Das Geflüster der Nachtfalter - Mark Fear - E-Book

Das Geflüster der Nachtfalter E-Book

Mark Fear

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Beschreibung

Buamak. Das große Meer, das die vernichtete Skirabstadt Submulok beherbergt. Ein Ort, der heute als verflucht gilt. Eine Sperrzone an der Küste und die Geburtsstätte der Seuche, der Wirte und des Untergangs. Wider jeder Vernunft führt die Jagd nach den Seelensplittern Oniv und die anderen genau dorthin. Sie folgen dem letzten Hinweis von Gormit. Doch wer ist der mysteriöse Freund des Golems, den sie treffen sollen? Was erwartet sie in der zerstörten Unterwasserstadt? Und wie mächtig wird der Seelensplitter sein, den sie besiegen müssen? Der Sieg über den schwarzen Stern schein zum Greifen nah ... Das epische Finale der »Das Geflüster der Nachtfalter«-Reihe!

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Seitenzahl: 363

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Content Notes

Diskriminierung und Verfolgung aufgrund ethnischer

Herkunft

körperliche Gewalt

Folter

Freiheitsberaubung

Kriegshandlung

Tod

Trauerbewältigung

Depression

Blut

Mord

Erbrechen

Tod eines Familienmitglieds

selbstverletzendes Verhalten

Selbstmord

Für meine Frau.

Ohne dich könnte ich diese Reise nicht beenden, denn ich hätte sie niemals angetreten.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Nestri

Kapitel 1

Oniv

Kapitel 2

Lemokapi

Kapitel 3

Maki

Kapitel 4

Maida

Kapitel 5

Suku

Kapitel 6

Maki

Kapitel 7

Maida

Kapitel 8

Lemokapi

Kapitel 9

Suku

Kapitel 10

Oniv

Kapitel 11

Maki

Kapitel 12

Suku

Kapitel 13

Lemokapi

Kapitel 14

Maki

Kapitel 15

Rorim

Kapitel 16

Suku

Kapitel 17

Oniv

Kapitel 18

Lemokapi

Kapitel 19

Maida

Kapitel 20

Maki

Kapitel 21

Oniv

Kapitel 22

Lemokapi

Kapitel 23

Suku

Kapitel 24

Rorim

Kapitel 25

Maki

Kapitel 26

Lemokapi

Kapitel 27

Maki

Kapitel 28

Suku

Kapitel 29

Oniv

Kapitel 30

Maida

Kapitel 31

Maki

Kapitel 32

Suku

Epilog

Danksagung

- Prolog -

Nestri

Still verharrte die kleine Eidechse auf einem flachen Stein. Die Wärme der morgendlichen Wüste schlich durch ihre Haut und ein Knistern breitete sich in ihren Zellen aus. Das Sonnenbad brachte die Echse allmählich auf Betriebstemperatur. Die grellgrünen Schuppen waren auffällig zwischen vertrocknetem Moos, ausgedorrten Ästen und dem roten Sand.

Die kuschelige Steinmauer, die ihr Zuhause gewesen war, hatte sie verlassen müssen. Immer längere Streifzüge nach Futter führten sie in diese Einöde. Sie folgte den Heuschrecken, hatte keine andere Wahl. Viele Artgenossen waren zurückgeblieben, waren verhungert oder Fressfeinden zum Opfer gefallen und so wollte die Echse ihr ohnehin kurzes Leben nicht beenden lassen.

Lange würde sie nicht mehr auf diesem Stein liegen, sie würde gleich genug aufgewärmt sein, um auf Nahrungssuche zu gehen. Die letzten beiden Tage hatte sie leer ausgehen müssen und eine weitere erfolglose Jagd würde ihr Ende sein, das sagte ihr ihr Instinkt. Alles musste schnell passieren, bevor die Hitze des Tages sie zwang, sich in einen Unterschlupf zu verkriechen. Und während die Echse dort für jedermann sichtbar herumlag, zuckten die Augen flink umher, um jede Himmelsrichtung im Blick zu behalten. Sie wollte nicht von Greifvögeln gefressen werden, auch wenn diese seltener geworden waren. Ebenso wollte sie nicht von einem der großen, komischen Tiere gefangen werden, die sich auf zwei Beinen bewegten.

Nur indem sie ihren Schwanz abgeworfen hatte, war sie gerade noch einer solchen Kreatur entflohen. Es hatte sich bei ihr eingeprägt, dieses ganz und gar nicht angenehme Gefühl. Zwar war ein neuer Schwanz nachgewachsen, aber er war bei Weitem nicht so lang und wunderschön wie der erste. An den Juckreiz in diesem Moment mochte die Eidechse auch nicht denken.

Ein Geräusch ließ sie aus ihrem Sonnenbad aufschrecken. Sie hörte, wie der Sand knirschte, ihre Augen suchten alles ab und ihr Kopf und Körper führten einen nervösen Tanz auf dem Stein auf.

Blitzschnell schoss ihre gespaltene Zunge hervor. Das Reptil witterte einen dieser Zweibeiner und wandte sich in dessen Richtung. Schwere Atemzüge schwangen um die wankende Gestalt.

Noch einmal züngelte die Eidechse. Augenblicklich wusste sie, dass es keiner dieser Kranken war, die immer öfter ihren Weg kreuzten. Diese rochen ganz widerlich und aus allen Körperöffnungen floss ein schwarzer Glibber, dem die Echse nicht zu nahe kommen wollte. Aber sonderlich gut ging es diesem hier auch nicht, er torkelte durch den Sand. Der Zweibeiner war noch klein, es musste sich um ein Jungtier handeln, das von seiner Herde getrennt worden war. Wohl würde das Geschöpf hier bald sein Ende finden.

Dieser Gedanke gefiel der Echse, denn wenn sie verenden, lockt ihr totes Fleisch Insekten an, mit denen sie sich den Bauch vollschlagen konnte. Dann fiel der Zweibeiner erschöpft in den Sand und blieb mit dem Kopf neben dem Stein liegen, auf dem die Eidechse saß.

Schnell huschte sie beiseite und versteckte sich. Doch eine unbekannte Neugier trieb sie wieder hinauf auf den Stein.

Der Zweibeiner hatte kein Fell und seine Augen waren nur halb geöffnet. Rote Augäpfel sahen in die Leere. Der Oberkörper hob und senkte sich nur noch langsam und schwach. Lange konnte es also nicht mehr dauern.

Plötzlich zeigte das Wesen seine Zähne, seine Mundwinkel gingen nach oben.

Unverständliche Laute kamen aus dem Maul des Zweibeiners.

Das Wesen hob einen Vorderlauf und streckte diesen nach der Echse aus, ohne nach ihr zu greifen. Bereit, jeden Augenblick hinter dem Stein zu verschwinden, stand diese angespannt da. Es hatte keine Krallen, so wie es die Eidechse hatte, sondern nur fleischige Dinger, die auf sie zeigten. Dann presste der Zweibeiner seine Augen zusammen und gab angestrengte Laute von sich. An den Spitzen der klauenlosen Dinger entstanden kleine Lichter und die Echse starrte unentwegt dort hin. Eine angenehme Wärme, viel besser als die der Sonne auf dem Stein, durchströmte den Körper der Eidechse.

Ohne sich wirklich zu bewegen, änderte sich der Blickwinkel auf den Zweibeiner. Gerade noch hatte das Reptil zu ihm hinauf gesehen, einen Augenblick später sah sie auf ihn herab. Die Echse sah sich genauer um und erschrak.

Sie war es, die sich veränderte, sie wuchs und wurde immer größer. Ein Jucken breitete sich in ihren Körper aus. Ähnlich dem Gefühl, als ihr Schwanz nachgewachsen war, nur nicht so unangenehm, sondern viel mehr prickelnd.

Und dann ließ der Zweibeiner seine Hand kraftlos in den Sand fallen.

Bilder durchfluteten den Geist der Eidechse. Ein faltiger Zweibeiner grinste sie an, nickte und seine Lippen bewegten sich. Dann sah sie, wie sie etwas aus einem glänzenden Objekt fischte und aß, ein noch nie gewesener Geschmack durchströmte ihre Sinne. Erneut veränderte sich die Szene, sie saß in einer dunklen Höhle und der andere Zweibeiner schlich sich hinaus in die Nacht.

Die Eidechse schüttelte den Kopf und als wäre nichts gewesen blickte sie wieder auf den Zweibeiner im Sand.

»I-ich …«, keuchte dieser und die Echse zuckte zusammen, als sie ihn auf einmal verstand. »Ich will nicht sterben …« Dicke Tränen sickerten in den Sand. »Will nicht alleine sein…«, hustete das Wesen trocken.

Es drehte sich auf den Rücken und ein bisschen vom roten Wüstenboden blieb in seinem Gesicht kleben. Es stand nicht sehr gut um diese Kreatur.

Wieder blitzten Bilder im Verstand des Reptils auf. Ein verschlossenes Behältnis mit Wasser, das in den Bauten der Zweibeiner zu finden war.

Instinktiv imitierte die Echse das Verhalten der Zweibeiner und stellte sich auf die Hinterbeine. Es fühlte sich besser und richtiger an, als auf allen vieren zu laufen.

Blitzschnell lief die Eidechse im zick zack los. Es war toll, sich so schnell zu bewegen. Für diese Strecke hätte sie sonst einen Tag gebraucht und nun war sie in kurzer Zeit in einem der schattigen Bauten. Ein neuer Instinkt regte sich in ihr. Die Bilder in ihrem Kopf verbanden sich mit Ideen, die ihr vollkommen neu waren. Sie musste das Leben des Zweibeiners retten.

Sie flitzte von einem Menschenbau zum nächsten, nahm sich einen kleinen Beutel mit und füllte diesen mit Dingen. Sie griff nach allem, was den Bildern in ihrem Verstand ähnelte. Glänzende Gegenstände mit bunten Bildchen darauf, die der Echse den Sabber im Mund zusammenlaufen ließen, auch wenn sie diese nicht kannte. Und eins dieser Dinger, in denen Wasser war.

Mehrmals zischelte sie. Da stimmte etwas nicht. Sie nahm einen Geruch wahr, aber er legte sich nicht wie gewohnt auf ihre Zunge. Viel mehr durchströmte er sie bei jedem Atemzug.

Mit einem Kopfschütteln wandte sie sich wieder ihrer Aufgabe zu und lief so schnell, wie sie in diese Siedlung geeilt war, wieder zu dem Zweibeiner zurück. Er lag noch immer dort, hatte sich kein Stück bewegt.

Ohne zu hinterfragen, woher sie das Wissen dafür hatte, öffnete sie das Wassergefäß und half dem Zweibeiner, daraus zu trinken. Anfangs hustete er, als das lauwarme Wasser in seinen Mund floss, aber mit der Zeit trank er ohne Probleme. Sein Blick wurde klarer und das Zittern seiner Lippen ebbte ab. Mit zwei kräftigen Zügen leerte er die Flasche und atmete schwer aus.

»D-danke …«, entkam es dem Zweibeiner.

Dann knurrte der Bauch der Eidechse.

Von wie vielen Heuschrecken werde ich nun satt? Ein Ruck bebte durch ihren Verstand, als sie eine quiekende Stimme in ihrem Kopf hörte.

Blitzschnell sah sie sich um, konnte aber niemanden sehen als den Zweibeiner.

»Hast du etwas gehört?«, gab der Rotäugige von sich.

Das Reptil nickte und tippte sich auf den Kopf.

»Ich schätze, die ersten Gedanken, die durch den Verstand schwirren, können erschreckend sein.« Er versuchte sich aufzurichten, aber seine zittrigen Arme gaben nach.

Das Reptil reichte ihm einen kleinen Metallbehälter, auf dem Obst abgebildet war. Mit einem Ruck an einer Lasche öffnete der Zweibeiner das Gefäß, hob den Kopf an und trank daraus. Ein süßlicher Duft drang zu der Echse und das Wasser lief ihr im Mund zusammen.

»Willst du auch?« Ohne eine Antwort abzuwarten, hielt der Rotäugige ihr das Futter vors Gesicht.

Beherzt griff das Reptil hinein, fischte sich etwas Glitschiges heraus und betrachtete es. Eine klebrige Flüssigkeit tropfte von ihren Klauen. Gespannt schaute es dem Zweibeiner dabei zu, wie er ebenfalls hineingriff, sich ein paar der sonnengelben Stücke herausholte und sich in das Maul stopfte. Ein genussvolles Stöhnen ertönte, gefolgt von Schmatzen und einem zweiten Griff nach der Nahrung. Die Echse schnupperte an dem Stückchen in ihren Klauen.

Zuckersüß!, schoss es ihr durch den Kopf und ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, warf sie es sich ins Maul.

Ein säuerlich süßer Geschmack prickelte auf der Zunge und erinnerte ihn mit der schleimigen Konsistenz an Maden.

»Lecker! Ja, Ja!«, stieß die Echse aus und stierte mit großen Augen den Metallbehälter an.

Sie erkannte die Laute aus ihrem Kopf, die sie von sich gab.

Bin ich nun einer von ihnen? Oder bin ich immer noch ich? Hunderte Gedanken schossen ihr durch den Verstand.

»Das ist …« Lautes Schmatzen verdrängte die Worte und der Zweibeiner schluckte laut. »Dosenobst. Das nennt man Dosenobst.«

»Ich liebe es!« Das Reptil machte einen kleinen Freudensprung und griff erneut zu.

Schnell war die Ration aufgebraucht. Der Rotäugige ließ die Dose fallen und drehte sich auf den Bauch. Wackelig stemmte er seine Vorderbeine in den Sand und raffte sich mühselig auf. Er war nicht viel größer, als die Eidechse es war. Sie war nicht mehr klein und hilflos, wenn ein Raubvogel kam. Jetzt war sie in der Lage, sich zu wehren.

»Wir sollten zusehen, dass wir aus der Hitze rauskommen und uns in einem der Häuser einen Unterschlupf einrichten«, sprach der Zweibeiner mit schwacher Stimme. »Im Schatten lässt es sich besser aushalten. Ich werde dir dann alle Fragen beantworten, die jetzt dort oben umherschwirren.«

Der Rotäugige zeigte auf den Kopf der Echse. Sie nickte eifrig. Er bewegte sich viel zu langsam für die Eidechse, aber sie passte sich seiner Geschwindigkeit an und stütze ihn.

Als sie fast die Häuser erreicht hatten, entkam dem Zweibeiner ein trockenes und leises Lachen.

»Ich muss dir einen Namen geben, sonst ist der Zauber bald verflogen.«

»Zauber?! Was für ein Zauber? Was ist ein Zauber?«, wollte das Reptil sofort wissen.

»Was hältst du von Nestri?«, fragte der Zweibeiner, während sie weiter durch den heißen Sand marschierten.

»Au ja!«, antwortete dieser und flitzte im Kreis um seinen Namensgeber herum.

Die beiden erreichten das erste Haus und gingen in dieses hinein. Dort brannte die Sonne nicht erbarmungslos auf sie herab. Die abgestandene Luft im Inneren roch modrig und war vom aufgewirbelten Staub geschwängert. Jedoch fiel dem Reptil das Atmen leichter als draußen in der aufkommenden Hitze.

Der Zweibeiner setzte sich erschöpft auf einen Gegenstand aus Holz und atmete schwer. Die Echse reichte ihm das, was sie im Beutel verstaut hatte.

»Vielen Dank für deine Hilfe«, sagte er und wandte sich der Eidechse zu. »Ich heiße Oniv.« Er schenkte dem Reptil ein Lächeln. »Nestri, du bist etwas Einzigartiges, weißt du das? Etwas, das es noch nie gab und nie wieder geben wird. Du stehst unter meinem Schutz. Solange es mich gibt, wird es dir immer gut gehen. Durch dich fließt die Hälfte meiner Magie. Ich glaube, alleine haben wir beide keine guten Karten…« Sein Blick glitt ins Leere, dann schüttelte er den Kopf. »Aber zusammen … Ja, gemeinsam können wir alles schaffen!«

»Au ja!«, jubelte Nestri und tänzelte auf der Stelle.

»Zuerst müssen wir ihn finden.« Oniv schlug sich mit der Faust auf den Oberschenkel. »Seit einer Woche suche ich ihn. Er weiß alles, kann alles. Wir müssen ihn finden!«

»Wen denn?«, fragte die Echse und legte den Kopf schief.

»Na, meinen Opa!«

SEELAN SPLITTER

- Kapitel 1 -

Oniv

Ein feuchtwarmes Schnauben kitzelte Onivs Ohr, gefolgt von einem kaum hörbaren Winseln. Dröhnende Kopfschmerzen überrollten ihn, wie eine Horde stampfender Wirte. Er biss die Zähne zusammen, um dem Pochen entgegenzuwirken.

Getuschel drang zu ihm durch, jedoch konnte er sich kaum darauf konzentrieren. Jeder Knochen schmerzte, jede Muskelfaser brannte. Sein Mund war staubtrocken und die Zunge war geschwollen und rau, als habe er Sand gegessen.

»Was …?« Onivs kratzige Kehle verschluckte die Worte.

Etwas schnupperte an der Wange des Skirab. Zögerlich öffnete dieser die Augen und blinzelte. Über ihm waren alte Holzbretter, ein ihm bekannter, metallischer Geruch stieg ihm in die Nase. Er lag eindeutig im Lastwagen.

Erleichtert atmete Oniv aus und ihm kam ein leichtes Lächeln über die Lippen.

»Er ift wach!«, quiekte es viel zu nah an seinem Ohr und er zuckte zusammen. »Maida, er ift wach!«

Vorsichtig drehte der Skirab den Kopf und blickte in die großen Augen seines besten Freundes. Für einen Moment blieb sein Herz stehen.

»Nestri, was ist dir passiert?«, stieß er erschrocken und mit brüchiger Stimme hervor.

Um die Schnauze der Eidechse war eine Mullbinde gewickelt. Der Verband spannte sich beim Versuch zu lächeln, dass der Echsenjunge dem Skirab schenkte, und das Reptilienmaul öffnete sich dabei nur einen schmalen Spalt. Sein linker Arm war einbandagiert und hing in einer Verbandsschlaufe, die um den geschuppten Hals führte. Ein paar Stellen auf seiner sonst grünen Haut waren bräunlich und erst jetzt erkannte Oniv, dass eines von Nestris Augen fast zugeschwollen war.

»Er hat sich mit dem Söldner geprügelt.« Maida kniete sich neben dem Skirab nieder und schenkte ihm ein sanftes Lächeln.

Ihre Stimme war wie Musik in seinen Ohren und für einen Wimpernschlag war jeder Schmerz vergessen. Tränen füllten ihre blauen Augen, aber sie lächelte. Das wohlig warme Gefühl flutete Onivs Brust.

»Und er hat gewonnen«, brummte Rorim von der anderen Seite des Lastwagens und nickte ihm zu.

»Isch, der grofe und einfigartige Neftri hat gefiegt!« Mit geschwollener Brust stellte sich die Echse vor ihn und stemmte den heilen Arm in die Hüfte.

Onivs schwaches Lachen verwandelte sich in einen trockenen Husten, der ihn durchrüttelte.

»Hier, trink.« Langsam hob Maida mit ihrer Hand den Kopf des Skirab an und führte eine Feldflasche an seine Lippen.

Das kühle Wasser flutete seinen Mund und gierig trank er. Es war, als durchflutete es ihn mit neuem Leben. Mit jedem Schluck breitete sich eine angenehme Kälte in seinem Körper aus.

»Rorim und ich mussten unserem kleinen Krieger den Kiefer wieder einrenken. Der Arme hat sich bei seiner Heldentat eine Maulsperre zugezogen.« Mit einem Lächeln stupste Maida die Echse mit dem Ellbogen an und diese rieb sich verlegen mit der gesunden Hand die Wange. »Unser kleiner Held hier hat dir das Leben gerettet.« Maida zwinkerte dem Skirab zu. »Er meinte, du hättest etwas Dummes vorgehabt.«

»Ja! Daf war dumm. Dumm, dumm, dumm!«, stieß die Echse schrill hervor.

»Was war dein Plan?«, fragte Rorim und hob eine Augenbraue.

Maida setzte die Flasche ab und auch sie sah ihn interessiert an.

Ich kann ihnen schlecht erzählen, dass ich mich mit dem Kerl in die Luft jagen wollte. Was sag ich denn nur?

Der Skirab räusperte sich und wollte sich aufsetzten. Aber als er dabei war, sich mit seinen Händen abzustützen, jagte ein dumpfes Pochen durch diese. Oniv hob sie vor das Gesicht. Der rechte Unterarm war fest mit Mullbinden umwickelt, zwei Metallstangen ragten auf beiden Seiten neben seiner Hand heraus und schienten sein Gelenk. Ein stechender Schmerz strahlte von diesem bis in die Schulter.

Das Knacken!, kam es ihm wieder in den Sinn und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er erneut die Szene im blauen Rauch vor seinem inneren Auge sah.

Sein linkes Handgelenk war ebenfalls einbandagiert. Er machte eine Faust und drehte sie. Es knackste und ein Brennen breitete sich im Unterarm und den Fingern aus.

Was …? Er starrte weiter den Verband an. Wann …?

Maida rückte näher und half ihm, sich aufzusetzen.

»Wir haben dir Schmerzmittel gegeben. Hoffentlich lassen sie nicht zu schnell nach.«

Der Skirab nickte geistesabwesend und ließ seinen Blick durch den Lastwagen schweifen.

Rorim saß auf der anderen Seite, seine Tochter lag neben ihm, ihren Kopf auf dem Schoß ihres Vaters gebettet und schlief. Und in der gegenüberliegenden improvisierten Schlafkoje lag eine andere Person.

Ist das Maki?, fragte er sich und kniff die Augen zusammen.

Die Person trug eine Militärhose und Kampfstiefel.

Oder Suku?

Nein, sie konnte es nicht sein. Die Haut an den Armen war bleich, fast wie die der Geschwister und die vernarbten Unterarme und Hände waren stellenweise mit einer dunklen Kruste bedeckt. Wer auch immer dort lag, trug zudem oben rum nur ein Unterhemd. Das Gesicht befand sich im Schatten.

Also doch Maki?

Erst jetzt bemerkte er die Handschellen, die die Handgelenke am Regal fixierten, und die Fesseln an den Beinen.

»Wir wissen nicht, wer er ist«, sagte Maida, ohne auf eine Frage zu warten. »Aber er hat Maki das Leben gerettet. Womöglich uns allen.« Ein schwerer Seufzer verließ sie.

»Wie –?«, begann Oniv.

»Das wissen wir nicht«, unterbrach Rorim ihn und sein Blick verfinsterte sich. »Maki hat erzählt, der Typ hat einen gewaltigen Lichtstrahl durch die Wüste geheizt. Von einem Plünderer blieb nicht mehr als Asche übrig. Kannst du dir das vorstellen?«

Mit großen Augen starrte Oniv den Hünen an.

»Maki hatte Glück, ihm hat es nur ein paar Haarbüschel versenkt. Auch hier drinnen im Lastwagen stieg die Hitze urplötzlich an. Kurz danach hat er uns angefunkt, dass alles überstanden sei.« Der Hüne strich sich mit der Hand durch den Bart. »Der Kerl kniete neben dir und von ihm ging ein gerader Pfad aus Glas über dem Wüstenboden. Aus Glas! Kannst du das glauben?«

Mit heruntergeklapptem Kiefer schüttelte Oniv den Kopf und suchte den Blick von Maida, die eifrig die Geschichte bestätigte.

»Dann hat er irgendwelche Kinder erwähnt und wurde bewusstlos. Da war aber niemand.« Rorim gab ein grummeliges Geräusch von sich. »Und als er hier einmal kurz aufgewacht ist, faselte er etwas davon, dass sie lange tot seien. Außerdem hatte er Maidas Pistole bei sich, die sie in Refin verloren hatte. Ein komischer Kauz, wenn du mich fragst.« Er warf einen finsteren Blick in die Richtung des Unbekannten.

»Der rieft feltfam.« Nestri blickte kurz über die Schulter, richtete dann wieder seine Aufmerksamkeit auf Oniv. »Aber ef geht dir gut!«

Der Skirab nickte und schenkte seinem Freund ein Lächeln.

»Leute, wir sind da!«, rief Maki aus der Fahrerkabine nach hinten.

Der Lastwagen stoppte. Rorim schnappte sich ein Sturmgewehr, auch Maida lud ihre Pistole durch. Beide hatten sofort einen ernsten Gesichtsausdruck. Selbst Nestri humpelte zum anderen Regal und holte eine seiner Energiepistolen heraus.

Maki kam durch die Zwischentür aus der Fahrerkabine in den Laderaum zu ihnen.

»Na, auch wieder unter den Lebenden?« Er zwinkerte dem Skirab zu. »Bist du fit?«

Oniv drehte sich und versuchte, aufzustehen. Seine Knie waren weich und seine Beine zitterten, als er sie belastete.

»Ich …« Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Ich komme gleich nach.«

Warum fühle ich mich so kraftlos?

Maki nickte und zusammen mit Rorim verließ er das Fahrzeug durch die Plane. Einen Augenblick später kam Suku aus dem Fahrerhaus zu ihnen und Maida warf ihr einen verächtlichen Blick zu.

»Ihre Fesseln…«, entkam es Oniv.

»Fie hat geholfen, dich zu tragen.« Nestri nickte eifrig bei seinen Worten. »Fie ift viel netter alf vorher.« Blitzschnell eilte die Echse aus dem Fahrzeug und verschwand aus seinem Blickfeld.

Ein Sinneswandel?

»Und weil Maki ihr vertraut, muss ich es auch«, flüsterte Maida, lies die Soldatin jedoch keine Sekunde aus den Augen.

Suku war nicht bewaffnet, trug aber ein Kletterseil diagonal über ihren Oberkörper gewickelt und reichte dem Skirab die Hand. Verdutzt griff er mit seiner Linken nach ihr und sie half ihm auf die Beine. Sie zog seinen Arm über ihre Schulter und fuhr mit ihrem um seine Taille.

Als Maidas stechender Blick die beiden traf, schluckte Oniv.

»Du musst dich entscheiden«, sagte Suku. »Entweder vertraust du mir wieder eine Waffe an, oder ich helfe deinem Freund.«

Makis Schwester grummelte etwas Unverständliches vor sich her. »… Ausnahme …« Sie streichelte Netu über die Wange, die sich verschlafen die Äuglein rieb.

Mit einem Satz sprang Maida von der Ladefläche und half dem Mädchen, von dieser zu klettern. Mit wackeligen Beinen näherte sich Oniv der Kante. Während er sich mit einer Hand am Rahmen des Lastwagens festhielt, um sich hinzusetzen, stützte Suku ihn. Als er saß, verließ auch die ehemalige Soldatin das Gefährt und streckte ihm die Hand entgegen. Mit ihrer Hilfe war auch er endlich ausgestiegen.

Hoffentlich bin ich ihnen nicht allzu lange ein Klotz am Bein …

Die Nacht war bereits angebrochen, der Vollmond erklomm den Horizont und hüllte alles in sein silbernes Licht.

Sind wir zu spät?

Neben dem Lastwagen erhob sich die zerklüftete Mauer einer fast vom Sand verschluckten Ruine. Die Überreste vieler Häuser standen um eine gewaltige Senke zu ihrer linken Seite, in der nichts war außer dem Wüstensand.

Der Einschlag des zweiten Sterns …

Oniv starrte auf die kreisrunde, freie Fläche mitten in der ehemaligen Stadt, sein Mund wurde staubtrocken und vor seinem inneren Auge sah er erneut die Szene, die er auf Sokuff miterlebt hatte. Eiskalt lief es ihm den Rücken hinab und ein dumpfes Stechen durchfuhr seine Wirbelsäule.

»Ist was?«, fragte ihn Suku und hob die Augenbrauen.

Geistesabwesend schüttelte der Skirab den Kopf. Sein Blick schweifte zur anderen Seite. In der Ferne sah er eine viel zu glatte, schwarze Fläche, die sich unnatürlich aus der sonst roten Wüste hervorhob.

»Ist das –?«

»Buamak, das große Meer«, beendete Suku die Frage für ihn mit der Antwort.

»Wir sollten zu den anderen aufschließen.« Maida deutete auf drei Gestalten, die bei einer alten, windschiefen Hütte standen.

»Hätten wir nicht näher –«, sprach er angesichts der Entfernung zu den anderen.

»Der Sicherheitsabstand zum Fahrzeug ist notwendig, damit der Unbekannte nicht mithören kann«, unterbrach Suku ihn mit ernster Miene.

Jemand war bei Maki und Rorim und anhand ihrer Körpersprache schlussfolgerte er, dass sie sich angeregt unterhielten.

Ist das die Kontaktperson von Gormit?

Nestri ging vor, gefolgt von Oniv, der von Suku gestützt wurde und Maida bildete mit Netu das Schlusslicht.

»… letzter Auftrag war, dich hier aufzusuchen. Wir müssen nach –«, sprach Maki mit der unbekannten Person.

»Ich weiß«, unterbrach ihn ein Mann.

Mit großen Augen starrte Oniv in die Richtung der drei Gestalten. Irgendwoher kannte er die Stimme. In seiner Erinnerung klang sie nicht so rau und brüchig.

Kann das sein?

Er kniff die Augen zusammen, um die Kontaktperson genauer zu sehen. Der Unbekannte trug eine blaue Filzkutte, wie sie früher die Gelehrten getragen hatten. Eine Kapuze verdeckte den Kopf und er hatte dem Skirab den Rücken zugewandt.

»Gormit ist außerdem –« Maki sah zu Boden.

»Ich weiß«, fuhr der Unbekannte erneut dazwischen, Maki nickte nur.

»Ist das unser Kontaktmann?«, fragte Maida, die neben Oniv stand und deren Hände nervös den Griff ihrer Pistole umklammerten. Zwischen ihnen und den anderen lag ein Sicherheitsabstand von ungefähr fünf Metern.

Sie sah den Mann in der Kutte finster an.

»Ah, ein paar Nachzügler! Darf ich mich euch vorstellen…« Der Fremde griff nach seiner Kapuze und drehte sich zu ihnen um.

Er zog sie sich vom Haupt. In der Brust des Skirab zerbrach etwas. Ein unfassbarer Schmerz wallte durch seine Adern und zog sich in seinem Herzen zusammen. Hitze stieg ihm in den Kopf und seine geballten Fäuste zitterten.

»Das kann nicht sein! Du?!«, stieß er mit schriller Stimme aus, bevor sie ihm versagte.

- Kapitel 2 -

Lemokapi

Stille war eingekehrt. Die Fremden waren fort und Lemokapi endlich allein.

Was habe ich mir nur dabei gedacht?

Seine Beine waren gefesselt, die Handgelenke an das Gerüst des Metallschranks gekettet. Er war wieder ein Gefangener.

Ist das mein ewiges Schicksal?

»Nach allem, was du getan hast, fragst du das noch?«, antwortete ihm eine vertraute Stimme.

Die Kälte, die von ihr ausging, jagte ihm einen Schauer über den Rücken und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Lemokapi hob den Kopf und sah sich im Lastwagen um.

Hier war niemand. Er erblickte im silbernen Licht, das von draußen herein fiel, einen weiteren Schrank. Ein Fach war leer, die anderen vollgestopft mit allerlei Kisten und Behältern. Daneben war eine freie Fläche, ein paar Kissen lagen auf dem Boden. Dort hatten die Fremden gesessen, hatten getuschelt. Lemokapi wusste genau, über wen. Er kannte die Blicke noch aus dem Labor, das Verstummen, wenn ihnen bewusst wurde, dass er zuhörte. Aber nichtsdestotrotz war er allein in diesem Fahrzeug.

Habe ich wieder einen Anfall? Ist das wieder eine Vision?

»Suchst du Ausflüchte für das, was du getan hast?« Ein eiskaltes Lachen ließ ihn zusammenzucken. »Du bist schuld an ihrem Tod, dafür gibt es keine Ausrede!«

Lemokapi schloss die Augen und atmete tief durch.

»Ich war ein Kind. Wie hätte ich ihnen helfen können?«, fragte er, während ihre Gesichter vor seinem inneren Auge aufblitzten.

Hinter seiner Stirn baute sich ein unsäglicher Druck auf und ein Knoten schnürte ihm die Luft ab. Er zitterte am ganzen Leib, als jagten Stromstöße durch seine Zellen.

Lutezia, Malia und Rob waren seit einer Ewigkeit tot. Sein Verstand hatte ihm Streiche gespielt und er war dumm genug gewesen, darauf hereinzufallen. Er hatte sie nicht erkannt. Die brutale Folter, die er im Labor durchlebt hatte, hatte alle Erinnerungen an sein Leben davor abgetötet, seine Vergangenheit Stück für Stück ausgelöscht. Auch wenn die Gedanken an damals schmerzten, ihn zerrissen und ihn beinahe wahnsinnig machten, verabscheute er sich dafür, sie vergessen zu haben. Lemokapi wollte wieder bei seinen Freunden sein, wollte sein Leben von damals zurück und nicht verdammt sein, ohnmächtig dabei zuzusehen, wie sie erneut starben.

»Die Plagegeister?«, fragte die Stimme abschätzig. »Ich bin froh, dass sie endlich weg sind.« Sie lachte hämisch. »Du hast zwei Männer getötet, mit deinen eigenen Händen. Ihr Blut klebt an ihnen, zum Teil wortwörtlich.«

Lemokapi zuckte zusammen, als ein schallendes Lachen den Raum füllte.

Plötzlich lief alles wieder im Zeitraffer durch seinen Verstand. Das angsterfüllte, magere Gesicht und wie er es, ohne mit der Wimper zu zucken zu einem undefinierbaren Brei schlug, dabei keine Reue empfand, kein Mitgefühl, einfach gar nichts. Und wie er den zweiten mit einem Strahl aus purer, magischer Energie pulverisierte bis kein Sandkorn mehr von ihm übrig blieb.

»Ich …«, begann er mit trockenem Mund und schluckte. »Ich bin ein Mörder.«

Das Gelächter der eiskalten Stimme ertönte erneut, es kam aus jeder Richtung. Lemokapis Gedanken drehten sich immer schneller und ihm wurde schwindelig. Er ließ den Kopf wieder auf den harten Untergrund sinken, starrte auf die Holzplanke, während ihm Tränen die Schläfen hinab liefen. Sie brannten wie Säure auf seiner Haut.

In seiner Brust baute sich eine Schwere auf, wuchs von einem Kieselstein zu einem Felsen heran, drückte seine Brust zusammen und nahm ihm langsam die Luft zum Atmen.

»Akzeptiere es.« Ein kühler Lufthauch umspielte seine Stirn. »Und akzeptiere mich.«

»Nein!«, stieß Lemokapi heraus, seine Atmung beschleunigte sich, sein Herz begann zu rasen und er presste die Augen feste zusammen.

Es lag auf der Hand, dass er wieder von seinen Erinnerungen heimgesucht wurde.

Doktor Jenkins war nicht hier. Sein Verstand strafte ihn, das Schicksal strafte ihn und vermutlich bestrafte er sich unterbewusst selbst.

»Du bist ein Mörder. Sieh es ein.«

Lemokapi konnte die Selbstgefälligkeit in dem Satz hören und sah das süffisante Lächeln vor sich, zu dem die Stimme gehörte.

»Je früher du es annimmst, desto besser für dich«, säuselte der Doktor ihm eisig ins Ohr.

Bilder vom weißhaarigen Mann im blauen Kittel blitzten in seinem Kopf auf. Er sah den buschigen Schnauzbart, wie er beim Reden wackelte und das fiese, bösartige Lächeln teils verbarg. Lemokapi ballte die Fäuste, seine Muskeln spannten sich an und er biss die Zähne zusammen.

»Du bist nicht hier!«, presste er hervor.

Keine Antwort.

Langsam öffnete er die Augen und hob den Kopf. Noch immer war niemand bei ihm im Fahrzeug.

Warum muss ich mir ausgerechnet Doktor Jenkins einbilden?

Lemokapi war unsicher, ob er mit seinen Gedanken alleine sein wollte, mit dieser Stimme, diesem Schatten seiner Vergangenheit.

Ich bin nicht allein!, schoss es ihm durch den Kopf.

Er hatte schließlich Ecusar gefunden, sein Ziel, den Grund, warum er all die Strapazen auf sich genommen hatte.

»Das kann nicht sein! Du?!« Ein schriller Aufschrei von außerhalb ließ ihn zusammen zucken.

Was ist da los?

»Meinst du wirklich, sie werden dich einweihen?«, ertönte Jenkins’ Stimme wieder neben seinem Ohr. »Für sie bist du nur eine Last, ein Fremder, dem man nicht trauen kann.«

Lemokapis Atmung beschleunigte sich, er ballte erneut die Fäuste und seine Arme begannen zu zittern.

»Wärst du nur in Kimub geblieben, in deiner Zelle.«

»Sei endlich still!«, fuhr er seinen unsichtbaren Gesprächspartner an.

»Warum auf einmal so aufgebracht? Sonst hast du dich doch auch nicht gewehrt.« Ein eisiges Lachen schnitt durch die Luft.

Lemokapi schloss die Augen und atmete tief durch.

Der Doktor ist nur eine Einbildung, redete er sich ein, eine abgestandene Erinnerung, die mich verfolgte.

Er durfte nicht zulassen, dass Jenkins Einfluss auf ihn hatte. Sein Peiniger war tot.

Ist er tot?, schoss es ihm durch den Kopf.

Für einen Moment konzentriert er sich auf die Fratze des Wissenschaftlers und suchte nach einem Signal. Nichts, kein Pochen, kein Kribbeln. Lemokapi entspannte sich etwas. Nun war er sich sicher, dass er dieses Monster überlebt hatte. Mit der Zeit würde er auch mit dessen Geist, der in seinem Kopf spukte, umgehen können.

Ich habe schon einmal seine Folter überstanden, ich schaff das noch einmal.

»Bist du dir da sicher?« Die hämischen Worte hallten in Lemokapis Verstand umher.

Er biss sich auf die Innenlippe, bis der metallische Geschmack von Blut seinen Mund durchströmte. Dann schlug er mit dem Hinterkopf wieder und wieder auf den harten Untergrund. Mit jedem dumpfen Schlag wurde das gehässige kalte Lachen leiser. Bunte Lichter blitzten auf seinen geschlossenen Augenlidern auf, ein Feuerwerk nur für ihn. Die Haut platzte auf und ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Schädel, stach von innen in seine Augen. Mit einem feuchten, schmatzenden Geräusch hob er ein letztes Mal den Kopf.

Stille. Endlich.

Lemokapi lächelte sanft. Es fiel ihm schwer, die Augen offen zu halten, und langsam rollten sie nach hinten. Kraftlos schlug sein Kopf auf das Holz unter ihm auf. Blut floss aus der Platzwunde am Hinterkopf. Die warme Flüssigkeit berührte seine Schultern.

Ein dumpfer Nebel hüllte seine Gedanken ein und seine Augen fielen zu.

Endlich Ruhe …

- Kapitel 3 -

Maki

»Ihr kennt euch?«, fragte Maki Oniv, der schockiert ihre Kontaktperson anstarrte.

Bei ihrer Ankunft war er überrascht gewesen, dass es sich bei Gormits Freund um einen Vertreter des magischen Volkes handelte.

»Ich …« Der Skirab schluckte heftig. »Wir …«

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Maida und sah ihn mit sorgenvollen Augen an.

Maki tauschte kurz einen Blick mit Rorim aus. Der Hüne beobachtete ihren stammelnden Freund und dann den alten Mann, der in einer blauen Filzkutte und einer alten Wurzel als Gehstock vor ihnen stand.

Er war wie Oniv ein Skirab. Tiefe Falten zierten das haarlose Gesicht und die Haut an den Wangen hing schon leicht herunter. Seine roten Augen sahen kleiner aus als die von Oniv, versteckten sich hinter halb geöffneten Augenlidern und dicken Tränensäcken. Die Ohrläppchen waren groß und fleischig, wie sie Maki bei noch niemandem gesehen hatte. Als der alte Mann den jungen Skirab erblickte, weiteten sich auch dessen Augen.

»Kann es sein…?«, begann er mit rauer, gebrechlicher Stimme. »Bei den Göttern …« Die markant hervorstehenden Wangenknochen, die dem Gesicht ernstere Züge verliehen, bebten und die von Falten eingerahmten, schmalen Lippen formten ein zittriges Lächeln. »Nach all den Jahren …« Der Alte streckte seine Hand nach Oniv aus und ging einen Schritt auf ihn zu. »Bist du es wirklich?«

»Ihr kennt euch?«, wiederholte Maida die Frage ihres Bruders und schenkte dem jungen Skirab ein Lächeln.

Wie hoch ist die Chance?, fragte er sich und hob die Augenbrauen.

»Du!«, stieß Oniv hervor, dieses Mal mit weniger Überraschung im Tonfall, dafür schwang Zorn in diesem Wort mit, untermalt von dem finsteren Blick, den er dem alten Mann zuwarf.

Abrupt stoppte der Greis und senkte die Hand. Der Anflug eines Lächelns, das sich in seinem fahlen Gesicht gebildet hatte, verschwand und Tränen füllten seine Augen. Einen kurzen Moment sahen sich die Skirab an. Dann ließ der alte Mann den Kopf sinken und wandte sich von Oniv ab.

»Hab ich was verpasst?«, fragte Suku und warf Maki einen hilfesuchenden Blick zu.

Er schüttelte den Kopf.

Die Soldatin und Maida halfen Oniv zu einem Ruinenstück, auf das er sich setzte. Unbeholfen versuchte er die bandagierten Arme vor der Brust zu verschränken und starrte den alten Mann unentwegt finster an.

»Ich habe dich im Stich gelassen«, begann der Greis mit seiner rauen, brüchigen Stimme. »Nichts auf dieser Welt kann das wieder gutmachen.« Er hob seinen Kopf und sah mit glasigen Augen zu Oniv. »Aber ich liebe dich von ganzem Herzen. Das hat sich nie geändert.«

Der Blick des jungen Skirab wechselte schlagartig, der Zorn wich aus seinem Gesicht und seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Warum bist du nicht zurückgekommen?«, fragte er mit zittriger Stimme.

Maida sah den alten Mann mit großen Augen an, dann Oniv. »Ist das …?«

»Das ist Fu, mein Großvater«, bestätigte er und wischte sich Tränen aus dem Gesicht.

»Ihr habt euch sicherlich viel zu erzählen«, sagte Maki und wollte mit dem Rest der Gruppe zum Lastwagen zurück.

»Ihr könnt bleiben. Es gibt nichts, das ich noch vor euch verheimlichen möchte«, entgegnete Oniv.

»Du hast Freunde unter den Menschen gefunden, das freut mich.« Fu lächelte zittrig.

»Opa? Ift er dann auch mein Opa?«, meldete sich Nestri zu Wort, flitzte zu ihm rüber und umrundete ihn mehrmals. »Ui, ui, ui, da dreht fich mir der Kopf!«, stieß er schrill aus. »Und puff, hab ich einen Opa!« Mit den Fingern seiner heilen Pranke stellte er eine Explosion dar, die von seiner Stirn ausging.

Fu kniete sich langsam zu dem Echsenjungen runter und betrachtete ihn. Er legte seine knöchrige Hand auf die Schnauze von Nestri und sie leuchtete auf. Dann berührte er die ausgekugelte Schulter der Echse und dasselbe Schauspiel ereignete sich.

»Das solltest du nicht mehr brauchen.« In Fus Gesicht breitete sich ein herzliches Lächeln aus und er löste die Verbände von Nestris Körper.

Die Eidechse griff sich an die Schulter, drückte auf ihr herum und drehte im Anschluss den Arm.

»Er ist heile! Ich wurde wieder heile gemacht!«, quiekte Nestri. »Ich bin wieder ganz!« Er vollführte einen Freudentanz, griff sich dabei an den Kiefer und lachte schrill auf. »Jetzt sollen sich die Bösen gefasst machen! Die Bösen!«

Der Rest der Gruppe konnte ein glückliches Lachen nicht zurückhalten. Netu lief zum Reptil, umarmte ihn innig und sie tänzelten zwischen den Ruinen herum.

Sein bester Freund schenkte ihm dabei keine Aufmerksamkeit, starrte finster seinen Großvater an und mahlte mit dem Kiefer.

Fu stand zittrig auf und trat zu Maki, streckte ihm die freie Hand entgegen mit der Handfläche nach oben, während die andere den Kopf des Gehstocks noch fester umklammerte.

»Nur zu.« Der alte Mann nickte lächelnd.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Magengrube aus, rumorte, als ob er etwas Verdorbenes gegessen hätte. Zögerlich hob er die Hand und warf Maida einen fragenden Blick zu. Sie beobachtete jedoch Nestri und Netu.

Aber Suku sah ihn an. Ihre Augen folgten ihm interessiert und so war sie die einzige Zeugin von dem, was gleich geschehen würde.

Soll ich wirklich?, fragte er sich.

Die Soldatin nickte, als ob sie ihn verstünde. Maki atmete tief durch und griff nach der Hand des alten Skirab.

In dem Moment, in dem seine Finger die Haut des Mannes berührten, sprang ein elektrischer Funke über. Bevor er sie doch noch zurückzog, flutete ein unsichtbares Feuer seine Adern, bahnte sich seinen Weg die Arme hinauf zu seinem Herzen und strahlte von dort aus in jeden Winkel und in jede Zelle seines Körpers. Es war wie die angenehme Hitze und das neckische Kitzeln der Strahlen der Vormittagssonne, wenn man ihr mit geschlossenen Augen entgegensah.

Nur mit Mühe hielt Maki seine Augäpfel davon ab, sich zu weit nach oben zu drehen. Es war, als zuckten seine Muskeln in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit und seine Knochen vibrieren. Er atmete tief ein, spürte dabei förmlich, wie die Luft jeden Winkel seiner Lungenflügel flutete und der Sauerstoff aufgenommen wurde. Das Rieseln der Sandkörner, die vom Wind davon getragen wurden, das Flimmern der aufsteigenden Hitze und die Atmung seiner Reisegruppe, alles hörte er genauer und ungefilterter.

Alles war so intensiv.

Und so schnell es begonnen hatte, war es wieder vorbei. Die raue Handfläche des alten Skirab berührte nicht mehr die seine, die Funken und das Feuer verpufften und Makis Sinne normalisierten sich allmählich.

Geistesabwesend fasste er sich an die Wange. Die Schnittwunde war verheilt, nur etwas Wundkruste war zurückgeblieben, die er sich von der Haut kratzte. Maki bewegte seine linke Schulter. Mit erhobenen Augenbrauen sah er zu Suku, während er nach der zuvor schlecht verheilten Schussverletzung am Bauch tastete.

Es ist, als wäre nichts passiert …

Ein kurzes, erleichtertes Lachen entwich ihm. Er war wieder in der Lage, seine Schwester und die anderen mit voller Kraft zu beschützen.

Fu wandte sich Suku zu und nahm ihre Hand mit der seinen. Sie verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Es sah aus, als würden ihre Handflächen glühen und nach nur wenigen Sekunden war das Schauspiel erneut vorbei. Mit einem erstaunten Gesichtsausdruck tastete die Soldatin zuerst ihre Bauchseite ab, dann ihre linke Schulter und ihr linkes Bein.

»Ich weiß nicht, was euch beide verletzt hat,«, begann der alte Mann und kratzte sich mit dem knochigen Finger am Kinn, »aber bis auf eine Narbe solltet ihr wieder genesen sein.«

»Vielen, vielen Dank!« Maki grinste über beide Ohren.

»Das ist seltsam«, fuhr Fu fort, ohne ihm Beachtung zu schenken. »Noch nie blieben bei meiner Heilmagie solch grobe Narben zurück. Äußerst eigenartig …«

»So eigenartig wie ein Großvater, der seinen Enkel im Stich lässt? Der ein kleines Kind mutterseelenalleine in einer Höhle zurücklässt, tagelang nicht wieder kommt und kein Zeichen von sich gibt? Diese Art eigenartig?« Oniv warf dem Alten finstere Blicke zu und unterstrich seine Fragen, indem er verachtend schnaubte.

»Das alles ist nicht so leicht zu erklären«, begann Fu und verschränkte die Arme am Rücken.

Oniv sprang auf. »Dann versuch es doch zumindest!« Die Wut auf seinen Großvater hatte ihm augenscheinlich neue Lebenskraft eingehaucht.

Fu trat einen Schritt auf seinen Enkel zu und streckte ihm die Hand entgegen, doch dieser wich zurück.

»Fass mich nicht an! Ich hatte die letzten Jahrzehnte keine Hilfe von dir, jetzt brauche ich sie auch nicht!«, schrie Oniv und seine Gesichtsfarbe passte sich allmählich der seiner Augen an.

Der Greis schüttelte den Kopf, legte beide Hände auf das große, runde Ende seines Gehstocks und stützte sich darauf. Langsam setzte er sich hin.

»Nun, dann erzähle ich es dir …« Sein glasiger Blick hing am Boden und er atmete schwer aus.

»Ui, eine Geschichte«, horchte Nestri auf und flitzte zu den Erwachsenen. »Netu, komm schnell! Ui, ui, ui, ui, ui!«

Das Mädchen folgte lachend seiner Aufforderung und beide setzten sich im Schneidersitz vor den Greis und strahlten ihn aus großen, funkelnden Augen an.

»Es war die schlimmste Nacht meines Lebens.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Ich bin damals aus der Höhle gerannt und stand gut einem Dutzend Wirten gegenüber. So schnell mich meine Beine trugen, lockte ich sie weg von unserem Versteck, weg von dir.« Fu rieb sich eine Träne von der Wange. »Und dann bin ich gestürzt, hatte eine Jagdfalle der Menschen übersehen. Das scharfe Metall der Beißfalle schnitt sich in meine Wade und hat mir das Schienbein zertrümmert.«

Der Hüne stand auf, ging zu dem alten Mann und legte ihm seine Hand auf den Rücken. »Niemand lässt die, die er liebt, freiwillig zurück …«, brummte Rorim.

Netu huschte zu ihrem Vater und versteckte sich hinter ihm. Die Erzählung des Großvaters hatte sie kreidebleich werden und am ganzen Leib zittern lassen.

Die Realität ist eben keine Gutenachtgeschichte … Langsam streifte Makis Blick zu den anderen.

Maida starrte Fu mit tränengefüllten Augen an und biss auf der Nagelhaut ihres Daumens herum.

Ob sie gerade an Gormit denkt?

Selbst Suku warf Maki einen aufgelösten Blick zu.

In seiner Brust bildete sich ein Knoten und ein unangenehmer Druck breitete sich aus, stach ihm ins Herz wie unzählige Dolche. Er unterdrückte die aufwallenden Tränen, schluckte die Trauer hinunter und biss die Zähne zusammen. Mehr als sonst wühlte ihn die Erzählung auf. Die Tatsache, gerade noch das Massaker in Refin überlebt zu haben, und der Verlust seines Ziehvaters war auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen.

Nur Oniv schien bei der Schilderung unberührt zu bleiben. Oder er war verdammt gut darin, es zu verbergen. Maki sah, wie der Kiefer des Skirab arbeitete, wie er die Hände zu Fäusten ballte und der finstere Blick nicht von seinem Großvater wich.

»Ich war den untoten Kreaturen schutzlos ausgeliefert, hatte keine Munition mehr und sah dem Tod ins Auge. Ich roch schon den fauligen Atem der Wirte, spürte ihn auf meiner Haut.«

Plötzlich gab Nestri ein lautes Quieken von sich. Alle zuckten zusammen und verdutzte Blicke trafen den Echsenjungen.

»Ich mag keine Gruselgeschichten«, gab er leise von sich, verschränkte die Arme vor der Brust und wandte seinen Blick von Fu ab.

Dieser schüttelte kurz den Kopf und fuhr unbeirrt fort. »Und dann kam Gormit.« Ein sanftes Lächeln huschte für einen Moment über das Gesicht des Greises. »Er hat die Mutanten mit bloßen Händen zerfetzt und für einen Augenblick dachte ich, er würde auch mich auslöschen. Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, war die Höhle des Golem, in der ich erwachte. Mein Bein war verbunden, mit magischen Runen und heilenden Kräutern bandagiert und ich starrte in das ausdruckslose Gesicht des Steinmannes und die aufmerksamen Augen einer Hexe.«

Sildra…

Maki seufzte, als die alte Dame in seiner Erinnerung erschien.

»Als sie von dir hörten, halfen sie mir sofort. Wir sind zurück zu der Höhle, aber von dir war keine Spur mehr zu sehen. Ich dachte, sie hätten dich erwischt und …« Fu stockte in seinen Worten und sah betreten auf seine Hände, die verkrampft um den Gehstock griffen. Große Tränen tropften auf die knochigen Finger. »Eine Woche lang war ich bewusstlos und als wir dich nicht fanden, sagte mir mein Verstand, du seist tot … Nur mein Herz nicht.« Bei den letzten Worten richtet er seinen glasigen Blick wieder auf Oniv. »Deshalb habe ich Gormit unterstützt, immer in der Hoffnung, dich wieder zu finden. Jeden Tag habe ich die Wüste abgesucht, bei jeder Leiche eines Skirab habe ich zu den Göttern gebetet, dass du es nicht bist. Die Ungewissheit hat an mir gezerrt, mein Schuldgefühl mich zerfressen… Aber jetzt stehst du vor mir …« Er hob den Kopf und sah zu Oniv.