Das Geflüster der Nachtfalter - Mark Fear - E-Book

Das Geflüster der Nachtfalter E-Book

Mark Fear

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Beschreibung

Eine Seuche breitet sich auf Lar, einem einst magischen Planeten, aus und droht, all seine Bewohner auszulöschen. Doch die Toten bleiben nicht tot. Sie mutieren zu Wirten - immer tödlicher werdenden Kreaturen, die den Reisenden in der Wüste auflauern. Ein Überfall auf eine Flüchtlingskarawane verknüpft das Schicksal einer kleinen Gruppe Überlebender. Sechs Fremde, die unterschiedlicher nicht sein könnten, müssen sich zusammen tun, um die nächste, sichere Festung zu erreichen. Doch wie sollen sie einander vertrauen, wenn jeder ein Feind sein könnte? Wie viel von dem, was die anderen preisgeben, ist wahr? Und welche Gefahren lauern noch in der roten Wüste?

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Seitenzahl: 362

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Content Notes

- Diskriminierung und Verfolgung aufgrund ethnischer Herkunft

- körperliche Gewalt

- Folter

- Freiheitsberaubung

- Kriegshandlung

- Tod

- Trauerbewältigung

- Depression

- Blut

- Mord

- Erbrechen

Für mich.Träume werden doch wahr.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Sternen Staup

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Epilog

Danksagung

- Prolog -

Oniv

»Großvater, erzählst du mir noch einmal vom letzten Tag mit meinen Eltern?«

Die Flamme der Öllampe flackerte bei dem leichten Wind, der durch die feuchte Höhle säuselte. Das weiße Licht des Mondes berührte einzelne Steine. Onivs Lippen zitterten und sein Atem bildete kleine Dampfwölkchen. Die Luft stach ihm bei jedem tiefen Atemzug in der Lunge und er unterdrückte das Gefühl, husten zu müssen. Seine Finger kribbelten und seine Zehen waren bereits taub. Alles fasste sich klamm an und roch durch das muffige Moos, mit dem sie es sich bequemer gemacht hatten, modrig. Der Junge rieb sich die Hände aneinander.

Onivs Opa setzte sich auf und legte ihm seine Jacke über die Schultern, damit sein Enkel nicht noch mehr frieren musste. Beide mageren Gestalten waren in dreckige Lumpen gehüllt, zerschlissene Kleidung, die von dem Leid und den Entbehrungen berichtete, die sie durchlebten.

Großvater Fu rutschte mit seiner löchrigen Decke näher an ihn heran, räusperte sich und begann mit flüsternder Stimme zu erzählen. Sie waren weit genug in ihrem Versteck um nicht sofort von den Schrecken, die dort draußen waren, entdeckt zu werden. Und gleichzeitig hatten sie ihr Nachtlager so nah am Ausgang aufgeschlagen, um jederzeit flüchten zu können, ohne den Monstern in die Arme zu laufen, sollten es nur wenige sein.

»Also Oniv, vor fünf Jahren war das große Stammesfest der Skirab. Du warst noch kein Jahr alt, deshalb habe ich auf dich aufgepasst. Du musst wissen, dass bei dem Fest sehr viel getanzt wurde, bis in die frühen Morgenstunden. Und für so ein kleines Kind ist dies nichts. Ich wollte deiner Mutter einen freien Abend gönnen, deshalb warst du bei mir. Zuerst hat sie gezögert, aber dein Vater konnte sie letzten Endes doch überreden. Es war für sie das erste Fest seit der Schwangerschaft …«

»Opa, du kommst von der Geschichte ab«, flüsterte der Enkel, während er ungeduldig mit den Beinen wackelte.

Der Alte lächelte herzlich und streichelte dem Kleinen über seinen, für ihr Volk typischen, kahlen Kopf.

»Weißt du Oniv, jetzt mag es für dich eine Gutenachtgeschichte sein, aber wenn du erwachsen bist, wirst du die Details verstehen.«

Der Junge sah ihn nur mit seinem erwartungsvollen Blick an. Für ihn zählte nur die Handlung, er wollte nichts lernen oder sich merken müssen. Aber selbst in dem schwachen Licht, das die beiden hatten, konnten sie sich tief in die Augen sehen. Ihre roten Augäpfel wirkten bei der flackernden Flamme wie Glutstückchen, die beinahe erloschen waren.

»Wo war ich stehen geblieben?«, fragte Großvater Fu mit seiner beruhigenden Stimme.

»Das große Stammesfest«, stieß sein Enkel vor Aufregung fast schon zu laut hervor.

»Ja genau. Wie du weißt, kamen einmal im Jahr nahezu alle Skirab in ihrer einzigen Unterwasserstadt Submulok im großen Meer zusammen, um die Befreiung unseres Volkes zu feiern. Kannst du mir sagen, wie das Meer hieß?« Der alte Mann sprach leise, wollte er nicht, dass seine Worte nach draußen hallten.

»Buamak!«, stieß sein Enkel blitzschnell hervor und hielt sich sofort mit beiden Händen den Mund zu, in der Angst, zu laut gewesen zu sein.

»Richtig«, bestätigte der Greis dem Jungen mit einem herzlichen und warmen Lächeln. »Und Submulok war nicht nur die einzige Stadt auf dieser Welt, die unter Wasser erbaut worden war, es war auch die Letzte, die wir unser eigen nannten, in der nur Skirab lebten. Weißt du noch, warum das so war?«

»Weil Menschen nicht unter Wasser atmen können«, antwortete der Junge.

Ungeduldig presste Oniv seine Lippen zusammen, biss auf ihnen herum und wartete gespannt, wie die Geschichte, die er hören wollte, weiterging.

»Richtig. Und diese Stadt war unsere Heimat, unser Zufluchtsort«, fuhr Großvater Fu unbeirrt fort. »Wie du weißt, waren die Skirab über viele Jahrhunderte von den Golems wegen ihrer Magie versklavt worden, bis sie sich gegen ihre Peiniger auflehnten und alle ausrotteten.«

»Opa …«

Dieses sonst so kurze Wort zog Oniv mit einer monotonen Stimme in die Länge. Der alte Mann lächelte sanft und räusperte sich so leise, wie er nur konnte.

»Während also fast alle Skirab in Submulok feierten, hatte dein Opa die Idee, dir den Nachthimmel zu zeigen. Ich schwamm mit dir an den Strand des Meeres und erklärte dir die Sternbilder. Da entdeckte ich eine Sternschnuppe, die sich auf uns zubewegte. Als der weiße Punkt immer größer und größer wurde, geriet ich in Panik.«

»Warum?«, unterbrach Oniv seinen Großvater.

Der alte Mann lächelte herzlich und tätschelte erneut den Kopf seines Enkels.

»Sternschnuppen sind eigentlich ein Glücksomen, wenn sie am Himmel über uns vorbeiziehen und ihre Reise dort oben weiterführen. Aber sobald so etwas Großes auf dich zukommt, da packt dich die Todesangst. In all den vielen Jahren, die ich auf dieser Welt bin, habe ich derartiges noch nie erlebt, davon gehört oder gar gelesen. Du verstehst, dass ich darum Angst um das Leben aller hatte, die ich kannte, vor allem um deines.«

Oniv nickte seinem Großvater entgegen, auch wenn er nicht so ganz verstand, was er ihm damit sagen wollte. Beobachtete er nachts die Sterne, so waren sie kleine, glitzernde Pünktchen am schwarzen Himmel, er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass diese eine Gefahr waren. Nicht so sehr, wie die Monster, die dort draußen umherwanderten.

»Es war zu spät, um in die Stadt zurückzukehren und alle zu warnen, da der Stern sich schneller auf uns zubewegte, als ich jemals hätte schwimmen können. Das Einzige, was mir in den Sinn kam, war, unser Leben zu retten. So flott mich meine Beine trugen, lief ich weg vom Wasser. Ich wusste ja nicht, was so ein Stern anrichten konnte. Mit dir auf dem Arm flüchtete ich weit genug weg vom Ufer, bevor er im Meer einschlug, und unsere einzige Stadt, den Großteil unserer Art und Buamak selbst auslöschte. Der Beginn der Apokalypse …«

Großvater Fu verstummte. Sein warmes und freundliches Lächeln verschwand für einen Augenblick und es sah aus, als ob sämtliche Lebensfreude seinen Körper verlassen hatte. Er wirkte in diesen Momenten, in denen die Traurigkeit ihn überkam, noch viel älter als er ohnehin war.

»Was ist mit dem großen Meer passiert?«, fragte Oniv seinen Opa ungeduldig.

Er hatte diese Geschichte schon einige Male gehört, liebte es aber, wie sein Opa ihm alles beschrieb und erklärte. Vor allem der Teil, der nun kam, gruselte ihn jedes Mal von Neuem.

»Am Einschlagspunkt wurde das aufgewirbelte Wasser sofort zu tiefschwarzem Gestein, das seitdem zackig in den Himmel ragt. Von diesem Steingebilde breitete sich eine Schwärze über das sonst türkisfarbene Wasser aus und alles, was nicht versteinert worden war, wurde so pechschwarz, wie du es heute noch kennst.«

»Woher weißt du, dass das Meer ausgelöscht wurde?«, wollte Oniv gespannt wissen.

»Seit dem Einschlag ist niemand, der nur in die Nähe des Wassers ging, jemals wieder zurückgekehrt. Wenn man den Geschichten, die erzählt werden, Glauben schenken darf, ist das, was einmal Buamak war, lebendig und verschlingt jeden, der es berührt.«

Ein Schauder lief Oniv über seinen Rücken, sein kleiner Körper zog sich für einen kurzen Augenblick zusammen. Der letzte Teil hatte ihm wieder einmal mehr Angst gemacht, als er gedacht hatte. Aber Großvater Fu hatte ihm den Wunsch nach dieser Geschichte erfüllt und fuhr mit seiner herzlichen Stimme fort.

»Und ich weiß nicht, ob ich mich getäuscht habe, aber während meiner Flucht glaubte ich, noch eine weitere Sternschnuppe gesehen zu haben, wie sie vom Himmel fiel.« Die Augen des Jungen funkelten wieder voller Spannung und Erwartung. Ein schweres Seufzen überkam jedoch den Greis. »Die Handvoll Skirab, die wie wir, nicht in Submulok waren, konnten in den folgenden Jahren aber auch nicht von Glück sprechen, den Einschlag überlebt zu haben. Wieder einmal wird unser Volk wegen seiner Magie gejagt und versklavt. Dieses Mal jedoch sind es die Menschen, denen es seit dem Sturz des Sterns aber auch nicht gut ergeht. Weißt du noch, wie ihre fünf letzten Städte heißen?«, fragte der Greis lehrerhaft den Jungen.

»Kimub, Sightt, Refin, Danor und Varin«, gab der kleine Skirab genervt von sich, erneut seine Augen rollend.

Sein Großvater fragte ihn bei ihrer gemeinsamen Reise oft nach Namen von Orten und wichtigen Menschen aber Oniv war gerade nicht in der Stimmung, getestet zu werden. Er wollte einfach nur die Geschichte hören, nichts weiter.

»Du solltest immer wissen, wie diese Festungen heißen, du weißt nie, wann solch ein Grundwissen dir das Leben rettet« Großvater Fu lächelte sanft und tätschelte Onivs Kopf. »Also während die Menschen dort ihr Überleben sichern, gibt es von uns wahrscheinlich nur noch ein paar, und es werden jeden Tag weniger. Und mit ihnen stirbt unsere Geschichte, und wir werden irgendwann auch zu einer Legende, wie die Golems, die diese Welt einst bewohnten und ihr den Namen Lar gaben.«

Wieder hatte die Wärme die Stimme des alten Mannes durchdrungen, von der Traurigkeit davor war fast nichts mehr zu hören. Herzlich lächelte er seinen Enkel an, die Fältchen an seinen Augen vertieften sich dabei mehr als sonst.

»Eins versteh ich nicht«, nuschelte der Junge vor sich her, während sein Blick zu der Höhlendecke schweifte und er die Nase leicht rümpfte.

»Was denn, Oniv?«

»Warum bist du kein Held? Wenn du nicht an der Oberfläche gewesen wärst, gäbe es zwei Skirab weniger.«

Etwas verlegen versuchte der Junge, seinem Großvater nicht in die Augen zu sehen. Er hatte sich schon so oft vorgenommen, diese Frage zu stellen, und heute hatte er seinen ganzen Mut zusammengenommen. Jede Geschichte hatte Helden und Bösewichte und für Oniv war klar, dass der Stern, der vom Himmel gefallen war, das pure Böse war.

»Du wirst es eines Tages verstehen, dass man in solchen Momenten bei denjenigen sein sollte, die man liebt. Ich weiß, du erinnerst dich nicht, aber deine Eltern haben dich von ganzem Herzen geliebt. Ich wünschte, du könntest dich an ihre Gesichter zurückbesinnen, an ihre warmen, herzlichen und stolzen Blicke, die dir galten. Aber du warst noch so klein …«

Die Augen von Großvater Fu waren glasig und seine Stimme am Ende zittrig geworden, als er die Worte sprach. Nun starrte er gedankenverloren an Oniv vorbei ins dunkle Nichts hinter ihm. Es war keine richtige Antwort für seinen Enkel gewesen, hatte seinen Wissensdurst nicht wirklich gelöscht, aber eine kleine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er genug Fragen an Großvater Fu für diesen Abend gestellt hatte. Er hatte schon ein paar Mal versucht, Antworten zu erfahren, die nicht in der üblichen Geschichte vorkamen, und hatte es nicht geschafft. Aber er würde nicht aufhören, bis er etwas gehört hatte, mit dem er sich zufriedengeben konnte.

Ein weiterer kalter Windhauch fuhr durch die Höhle. Von außerhalb war ein Rascheln zu hören.

Der Alte schreckte auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Dunkelheit, seine Züge wirkten versteinert und die wenige Farbe, die sein sonst so blasses Gesicht zierte, wich gänzlich. »Oniv, ich werde kurz nach draußen gehen und nachsehen, ob dort etwas ist. Egal was passiert, bleib hier, verhalte dich ruhig und folge mir nicht. Versprichst du mir das?«, flüsterte er, ohne seinen Blick vom Höhleneingang zu lösen.

Das Herz des Skirabjungen raste, er hörte es gegen sein Trommelfell hämmern, wie es eilig das Blut durch seinen Körper pumpte. Er hatte eine Ahnung, was gleich geschehen würde, wollte es aber verhindern und dass alles so blieb, wie es war.

Da er keine Antwort bekam, wandte sich der Alte vom Eingang der Höhle ab und sah den Kleinen erwartungsvoll an, bis dieser nickte.

»Ich meine es ernst! Versprich es mir!« Dem Ton von Großvater Fu war eine unerwartete Strenge zu entnehmen.

»I-ich ver-verspreche es …«

Angsterfüllt starrte er in die Dunkelheit außerhalb der Höhle, zog sich seine Decke bis hinauf zum Kinn und bebte am ganzen Leib. Es war nicht die Kälte, die seinen Körper im Griff hatte, es war die Angst vor den vielen Monstern, die dort draußen auf sie warteten, versteckt im Dunkel der Nacht.

Der alte Mann stand vorsichtig auf, nahm sein Gewehr, das an der Felswand lehnte und ging so schnell nach draußen, wie ihn seine müden Knochen trugen. Früher, da hatte Großvater Fu noch mit seiner Magie gekämpft. Er war ein Meister aller magischen Wege, die ein Skirab im Leben einschlagen konnte. Aber das Alter hatte seinen Preis. Wenn Oniv an manchen Tagen Unterricht von ihm bekam, war sein Opa nach kurzer Zeit an seinem Limit, die Magie versiegte langsam in ihm.

Der Junge lag im provisorischen Bett und lauschte der Stille. Er starrte immer noch in die Dunkelheit, hinaus aus der Höhle und hoffte, sein Opa würde jeden Moment wieder zu ihm zurückkommen, Entwarnung geben und Oniv konnte dann langsam einschlafen, während er weitere Geschichten hörte.

Plötzlich hallten Schüsse durch die Nacht und ihr Echo fuhr durch die Höhle. Der Kleine zuckte bei jedem zusammen. Er hatte versprochen, hierzubleiben, zu warten, aber die Panik in ihm schrie ihn an, er solle weiter in die Höhle hinein und sich verstecken. Gleichzeitig hatte er Angst, sich in der Dunkelheit zu verlaufen, nicht wieder hinaus zu finden und seinen Großvater zu enttäuschen, wenn dieser zurückkam.

Er zog seine Decke über den Kopf und presste seine Augen so fest zu, wie er nur konnte. Tränen rannen seine Wangen hinab und er unterdrückte jegliches Schluchzen.

Oniv wusste, wie sich Großvaters Gewehr anhörte, wenn es abgefeuert wurde. Er wusste, wie viele Patronen in einem Magazin waren, und zählte bei jedem Schuss mit. Die ersten vier waren recht nahe, ab dem Fünften wurden sie immer leiser. Der Zehnte und Letzte war fast nicht mehr zu hören. Noch nie hatte sein Großvater so viele Schüsse gebraucht und noch nie war er dabei so weit von ihm entfernt gewesen. Selbst in seinem jungen Alter wusste er, dass dies nichts Gutes zu bedeuten hatte.

Ich bin ein tapferer Junge, das verspreche ich dir Opa. Für mich bist du ein Held …, wiederholte Oniv immer wieder im Gedanken.

Die Öllampe flackerte erneut und erlosch.

Einsam blieb der kleine Skirabjunge in der dunklen und feuchten Höhle zurück, auf sich allein gestellt in einer tödlichen Welt.

STERNEN STAUP

- Kapitel 1 -

Oniv

Das laute Dröhnen des Motors ließ Oniv in einer künstlichen Taubheit allein.

Zwei Dutzend Menschen saßen zusammen mit ihm und Nestri in dem rostigen Relikt der alten Welt, das man als Transporter für Überlebende beschimpfte. Sie alle waren umgeben vom monotonen Lärm des Lastwagens, der jedes Wort, das gesprochen wurde, verschluckte.

Gäbe es in der verrottenden Wildnis nicht genug Gründe, schmerzvoll zu sterben, setzte man sie der Gefahr aus, in eben dieser zu stranden. Die großen Köpfe, die die Entscheidungen für die Bevölkerung trafen, wollten für ihrer eins kein zeitgenössisches Fortbewegungsmittel opfern.

Der Skirab zog die Kapuze seiner ausgeleierten und heruntergekommenen Jacke weiter ins Gesicht, damit er die hilfesuchenden Blicke nicht ertragen musste. Die Erwachsenen, die sich mit dem sicheren Tod noch nicht abgefunden hatten oder nicht abfinden konnten, suchten in den Augen der anderen einen der Funken.

Den Funken der Stärke, um für ihr Überleben zu kämpfen, sollten sie von dem Übel der Welt überrascht werden.

Den Funken der Hoffnung, trotz allem lebend in der Stadt Refin anzukommen.

Den Funken des Unbekannten, jemand der alle retten könnte, dies jedoch verbarg.

In seinen Augen würden sie alle drei Funken erkennen, diese aber falsch deuten.

Ja, er hatte die Stärke, um zu kämpfen, jedoch nur für das Leben seines Freundes Nestri und das seinige.

Ja, er hatte die Hoffnung, in Refin anzukommen. Er wusste sogar, dass sie ihr Ziel erreichen würden. Sie, das waren Nestri und er.

Ja, er war das Unbekannte, er, der alle retten könnte, wenn er wollte. Wollte er aber nicht, lieber würde er selbst sterben.

Der gemeine Pöbel würde ihn einen Egoisten schimpfen. Doch das wäre falsch, da der Skirab immer um seinen Begleiter Nestri bedacht war. Das Leben hatte ihn nur gelehrt, niemanden zu vertrauen, den er nicht kannte. Das Unheil dort draußen war nur halb so gefährlich, wenn man so war wie Oniv. Und das wussten die Menschen, weswegen sie zu einer gleichwertigen Gefahr für ihn wurden. Viele hatten schon den Tod durch den vermeintlichen Leidensgenossen, den Verbündeten, gefunden, der nur auf seine eigenen Vorteile aus war.

Seinesgleichen war wie minderwertiges Getier gejagt und gefoltert worden, damit die Menschen bessere Waffen hatten. Ihre Technologie hatte dank der unfreiwilligen Hilfe der Skirab einen großen Sprung gemacht, ohne sie hätten sie nie bis heute überlebt. Sie nutzten das Erbe, für das Onivs Volk den Preis zahlte.

Diese Welt machte jeden, der einen starken Überlebenswillen hatte, zu einem gefühlskalten Wesen. Die Härte der heutigen Zeit.

Keiner der hier Anwesenden saß ruhig auf seinem Sitzplatz und das hatte nichts mit der Angst vor dem Ungewissen und dem Verarbeiten des Erlebten zu tun. Der Fahrer, ein wohl junger und unerfahrener Soldat, schien den Transporter durch jedes Schlagloch zu steuern, das er fand. Ein paar Koffer wurden von ihren Besitzern nicht fest genug gehalten. Durch die Erschütterungen fielen sie um, oder den Menschen vom Schoß, die Deckel sprangen dabei auf und verteilten die letzten Habseligkeiten, die in sie gestopft waren, auf dem Boden.

Das Gewimmel, das dadurch entstand, fesselte Onivs Blick. Auch wenn er sie nicht reden hörte, so konnte er sich gut vorstellen, wie ein paar Männer, die die Sachen wieder zurück in die Taschen stopften, den Soldaten für seinen Fahrstil verfluchten. Als sich seine Augen von dem Schauspiel lösen konnten, zuckte er kurz zusammen. Er hatte viel zu spät bemerkte, dass sich ihm ein kleines Mädchen genähert hatte und nun fast vor ihm stand. Sie war in viel zu große Lumpen gehüllt, ihre braunen Haare sträubten sich widerspenstig in sämtliche Richtungen und ihr Gesicht war mit Dreck verschmiert.

In einem Zeitalter wie diesem waren solche Dinge die gepflegte Normalität. Eigentlich ging es ihr vergleichsweise gut, immerhin hatte sie noch alle Gliedmaßen und war am Leben.

Die Kleine biss sich auf die Unterlippe und ihre aufgerissenen Augen starrten auf den Seesack des Skirab. Sie schien als Einzige bemerkt zu haben, dass sich etwas in ihm bewegt hatte, nachdem auch dieser im Getümmel umgefallen war.

Im letzten Moment packte er die Kleine am Handgelenk, um sie am Öffnen der Lasche zu hindern. Große, tränengefüllte Kinderaugen sahen ihn erschrocken an. Oniv hatte im Reflex seine Kraft unterschätzt und so wie das Kind war auch er von seiner eigenen Handlung überrascht worden.

Das Mädchen sah ihm direkt in die Augen. Sein erster fremder Augenkontakt seit Monaten. Es war, als blickte sie tief in ihn und ließ alte Dinge wieder an die Oberfläche.

Mitgefühl.

Hilfsbereitschaft.

Familiensinn.

Viel zu langsam wandte der Skirab seinen Blick von ihr ab. Oniv schüttelte den Kopf und ließ die Kleine los. Große Tropfen kullerten ihre Wangen hinunter, ihr Gesicht verzerrte sich und sie stolperte rückwärts weg von ihm, zurück zu ihren Eltern.

Ihre Mutter, die vielleicht vor einigen Jahren noch wunderschön gewesen war, ähnelte einem Skelett, welches mit der Haut einer Fremden überzogen worden war. Jede Zelle ihres Körpers hatte sie wohl aufgebraucht, um ihr Kind zu beschützen. Nun konnte sie ohne die Hilfe ihres Mannes nicht einmal mehr aufrecht sitzen. Sie sah aus, als wäre sie des Lebens müde, doch würde sie vermutlich erst ihre Ruhe finden, wenn ihr Engel in Sicherheit war.

Der Vater der Kleinen war ein anderes Kaliber. Oberarme so dick wie Baumstämme, vernarbtes Gesicht, einen grau melierten, struppigen Vollbart, der ihm bis zur Brust ging und ein Blick, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er hatte zwar einen weiten, heruntergekommenen grauen Mantel an, aber dem jungen Skirab war beim Einsteigen aufgefallen, dass der Muskelberg darunter eine gepflegte und saubere Uniform der Armee trug. Und vielleicht hatten die Überlebenden es sogar ihm zu verdanken, dass sie Begleitschutz genossen.

Der Hüne verstaute gerade eine alte Tasche unter den Füßen seiner Frau, ohne dass diese eine Regung machte, als sich seine Tochter an seinen Arm klammerte und ihn mit Tränen begoss. Oniv brauchte nicht zu hören, was sie ihm nun schluchzend erzählte, die eiskalten Augen des Vaters folgten dem Fingerzeig seines Engels. Er fokussierte Oniv und im Inneren des Skirab fing ein Orchester aus Alarmglocken an, ihre Melodie des Untergangs zu präsentieren.

Mit all den Zeugen hier im Transporter, und den Soldaten in den Fahrzeugen vor und hinter ihnen, sanken seine Chancen, als freies Lebewesen in Refin anzukommen, fast auf null. Sie waren gerade erst einen Tag unterwegs und in dem Tempo, in dem sie sich bewegten, würden sie noch eine ganze Weile brauchen, bis sie in Refin ankamen.

Es war niemals der Plan von Oniv und Nestri gewesen, mit einem Flüchtlingskonvoi zu reisen. Sie waren immer zu zweit auf ihrer Reise, um eben nicht in solche Situationen zu kommen. Aber als sie durch die Ruinen von Kimub gewandert waren, um Überbleibsel und Ausrüstung aus den Trümmern zu bergen, waren sie von der Soldateneskorte entdeckt worden. Ihnen war keine andere Wahl geblieben, als sich als Überlebende auszugeben.

Er war sich nicht sicher, ob es eine Bodenwelle war, oder die Gewichtsverlagerung beim Aufstehen des Muskelbergs. Aber in Oniv stieg eine unangenehme Nervosität auf, die einzig und allein diesem Kerl geschuldet war, der nun in seine Richtung schritt. Der Zauber, den er gleich wirkte, war sein Rettungsseil für diese Situation.

Kurz bevor der Mann vor Oniv stand, murmelte dieser ein paar Phrasen vor sich hin. Er wusste, dass sich seine Augäpfel vom grellen Rot nun komplett Weiß gefärbt hatten. Über seiner Iris hatte sich ein grauer Nebel gelegt, der alles für ihn verfinsterte. Der Skirab mimte gerade nicht nur den sehbehinderten Menschen, er war in diesem Zustand tatsächlich blind.

Ohne auf den Einsatz des Vaters zu warten, sah er einfach in die Richtung, in der er seine Augen vermutete. Der Muskelprotz war so dicht vor ihm, dass Oniv seinen Atem riechen konnte, als säße er in seinem Mund. Er senkte den Kopf noch rechtzeitig zu Boden, um den Mann zu überzeugen. Der schlechte Geruch des Hünen wurde schwächer. Der Nebel in Onivs Augen lichtete sich wieder und seine Sehkraft kam zurück. Der Muskelberg ging zu dem Platz neben seiner Frau zurück, setzte sich und erklärte seiner Tochter, ohne Worte die vermeintliche körperliche Beeinträchtigung, die der Skirab vorgab zu haben.

Das war viel zu knapp, ich muss einen großen Bogen um diese Familie machen, sollten wir halten.

Oniv hatte einmal miterlebt, was mit einem Skirab geschah, der seine Tarnung verloren hatte.

Gefangennahme, Folter, Tod. Alles auf die grausamste Weise.

Sein Leben verdanke Oniv allein Nestri. Sie hatten viele Gemeinsamkeiten. Jeder von ihnen hatte das Leben des anderen gerettet, war wahrscheinlich der Letzte seiner Art und sorgte für das Wohl des Weggefährten. Die beiden waren ein Traum Duo in diesen harten Zeiten, gegen sie wirkte sogar die Eliteeinheit der Menschen, die sich die Gesegneten nannten, wie ein Haufen untrainierter Kinder. Sie hatten zwar die bessere Bewaffnung, aber es fehlte ihnen oft an Erfahrung, Zusammenhalt und dem gewissen Etwas, welches Oniv und Nestri verband. Dies brachte keine Ausbildung der Welt diesen verrückten Menschen bei.

Alleine, wenn er an diesen Stolz der Menschenarmee dachte, lief ihm ein Schauer den Rücken hinab.

Wo nimmt die Regierung immer diese Geisteskranken her, die dort im Einsatz waren, wo andere flüchteten?

Ständig waren sie zahlenmäßig in der Unterzahl und umzingelt von diesen Dingern, die sie liebevoll Wirte getauft hatten. Ein so harmloser Name für die Seuche, die sie alle noch töten wird.

Aber als wäre dies nicht genug, jagten sie auch noch die einzige angeblich größere Gefahr des Planeten, ein Phantom. Niemand wusste genau, ob die Geschichten stimmten, wer oder was es war und ob dessen Vernichtung ihre Rettung sein würde, aber jedes Jahr wurden die acht Gesegneten mit Orden gerühmt, für ihre waghalsigen Einsätze. Das heizte die Gerüchte in den Barackenstädten und Schwarzmärkten natürlich an.

Oniv verfolgte die Ehrenzeremonie dieser Elitesoldaten, wenn er konnte, aus sicherer Entfernung, man musste das Gesicht seines Feindes schließlich kennen. Wobei man diese niemals sah. Die Gesegneten trugen eine einzigartige Ausrüstung, zu der auch ein Vollhelm gehörte. Man konnte diese acht Verrückten nur an den Markierungen, die sie selbst dort angebracht hatten, unterscheiden. Und bei jeder Zeremonie fehlten entweder ein paar oder es waren wieder neue Mitglieder dabei. Nur wenige von ihnen hatten seit der Gründung vor acht Jahren irgendwie überlebt. Nach Onivs Ansicht kamen sie vierundzwanzig Jahre zu spät.

Wie viele könnten noch leben, wenn es diese Verrückten seitBeginn des Untergangs gegeben hätte? Das Gesicht seines Großvaters erschien vor seinem inneren Auge.

Ein plötzlicher Ruck warf ihn aus seinen Gedanken. Das Gefährt hatte so stark gebremst, dass er von seinem Sitzplatz rutschte. Die Leute um ihn schrien wegen des unerwarteten Stopps auf, Kinder weinten, und einige hielten sich fest und beteten.

Ein Schuss ertönte außerhalb des Wagens und alle kauerten sich auf den Boden.

»Das ist er, das ist Ecusar!« Ohne eine Vorwarnung schrie einer der Flüchtlinge seine Vermutung heraus, wippte dann kreidebleich vor und zurück und starrte zur Decke.

Panik war in den Gesichtern der Menschen zu sehen, als der bekannteste Name des Phantoms fiel.

Es gab viele Gerüchte um ihn. Die meisten stellten ihn als personifizierten Tod und Untergang dar. Wo er auftauchte, lag einige Zeit später alles in Schutt und Asche. In so gut wie jeder Festung, die unterging, war er angeblich vorher gesichtet worden.

Andere hingegen bezeichneten ihn als eine Art Helden, der spürte, wann eine Stadt dem Untergang geweiht war und dass ohne ihn niemand überleben würde. Immer wurde von einer schlanken Person erzählt, in dreckige Lumpen gehüllt und bis an die Zähne bewaffnet. Niemand konnte erkennen, wer hinter dem Phantom steckte, da es eine Gasmaske mit verspiegelten, roten Augengläsern trug.

Aufgrund der geringen Anzahl der Überlebenden war es jedoch fraglich, ob man etwas davon glauben konnte. Bei den grausamen Angriffen bildeten sich Menschen gerne Dinge ein, die es nicht gab.

Auch bei der Vernichtung der Stadt Kimub, aus der die Leute hier kamen, war Ecusar gesehen worden. Bevor man Oniv gezwungen hatte, in den Lastwagen einzusteigen, hatte er andere Überlebende über das Phantom reden hören. Man konnte diese Menschen für verrückt erklären, oder sie als Augenzeugen betrachten. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Er war sich unsicher, was er von all den Geschichten halten und wie er Ecusar einschätzen sollte.

Nach einer längeren Pause ertönten außerhalb des Transporters weitere Schüsse. Ein Junge traute sich und steckte seinen Kopf zwischen den Planen hindurch nach draußen. Blitzschnell zog er ihn wieder zurück und war kreidebleich.

»Sie haben uns eingeholt! Die Wirte sind –«

Weiter kam er nicht. Ein schleimig tropfender Tentakel war durch dieselbe Öffnung erschienen, durch die er kurz zuvor seinen Kopf gesteckt hatte, packte ihn am Hals und zog ihn raus. Der Schrei des Jungen zerriss die letzte Hoffnung, die die Menschen hier noch hatten.

Während die Soldaten außerhalb mit Befehlen um sich brüllten und die Flüchtlinge verteidigten, brach im Transporter endgültig Panik aus. Die Leute schrien, wimmerten oder beteten. Diejenigen, die an der Plane saßen, drängten weiter in den Lastwagen hinein, dabei stießen sie mit den anderen zusammen. Die Situation wurde noch ungemütlicher, als sie es ohnehin schon war.

Der Muskelberg zog seine Tochter an sich und stand auf. Nach ein paar Sekunden klappte die Sitzfläche des Platzes, auf dem er gesessen war, hoch. Er drehte sich zu ihnen allen um und in seinem Gesicht war pure Entschlossenheit zu erkennen.

»Frauen, Kinder und Kranke bleiben hier, jeder, der eine Waffe tragen kann, nimmt sich eine und verteidigt seine Familie!«

Seine grollende Stimme übertönte den Lärm des Gefechts. Onivs Vermutung hatte sich bewahrheitet. Er war einer vom Militär und hatte unter seiner Sitzbank ein Waffenversteck freigegeben, um sie in die Schlacht zu führen. Und obwohl die Leute hier wussten, welche Schrecken dort draußen auf sie warteten, bot ihnen der Muskelprotz Hoffnung. Nicht länger saßen sie hilflos hier im Transporter, sondern jeder, der kämpfte, würde gleich sich und seine Liebsten aktiv schützen.

Um den Anschein seiner Behinderung zu wahren, blieb Oniv sitzen.

Frauen und Kinder weinten, als sich ihre Männer, Väter, Brüder und Söhne verabschiedeten, sich jeder eine Waffe griff, und sie nach und nach zitternd durch die Plane schritten.

Der Kampflärm nahm schlagartig zu, man hörte oftmals sogar das Eindringen von Kugeln in das matschige Fleisch der Wirte. Sie waren verdammt nah.

Viele der Verbliebenen wimmerten, beteten zu wem auch immer oder saßen regungslos da. Die meisten zuckten zusammen, wenn Explosionen das Fahrzeug durchschüttelten. Gegen die vermeintliche Überzahl setzten sie nun Granaten ein, nicht unweit von ihnen entfernt. Langsam wurde Oniv nervös.

Während die Schreie mehr und der Gewehrlärm weniger wurde, bemerkte er, wie die Tochter des Muskelbergs sich der Öffnung an der Plane näherte. Sie suchte wahrscheinlich nach ihrem Papa und war sich der Gefahr dort draußen nicht bewusst.

Bitte bleibe stehen. Bitte bleib stehen!

Doch es war zu spät. Sie machte einen Schritt zu weit und fiel durch die Plane aus dem Transporter. Für einen kurzen Moment beobachtete er wie alle anderen untätig und vor Angst erstarrt dasaßen. Einzig die Mutter der Kleinen erhob zitternd ihren Arm und versuchte, die Übrigen mit einem stummen Fingerzeig von dem eben Geschehenen zu unterrichten.

Er musste selbst eingreifen und seine Tarnung fallen lassen. Der Skirab sprang auf, schulterte seinen Seesack und stürmte zum Ausgang.

»Nestri, es geht los!«

Als Oniv die Plane erreichte, riss er diese beiseite und sprang hinaus. Nestri hechtete wie auf Kommando aus seinem Seesack, der sein Versteck gewesen war, seine beiden Pistolen bereits in seinen Echsenhänden und sein Maul weit zu einem Schlachtruf aufgerissen. Die Bewaffnung von Nestri waren modifizierte Versionen der Waffen der Armee, angepasst auf die Körpergröße vom Echsenjungen. Und genau wie die Version des Militärs wurden auch Nestris Pistolen mit Magie von Skirab aufgeladen, in ihrem Fall geschah dies aber freiwillig und ohne jegliches Leiden.

Mit seinen ersten Schüssen durchlöcherte Nestri zwei Wirte, die über dem Mädchen standen. Sie wirkten wie Tote mit ihrer fahlen Haut und hatten wie jede dieser Kreaturen eine tödliche Wunde am Körper, aus der kein Blut, sondern eine klebrige, schwarze Flüssigkeit tropfte. Ihre Augen waren so weit nach oben gerollt, dass man nur noch das Weiße sah. Von diesen beiden ging noch kein fürchterlicher Gestank aus, lange waren sie also noch nicht tot.

Oniv packte die Kleine im Sprung und drückte sie schützend an sich. Mit nur einer freien Hand war ein Kampf um einiges schwieriger, aber er konnte es schaffen.

Der metallische Geruch nach Blut stach ihm bereits seit dem ersten Atemzug hier draußen in der Nase. Die frischen Wirte waren das geringste Übel. Sie waren nur wandelnde Tote, denn die Seuche hatte noch keine Zeit gehabt, sie zu mutieren und zu Massenvernichtungswaffen umzufunktionieren. Sorgen bereitete Oniv ein älteres Exemplar, das sich ihnen näherte. Man erkannte fast nicht mehr, was für ein Lebewesen es einmal gewesen war. Grotesk mutiert hatte es Sichelklauen, Stacheln, mehrere zusätzliche Gliedmaßen, die an den seltsamsten Stellen aus dem Körper gewachsen kamen. Und es hatte ein riesiges Maul, welche Mordmaschine und Seuchenverbreitung in einem war. Bei manchen dieser mutierten Monster erkannte man sofort, wo man nicht hineingeraten wollte, monströse spitze Zähne umrandeten das Maul. Bei anderen konnte dieses überall sein, es war versteckt und erst zu sehen, wenn es zu spät war. Oniv wollte bei dem Untoten, der sich ihnen näherte, nicht herausfinden, zu welcher Kategorie er gehörte und weg sein, bevor er hier eintraf.

Der Skirab blickte sich schnell um, sah aber zu seiner Erleichterung keines der seltenen, schleimigen Exemplare. Diese verströmten ein Gas, das alles augenblicklich umbrachte und in ihresgleichen verwandelte, wenn man es einatmete. Wäre ein solcher Wirt hier anwesend, wären sie alle bereits tot, so schutzlos waren sie dem Gas ausgeliefert. Diese seltenen Monster hatten gar keinen festen Körper mehr und waren nur noch ein dickflüssiger Gewebehaufen, was sie noch gefährlicher machte, wusste man nicht, wo der tödliche Treffer zu landen hatte. Oniv wollte gar nicht wissen, wie viele davon durch die Wüste dieser Welt krochen.

Das Mädchen klammerte sich weinend an den Skirab. Im Getümmel sah er, dass der Militärlaster, der vor ihrem Transportmittel gefahren war, bereits in Flammen stand. Es war hier nicht mehr sicher. Mit dem Mädchen im Arm lief Oniv auf eine Felsformation zu, um dort Schutz zu suchen. Nestri folgte ihm dicht auf den Fersen.

Wo früher in dieser Welt Wälder, Wiesen und Siedlungen gewesen waren, erstreckte sich nun eine Wüste aus Sand, Steinen, Knochen und Trümmern von Gebäuden und Fahrzeugen.

Flüchtig sah er sich um und Oniv stellte fest, dass sie sich in der Nähe einer der alten Menschenstädte aufhielten, welche von Flüchtlingskarawanen oft als Nachtlager genutzt wurden. Dies war auch sehr wahrscheinlich der Grund, warum sie so viele frische Wirten attackierten. Es mussten andere Überlebende gewesen sein, die aus Kimub geflohen waren und wie ihre Karawane nach Refin gewollt hatten.

Nestri schoss ihnen den Weg durch die stöhnende Masse frei, während Oniv mit seiner freien Hand versuchte, den Feind zu verbrennen. Der Skirab beschwor instinktiv Feuerbälle in seinen Handflächen, er hatte diese Technik sein ganzes Leben lang geübt. Mit dem Kind im Arm fiel es ihm jedoch schwerer als sonst, gezielte Treffer zu landen. Er konnte sich nicht so frei bewegen wie üblich, war durch das Gewicht des Mädchens eingeschränkter und verlor bei manchen Würfen beinahe das Gleichgewicht. Zu ihrem Glück mussten sie sich ihren Weg nur durch frische Wirte bahnen.

Fast hatten sie den großen Felsen erreicht, als eine Explosion sie von den Füßen riss.

Schützend drückte Oniv die Kleine an sich. Er wusste nicht, ob es an dem ersten Augenkontakt seit Langem gelegen hatte, aber seine innere Stimme sagte ihm, ihr dürfe nichts passieren.

Der donnernde Lärm hatte ihn betäubt. Ein monotones Pfeifen klirrte ihm in seinen Ohren. Die Schreie der Verletzten und Sterbenden wurden dadurch stummgeschaltet.

Hinter ihnen war der Transporter in die Luft geflogen, in dem sie sich noch vor wenigen Momenten befunden hatten. Flammen schossen gen Himmel und eine tiefschwarze Rauchsäule bildete sich darüber. Um die Stelle der Explosion wandelten brennende Wirte, deren Stöhnen im Knistern des Feuers unterging. Weit kamen diese nicht, bevor sie endgültig ihren Frieden im Flammentod fanden.

Die Luft roch nach verbranntem Fleisch. Oniv kannte diesen Geruch, trotzdem erlebte er immer wieder aufs Neue diese Übelkeit, war ihm doch bewusst, dass es einmal Menschen gewesen waren.

Sein Gleichgewicht spielte genau im falschen Moment verrückt. Aufstehen war ihm jetzt nicht möglich. Er sah, wie das kleine Mädchen weinte und ihn nicht mehr losließ, wie Nestri ihn anschrie und wohl dazu bewegen wollte, aufzustehen. Unweit von ihnen kämpften die letzten zwei Soldaten und der Muskelberg ums Überleben, der Rest war tot oder mutiert. Und diese schlurfende und stöhnende Gefahr bewegte sich auf sie zu.

Während ihm warmes Blut über die Stirn lief, wahrscheinlich aus einer Verletzung durch die Explosion, kroch Oniv mit seinen verbliebenen Kräften noch einige Meter weiter, bis sein Rücken den sicheren Felsen berührte. Zumindest konnten sie nicht von hinten angegriffen werden.

Er war sich nicht sicher, ob ihm sein Verstand, dank der Verletzung, Streiche spielte, aber es war, als würde sich aus der Ferne etwas in einer Staubwolke auf sie zubewegen. Es war zu schnell für eine Horde Wirte und es war mehr als unwahrscheinlich, dass es sich dabei um eine Verstärkung der Soldaten handelte.

Nestri baute sich vor Oniv auf, richtete eine Waffe auf die Wirte und eine auf die Wolke, sah zu dem Skirab nach hinten und zwinkerte ihm zu. Er kannte diese Geste. Sie hatten sie schon mehrere Male genutzt. Immer in Momenten, in denen alles zu enden schien, in denen der eine den anderen zu beruhigen versuchte und in denen ihre Chancen zu überleben einen Tiefpunkt erreicht hatten. Zu ihrem Glück war die Bedeutung der Geste noch nie wahr geworden.

Oniv sah sich schon als weitere, verlorene Seele der Wüste, schloss seine Augen, drückte das Mädchen fester an sich und betete. Plötzlich vernahm der Skirab ein ihm bekanntes Geräusch, schreckte hoch und zog Nestri in seine Richtung.

Genau in diesem Moment raste ein Fahrzeug an ihnen vorbei, überrollte die Wirte, die sie fast erreicht hatten, und hielt mit quietschenden Bremsen. Als sich die Staubwolke legte, traute Oniv seinen Augen nicht.

Aus der Wolke schälte sich ein ähnlicher Transporter, wie der, der sie hier ins Verderben gebracht hatte. Der aufgewirbelte Staub rieselte auf die Motorhaube. Die oft geflickte Plane wurde kurz angehoben und von der Ladefläche sprang eine schlanke Person. Erste Schüsse wurden aus dem Maschinengewehr gefeuert und bevor die Gestalt den Boden berührte, hatte es bereits zwei Dutzend Wirte erledigt. Die Untoten fielen in den rotbraunen Staub, während ein paar Zentimeter daneben die drei Überlebenden unbeschadet blieben. Das Abfeuern des Gewehrs bildete einen neuen Rhythmus im Gefecht. Die letzten drei Soldaten hatten wieder Mut gefasst. Sie erstachen und erschossen Wirte, die einmal ihre Kameraden waren.

»Ecusar …«, entfuhr es Onivs Lippen.

Das Phantom trug eine alte Militärweste, deren Taschen prall gefüllt waren. Die Kleidung der unbekannten Gestalt war verdreckt, verstaubt und zerschlissen. An den Armen und Beinen waren verschiedene und nicht zusammenpassende Rüstungsteile angebracht.

Der Skirab hatte bei seiner Reise hin und wieder Menschen getroffen, die so gekleidet waren. Sie lebten hier draußen, abseits der letzten Städte. Auch die Bewaffnung des Unbekannten wies darauf hin. Über der Weste hatte die Person einen Patronengurt mit uralter Munition, er hatte links und rechts an der Hüfte zwei Gurtholster, darin waren alte abgegriffene Pistolen. Am Rücken waren ein Paar Macheten befestigt.

Normalerweise machte Oniv einen großen Bogen um Menschen, die so vollgepackt mit Waffen waren. Sie waren den Ärger nicht wert, der sie begleitete. Und nun war so jemand zu ihm gekommen, hatte ihn sogar gerettet.

Zu allem Überfluss trug der Unbekannte ein großes Maschinengewehr, wie sie vor der Katastrophe hergestellt worden waren. Diese langen Exemplare hatte Oniv bisher nur auf alten Fahrzeugen der Armee gesehen, noch nie, wie jemand damit aus der Hüfte feuerte.

Ecusar schritt den wandelnden Toten entgegen. Er ging nur wenige Meter entfernt an Oniv und Nestri vorbei, aber der Skirab konnte nicht erkennen, um wen es sich bei dem Phantom handelte, da es das Gesicht mit einer Kapuze verdeckte. Bei genauerem Betrachten sah alles an dem Unbekannten noch heruntergekommener aus, als er es jemals bei jemanden gesehen hatte.

Als dann der Lärm des Gewehrs abrupt erlosch, warf er es mit rauchendem Lauf zu Boden und er zog seine Pistolen aus den Holstern. Präzise wie zuvor, aber mit einer noch höheren Geschwindigkeit, dezimierte er die Bedrohung. Die Bewegungen sahen aus wie Tanzschritte. Als ob der Tod persönlich mit den untoten Kreaturen seinen letzten Tanz vollführen würde.

Nestri half Oniv auf die Beine. Noch immer drückte er die Kleine an sich, sie sollte von all dem hier nichts sehen. Fest hatte sie die Hände auf die Ohren gepresst.

»Wir müssen zum Transporter!«, schrie der Skirab seinem Kameraden zu. Die Worte gingen fast unter im Lärm der Schlacht.

Nestri nickte ihm zu. Während Oniv die wenigen Schritte zu ihrem Ziel lief, hielt die Echse ihm den Rücken frei. Sie erreichten den alten Transporter. Nestri sprang durch die Plane und streckte seinem Freund die Arme entgegen. Dieser hob die Kleine hoch und mit Nestris Hilfe kroch sie in den Lastwagen. Sie kauerte sich in die Ecke an der Ladeflächenkante, zog sich ihre Knie an die Brust und setzte ihr Kinn darauf ab und schloss ihre Augen. Als das Mädchen und Nestri in Sicherheit waren, sah sich der Skirab ein letztes Mal um, ob auch wirklich keines der untoten Monster in ihrer Nähe war. Anschließend ergriff Oniv die kalte Kante und zog sich selbst hoch in Sicherheit.

Im Laster herrschte ein schummriges Licht, das aber in diesem Moment nicht bedrohlich wirkte. Der Skirab legte sich mit dem Rücken auf dem kalten Boden der Ladefläche nieder. Er hörte, wie ihm das Blut durch den Kopf strömte, sein Herz hämmerte rasend in seiner Brust und seine Lunge brannte. Oniv nahm ein paar tiefe Atemzüge und zwang sich, gleichmäßiger zu atmen und somit seinen Puls zu beruhigen. Lichter des Adrenalins blitzen vor seinem inneren Auge auf und machten die Dunkelheit zu einem Schauspiel, dass nur er genießen konnte.

»Wir haben es geschafft Nestri!«, keuchte Oniv. »Wir überleben jeden Mist!«

Sein Begleiter erwiderte nichts. Das war untypisch für ihn. Irgendetwas war faul hier. Bevor er sich jedoch umsehen konnte, drückte jemand den kalten Lauf einer Waffe gegen seine Stirn.

Ein leises Kichern ertönte über ihm. Es war eine Frauenstimme.

»Peng! Du bist tot.«

- Kapitel 2 -

Suku

Eine blecherne Stimme unterbrach Sukus leichten Schlaf.

»Alle Gesegneten sofort in der Kommandozentrale melden!«

Ohne zu zögern, sprang die junge Frau aus ihrem Bett und zog ihre Uniform mit der Schutzbekleidung an.

Ihr Zimmer war nur ein kleiner Raum mit einer Pritsche, einem Spind und einem Bücherregal, größer war ihr Besitz nicht. Zu gefährlich war ihr Beruf und sie wollte nicht, dass jemand nach ihrem Tod Arbeit damit hatte, ihren Ballast zu entsorgen.

Die leeren Wände, die aus zusammengenieteten und -geschweißten Metallplatten bestanden, waren anfangs für sie ziemlich erdrückend gewesen. Im Laufe der Jahre beim Militär hatte sie sich an den Anblick gewöhnt, so wie sie sich an den Tod gewöhnte, dem sie auf ihren Missionen begegnete.

Um nicht ganz abzustumpfen und sich innerlich tot zu fühlen, hatte Suku immer eine Kette um den Hals mit einem Kristall als Anhänger. Sie wusste nicht, was das genau für ein Stein war, aber sie liebte den rotorangen Farbton, der in ihr ein gutes Gefühl auslöste, wenn sie ihn ansah. An freien Tagen, an denen sie immer für sich allein war, hielt sie den Kristall gegen das Sonnenlicht und verlor sich oftmals stundenlang in dessen Farbspiel.

Und trotzdem verband sie auch etwas Wehmut mit diesem Schmuckstück. Ihre Eltern hatten es ihr geschenkt, als sie sich entschied, zur Armee zu gehen. Oft stellte sich Suku die Frage, ob ihre Eltern es gutgeheißen hätten, dass sie anschließend zu den Gesegneten gegangen war. Sie malte sich zwar alle möglichen Antworten aus, würde aber nie Gewissheit bekommen. Sie war dieser Gruppe beigetreten, da ihre Eltern durch die Hand des Staatsfeinds Ecusar ihr Leben gelassen hatten.

Allein, wenn sie an diesen Namen dachte, kochte in ihr die Wut hoch. Dieses Wesen, was auch immer es war, hatte einen Konvoi mit Reisenden angegriffen und sie allesamt ermordet. Selbst vor den Kindern hatte es nicht Halt gemacht. Sie alle wollten nur nach Sightt kommen, um ihre Verwandten zu besuchen oder ihrem Alltag nachzugehen. Und dieses Monster hatte so viel Leid über unzählige Familien gebracht.

Selbst, wenn Suku sich vorher nicht sicher gewesen war, welche der Gerüchte über dieses Phantom stimmten, so stand für sie nach diesem Angriff fest, dass es nicht nur der oberste Staatsfeind war, sondern auch ihre persönliche Nemesis.

Suku bemerkte, dass sie ihre Hände zu Fäusten geballt hatte und diese zitterten.

Sie schüttelte den Kopf und somit ihre negativen Gedanken von sich. Diese Gefühle hatten bei ihrer Arbeit keinen Platz. Suku wollte nicht auf einer Mission scheitern, nur weil sie sich in Gedankenspielen verhedderte oder ihre Emotionen nicht im Griff hatte.

Nachdem ihre Pistole im Holster einrastete, spurtete sie aus ihrem spärlich eingerichteten Raum. Der Gang dieser Basis war genauso karg wie ihr Zimmer, nur hingen hier und da Propagandaposter des obersten Senators, die die Moral der Truppen steigern sollten.