Das geheime Leben der Tiere (Wald) - Revier der Raben - Vanessa Walder - E-Book

Das geheime Leben der Tiere (Wald) - Revier der Raben E-Book

Vanessa Walder

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Beschreibung

Die Überflieger des Tierreichs Der Wald ist wunderschön und voller Geheimnisse. Doch das Leben der Tiere dort ist auch gefährlich. Komm mit auf eine Reise unter die mächtigen Baumwipfel! Hoch oben in einer Kiefer schlüpfen zwei Raben aus ihren Eiern: Roah und Krrik. Während Roah es kaum erwarten kann, ihr eigenes Revier zu erobern, möchte Krrik den Rand der Welt sehen. Doch bevor er Fliegen lernen kann, fällt Krrik bei einem heftigen Gewitter aus dem Nest. Seine Familie muss hilflos zusehen, wie ausgerechnet ein Menschenkind und ein Hund ihn finden und mitnehmen. Dabei sind Menschen furchtbar gefährlich! Was wird nun aus den Träumen der Rabengeschwister? Die Wunder des Waldes Aufregende Abenteuer, erstaunliche Wunder der Natur und das spannende Leben der Tiere – diese Kinderbuch-Reihe entführt Jungen und Mädchen ab 8 Jahren in die verschiedenen Lebensräume der Erde. Ob im tiefen Meer oder im dichten Wald: In diesen Geschichten erleben Tiere wunderschöne und zugleich bewegende Abenteuer. Die Kinder tauchen in die Welt der Tiere ein, werden für die Vielfalt der Natur begeistert und lernen viel Neues auf den Wissensseiten. Mit berührenden und coolen Schwarz-Weiß-Illustrationen. Lehrreich wie ein Sachbuch und berührend wie ein Disney-Klassiker! Für Fans von Peter Wohlleben und Karsten Brensing. Alle Bände dieser Reihe: Das geheime Leben der Tiere (Wald) - Die weiße Wölfin Das geheime Leben der Tiere (Wald) - König der Bären Das geheime Leben der Tiere (Wald) - Stadt der Füchse Das geheime Leben der Tiere (Wald) - Revier der Raben Die Titel sind auf Antolin gelistet.

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Seitenzahl: 146

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In Erinnerung an meinen Vater Gerhard F. Walder, der alles über Vögel wusste und immer noch mehr wissen wollte …

… und für meine Schwiegermutter Doris Matt, die dieses Buch wieder als Erste lesen wird.

Inhalt

Das Lied vom Paradies

Februar

Rabenschwarz

Ein spektakulärer Fund

Menschenwissen

Fliegende Diamanten

April

Zuerst kommt das Ei

Mai

Das Lied des Waldes

Nestgeschichten

Vom Blitz getroffen

Erdling

Juni

Im Menschenhorst

August

Die Kolonie

Tim

September

Revierkampf

Hassen

Oktober

Der Verstecker

Abschied

Das Ende der Welt

Februar

Fünf Jahre später

Noch Fragen?

In den nordischen Sagen hat Göttervater Odin zwei Raben: Hugin und Munin, was so viel bedeutet wie „Gedanke“ und „Gedächtnis“.Die Göttervögel fliegen um die ganze Welt und erkunden Menschen und Dinge.Abends kehren sie zurück auf Odins Schultern und flüstern in seine Ohren, was sie gesehen und gehört haben.

Das Lied vom Paradies

Auf einer großen Insel im Norden von Australien lebt ein Vogel mit dem klingenden Namen Amblyornis macgregoriae. Er wurde nach einem menschlichen Gouverneur der Insel benannt, Sir William MacGregor. Der Vogel hat davon keine Ahnung und wenn, wäre es ihm sicher egal. MacGregor ist seit über hundert Jahren tot und dem Vogel geht es ausgezeichnet.

Auf Deutsch nennt man ihn Goldhaubengärtner oder Goldhauben-Laubenvogel. Das liegt daran, dass er Gartenlauben baut. Eine Gartenlaube ist ein Gebäude in einem Garten, in dem man sich nur kurz aufhält, aber nicht wohnt. Üblicherweise errichten Menschen solche Dinge, die eigentlich keiner braucht. Doch beim Goldhaubengärtner ist das anders. Das Männchen baut die Laube für Weibchen. Nein, nicht bloß für ein einziges Weibchen. Bei so viel Arbeit und Mühe sollen möglichst viele Goldhaubengärtnerinnen etwas von dem Schmuckstück haben.

Das Männchen selbst sieht ebenfalls aus wie ein Schmuckstück. Es ist olivgrün und trägt auf dem Kopf lange Federn, die im wunderschönsten Gold glänzen und sich aufstellen lassen wie ein Fächer. Der Goldhaubengärtner muss hübsch sein und ein guter Baumeister. Denn abgesehen davon … tut er wenig. Er wird mit keinem Weibchen eine Partnerschaft eingehen oder länger Zeit verbringen. Er wird seine Jungen nie kennenlernen. In seiner Laube wird nie jemand wohnen. Er beteiligt sich weder am Nestbau noch an der Aufzucht der Kleinen. Sehr wahrscheinlich, dass männliche Goldhaubengärtner ihr ganzes Leben nie ein Goldhaubengärtner-Ei zu Gesicht bekommen.

Das Nest baut das Weibchen. Es legt die Eier. Es brütet. Es füttert und wärmt und beschützt die Jungen. Das macht es so gut, dass sich keiner um die Vogelart Amblyornis macgregoriae Sorgen machen muss. Sie ist nicht vom Aussterben bedroht, noch nicht einmal besonders selten. Zumindest nicht auf Neuguinea.

Das Weibchen sieht weniger hübsch aus. Es ist grün und trägt keine goldenen Federn auf dem Kopf. Das wäre auch wirklich dumm. Immerhin wird es sich lange Zeit um die Eier und die Jungen kümmern und will dabei nicht gefressen werden. Es muss sich ins Dickicht des Waldes einfügen, ohne aufzufallen. Wer goldene Federn auf dem Kopf hat, fällt auf – und wird gefressen. Schönheit hat ihren Preis.

Und doch verlässt sich der Goldhaubengärtner nicht allein darauf, dass er hübsch ist. Er baut einen richtigen Turm aus Ästen und Zweigen, die er kunstvoll miteinander verflechtet. Immer so, dass die Stockspitzen nach außen weisen, damit er daran noch Verzierungen aufhängen kann: bunte Blüten und Blätter, schillernde Käfer, Ketten aus Raupenkot, getrocknete Pilze, Schmetterlingsflügel. Am Ende sehen die hohen Türme aus wie geschmückte Weihnachtsbäume. Kein Wunder – die Bauarbeiten dauern jedes Jahr gut zehn Monate. Der Vogel bleibt währenddessen immer in der Nähe seiner Laube, was bitter nötig ist, weil die anderen Männchen versuchen, die Türme ihrer Konkurrenten zu zerstören. Das gelingt ihnen auch oft. Oder sie stehlen das gesammelte Moos, das zu Füßen der Laube ausgebreitet ist. Männchen verbringen also viel Zeit damit, ihren Turm zu reparieren, zu verteidigen und zu schmücken. Ein Lebenswerk, im wahrsten Sinne. In den wenigen Wochen, die das Männchen nicht an seinem Turm baut, mausert es sich: Es wirft seine Federn ab und lässt sich neue wachsen, damit es ansehnlich bleibt.

Im Oktober wird es spannend: die Balz, das Umwerben der Weibchen, beginnt.

Dazu setzt sich das Männchen in die Nähe seiner Laube und wartet, bis ein Weibchen zur Hausbesichtigung kommt. Das Weibchen sieht sich ganz genau an, wie hoch der Turm ist, wie bunt er geschmückt ist, wie prächtig die Goldfedern auf dem Kopf des Männchens sind. Während dieser Inspektion gibt das Männchen ein Konzert …

Goldhaubengärtner brauchen Jahre, bis sie erwachsen sind. In dieser Zeit fliegen sie durch den tropischen Regenwald Neuguineas und sammeln Klänge, Töne, Geräusche: die Rufe und Lieder anderer Vögel. Das Bellen von Hunden. Die Schreie von Menschenkindern und die Stimmen ihrer genervten Eltern. Das Geräusch von Maschinen. Das Rauschen von Blättern im Wind. Nun spielen sie den Weibchen all diese Geräusche vor, erzählen ihnen, was sie in ihrer Jugend erlebt haben, singen ihnen das Lied von Neuguinea vor, das sie in ihrer Jugend komponiert haben.

Wenn das Weibchen daran Gefallen findet, tanzen beide Vögel um den Turm herum. Das Männchen stellt seinen goldenen Fächer auf und hofft, das Weibchen genug beeindruckt zu haben. Ist die Goldhaubengärtnerin zufrieden mit dem Bau, dem Tanz und dem Gesang, darf das Männchen drei Sekunden lang auf ihren Rücken springen und die Eier befruchten. Danach fliegt das Weibchen davon und beginnt mit dem Nestbau. Beziehung beendet.

Damit sind die Goldhaubengärtner in Neuguinea keine Ausnahme, sondern die Regel. Die meisten Vogelarten, bei denen das Männchen kunterbunt und auffällig ist, halten es genauso.

Zum Beispiel ihre Verwandten, die Paradiesvögel, von denen es in Neuguinea zweiundvierzig Arten gibt. Alle Männchen sind bunt und hübsch. Ihre Federn schillern und glänzen und strahlen in grellem Gelb, Neonblau, Türkis, Rot oder Orange. Sie haben Antennen, an deren Enden Schmuckfedern baumeln, Federumhänge wie Stierkämpfer und leuchtend bunte Augen. Paradiesvögel bauen nichts, doch sie reinigen gründlich den Waldboden, auf dem sie später vor den Weibchen tanzen wollen. Sie polieren sogar die Äste der Bäume rundherum mit Putzlappen aus Schlangenhaut, damit die Zuschauerinnen sich nicht die Füße schmutzig machen, wenn sie dort sitzen. Sie tanzen vom Hip-Hop bis zum Walzer alles, was das andere Geschlecht beeindrucken könnte.

Und nicht eines dieser Männchen hilft beim Nestbau oder bei der Brutpflege, versorgt die Mutter seiner Jungen mit Nahrung oder verteidigt die Kleinen vor Räubern.

Es war nie nötig. Der tropische Regenwald bietet den Vögeln so viel Nahrung, dass sie nur wenig Zeit mit Suchen, Sammeln und Jagen verbringen müssen. Außerdem sind die Früchte und Beeren bunt und liefern Farben für das prächtige Gefieder. In der üppigen Freizeit können sie tanzen, singen und dekorieren.

Doch was, wenn ein Paradiesvogel das Paradies verlassen wollte? Den Rest der Welt erkunden und bewohnen? Was, wenn er an einem Ort landen würde, an dem es keine tropischen Früchte und Beeren gäbe und das Wetter nicht immer heiß und feucht wäre? Wenn die Hälfte des Jahres nicht einmal Blätter an den Bäumen und Büschen hängen, sogar Schnee vom Himmel fällt, der Boden monatelang gefroren ist und auch die Flüsse und Bäche erstarren? Wie würden die Cousins der kunterbunten Schmuckvögel dann aussehen? Was würden sie fressen? Wie würden sie leben?

Die Antwort ist: schwarz. Rabenschwarz.

Februar

Rabenschwarz

Es ist Februar, der farbloseste aller Monate. Noch hält die Natur den Atem an, doch man spürt schon ihre lauernden Kräfte. Bald werden Knospen hervorbrechen, die sich wegen der Nachtfröste noch zurückhalten. In wenigen Wochen aber platzt dann das erste Grün hervor.

Aus Hoffnungen und Sorgen fürs neue Jahr wird Gewissheit: Ob es regnet? Genug? Zu viel? Gibt es Dürren? Waldbrände? Überschwemmungen? Wird die Sonne scheinen? Ausreichend, damit Samen, Früchte und Blüten reifen? Damit Insekten fliegen und Pflanzen wachsen? Noch ist alles offen, alles möglich, nichts gelungen und nichts misslungen. Es ist die Zeit des Wartens auf das Neue. Und auf die Rückkehr des Alten.

Denn die Zugvögel kommen erst nach Hause, wenn die Farben großzügig in der Landschaft verteilt sind. Wenn es grünt und blüht und sie genug Nahrung finden. Hunderte Millionen Vögel verlassen jedes Jahr ihre zu kalten Brutgebiete und überwintern in Afrika, in Spanien oder in Südfrankreich. Das Konzert des Waldes muss im Winter ohne die Stimmen von Singdrossel, Pirol oder Hausrotschwänzchen auskommen. Auch Nachtigall, Kuckuck und Mauersegler lassen sich erst Ende April wieder blicken.

Oft fliegen sie mehr als zehntausend Kilometer, große Teile davon über den scheinbar endlosen Ozeanen, orientieren sich an ihrem inneren Kompass, der das Erdmagnetfeld liest, und am Stand der Sonne. Sie vertrauen auf die feste Gewissheit, mit der sie geboren wurden: dass das Wasser unter ihnen irgendwann endet und neues Land auftaucht. Selbst wenn sie die Reise zum ersten Mal antreten, zögern sie nicht, über den Rand des Bodens und der Welt hinauszufliegen. Zugvögel haben keine Zeit, sich jedes Jahr die immer gleichen Fragen zu stellen. Manche Antworten tragen sie schon in sich, bevor sie die Eierschale durchbrechen.

Einige machen sich bereits Ende August auf die Reise und lernen den Herbst nie kennen. Sie verzichten auf reife Beeren, pralle Samen, süße Früchte und prächtige Blüten. Alles, um dem Winter zu entgehen und den Sommer nicht entkommen zu lassen. Damit bleibt ein Großteil des herbstlichen Büffets für die, die es nötiger haben.

Denn der Himmel ist selbst ohne die Sommergäste nicht leer und verlassen. Auch dann nicht, wenn er sich grau und bewölkt zeigt, wenn Schnee fällt, ihn Nebel verhüllt oder die Dämmerung den Großteil des Tages übernimmt. Es gibt Vögel, die ihr Reich nie aufgeben, nicht einmal im strengsten Winter. Noch nicht einmal, wenn alles Bunte verblasst. Sie haben gelernt, dass Farben überschätzt sind. Selbst ihre eigenen haben sie abgelegt.

Wenn sie heute ihre Schwingen ausbreiten und über das karge, graue Land gleiten, das ihnen weder Insekten noch Früchte zu bieten hat, bewundert kaum jemand die majestätische Schönheit dieser treuen Einheimischen. Ihr Gefieder schimmert eben nicht golden, smaragdgrün oder aquamarinblau. Und wenn ihre Stimmen über die blattlosen Ebenen und durch die verschneiten Bergregionen schallen, dann lauscht niemand verzückt. Keiner mag so richtig glauben, dass es sich überhaupt um Singvögel handelt, wenn die großen und kleinen Schwarzgefiederten die Lieder ihrer Heimat singen.

Haaa haaaa haaaa – das ist der Klang des Winters, den man in der Tierwelt bestenfalls übersteht, aber nicht schätzt. Den Zuhörern geht nicht das Herz auf, wenn er laute Kraa-kraaah-kraahs oder Krack-krack-kracks vernimmt. Auch Grooog groog und Koooorp koooorp versetzen andere Vögel und kleine Nager höchstens in Alarmbereitschaft. Kolkraben haben nur wenige Freunde.

Wölfe gehören dazu. Die sprechen sogar Rabensprache. Zumindest verstehen sie die Rufe, die ihnen gelten und die das Rudel bei der Jagd unterstützen. In fast allen Teilen der Welt hört man Rabenschreie – in verschiedenen Tonhöhen und Dialekten. Das laute, durchdringende Krächzen, das Schnarren und Klicken. Die sanfteren, glucksenden Töne heben sie sich für ihre Familie auf. Für die Partner, mit denen sie ihr Leben verbringen, für die Jungen, die sie über Monate, zum Teil über Jahre, hingebungsvoll hegen und pflegen, unterrichten und beschützen.

Es ist ein gut gehütetes Geheimnis, dass Raben zu den fürsorglichsten Eltern der Vogelwelt zählen. Aber das ist völlig in Ordnung. Raben lieben Geheimnisse …

Ein spektakulärer Fund

Für das Kolkrabenpaar im Kiefernwald beginnt der Frühling im Februar. Es ist Zeit, den Familienwohnsitz auf Vordermann zu bringen. Der liegt am Rande des Waldes inmitten ihres Reviers, das mehr als vier Quadratkilometer groß ist. Die beiden Raben kennen jeden Baum hier. So manche Eiche war noch eine Eichel, als die zwei gemeinsam ihr erstes Nest bauten. Nun ist das neueste schon fünf Jahre alt und thront auf dem zweithöchsten Ast einer sehr hohen Kiefer. Der Baum ist vierzig Jahre alt, die Vögel sind dreizehn und vierzehn. Namen haben sie nicht. Wozu auch? Wenn einer der beiden den anderen ruft, erkennt der Gerufene an der Stimme, dass es sich um seinen Partner handelt. Trotzdem gibt es Laute, die nur sie ausstoßen und die kein anderer Vogel genau in dieser Form von sich gibt. Die Laute gehören zu ihnen wie Namen, gerade weil sie die Einzigen sind, die sie benutzen. Manchmal singen sie diese Namen, wenn sie durch die Luft segeln oder wenn sie allein in ihrem Nest oder auf einem Beobachtungsposten sitzen. Beim Rabenmännchen klingt es wie Chree, beim Weibchen ist es ein hohes Graak. Es ist ihre Art zu sagen: „Das bin ich – ich bin hier.“

Chree und Graak haben sich da kennengelernt, wo die meisten Kolkraben andere ihrer Art treffen: in einer Kolonie der Nichtbrüter. Dutzende, oft sogar Hunderte heranwachsende und erwachsene Kolkraben teilen jahrelang Futter und Schlafplätze und ziehen mit den anderen in der Gruppe von Ort zu Ort. Zwischendurch wechseln sie die Gruppen, wenn sie woanders Freunde finden oder Abwechslung suchen. So lange, bis sie ihr eigenes Revier haben, Nester bauen und brüten … Oder sie bleiben revierlose Nomaden. Beides hat Vor- und Nachteile.

Ein eigenes Revier zu besitzen ist gut und schön – aber auch viel Arbeit. Ein Nest bauen, Eier legen und Junge großziehen? Gigantisch viel Arbeit! Schon die Verteidigung des Reviers!

Gerade fliegt wieder ein ausgewachsener Kolkrabe zu nahe über das Nest von Chree und Graak hinweg.

Krack-krack-krack-krack-krack!!

Beide Raben stoßen die Warnrufe aus, wenn auch ohne allzu große Aufregung.

„Aaah, das ist das zweite Mal“, stellt Chree fest.

„Jaaaaa. Sollen wir ihn zusammen vertreiben?“, fragt Graak.

Besonders besorgt sind sie nicht. Der Eindringling ist keine echte Gefahr, aber Revierverteidigung ist auch eine Frage des Prinzips. Zwar ist nicht jede Verletzung des Luftraums eine tödliche Bedrohung, wie ein Uhu, ein Adler oder ein Gänsegeier es sein kann. Trotzdem müssen die Grenzen respektiert werden. Erlaubt man Eindringlingen zu viel, kommt am Ende ein ganzer Rabentrupp und vertreibt die Brüter aus ihrem Nest.

„Es ist nur ein junger Kerl, der Respekt lernen muss“, findet Chree. „Ich mach das!“

Er ist nicht unglücklich über die Unterbrechung. Kolkraben brauchen keine Ausreden, um sich in die Luft zu schwingen. Sie fliegen auch zur Entspannung, um nach Fressen Ausschau zu halten – oder einfach zum Spaß. Doch das Nachbessern eines Nests ist mühsam und Chree nimmt die Ablenkung gern an. Seit Tagen sucht er Moos, Hirschhaare, Eichhörnchenfell, Flechten oder andere weiche Materialien, um die Mulde innen auszukleiden. Für außen braucht man ausreichend dicke Zweige, die sich gerade eben noch biegen lassen, um der Form Stabilität zu geben, damit das Nest fest in seiner Astgabel hält. Nächstes Frühjahr werden sie wieder ein neues bauen, das ist ihnen bei der Renovierung klar geworden. Das Nest ist so oft ausgebessert worden, dass es sehr hoch und schwer geworden ist. Nein, Bauen ist kein Spaß. Fliegen hingegen … Fliegen ist immer auch Freude. Die Aufwinde richtig zu erwischen, sich von der Luft hochtragen zu lassen bis zu den Wolken, mit wenigen Bewegungen der Schwingen jeden Winkel ausloten, den die Flugbahn mitnehmen kann.

Chree stößt sich ab und breitet die Flügel aus. Knapp über anderthalb Meter sind es von Flügelspitze zu Flügelspitze. Manche Greifvögel können da kaum mithalten. Mit wenigen kräftigen Schlägen ist er auf der Höhe des kleineren Artgenossen.

„Mein Reeeeviiiiier!“, schreit er dem anderen entgegen.

Er fliegt von hinten an den Eindringling heran und steigt dann mit einem perfekt dosierten Flügelschlag etwas über die Flughöhe des kleineren Raben. Gerade so, als wollte er ihn packen. Der Rivale kreischt in Panik.

Er gehört zu einer nahen Nichtbrüter-Kolonie und scheint dieses Jahr ungeduldig zu werden. Wahrscheinlich sucht er ein eigenes Revier, ein eigenes Weibchen … Aber: Nicht hier!

„Nicht hiiiiier!“, schreit der Hausherr. „Hiiiier niiiiicht!“

Der andere schlägt heftiger mit den Flügeln und versucht, Chree abzuhängen. Der lässt sich mit einer geschickten Drehung seiner Schwanzfedern noch ein Stück höher tragen – und schießt dann von oben auf den Eindringling zu. Krächzend lässt sich der Artgenosse seitlich abfallen. Chree bleibt ihm so dicht an den Schwanzfedern, als wäre er sein Schatten.

Er verfolgt das jüngere Männchen bis an die Grenze seines Reviers. Ein kleiner Bach ist hier durch das Schmelzwasser angeschwollen und darf ein paar Wochen lang so tun, als wäre er ein Fluss. Für die Raben ist er nicht besonders interessant. Es gibt keine einladende Badestelle und keine Fische. Früher konnte man mit viel Geduld hin und wieder einen Flusskrebs finden. Die Zeiten sind lange vorbei. Auch Frösche, Unken und Kröten finden sich eher in den kleinen Tümpeln im Wald, wo das Wasser ruhig und wärmer ist.

Als der Eindringling den Bach überflogen hat, könnte Chree ihn ziehen lassen. Sie befinden sich nun im Revier des nächsten Kolkraben-Pärchens. Doch die beiden sind Freunde von Chree und Graak und auch gerade mit der Ausbesserung ihres Nestes beschäftigt, also verfolgt Chree den anderen weiter, auch wenn der sich empört beschwert. Er weiß genauso gut, dass er Chrees Revier bereits verlassen hat. Erst als die Berge näher rücken, an deren Hängen ein Adlerpaar seinen Horst hat, dreht Chree mit einem letzten langen Kaaaaah! ab.

Der andere Rabe fliegt sicherheitshalber weiter auf die Berge zu, während Chree über den Bach zurückkehrt. Er genießt den Flug. Immer wieder lässt er sich von den Winden in die Höhe tragen, korrigiert die Flugbahn durch leichte Bewegungen seiner Schwanzfedern, die Flügel kraftvoll gespannt. Sein Flug ist nicht lieblich wie der einer Schwalbe, präzise wie der des Turmfalken oder elegant wie der des Reihers. Dem Raben ist das vollkommen egal. Sein Flug ist ein Spiel mit dem Wind, dessen Freude nie vergeht.

Menschenwissen

Chree lässt sich abfallen bis zum Rand des Kiefernwaldes, wo eine Lichtung die letzten Bäume von den ersten grauen Steinstraßen trennt. Auch das ist noch sein Revier. Es lohnt sich immer, die Straßen abzusuchen. Oft finden sich hier platte Leckerbissen, die von rollenden Riesen zerquetscht wurden.