation viel schwerer bewegen ließ. Gewicht und Masse waren keineswegs dasselbe. Sie legte ihn sich auf die Schulter neben ihre andere Tasche, die sie sich auf den Rücken geschnallt hatte. Natürlich verhakte er sich in der Luke.

»Ich kann Ihnen eine abnehmen, Miz«, bot Locran ihr an.

Nbaro beugte sich weit genug vor, um das schmale Ende der Tasche durch die Luke zu bugsieren, und schaffte es auch, ihre Beine über die Stolperhürde zu heben. Jede Sektion war luftdicht abgeriegelt, und die Wand rund um die Luke ragte zwanzig Zentimeter hoch über dem Boden auf. Dann hörte sie, wie sich die Irisschleuse hinter ihr schloss, und das Licht, das sich darauf spiegelte, warf einen strahlenden Regen aus Farben auf die Wände, die ebenfalls reichhaltig verziert waren.

»Ich habe sie«, beteuerte sie.

Locran sagte nichts. Er führte sie lediglich durch mehrere Gänge. Die Fliesen und der Teppichboden unter ihren Füßen änderte sich, und die Riemen und die Handhabung ihres Gepäcks hinderten sie daran, mehr zu sehen. Also beobachtete sie, wie die grünen und weißen Parkettfliesen von schwarzen und weißen und schließlich von dunkelblauen und goldenen abgelöst wurden.

Locran wartete in der Luke, die aufgeklemmt war, ein alter Seefahrerbegriff, der bedeutete, dass die Iris offen arretiert war. Nur die Messerschneiden des Xenoglases schimmerten im goldenen Licht der Deckenlampen.

»Blaukachel«, sagte er leise mit einer Betonung, die nach Ehrfurcht klang.

Marca Nbaro hatte jede Prüfung bestanden, die man ihr vorlegen konnte, jede Simulation mitgemacht, die verfügbar war, aber sie wusste nicht, was »Blaukachel« bedeutete, davon abgesehen, dass es die bislang luxuriöseste Kombination war. Selbst die Röhren, die durch diesen Korridor verliefen, waren auf Hochglanz poliert, alte Legierungen aus Kupfer und Messing aus der Zeit vor den Xenoglasleitungen, die an der Decke glommen. Szenen aus der altterranischen Mythologie waren an die Wände gemalt worden, und ihr blumiger Stil vertrug sich einigermaßen mit dem makellosen Metall. Genau vor ihr ragte ein Feuerschlauchzugang, der wie ein Bierzapfhahn in einer sehr kostspieligen Taverne poliert war, aus den Lenden eines Satyrn hervor, und sie grinste über den visuellen Scherz.

Nbaro überlegte, ob sie nachfragen sollte, doch Locran eilte bereits weiter. Der opulente Korridor war nicht allzu weit, und jede Abteilung des Schiffs hatte ihre eigene aufgeklemmte Iris und ihre eigene bronzene Kampflaterne, die sauber poliert war und dasselbe goldene Licht verströmte wie das modernere Xenoglas.

»Scheiße«, flüsterte Locran. »Festhalten!«

Das war ein Kommando, das man im Waisenhaus allzu oft hörte. Nbaro drehte sich um und nahm Haltung vor der bemalten Wand an, die Schultern zwischen zwei Faunen hineingedrückt.

Drei Offiziere kamen durch eine dunkle Bronzeluke. Zwei waren Kommandeure und standen damit so hoch über Nbaro, dass sie sowohl bedrohlich als auch fremdartig wirkten, und der dritte war ein Kapitän, der höchste Rang im DMK-Raumdienst. Alle waren groß und dunkelhaarig, einer stark männlich, einer androgyn und einer weiblich. Die Frau hatte gesprochen und verstummte mitten im Satz.

»… nichts, wenn wir ins Grün zurückkehren«, sagte die hellere Stimme.

»Nee«, sagte dier Gyne und stieg über die Stolperwand.

Sie blieben stehen.

»Locran?«

»Sir«, antwortete Nbaros Führer.

»Und wer ist das hier?«, fragte dier Androgyne mit sanfterer Stimme. Sier hatte breite Schultern, eine Andeutung von Brüsten und schmale Hüften. Und lange Beine und einen langen Oberkörper. Die meisten Gynen stammten aus Orbitalen.

»Ein neuer Fähnrich, Tir.«

Locran kam ihr zuvor, als er das respektvolle »Tir« für nichtgegenderte Personen verwendete und Nbaro damit vor überhasteten Entscheidungen bewahrte.

Der große Mann sah sie nicht einmal an.

»Locran, ja? Sie kennen die Vorschriften für die Benutzung von Blaukachel, nicht wahr?«

Nbaro kannte diesen wichtigtuerischen Tonfall. Sie hatte ihn ihr ganzes Leben lang immer wieder gehört.

Der größte der drei Offiziere war dier Gyne. Sier verdrehte die Augen. »EO, müssen Sie dieses Spiel machen? Wir sind angedockt, und Locran arbeitet doch.« Sier zwinkerte.

Das verstand Nbaro. Der EO war der Erste Offizier, der stellvertretende Kommandeur des Schiffs. Aus ihren Studien wusste sie, wer er war: Kapitän Rajiv Aadavan.

Der Mann, der als EO angesprochen wurde, brummte. Er zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder dem Gespräch mit den anderen Offizieren zu.

»Ich denke, ich werde ein Bierchen trinken, bevor irgendjemand die Entscheidung treffen muss. Warum passieren solche Sachen während meiner Schicht?«

»Sie sind eine Gans«, erwiderte die Frau, und Nbaro sah, wie der Kapitän errötete, als hätte ihn die Stichelei tatsächlich beleidigt. Dann waren sie hinter der nächsten Kreuzung verschwunden, in einen Quergang, der vom Hauptkorridor auf der Steuerbordseite zu dem auf der Backbordseite verlief.

»Glück gehabt«, hauchte Locran, dann gingen sie ebenfalls an der Kreuzung vorbei. Die Stimme des Androgynen hallte bis zu ihnen, bis sie durch eine weitere Irisblende in einen weiteren Korridor mit grün-weißem Schachbrettmuster traten.

Locran atmete einen langen Seufzer aus und lächelte sie an. »Ich bitte um Verzeihung, Miz«, sagte er. »Ich dachte, da wir nur auf Dockwache sind, könnten wir …« Er zuckte mit den Schultern. »Eine Abkürzung durch Blaukachel nehmen.«

»Blaukachel, Bootsmann Locran?«, fragte sie.

Er war sehr nett, sodass Nbaro es riskieren konnte, diese kleine Unwissenheit einzugestehen, und sie war entschlossen, vor nichts Angst zu haben. Fest entschlossen. Außerdem gehörte er laut Schulterabzeichen zum Geheimdienst und sie zur Flugstaffel. Wahrscheinlich würde sie ihn nie wiedersehen, da die Besatzung des Großschiffs zehntausend Personen umfasste.

»Blaukachel, Miz.« Er schaute in beide Richtungen, als wollte er ihr ein Geheimnis anvertrauen. »Der Kommandobereich des Meisters, Miz.«

Allmächtiger, was alles haben sie mir nicht beigebracht?, fragte sie sich.

»Danke«, sagte sie. »Verboten?«

»Nun«, sagte Locran mit einem Lächeln. »Mit Zugangsbeschränkung. Der Meister ist recht nachsichtig, wenn man einen zwingenden Grund hat.« Er zuckte mit den Schultern. »Und das war Mister Aadavan. Er ist der EO, und er kann einem das Leben …« Der Bootsmann lächelte. »… interessant machen.«

Nbaro nickte. Während ihrer Zeit im Waisenhaus hatte niemand jemals das Wort nachsichtig benutzt. Aber interessant klang normal – und gleichzeitig schlimm.

»Nun gut, Miz«, sagte er. »Kommen Sie, lassen Sie mich das tragen.«

Sie errötete. »Vielen Dank, Bootsmann Locran, aber ich habe alles im Griff.«

Er nickte, als wollte er ihren Moment der vertraulichen Unterhaltung abtun. »Wie Sie meinen, Miz. Hier entlang.«

Sie nahmen einen Quergang, der zum Rückgrat des Schiffs führte. Die Athen – sie hatte sich die Grundelemente im Rahmen ihrer Prüfungen eingeprägt – war über neun Kilometer lang und verfügte über ein eigenes Gravitationssystem. Ihre Decks waren wie bei Gebäuden auf Planeten übereinander gestapelt, von Bug bis zum Heck auf diesem gewaltigen Schiff, und nicht wie die Stockwerke einer Hochzeitstorte, wie es bei kleineren Schiffen war, damit sie die Simulation von Schwerkraft auch unter Schub aushielten. Sie hatte sechzehn Hauptdecks, sechs über den Hauptstartröhren und riesigen Laderäumen, die mit O-1 bis O-7 durchnummeriert waren, je »höher« man hinaufstieg, und die zehn Decks darunter wurden als Erstes bis Zehntes Deck bezeichnet, wobei das Zehnte das »tiefste« im Bereich der künstlichen Schwerkraft war, nur dass alles unterhalb des Fünften Decks ein Gewirr aus riesigen Frachträumen war, einige ohne künstliche Schwerkraft, einige ohne Luft, alle in der Zuständigkeit des Frachtbüros. Die meisten Decks hatten Maschinenräume in Richtung Heck, wo die vier gigantischen Kraftwerke und die riesigen untergeordneten Reaktoren einen Kilometer tief in fast jedes Deck und jede Ebene hineinragten.

Auf jedem Deck außer dem offenen Fracht- und Startdeck gab es zwei Hauptkorridore, je einen auf beiden Seiten des Rückgrats und der massiven Railguns, die die gesamte Länge des Schiffs einnahmen. Die Quergänge verliefen über oder unter den Railgun-Röhren. Nebenkorridore, manche so schmal, dass zwei Besatzungsmitglieder darin nicht nebeneinander gehen konnten, zweigten von den Hauptkorridoren und gelegentlich auch von den Quergängen ab, obwohl die gewaltigen Elektromagnete der Railguns und die tiefgekühlten Quantencomputer im Herzen der Schiffsanlagen den meisten Platz entlang der Mittelachse beanspruchten.

Neben den Deckenlampen des Quergangs waren Haltegriffe angebracht.

»Bootsmann Locran, wird das Schiff gelegentlich auch ohne künstliche Schwerkraft betrieben?«, fragte sie.

Locran nickte. »Im Gefecht. Bei Kampfübungen. Bei manchen Stationsmanövern.« Er zeigte auf die Haltegriffe. »Waren Sie schon mal im Schwarz, Miz?«

Nbaro nickte. »Ja«, sagte sie. »Während der Ausbildung. Ich war auf Tooler und Kephlos.«

Das stimmte sogar. Sie wusste, dass beide nur kleine Fische im Teich waren. Tooler war der riesige Orbitalgarten über New London, dem größten bewohnten Planeten im selben System wie City, und Kephlos war der Gasriese, der nur einen Sprung entfernt war und großmaßstäblich für Rohstoffgewinnung genutzt wurde. Auch diese Erfahrung war real gewesen. Ihre einzige direkte Erfahrung mit dem Raumdienst.

»Schon mal draußen gewesen?«, fragte er. Damit meinte er außerhalb eines Habitats in einem Raumanzug.

Sie hob ihre Taschen wieder auf. »Ja.«

»Hat es Ihnen gefallen, Miz?«

In Wirklichkeit war ihr Testflug nach Kephlos die Hölle gewesen, weil zwei junge Männer fest entschlossen waren, sie ins Bett zu bekommen, auf welche Art auch immer, und sie waren genauso entschlossen, daraus einen Wettstreit zu machen, in dem sie keine Teilnehmerin, sondern die Trophäe war. Beide waren Patrizier und viel größer als sie, sodass sie in der Tat sehr vorsichtig sein musste. Ihre recht erfolgreiche Taktik hatte darin bestanden, sich als Freiwillige für jeden verfügbaren Außenbordeinsatz zu melden.

»Ich habe meinen Stift«, sagte sie.

Ein Luftflaschenstift bedeutete, dass der Träger rundum für EVAs qualifiziert war.

Er zeigte ihr ein Grinsen. »Hervorragend.« Er klang, als würde er es ernst meinen.

»Und es gefällt mir«, gestand sie ein.

Eine EVA war etwas, das einen demütig werden ließ, als würde man genau in die Augen eines der alten Götter starren, aber es gefiel ihr.

»Haben Sie jemals einen Fallschacht benutzt?«, fragte er.

»Nein«, antwortete sie verlegen.

Fallschacht? Wie viele Details hatte man ihr nicht beigebracht? Wie viel musste sie noch zu wissen vortäuschen und auf die Schnelle lernen? Wie in zwanzig gefrierenden Höllen hatte ihr ein solches Detail entgehen können?

»Wir könnten eine Leiter hinaufsteigen oder sogar einen einem Lift nach O-3 nehmen, aber Sie könnten genauso gut schon jetzt lernen, wie man die Null-g-Schächte benutzt.« Er blickte sich zu ihr um. »Das macht Spaß«, sagte er und klang gar nicht mehr professionell. »Und es gibt sie nur auf Großschiffen. Sobald man hineintritt, befindet man sich in Nullschwerkraft. Es ist wichtig, sich zu einem Handgriff zu bewegen und dafür zu sorgen, dass man einen guten Anker hat. Dann kann man sich abstoßen oder die Sprossen benutzen. Schweben Sie auf keinen Fall einfach in den Schacht. Er ist groß genug, dass Sie vielleicht eine ganze Weile herumdriften, und dann würden sich die Leute ordentlich über Sie lustig machen.«

Das werden sie zweifellos ohnehin tun, dachte Nbaro verbittert. Spott war die soziale Währung des Waisenhauses, die Bestrafung für jeden Verstoß.

Sie beobachtete, wie er sich vorbeugte, einen Haltegriff neben dem Eingang packte und sich dann in die Nullschwerkraft hinüberschwang. Im Nu war er von der Vertikalen in die Horizontale gegangen, sodass seine Füße vor ihr hingen. Es war seltsam, aber sie verstand das Prinzip. Sie folgte ihm und griff nach einem anderen Halt, wobei ihr der Seesack gegen den Kopf schlug. Sie hätte fast den Griff verloren und drängte ihre Panik und Beschämung zurück – all die üblichen Dinge.

»Mist«, kiekste sie.

»Miz, ich könnte Ihnen jetzt diesen Seesack abnehmen«, sagte er.

Nbaro war davon überzeugt, dass er ihr nur helfen wollte. »Nein, danke«, sagte sie.

Diesmal sah sein Lächeln eher nach Wie Sie meinen als nach Ja, Miz aus.

Er stieß sich mit der Leichtigkeit langjähriger Erfahrung ab. Fast jeder in City geborene und aufgewachsene Bürger war seit der Jugend mit Nullschwerkraft vertraut, aber Locran war äußerst geschickt darin. Er trieb durch den Schacht wie ein Delfin in den Meeren von Old Terra.

Nbaro bewegte sich die Sprossen der Leiter in der Wand des Schachts hinunter, aber viel vorsichtiger. Sie hielt immer mit einer Hand Kontakt zum Schiff und kam somit langsamer voran, während Bootsmann Locran mit einem Stoß und einer graziösen Landung die Zielplattform erreichte, nachdem er sich auf dem Weg wie ein Akrobat gedreht hatte.

Sie brauchte mehrere Minuten für das, was ihm in Sekunden gelungen war.

»Passen Sie auf, wenn Sie hindurchtreten, Miz, dort ist Schwerkraft«, sagte er.

Er verließ den Schacht, und Nbaro beobachtete, wie sich sein Uniformanzug in der Gravitation veränderte, wie die aufgebauschte Kleidung an den Beinen und am Bauch plötzlich erschlaffte.

Sie trat hindurch und schaffte es, ihr Gepäck erneut falsch einzuschätzen, sodass es weit genug fiel, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Locrans Arm schoss vor, fing einen Riemen ihrer Tasche auf und zog sie auf die Ebene O-3.

»Offiziersterrain«, sagte er, als hätte er sie nicht gerade davor bewahrt, in den Fallschacht zurückzudriften.

Ohne ein weiteres Mal zu fragen, zog er ihr den Seesack von der Schulter und warf ihn sich über die eigene.

Nbaro errötete vor Scham. Eine der absoluten Regeln des Waisenhauses lautete, dass man niemals jemanden dazu bringen sollte, als Diener niedere Tätigkeiten zu übernehmen. Sie war noch keine Stunde lang an Bord, und schon trug ein ranghöherer Offizier ihre Tasche. Sie fühlte sich, als wäre sie bei einem Test durchgefallen.

Locran wirkte unbesorgt, als er durch den Quergang zum Hauptkorridor lief, etwa hundert Meter aus grünen und roten Kacheln.

»Ebene O-3, Hauptkorridor Backbord, Sektion 5, Abschnitt 0333 Achtern«, sagte er. »Das sind Sie. Das hier ist also …«

»Der Hauptkorridor Backbord Achtern«, sagte Nbaro hastig, um zu beweisen, dass sie verstand, was er erklärt hatte. »Fünf Kilometer vom Bug, die Abschnitte von bugwärts bis achtern gezählt.«

»Ja, Miz.« Er zeigte nach vorn. »Die Raumflugkontrolle und die Kampfinformationszentrale liegen an diesem Korridor, weil wir uns genau unter dem Tower befinden. Weiter vorn finden Sie all die Flugbereitschaftsräume auf O-2 und O-3. Sie werden praktisch an diesem Korridor leben.« Er grinste. »Schließlich ist er insgesamt zehn Kilometer lang.«

Er ging wieder voraus, und sie traten durch zwei Irisluken und kamen am nächsten Quergang vorbei. Nbaro las einige der Schilder auf den Seitenluken: Bordlogistik, Hauptfracht, Kleinfracht …

Sie war kein Frachtoffizier, aber sie wusste, wie wichtig diese Leute waren. Sie kontrollierten alle Ladevorgänge, und sie kauften und verkauften mit uneingeschränkter Vollmacht des DMK. In einigen Fällen standen sie in der Hierarchie über dem Meister. Ihre Kabine befand sich am selben Korridor wie die Frachtbüros. Zur Kenntnis genommen.

Locran zeigte auf eine Seitenluke. Die luftdichte Tür war grün gestrichen und mit einem blanken Messingschild und einem kunstvollen Blumenmuster versehen. Eine Privatkabine war nicht zu einer Iris berechtigt. Nbaro legte ihren Handschuh auf die Sensorplatte, und ein Glockenton erklang, das Zeichen, dass ihr der Zutritt erlaubt war. Die schwere Metalltür schwang elegant an den Scharnieren auf. Sie war unglaublich altmodisch, genauso wie das Quartier dahinter.

»Miz, Sie scheinen in irgendeiner Lotterie gewonnen zu haben«, sagte Locran. Er war im Korridor zurückgeblieben. »Zweistöcker? Für einen Fähnrich?« Er lächelte, um ihr zu zeigen, dass er es ihr nicht übel nahm.

Nbaro schüttelte ehrfürchtig den Kopf. »Ich habe noch nie …«

Sie war es gewohnt, ihre Schlafkabine mit vierundzwanzig anderen Waisen zu teilen, allesamt Mündel des DMK. Auf ihren Testflügen hatten die Zimmer mit sechs Beschleunigungsliegen einsam gewirkt. Das hier war ein unvorstellbarer Luxus.

Sie schaute sich in der Kabine um, in der es zwei Beschleunigungsliegen gab, die auch als Crash-Couchs oder in diesem Fall als Zweistöcker bezeichnet wurden. Sie waren wie altmodische Kojen übereinander angebracht, in einem Rahmen aus Bronze, Stahl und Kohlenstofflaminat, der beiden Liegen ermöglichte, um alle Achsen zu rotieren. Die Liegen selbst bestanden aus reaktivem Gel und verfügten über Riemen und Injektoren, um hohe g-Werte zu überleben. Sie sahen aus wie groteske Folterbänke, und obwohl ihre kunstvolle äußere Verzierung aus wunderschönen Uhrwerkmustern im Rokoko-Stil bestand, verursachte sie Nbaro für einen Moment Unbehagen.

Die Kabine wurde ergänzt durch zwei Klapptische und einen Klappstuhl sowie einen, der beweglich war. Es war schwer zu glauben, dass die Hälfte dieses Raums nur für sie war.

Nbaro drehte sich um. »Oh, bitte kommen Sie herein, Bootsmann Locran.«

Er lächelte ohne Heiterkeit. »Nein, Miz, danke. Keine Offiziere in den Privaträumen von Untergebenen. Das gilt erst recht für andersgeschlechtliche Personen, Miz.«

»Oh.« Nbaro errötete erneut und kam sich dumm vor. »Tut mir leid …«

Er schüttelte den Kopf. »Wenn Sie drei Monate lang im Tiefen Schwarz waren, ohne etwas anderes zu tun, als Wachdienst zu schieben«, sagte er, »werden all diese Regeln viel mehr Sinn ergeben. Miz.«

Drei Monate. Sie war an Bord der Athen, und sie würden auf die Reise gehen. Zwei Jahre lang. Oder mehr.

»Vielen Dank, Bootsmann Locran«, sagte Nbaro förmlich. Sie nahm immer noch die … die Fülle in sich auf. Es gab eine wunderschön gerahmte Tafel aus Holz zwischen der unteren und oberen Crash-Couch, und eine weitere dekorative Tafel über dem Schreibtisch, die sich als kleine Luke erwies.

Der einzige Misston war, dass ein Schreibtisch geöffnet worden war und auf der polierten Metalloberfläche ein Stapel aus nicht zusammenpassenden wiederverwertbaren Kisten stand, die in Katakana beschriftet waren. Die japanischen Zeichen waren in der Menschheitssphäre durchaus bekannt, und selbst Nbaro konnte einige lesen. Es handelte sich um Bildschirme.

Locran folgte ihrem Blick. »Wir installieren neue Bildschirme auf dem gesamten Schiff«, gestand er ein. »Manchmal ist die alte Ausrüstung einfach nicht mehr …« Er zuckte mit den Schultern und wollte offenbar nichts gegen sein Schiff sagen. Besatzungsmitglieder von Großschiffen waren berühmt für ihre Loyalität gegenüber ihren Kolossen.

Nbaro ging zur gegenüberliegenden Wand. Sie hatte sich durch die Dekoration und die bronzene Einfassung täuschen lassen. Eigentlich sollte sich hier ein Bildschirm befinden, sogar ein erstaunlich großer für die verfügbare Wandfläche. Die Ränder würden mehrere Röhren verdecken, von denen sich eine überraschend warm anfühlte. Eine andere wurde durch einen Schutz aus Xenoglasfasern abgeschirmt und war noch kühl.

Die Wand selbst war mit den Resten eines Schmuckfreskos überzogen – eine Szene mit einem alten Gott, der ein Schwert schwang. Doch das sollte hinter dem Bildschirm verborgen bleiben.

Sie schaute sich die Kisten an. Gute Bildschirme waren nicht billig, und die auf dem Schreibtisch sahen kostspielig aus.

Sie warf ihre Tasche auf die obere Beschleunigungsliege, da sie automatisch davon ausging, dass sie jedem, der die Kabine mit ihr teilte, untergeordnet war. Die Position der Koje oder in diesem Fall der Beschleunigungsliege war überall, wo sie jemals gewesen war, ein Zeichen für den gesellschaftlichen Status, und ein »Fähnrich mit Waisenhaus-Ausbildung«, war die niedrigste Lebensform, die ihr bekannt war. Die Offiziere der Akademie von New London und City machten ihren Abschluss am selben Tag, nach dem Notendurchschnitt gestaffelt, sodass der Dienstgrad jedes neuen Fähnrichs auf seiner Leistung basierte. Im Waisenhaus erfolgte der Abschluss einen ganzen Tag später, womit garantiert wurde, dass jeder Absolvent rangmäßig unter allen stand, die von den Akademien kamen.

Was ohnehin reine Formsache ist, da ich keinen Abschluss gemacht habe.

Nbaro drehte sich wieder zu Locran um. »Es tut mir leid, dass ich Sie aufhalte, Bootsmann Locran, aber gibt es hier eine … Werkstatt? Wo ich meine Bildschirme zuschneiden lassen kann?«

Locran zeigte sein leicht gönnerhaftes Lächeln. »Sie glauben, Sie können Ihre Bildschirme selbst installieren?«, fragte er.

Nbaro zuckte mit den Schultern. »Ja?« Sie ärgerte sich über die unsichere Erhöhung des Tonfalls am Ende des Wortes.

Locrans Lächeln blieb. Er sah sie etwas länger an, bis sie errötete. »Miz, wenn ich … das für Sie arrangieren könnte …« Er warf einen Blick über seine Schulter. »… im Austausch gegen einen Gefallen.«

Nun, das war vertrautes Terrain. »Kein Sex«, blaffte sie ihn an.

Er wirkte schockiert. »Miz!«, protestierte er. »Ich dachte an Torte. Offiziere bekommen Torten und Kuchen in ihrer Messe.«

Nbaro entspannte sich, und ihre Hand, die nach ihrer Klinge greifen wollte, fiel herab. Sie zitterte vom Adrenalin, bereit, sich zu entfernen, zu kämpfen.

»Verzeihung, Miz«, sagte er und machte den Eindruck, als wollte er noch mehr sagen.

Sie blinzelte verwirrt, verdrängte all die unangenehmen Gedanken. Sie hatte sich selbst einen Neuanfang versprochen, dass sie nicht mehr so ängstlich sein wollte. Dass sie ein Offizier sein wollte.

»Torte und Kuchen lässt sich machen«, sagte sie.

Lächle. Sorge dafür, dass sie dich mögen. Jetzt. Du hast einen Versuch.

»Dann werden wir sehen, was sich tun lässt«, sagte er. »Kommen Sie mit, Miz.«

Nbaro folgte ihm nach draußen, ließ ihre wunderschöne Luke zuklicken und hörte den leisen Verriegelungston. Sie verspürte den Drang, wieder hineinzugehen und noch einmal alles zu berühren.

Er führte sie durch den Korridor, der sich endlos an den Fracht- und Logistikbüro entlangzuziehen schien. Dann folgten einige unmarkierte Luken, die eher nach weiteren Kabinen und Lagerräumen aussahen.

An einer Gangkreuzung ging es nach links, in Richtung Schiffsrumpf. Sie waren nicht weit vom Abschnitt 120 entfernt, recht weit vorn. Nbaro konnte zwar keine Brotkrumen streuen, aber sie bemühte sich, alles mit ihrem geistigen Bild des Schiffs in Übereinstimmung zu bringen.

Locran blieb stehen.

»Hier ist Ihr Bereitschaftsraum. Dort werden Sie sich die ganze Zeit aufhalten. Und dies ist die EVA-Ausrüstung – die Raumanzüge und alles andere, was Sie für Weltraumaktivitäten brauchen, sind in dieser Werkstatt.«

Dann bogen sie nach rechts in einen sehr schmalen Korridor ab, wie eine der Gassen in den schäbigeren inneren Bereichen von City, und traten durch eine aufgeklemmte Luke. Drinnen erweiterte sich der Raum bis zur nächsthöheren Ebene zu einem hohen Lagerraum. EVA-Anzüge hingen in fast unendlichen Reihen da, mindestens sechs übereinander, alle an einer Art von Schienensystem, sodass jeder Anzug ausgewählt und herbeigeholt werden konnte.

»He!«, rief Locran.

Eine junge Frau, kaum älter als Nbaro, kam um eine Ecke.

»Raumkadett Chu«, sagte Locran förmlich. »Fähnrich Nbaro.«

Chu runzelte die Stirn. »Miz?«, fragte sie.

»Fähnrich Nbaro möchte ihre Bildschirme selbst installieren«, erklärte Locran.

»Haben Sie die Maße?«, fragte Chu geschäftsmäßig.

Nbaro kam sich idiotisch vor. »Ich kann sie besorgen.«

Chu zuckte mit den Schultern. »Auf jeden Fall, Miz. Ich habe sonst nichts zu tun. Wir sind auf Dockwache.«

»Ein Stück Torte?«, fragte Locran.

Chus Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Für einen Neuankömmling? Ich werde Miz Nbaro verkabeln, hakuna matata.« Sie drängte sie mit einer Geste zum Gehen. »Besorgen Sie die Maße, Miz. Ich werde den Tisch aufwärmen.«

Nbaro war sich bewusst, dass ein Raumfahrer, der im Rang weit unter ihr stand, ihr Befehle erteilte. Andererseits erwies die Frau ihr eindeutig einen Gefallen.

»Wird erledigt.«

»Und bringen Sie die Bildschirme mit«, sagte Chu.

Nbaro überlegte sich verschiedene Erwiderungen darauf und entschied sich schließlich für »Hakuna matata«.

»Also überlasse ich es jetzt Ihnen«, sagte Locran.

Nbaro wartete, bis sie den Hauptkorridor erreicht hatten und sagte: »Danke, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben.«

»Finden Sie jetzt den Weg hin und zurück?«, fragte Locran.

»Ja, Bootsmann Locran«, sagte sie.

Er nickte. »Gut. Willkommen an Bord. Eine Sache noch. Die Athen ist alt. Hier gibt es … Dinge. Und Stellen, die man vermeidet. Zumindest, wenn man allein ist. Nicht bevor Sie Raumfahrermuskeln haben. Verstanden? Mister Savro hat mich Ihnen zugeteilt. Drücken Sie den Rufknopf auf Ihrer Intro-App, dann melde ich mich vor Ihrer Kabine.«

»Oh«, sagte Nbaro. »Ist das ein schlimmer Dienst?«

Er verzog das Gesicht. »Nicht so schlimm, Miz.«

Sie nickte und hoffte, dass es einen forschen und offiziersmäßigen Eindruck machte. »Nun gut«, sagte sie. »Vielen Dank, Bootsmann Locran.«

»Hakuna matata, Miz«, sagte er mit einem Lächeln.

Nbaro lief zu ihrem neuen Quartier zurück, begeistert, ihren eigenen Raum zu haben, und fand ihn genau dort, wo sie ihn erwartet hatte. Sie hatte ein Maßband in ihrer Reisetasche, neben einem billigen Multifunktionswerkzeug, das auf New London hergestellt worden war. Es basierte auf Vorbildern aus dem fernen Indien auf Old Terra, die aus wesentlich besserem Metall bestanden. Der Stahl ihres Multifunktionswerkzeugs war weich, aber durchaus geeignet, die bronzene Einfassung abzuschrauben, die die Nanobildschirme hielt. Nachdem die Schmuckverkleidung entfernt war, maß sie die Längen und konnte sogar berechnen, wo ein Bildschirm gebogen werden musste, um den Röhren auszuweichen.

Nbaro notierte alles auf ihrem neuen Tab, hob den Stapel der Bildschirmkisten auf und trug ihn durch den Korridor, ohne jemandem zu begegnen. Sie bog an der richtigen Ecke ab und sah, dass es an jedem Abschnitt ein kleines Schild gab, das seine Nummer und Position angab, wie Straßenschilder in City. Es war eine einfache Sache, aber sie empfand erneut leichte Begeisterung, es geschafft zu haben, die Werkstatt zu erreichen. Allein der Spaziergang von ihrer Kabine bis hierher erinnerte sie daran, dass dieses Schiff gewaltig war.

Die Luke war immer noch aufgeklemmt, aber diesmal bemerkte sie das Schild an der Tür.

»EVA-Ausrüstung« stand dort.

Die Inneneinrichtung der Werkstatt war genauso kunstvoll gestaltet wie der Rest des Schiffs. Eine ganze Wand wurde von einem Bildschirm dominiert, auf dem ein beliebtes Drama mit zweitklassigen Schwertkämpfen abgespielt wurde, doch die Reihen der EVA-Anzüge hingen an aufwendigen Dreifachhaken aus Bronze, die wiederum mit Schienen aus blauem Molybdänstahl an der Wand befestigt waren. Ein Blick nach oben bestätigte, dass die EVA-Anzüge über diese Schienen in drei Dimensionen zugänglich waren.

»Bootsmann Chu?«

»Raumkadett Chu«, sagte die Frau. Sie hatte an einer sehr altmodisch aussehenden Nähmaschine gesessen. »Vielleicht mache ich nächstes Jahr die Prüfung für den Bootsmann. Schauen wir mal, was Sie da haben.«

Mit der Art von technischer Kompetenz, die Nbaro am meisten bewunderte, entfernte die Frau die Schutzhüllen von den Bildschirmen und fügte sie dann auf einem großen Nanotisch zusammen, der das Zentrum der Werkstatt beherrschte. Sie gab die Maße von Nbaros Tab in den Tisch ein.

»Sieht korrekt aus«, sagte sie. »Sind Sie sich sicher?«

»Ja«, sagte Nbaro und unterdrückte ihren instinktiven Drang, alles noch einmal nachzumessen. Sie hatte es bereits zweimal getan.

Die Technikerin nickte, nahm ein Xenoglasmesser und machte sechs Schnitte, einschließlich der Kerbe für die Röhren. Dann hob sie ein Nanolesegerät auf, schaltete es ein und führte es an den Rändern entlang. In Nanolesern steckte eigentlich gar keine Nanotechnik. Sie waren leistungsfähige Laserschneider, die außerdem die elektronischen Signaturen übermittelten, mit denen die Koppler des Nanomaterials »geöffnet« und »geschlossen« wurden. Trotzdem nannte jeder sie »Nanoleser«. Ein weiteres Mysterium des DMK.

»Dann wollen wir sie jetzt installieren«, sagte sie.

Die beiden liefen durch den Korridor zur Kabine.

»Sie sind eine EVA-Ausrüsterin?«, fragte Nbaro.

»Ich will eine werden. Irgendwann werde ich es schaffen. Ich bin gut in diesem Handwerk – meine Mutter ist eine Ausrüsterin. Aber ich habe Schwierigkeiten mit der ganzen Mathematik.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Oh, bei den Göttern, Mathe«, sagte Nbaro mit aufrichtigem Mitgefühl. Funktionen bereiteten ihr nach wie vor Kopfschmerzen.

»Ja, Miz. Und Sie gehören zur Flugbereitschaft?«

»Ja«, sagte Nbaro. »Also könnte ich tatsächlich einen EVA-Anzug bekommen.«

»Haben Sie Ihren Flaschenstift, Miz?«

»Ja.«

Die Ausrüsterin sah sie lächelnd an. »Ich auch. Da wären wir.«

Nbaro öffnete ihre Luke. »Dürfen Sie hereinkommen?«

»Eigentlich nicht«, sagte die Ausrüsterin. »Aber wir sind bei der Arbeit, und wir sind beide weiblich. Davon wird der Himmel nicht einstürzen.«

Sie stieg elegant über die Stolperwand und machte sich daran, die ausgeschnittenen Schirme einzusetzen, während Nbaro ihr Multifunktionswerkzeug benutzte, um die technisch primitiven, schlichten und effektiven Schrauben in die dekorativen Einfassungen zu drehen und das Ganze zu befestigen.

»Nein«, sagte Chu. »Einen Moment, Miz.«

Nbaro hielt inne.

Die Ausrüsterin drückte die Bildschirme in die Klammern, bis alles eingerichtet war.

»Passt. Aber ich muss die Bildschirme noch zu einem großen zusammenfügen, nicht wahr?«

Nbaro kam sich dumm vor, aber die Ausrüsterin schien nicht verärgert zu sein. Sie schaltete das Lesegerät ein, überprüfte die Daten, zog schwarze Handschuhe an und nahm dann eine kleine schwarze Atemmaske aus ihrer Hüfttasche.

»Warten Sie lieber draußen, Miz«, sagte sie.

Es war vermutlich über hundert Jahre her, seit es zuletzt einen Unfall mit Nanotechnik gegeben hatte, aber der Raumdienst bestand auf Sicherheitsvorkehrungen, und Chu glaubte offensichtlich fest daran.

Nbaro ging hinaus, und nach weniger als einer Minute winkte Chu sie wieder herein. Sie packte bereits ihr Werkzeug zusammen.

»Nett. Ich werde das als erledigt melden. Es steht nicht auf meiner Aufgabenliste, aber die Raumkadetten im Habitat werden über dieses Gratisgeschenk glücklich sein«, sagte sie. »Ich bin im ›Dockdienst‹, Miz. Also könnten Sie mir auch gleich Ihre Anzüge und Uniformjacken geben, damit ich sie mit Ihren Abzeichen versehen kann.«

»Oh!«, sagte Nbaro mit ehrlicher Freude. »Das würden Sie tun?«

Chu machte nicht den Eindruck einer hinterlistigen Intrigantin, die sie ausnutzen wollte. Was für sich genommen seltsam genug war.

Chu zuckte mit den Schultern. »Sie gehören jetzt zum Schiff. Also sollten Sie sie auch tragen.« Sie hielt kurz inne. »Miz.«

Nbaro lächelte – genauer gesagt, musste sie sich dazu zwingen. Sie ging zu ihrem Seesack und zog ihre Bordanzüge heraus, ihre Raumanzüge und ihren EVA-Unteranzug sowie ihre Achterdeck-Uniformjacke.

»Sie können mir auch gleich all Ihre Anzüge geben«, sagte Chu, als sie den Haufen entgegennahm.«

»Das ist alles, was ich habe«, sagte Nbaro.

Verdammt! Das hätte ich nicht sagen sollen.

»Du meine Güte, Miz! Zwei Raumanzüge? Ich habe sechs.«

Ich bin zu scheißarm, um mir mehr als das Minimum kaufen zu können, und selbst das hatte schwerwiegende Konsequenzen. Es gibt einen Pfandleiher in Underside, dem ich bereits meinen ersten Monatssold schulde.

Nbaro wusste natürlich, dass Fähnriche und alles darüber sich die Anzügen kaufen mussten und dass sie Offizieren wie Chu zugeteilt wurden. Sechs Stück. Von allen.

»Waisenhaus«, sagte sie leise.

»Oh«, sagte Chu. »Tut mir leid, Miz. Ich wollte auf keinen Fall …« Sie zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer, morgen werden Sie toll aussehen!« Sie nickte dazu. Es war ein wenig wie Salutieren.

Nbaro nickte zurück. »Danke, Raumkadett Chu.«

Chu ließ sie mit ihrer geräumigen Kabine allein, einem fast zwei Meter großen Würfel. Nbaro verbrachte fünfzehn Minuten damit, die Ränder aller Bildschirme einzufügen, dann gab sie den Befehl zum Einschalten.

Er wurde verarbeitet, dann ging der Bildschirm an. Ein weiteres Gefühl der Begeisterung.