Das Geheimnis der Muse - Jessie Burton - E-Book

Das Geheimnis der Muse E-Book

Jessie Burton

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Beschreibung

Zwischen dem Swinging London der 60er Jahre und dem schwülheißen Andalusien am Vorabend der Spanischen Revolution entspinnt sich diese fesselnde Geschichte zweier jungen Frauen, die durch ein Gemälde schicksalhaft miteinander verwoben sind.

London, 1967. Odelle Bastien, aus Trinidad nach England gekommen, um ihren Traum vom Schreiben zu verwirklichen, ergattert einen Job in der renommierten Kunstgalerie Skelton. Durch einen sensationellen Fund – ein Gemälde des seit dem Spanischen Bürgerkrieg verschollenen Künstlers Isaac Robles – wird Odelle in eine Geschichte verstrickt, die ihr Leben völlig auf den Kopf stellt. Denn um das Gemälde rankt sich ein folgenschweres Geheimnis, das ins Jahr 1936 zurückreicht.

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Seitenzahl: 545

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Jessie Burton

Das Geheimnis der Muse

Roman

»Nie wieder wird eine Geschichte so erzählt werden, als wäre sie die einzige.«

Teil IKönige und Kohlköpfe

Juni 1967

1

Nicht jeder erhält am Ende, was er verdient. Viele Momente, die den Lauf eines Lebens verändern – ein Gespräch mit einem fremden Menschen auf einem Schiff zum Beispiel –, sind reiner Zufall. Und trotzdem hat es immer einen guten Grund, wenn jemand gerade dir einen Brief schreibt oder gerade dir seine Geheimnisse anvertraut. Das habe ich von ihr gelernt: Man muss bereit sein für den glücklichen Zufall. Und man muss seine Karten ausspielen.

An dem Tag, an dem meine Chance kam, war es so heiß, dass meine Bluse – ein vom Schuhgeschäft gestelltes Einheitsmodell – große Flecken unter den Achseln hatte.

»Egal, welche Größe«, sagte die Frau und tupfte sich mit einem Taschentuch übers Gesicht.

Meine Schultern taten weh, meine Fingerspitzen waren ganz wund. Ich starrte sie an: Ihre bleichen schweißverklebten Haare ließen sie aussehen wie eine nasse Maus. So ist es in London; die Hitze staut sich, sie kann nirgendwohin.

Ich wusste es noch nicht, aber diese Frau sollte die letzte Kundin sein, die ich jemals bedienen würde.

»Wie bitte?«

»Sie haben schon richtig verstanden.« Die Frau seufzte. »Die Größe spielt keine Rolle.«

Es war kurz vor Ladenschluss, und der Teppichboden war übersät mit Hornhautschuppen, die man am Ende jedes Tages mit dem Staubsauger beseitigen musste. Cynth sagte oft, wenn wir diese Schnipsel alle aufbewahren würden, könnten wir irgendwann einen ganzen Fuß daraus formen, ein Monster, das von selbst zu tanzen anfinge. Ihr gefiel die Arbeit bei Dolcis Shoes, und sie hatte mir die Stelle vermittelt. Aber meistens sehnte ich mich schon nach nur einer Stunde im Laden wieder nach meinem kühlen Zimmer, den billigen Schreibheften und dem Bleistift, die auf dem Tischchen neben meinem schmalen Bett auf mich warteten. »Lächeln!«, flüsterte Cynth mir immer zu. »Oder willst du lieber nebenan bei dem Bestatter arbeiten?«

Ich ging nach hinten zu dem Schrank mit der Lagerware. Hierhin zog ich mich oft zurück. Er strömte einen scheußlichen Geruch nach Gummisohlen aus, aber in der Verfassung, in der ich mich mittlerweile befand, machte mir das nichts aus – am liebsten wäre ich ganz hineingekrochen und hätte stumm die Schuhschachteln angeheult.

»Moment, warten Sie!«, rief die Frau mir hinterher. Ich drehte mich nach ihr um, und da bückte sie sich, streifte einen ihrer abgewetzten Pumps ab, und zum Vorschein kam ein Fuß ohne Zehen. Ein fleischiger Stumpf ohne auch nur eine einzige Zehe dran auf dem verblichenen Teppichboden.

»Sehen Sie«, sagte sie kleinlaut und machte auch den anderen Fuß frei, der genauso aussah, »ich … ich stopfe sie vorn mit Papier aus, darum ist die Größe egal.«

Das war ein Anblick, den ich nie vergessen habe, diese Engländerin, die mir ihre Füße ohne Zehen vorführte. Ich glaube, damals war ich davon wahrscheinlich abgestoßen. Man sagt immer, junge Leute hätten noch wenig Erfahrung mit der Hässlichkeit und deswegen noch nicht gelernt, ihren Schock zu verbergen. Ich war eigentlich nicht mehr so jung damals, sechsundzwanzig. Und ich weiß nicht mehr, wie ich mich in dem Moment verhalten habe, aber ich erinnere mich, dass Cynth, als ich ihr auf dem Nachhauseweg zu unserer gemeinsamen Wohnung am Clapham Common davon erzählt habe, mit entzücktem Grauen aufschrie: »Huuuh, das Stummelfußungeheuer! Pass auf, Delly, die kommt dich holen!« Und dann fügte sie eher pragmatisch-optimistisch hinzu: »Na ja, wenigstens hat sie nie Probleme damit, passende Schuhe zu finden.«

Vielleicht war die Frau eine Hexe, die gekommen war, um mir anzukündigen, dass sich mein Leben grundlegend verändern sollte. Ich glaube es nicht, denn die eigentliche Botin war eine andere Frau, aber es ist doch so, als hätte jene Kundin mit ihrem Erscheinen einen makabren Schlusspunkt hinter ein Kapitel meines Lebens gesetzt. Hat sie in mir eine Verwundbarkeit erkannt, die ihrer eigenen verwandt war? Waren wir beide in einer Lage, in der wir keine andere Wahl hatten, als eine Lücke mit Papier zu füllen? Ich weiß es nicht. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass sie gar nichts weiter wollte als ein Paar neue Schuhe. Und trotzdem kommt sie mir immer, wenn ich an sie denke, wie ein Wesen aus einem Märchen vor, weil es genau jener Tag war, an dem sich alles verändert hat.

In den fünf Jahren davor, seit ich von Port of Spain nach England gekommen war, hatte ich mich um viele Stellen beworben, aber es war nie was draus geworden. Damals, als Cynth und ich das erste Mal mit dem Zug von Southampton in die Waterloo Station einfuhren, hatte Cynth die Kamine auf den Häusern noch für Fabrikschlote gehalten, die jede Menge Arbeit versprachen. Es hatte sich jedoch bald gezeigt, dass dieses Versprechen trügerisch war. Ich hatte mir oft sogar vorgestellt, bei Dolcis zu kündigen und mich bei einer der großen Zeitungen als Tea-girl zu bewerben. Zu Hause hätte ich nicht im Traum daran gedacht, anderen Leuten Tee und Sandwiches zu servieren, schließlich habe ich ein Hochschuldiplom, und Cynth hatte nur gesagt: »Jeder Volltrottel und Halbinvalide könnte diese Arbeit machen, und trotzdem würden sie dir den Job nicht geben, Odelle.«

Cynth, mit der ich zusammen zur Schule und dann nach England gegangen war, hatte in London zwei große Leidenschaften entwickelt: für Schuhe und für ihren Verlobten Samuel, den sie in unserer Kirchengemeinde kennengelernt hatte. (Sam erwies sich als großer Pluspunkt, denn außer ihm gab es dort nur jede Menge alte Tantchen, die andauernd von den guten alten Zeiten schwärmten.) Und weil sie ihn hatte, zerrte sie nicht so ungeduldig an den Seilen wie ich, was manchmal zu Streit zwischen uns führte. Wenn ich mal wieder darüber stöhnte, dass ich das nicht mehr aushielt, dass ich einfach nicht so war wie sie, sagte sie gern: »Ja, weil ich ein dummes Schaf bin und du so ungeheuer schlau!«

Ich hatte so oft auf Stellenanzeigen reagiert, die keinerlei Berufserfahrung forderten, und sogar die Leute am Telefon hatten nett geklungen, aber dann war ich dort aufgekreuzt, und prompt, Wunder über Wunder, war die Stelle jedes Mal schon vergeben. Und trotzdem – nennen Sie es Irrsinn, nennen Sie es Beharrlichkeit – habe ich mich immer weiter beworben. Beim letzten Mal, und das war das beste Jobangebot, das mir je begegnet ist, war es ein Posten als Schreibkraft beim Skelton Institute of Art. Ich war sogar schon mal dort gewesen – so ein Kasten mit Säulen und Vorhallen –, an einem der freien Samstage, die uns bei Dolcis einmal im Monat zustanden, und war durch die Säle mit Gainsboroughs und Chagalls und Aquatintaradierungen von William Blake gewandert. Auf der Heimfahrt nach Clapham schaute mich dann in der U-Bahn ein kleines Mädchen an, als wäre ich ein Gemälde. Sie streckte die Hand aus und rieb an meinem Ohrläppchen. »Geht die Farbe nicht ab?«, fragte sie ihre Mutter. Aber statt ihre Tochter zu tadeln, sah die eher so aus, als wäre sie der Meinung, dass die Frage nur das Ohrläppchen etwas anginge.

Ich hatte mich doch nicht all die Jahre für nichts und wieder nichts angestrengt, um einen erstklassigen Abschluss in Englischer Literatur an der University of the West Indies zu machen, und es mir dabei mit allen Jungs verdorben. Ich war doch nicht nach England gekommen, bloß um mir von einem kleinen Mädchen in der U-Bahn ins Ohr kneifen zu lassen. Zu Hause hatte mir das Britische Konsulat immerhin mal einen ersten Preis für mein Gedicht »Caribbean Spider-Lily« verliehen. Und tut mir leid, Cynth, aber ich hatte nicht die Absicht, bis an mein Lebensende verschwitzten Aschenputteln Schuhe an- und auszuziehen. Ja, natürlich habe ich geweint, vor allem nachts, wenn ich einsam und allein in meinem Bett lag, wenn sich das Begehren in mir staute. Ich schämte mich dafür, und doch gehörte es dazu. Ich hatte Wichtigeres vor mir, und dafür war ich bereit zu warten. In der Zwischenzeit schrieb ich Rachegedichte über das englische Wetter und log meiner Mutter vor, dass London das Himmelreich war.

Der Brief lag auf dem Fußabstreifer, als Cynth und ich an jenem Tag von Dolcis nach Hause kamen. Ich zog meine Schuhe aus und stand regungslos auf dem Flur. Der Poststempel war London W.1, der Mittelpunkt der Welt. Die viktorianischen Bodenfliesen waren kalt, meine Zehen krümmten sich auf dem blau-braunen Muster. Ich schob meinen Finger unter die Umschlagklappe, fuhr sie entlang und hob sie wie ein welkes Blatt aus dem Kuvert. Darin steckte ein Schreiben mit dem Briefkopf des Skelton Institute.

»Und?«, fragte Cynth.

Ich antwortete nicht. Einen Fingernagel in die florale Prägung der Tapete gedrückt, las ich schockiert, was da stand:

16. Juni 1967

Liebe Miss Bastien,

danke für Ihr Bewerbungsschreiben nebst Lebenslauf.

Aus den jeweils gegebenen Umständen, wie immer sie auch sein mögen, das Beste zu machen, ist alles, worauf wir Menschen hoffen können. Sie sind offensichtlich eine junge Frau mit großen Fähigkeiten, bestens für die Herausforderungen des Lebens gerüstet. Darum freue ich mich, Ihnen eine Woche Probearbeit als Schreibkraft anbieten zu können.

Es gibt viel zu lernen, und das meiste davon werden Sie alleine lernen müssen. Wenn Sie mein Angebot annehmen möchten, senden Sie mir bitte postwendend eine Nachricht. Das Anfangsgehalt beträgt £10 pro Woche.

Mit freundlichen Grüßen

Marjorie Quick

Zehn Pfund in der Woche. Bei Dolcis verdiente ich nur sechs. Vier Pfund machten einen Riesenunterschied, aber es war nicht das Geld allein, was die Stelle so attraktiv machte: Sie verhieß einen Schritt nach vorn, hin zu den Dingen, die – wie man mir beigebracht hatte –, die wirklich bedeutenden waren: Kultur, Geschichte, Kunst. Die Unterschrift war mit schwarzer Tinte geschrieben, das »M« und das »Q« extravagant geschwungen, mit fast italienischer Grandezza. Der Brief duftete schwach nach einem besonderen Parfüm und war leicht zerknittert, als hätte diese Marjorie Quick ihn ein paar Tage lang in ihrer Handtasche mit sich herumgetragen, bevor sie sich dazu entschloss, ihn abzuschicken.

Adieu, Schuhladen, adieu, öde Plackerei.

»Ich habe die Stelle«, flüsterte ich. »Sie nehmen mich. Ich habe es geschafft.«

Cynth kreischte auf und schloss mich in die Arme.

»Du hast es geschafft. Du hast es geschafft«, jubelte sie, und mir entfuhr ein Schluchzer. An ihren Hals geschmiegt, atmete ich tief ein, wie nach einem Gewitter in Port of Spain, wenn die Luft verführerisch frisch war. Cynth nahm den Brief und sagte: »Was für ein komischer Name! Wie kann man nur Marjorie Quick heißen?«

Ich konnte nicht sprechen vor lauter Glück, drückte nur meine Krallen tiefer in das weiche Relief der Blumentapete.

Jetzt, nach allem, was seitdem geschehen ist, frage ich mich, ob ich es noch einmal täte. Würde ich, Odelle Bastien, noch einmal am 3. Juli 1967 um fünf vor halb neun, den neuen Hut zurechtgerückt und meine Zehen in den Dolcis-Schuhen nervös angespannt, dort im Skelton auf der Matte stehen, bereit, für zehn Pfund die Woche und eine Frau namens Marjorie Quick zu arbeiten?

Ja, würde ich. Denn ich war ich, und Quick war Quick. Außerdem ist es Blödsinn, zu glauben, man könnte einen anderen Weg gehen als seinen eigenen.

2

Ich hatte mir vorgestellt, ich würde in einem Vorzimmer voller Schreibmaschinengeklapper arbeiten, aber ich war allein. Wahrscheinlich hatten die Kolleginnen Urlaub, dachte ich, verbrachten ihre Ferien an exotischen Orten, in Frankreich zum Beispiel. Jeden Tag stieg ich die steinernen Stufen hinauf zu den hohen Eingangstüren, auf deren Scheiben in goldenen Buchstaben ARS VINCIT OMNIA prangte. Meine Hände gegen das vincit und das omnia gestemmt, drückte ich sie auf und betrat die Eingangshalle des Skelton Institute of Art, in der es nach altem Leder und gewachstem Holz roch. Gleich rechts stand ein langer Empfangstresen, dahinter eine Regalwand mit Postfächern, in denen schon die morgendliche Post wartete.

Die Aussicht aus dem Zimmer, das man mir zugewiesen hatte, war scheußlich – eine rußige Ziegelmauer. Und wenn man nach unten schaute, sah man in eine Gasse, in der ständig irgendwelche Sekretärinnen und anderes Personal aus dem Nachbargebäude herumstanden und rauchten. Ich konnte nie hören, was sie redeten, sondern nur ihre Körpersprache beobachten: wie sie ihre Taschen nach der Zigarettenschachtel abtasteten; wie sie die Köpfe zusammensteckten wie zu einem Kuss, wenn eine ihr Feuerzeug zückte; wie sie sich gegen die Mauer lehnten, ein Bein kokett nach hinten abgewinkelt. Es war so eine abgelegene Ecke, ein versteckter Winkel mitten in der Stadt.

Der Skelton Square liegt direkt hinter dem Piccadilly. Das Gebäude war zu Zeiten von George III. gebaut worden und hatte die Bombenangriffe im Krieg unbeschädigt überstanden. Von jenseits der Dächer klangen die Geräusche des Circus herüber, die Motoren der Busse, das Hupen von Autos, die klagenden Rufe von Straßenverkäufern. Man hatte ein trügerisches Gefühl von Sicherheit hier an diesem Ort mitten im West End.

Fast die ganze erste Woche lang war der einzige Mensch, mit dem ich sprach, ein Mädchen namens Pamela Rudge. Sie saß immer am Empfangstresen, die Ellbogen aufgestützt, und las den Express, dabei machte sie Blasen mit ihrem Kaugummi, den sie erst wegwarf, wenn die höheren Chargen auftauchten. Mit einem leidenden Gesichtsausdruck, als wäre sie gerade bei einer schwierigen Arbeit gestört worden, legte sie sehr behutsam die Zeitung zusammen und blickte zu mir auf. »Guten Morgen, Adele«, sagte sie. Sie war einundzwanzig und der jüngste Spross eines alten Clans von East-End-Proleten, ihre auftoupierte Hochfrisur war fest wie Beton, und die Menge an Eyeliner, die ihre Augen einrahmten, hätte genügt, um fünf Pharaos zu schminken.

Pam Rudge war immer modisch und unverhohlen aufreizend gekleidet. Ich hätte auch gerne minzgrüne Minikleidchen und orangefarbene Blusen mit Schleifchen getragen, aber ich hatte nicht das Selbstbewusstsein, meinen Körper so zur Schau zu stellen. Alles Flair, das ich hatte, war in meinem Kopf. Ich beneidete sie um die Farben ihres Lippenstifts, um das Rouge auf ihren Wangen. Mich verwandelten englische Kosmetika in ein unheimliches graues Wesen, ließen mich aussehen wie ein Gespenst. Und in der Kosmetikabteilung von Arding & Hobbs fand ich immer nur Produkte, die so poetische, aber für mich völlig unpassende Namen trugen wie »Buttermilch-Teint«, »Weizenblond«, »Aprikosenblüte«, »Weidenröschen«.

Ich entschied für mich, dass Pamela zu der Art von Leuten gehörte, die sich, wenn sie sich abends mal so richtig was gönnen wollen, nichts Besseres vorstellen können, als am Leicester Square nach Herzenslust Bockwurst zu essen. Wahrscheinlich gab sie ihr ganzes Geld für Haarspray und schlechte Romane aus, die sie, strohdumm, wie sie war, gar nicht lesen konnte.

Vielleicht erriet sie irgendwie meine Gedanken, denn jeden Morgen, wenn ich auftauchte, sah sie mich entweder demonstrativ überrascht an, so als könnte sie es kaum fassen, dass ich die Frechheit besaß, mich hier wieder blicken zu lassen, oder sie empfing mich mit einem Ausdruck angeödeter Teilnahmslosigkeit, als genügte meine bloße Anwesenheit, sie in ein Koma der Langeweile zu versetzen. Manchmal schaute sie nicht einmal auf, wenn ich die Durchgangsklappe des Empfangstresens hob und sie mit einem leisen Knall direkt neben ihrem rechten Ohr wieder fallen ließ.

Cynth hatte mal bemerkt, dass ich im Profil besser aussehe, was ja gerade so klingt, als wäre ich eine Münze. Aber jetzt bringt es mich dazu, über meine zwei Seiten nachzudenken, darüber, dass ich Pamela wahrscheinlich den Eindruck vermittelt habe, ich sei eine arglistige Person, eine Art übriges Wechselgeld meiner selbst, das noch niemand eingestrichen hatte. In Wahrheit fühlte ich mich in Gegenwart eines Mädchens wie Rudge einfach nur spießig korrekt.

Sie kenne sonst keine Schwarzen, sagte sie mir am Donnerstag der ersten Woche. Als ich erwiderte, dass ich unter dem Namen auch keine gekannt hatte, bevor ich hierherkam, sah sie mich nur verständnislos an.

Aber obwohl das Verhältnis mit Pamela sich so schwierig anließ, war ich doch selig, hier zu sein. Das Skelton war das Paradies für mich, mein Mekka und mein Pemberley, die Erfüllung meiner schönsten Träume. Ein Zimmer, ein Schreibtisch, eine Schreibmaschine, die in goldenes Licht getauchte Pall Mall, ein strahlender Boulevard, über den ich jeden Morgen von Charing Cross zur Arbeit ging.

Eine meiner Aufgaben bestand darin, wissenschaftliche Aufzeichnungen ins Reine zu schreiben; die gelehrten Verfasser bekam ich nie zu Gesicht, nur ihr unleserliches Gekritzel über Bronzeskulpturen oder Serien von Linolschnitten. Mir gefiel die Arbeit, aber Dreh- und Angelpunkt meiner eigentlichen Tätigkeit war ein Ablagekorb mit handschriftlichen Briefen auf meinem Schreibtisch. Diese musste ich abtippen und die Reinschrift anschließend zu Pamela hinunterbringen. Die meisten waren ziemlich uninteressant, nur hin und wieder fanden sich wirkliche Schmuckstücke, etwa Bettelbriefe an irgendeinen alten Millionär oder eine klapprige Lady Soundso. »Mein lieber Sir Peter, es war eine große Freude für mich, als ich damals im Jahr 1957 den Rembrandt identifizieren konnte, den Sie auf Ihrem Dachboden hatten. Wollen Sie nicht in Erwägung ziehen, das Skelton damit zu beauftragen, auch den Rest Ihrer großartigen Sammlung zu katalogisieren?« Schmeichelnde Briefe an Bankiers und Filmmogule, denen mitgeteilt wurde, dass ein Matisse auf dem Markt war, und ob es ihnen nicht gefallen würde, wenn es im Skelton einen nach ihnen benannten Saal gäbe, in dem lauter von ihnen gestiftete Kunstwerke zu bewundern wären?

Die Schreiben stammten hauptsächlich vom Direktor des Skelton, einem Mann namens Edmund Reede. Pamela zufolge war er über sechzig und einer, dem schnell die Sicherungen durchbrannten. Im Krieg hatte er irgendwie mit Kunst zu tun gehabt, die von den Nazis konfisziert worden war, aber Genaueres wusste sie nicht darüber. Allein der Name »Edmund Reede« beschwor in mir Vorstellungen eines einschüchternden Engländertums herauf: Lords in maßgeschneiderten Anzügen aus der Savile Row, Gentleman Clubs mit Sitz in Whitehall, Beefsteak und Fuchsjagd, Dreiteiler, pomadisiertes Haar und in der Westentasche die goldene Uhr von Großonkel Henry. Ich begegnete ihm gelegentlich auf dem Korridor, und er wirkte jedes Mal von Neuem überrascht, so als wäre ich splitternackt von der Straße einfach hier hereinmarschiert. Ich kannte Männer wie ihn von der Schule her, wohlbehütete, reiche weiße Gentlemen, die ihre Füllfederhalter in die Hand nahmen und sich die Welt so zurechtschrieben, wie wir gewöhnlichen Sterblichen sie dann zu lesen bekamen.

Das Skelton war ein bisschen wie diese Welt, eine, zu der gehören zu wollen man mir beigebracht hatte. Und weil ich da Briefe tippen durfte, fühlte ich mich ihr näher, ein bisschen, als würde ich ihr damit unschätzbar wertvolle Dienste leisten, als wäre ich ganz besonders für diese Aufgabe auserwählt worden. Und das Beste war: Ich war schnell. So blieb mir oft, wenn ich mit den Briefen fertig war, noch Zeit, die ich dazu nutzten konnte, meine eigenen Arbeiten zu tippen. Ich brauchte fast immer mehrere Anläufe, aber ich warf die misslungenen Blätter nicht in den Papierkorb, damit sie mich nicht verrieten. Stattdessen knüllte ich sie zusammen und steckte sie in meine Handtasche. An manchen Tagen war sie ganz prall mit Papier ausgestopft, wenn ich abends nach Hause ging.

Ich erzählte Cynth, dass ich den Geruch des Lagerschranks bei Dolcis schon vollkommen vergessen hatte. »Es ist, als ob eine einzige Woche fünf Jahre auslöschen könnte«, sagte ich, zum Optimismus entschlossen. Ich erzählte auch von Pamela und ihrer zementierten Hochfrisur. Cynth runzelte die Stirn – sie briet mir gerade ein Spiegelei, und die Kochplatte in unserer winzigen Wohnung funktionierte nicht sehr zuverlässig –, dann sagte sie: »Das freut mich Delly, dass alles so gut läuft.«

Am Freitag der ersten Woche hatte ich, nachdem ich mit Reedes Briefen fertig war, eine ruhige halbe Stunde, in der ich mich mit einem Gedicht für Cynth abmühte. Sie hatte sich als Hochzeitsgeschenk »etwas Geschriebenes« gewünscht, und ich, hatte sie gemeint, sei der einzige Mensch auf Erden, der ihr diesen Wunsch erfüllen könnte. Gerührt und zugleich deprimiert bei dem Gedanken, wie glücklich Cynth und Sam miteinander waren, starrte ich auf die Schreibmaschine. Ihre Liebe brachte mir mein eigenes Aschenputtel-Dasein nur noch deutlicher zu Bewusstsein. Und nicht nur das, der Blick auf das leere Papier führte mir auch sehr bildlich vor Augen, wie vergeblich ich mich seit Monaten mit meiner Schriftstellerei abstrampelte. Jedes Wort, das ich hinschrieb, war papierener Mist, es gelang mir nicht, irgendeinem meiner Texte Leben einzuhauchen.

Eben war mir eine mögliche Wendung eingefallen, da kam eine Frau herein. »Hallo, Miss Bastien«, sagte sie, und meine Idee löste sich in Nichts auf. »Kommen Sie gut zurecht? Erlauben Sie mir, mich vorzustellen: Ich bin Marjorie Quick.«

Ich fuhr hoch, so hastig, dass ich mich an der Schreibmaschine stieß. Sie lachte. »Setzen Sie sich, wir sind hier ja nicht beim Militär.« Unwillkürlich schielte ich zu meinem halbfertigen Gedicht; mir wurde ganz schlecht vor Angst, dass sie es sehen könnte.

Marjorie Quick machte einen Schritt auf mich zu, den Arm ausgestreckt, ihr Blick huschte in Richtung der Schreibmaschine. Ich nahm ihre Hand und betete, sie möge nicht auf die andere Seite des Schreibtischs kommen. Sie tat mir den Gefallen. Der Geruch von Zigaretten wehte mir entgegen, vermischt mit jenem herben, maskulinen Duft, den ich von ihrem Brief her kannte und der, wie ich später erfahren sollte, Eau Sauvage hieß.

Marjorie Quick war klein und zierlich, hielt sich sehr gerade und war in einer Art gekleidet, die alles, was Pamela aufbot, weit in den Schatten stellte. Eine leger geschnittene schwarze Hose, deren Stoff sich beim Gehen leicht wölbte, eine zartrosa Seidenbluse, dazu ein Halstuch aus grauem Satin. Mit ihren kurzen silbern melierten Locken und den wie aus fein gemasertem Holz geschnitzten Wangen sah sie aus wie eine Grande Dame aus Hollywood. Ich schätzte sie auf Anfang fünfzig, aber sie wirkte anders als alle Fünfzigjährigen, die ich kannte. Die Linien ihres Gesichts waren scharf und glatt, ihre Ausstrahlung überwältigend.

»Hallo«, sagte ich. Ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden.

»Irgendwelche Klagen?« Es schien ihr ähnlich zu ergehen wie mir, denn während sie geduldig auf eine Antwort wartete, ließen ihre dunklen Augen mich nicht los. Mir fiel auf, dass sie ein wenig erhitzt war, auf ihrer Stirn stand Schweiß.

»Klagen?«, fragte ich unsicher.

»Gut. Wie spät ist es?« Hinter ihr an der Wand hing eine Uhr, aber sie drehte sich nicht nach ihr um.

»Gleich zwölf Uhr vierzig.«

»Also, gehen wir essen.«

3

Sie hatte ein Messingschild mit ihrem Namen drauf an ihrer Tür. Ich fragte mich, wie viele Frauen in London im Jahr des Herrn 1967 ein eigenes Büro hatten. Frauen aus der Arbeiterklasse übten irgendwelche niedrigen Tätigkeiten in Dienstleistungsbetrieben oder Fabriken aus, waren Krankenschwestern oder Verkäuferinnen oder Schreibkräfte so wie ich, und so war es seit Jahrzehnten. Zwischen solchen Existenzen und der einer Frau, die ein eigenes Namensschild an ihrer Tür hatte, lagen Welten, eine Kluft, die kaum je überbrückt werden konnte. Vielleicht war Marjorie Quick ja ein Spross der Familie Skelton, überlegte ich, und hatte in dem Institut eine Art Ehrenpräsidentschaft inne.

Das Schild blitzte in der Sonne, die durch die Fenster hereinschien, als sie die Tür öffnete und mich in ihr Büro führte. Der Raum war groß und hell und hatte hohe Fenster zum Platz hinaus. Es hingen keine Bilder an den Wänden, was ich sonderbar fand. Drei Seiten wurden von Bücherregalen eingenommen; meine neugierigen Seitenblicke fanden hauptsächlich Romane aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert, außerdem in überraschender Nachbarschaft Hopkins neben Pound sowie hie und da ein Band über römische Geschichte. Es waren lauter gebundene Bücher, gepflegte Ausgaben, die nicht erkennen ließen, ob sie auch gelesen worden waren.

Quick schnappte sich von dem großen Schreibtisch eine Packung Zigaretten. Ich sah zu, wie sie sich eine nahm, zögerte und sie dann bedächtig zum Mund führte. Diese Art des Tempowechsels in ihren Bewegungen, wie sie plötzlich beschleunigte, dann wieder innehielt, als zügelte sie sich, sollte mir im Lauf der Zeit sehr vertraut werden. Es war, als lebte sie ihren Namen, aber es war schwer zu entscheiden, ob das Träge oder das Flinke mehr ihrer eigentlichen Natur entsprach.

»Wollen Sie auch eine?«, fragte sie.

»Nein, danke.«

»Dann rauche ich eben alleine.«

Ihr Feuerzeug war aus Silber, eines von diesen schweren Dingern, die man nicht mit sich herumträgt, sondern auf dem Tisch liegen hat. Man konnte es sich gut im Salon eines Landhauses vorstellen, eine Kreuzung zwischen einer Handgranate und einem Kunstgegenstand, der bei Christie's versteigert wird. Das Skelton war eine Institution mit Geld, vermutete ich, und Marjorie Quick spiegelte das wider. Unaufdringlich, aber unübersehbar war es präsent, im Schnitt ihrer rosa Seidenbluse, ihrer kühnen Hose, in ihren Raucherutensilien. In ihrer ganzen Erscheinung. Wieder fragte ich mich, welche Funktion sie eigentlich genau hatte.

»Gin?«, fragte sie.

Ich zögerte. Ich trank nie viel, Hochprozentiges schon gar nicht. Der Geruch erinnerte mich zu sehr an die Männer in Port of Spain, in deren Blut der Rum sprudelte, der jenes Brüllen erzeugte, ob aus schmutzigem Leid oder blinder Euphorie, das in den staubigen Straßen der Stadt zu hören war. Aber da nahm Quick schon eine Flasche von einem Tisch in der Ecke, schraubte den Deckel auf und schenkte zwei Gläser ein. Mit einer Zange gab sie Eiswürfel in meines, goss mit Tonic auf, tat eine Zitronenscheibe hinein und reichte es mir.

Sie sank in ihren Sessel, als hätte sie zwanzig Tage lang gestanden, nahm einen großen Schluck Gin, pur in ihrem Glas, griff dann zum Telefon und wählte. Das Feuerzeug klickte, eine große orangefarbene Flamme schlug hoch. Glut knisterte, Tabak verwandelte sich in blaue Rauchfäden.

»Hallo, Harris? Ja, was es eben heute gibt. Aber zweimal. Und eine Flasche Sancerre. Zwei Gläser. Wie lang dauert das? Gut.« Ich lauschte den Kadenzen ihrer Stimme; sie klang etwas rau und abgehackt, nicht durch und durch englisch, obwohl etwas dabei war, das an eine zugige Internatsschule denken ließ.

Sie legte auf und klopfte die Asche ihrer Zigarette über einem massiven Marmoraschenbecher ab. »Das Restaurant nebenan«, sagte sie. »Ich kann da nicht sitzen.«

Ich saß ihr gegenüber, mein Glas in der Hand, und dachte an das Sandwich, das Cynth mir mitgegeben hatte und das gerade in meiner Schreibtischschublade in der Hitze verdorrte.

»So«, sagte sie. »Eine neue Stelle.«

»Ja, Madam.«

Marjorie Quick stellte ihr Glas ab. »Ein paar Dinge wollen wir jetzt gleich klären, Miss Bastien. Nennen Sie mich nicht ›Madam‹. Auch nicht ›Miss‹. Am liebsten ist mir Quick.« Sie lächelte, ein bisschen wehmütig. »Ist Ihr Name französisch?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Sprechen Sie Französisch?«

»Nein.«

»Ich bringe ›haben‹ und ›sein‹ immer durcheinander. Ich dachte, die Leute in Trinidad sprechen Französisch?«

Ich zögerte. »Nur wenige unserer Vorfahren durften in den Haushalten der französischen Herrschaften arbeiten, wo sie in Kontakt mit der Sprache kamen«, sagte ich.

Ihre Augen wurden groß. Ich wusste nicht, ob es sie amüsierte oder ärgerte. Vielleicht war ich mit meiner kleinen Geschichtslektion zu weit gegangen, vielleicht fand sie meine Antwort frech und würde mich in der Probezeit rausschmeißen?

»Natürlich«, sagte sie. »Interessant.« Wieder trank sie von ihrem Gin. »Im Moment ist hier nicht viel zu tun«, fuhr sie fort, »aber ich nehme an, Mr Reede hält Sie mit seiner endlosen Korrespondenz auf Trab. Ich fürchte, Sie werden sich bald langweilen.«

»Ach nein, sicher nicht.« Ich dachte daran, wie wir bei Dolcis schuften mussten, wie die Ehemänner uns immer auf den Hintern starrten, während wir ihren Frauen in die Schuhe halfen. »Ich bin wirklich sehr froh, hier zu sein.«

»Wahrscheinlich sieht man an einem einzigen Tag bei Dolcis mehr vom Leben als im Skelton in einer Woche. Hat es Ihnen gefallen?«, fragte sie. »Die Füße all dieser Frauen anzufassen?«

Jungfräulich, wie ich war, schockierte mich diese Frage, die so ungeniert etwas Sexuelles ansprach. Aber ich war entschlossen, mich nicht einschüchtern zu lassen. »Wenn es dreißig Paar pro Tag sind«, antwortete ich, »findet man es, ehrlich gesagt, ziemlich abstoßend.«

Sie warf den Kopf zurück und lachte. »Alle Käsesorten von Frankreich!«

Ich musste auch kichern. Ihr Kommentar war albern, und meine Anspannung ließ nach. »Manchen Leuten macht es nichts aus«, sagte ich. Ich dachte an Cynth und kam mir schlecht vor, weil ich sie in diesen sonderbaren Dialog mit hineinzog, in dieses Spiel, dessen Regeln ich nicht kannte. »Man braucht wohl eine besondere Begabung dafür.«

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Diese Unmengen an Zehen von wildfremden Leuten!« Sie schüttelte sich. »Wir haben so viele wunderschöne Porträts hier im Skelton. Aber in Wirklichkeit sind wir doch alle bloß schlackernde Arme und glucksende Eingeweide. Hitze im Inneren der Leber.« Sie sah mich scharf an und trank wieder einen Schluck. »Ich habe viel länger gebraucht als Sie, Miss Bastien, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. Zehen, Ellbogen. Man sollte sich freuen, solange man in seiner Würde noch halbwegs unbeschädigt ist.«

»Ich werde mich bemühen«, sagte ich verunsichert. Sie hatte etwas Rastloses an sich, ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie mir etwas vorführen wollte, und ich wusste nicht, warum.

Es klopfte an der Tür. »Herein«, sagte Quick, und da kam unser Mittagessen. Ein winziger alter Kellner, der nur noch einen Arm hatte, schob einen Servierwagen ins Büro: ein Korb mit Brötchen, zwei platte Fische, ein optimistisch bunter Salat, eine Flasche Wein in einem Kühler und etwas, das unter einer chromglänzenden Kuppel versteckt war. Der Kellner starrte mich verstört an. Seine wässrigen Augen wanderten zu Quick.

»Das ist alles, Harris, danke«, sagte sie.

»Wir haben Sie die ganze Woche lang nicht gesehen, Miss«, antwortete er.

»Ah, ja – ich hatte Urlaub.«

»Sie waren verreist?«

»Nein.« Quick wirkte einen Moment lang irritiert. »Ich war zu Hause.«

Der Kellner warf mir einen Blick zu. »Ein bisschen anders als die Letzte.« Er legte den Kopf schief. »Weiß Mr Reede, dass Sie eine Kanakin angestellt haben?«

»Das wär's für heute, Harris«, sagte Quick entschieden. Er verzog mürrisch das Gesicht und ging, ohne mich aus den Augen zu lassen, hinaus. Den Servierwagen ließ er da.

»Harris –« Sie sagte es in einem Ton, als wäre der Name Erklärung genug. »Den Arm hat er in Passendale verloren. Er weigert sich, in Rente zu gehen, und niemand traut sich, ihn nach Hause zu schicken.« Das Wort »Kanakin« hing immer noch im Raum. Quick stand auf und gab mir einen Teller.

»Sie können ihn auf dem Schreibtisch abstellen, wenn Sie wollen.« Sie nahm sich den anderen Teller und setzte sich auf ihre Seite des Schreibtischs. Ihr Rücken war schlank und zierlich, die Schulterblätter stachen etwas unter der Bluse hervor, wie Rückenflossen. Die Weinflasche war schon entkorkt, und Quick schenkte zwei Gläser ein.

»Er ist gut. Nicht wie das Zeug, das wir Besuchern hier sonst so vorsetzen.« Das Gluckern war laut und hatte etwas Grenzüberschreitendes an sich, so als schenkte sie mir am helllichten Tag ein magisches Elixier ein. »Ich hoffe, Sie mögen Seezunge.«

»O ja«, sagte ich. Ich hatte noch nie Seezunge gegessen.

»Also. Was haben Ihre Eltern dazu gesagt, dass Sie hier arbeiten?«

»Meine Eltern?«

»Waren sie stolz?«

Ich wackelte nervös mit den Zehen. »Mein Vater ist tot.«

»Oh.«

»Meine Mutter lebt noch in Port of Spain. Geschwister habe ich keine. Vielleicht hat sie meinen Brief noch gar nicht bekommen.«

»Ah, das ist bestimmt hart für Sie beide.«

Ich dachte an meine Mutter und wie sie an England glaubte, wo sie nie hinkommen würde. Und ich dachte an meinen Vater, der zur Luftwaffe eingezogen worden war und über Deutschland in einem Flammenball aufging. Als ich fünfzehn war, hatte unser Premierminister erklärt, die Zukunft der Kinder liege in ihren Schultaschen. Meine Mutter, die unbedingt wollte, dass ich es einmal besser hatte, trieb mich dazu an, mich in der Schule anzustrengen, aber was sollte das schon nutzen, wenn nach der Unabhängigkeit des Landes alles, was irgendeine Art von Wert besaß, an ausländische Unternehmen verkauft wurde, die ihre Profite bei sich zu Hause investierten? Was sollten wir jungen Leute tun, wenn wir am Ende in unsere Schultaschen fassten und dort nichts fanden als geplatzte Nähte? Wir mussten woandershin.

»Alles in Ordnung mit Ihnen, Miss Bastien?«, fragte Quick.

»Ich bin zusammen mit meiner Freundin Cynth hergekommen«, sagte ich, um das Thema zu wechseln. Ich wollte nicht an die Gedenktafel mit Papas Namen drauf denken, nicht an die leere Grabstelle auf dem Lapeyrouse-Friedhof, nicht an die Klosterschwestern, bei denen ich in meiner Trauer zur Schule gegangen war. »Sie ist verlobt«, sagte ich. »Sie will heiraten.«

»Ah.« Quick nahm ihr Messer und schob ein kleines Stück Seezunge auf die Gabel. Ich hatte das sonderbare Gefühl, zu viel zu sagen, obwohl ich noch gar nichts gesagt hatte. »Wann?«

»In zwei Wochen. Ich bin Trauzeugin.«

»Und dann?«

»Dann was?«

»Na ja, Sie sind ja dann allein, oder nicht? Ihre Freundin wird mit ihrem Mann zusammenwohnen.«

Quick schaffte es immer, einen Bogen um ihre eigenen Wahrheiten zu schlagen, während sie direkt auf die der anderen zusteuerte. Sie verriet mir nichts über das Skelton, sondern konzentrierte sich einzig darauf, mich auszuforschen, und war schnell bei meinen dunkelsten Ängsten gelandet. Tatsächlich war der Gedanke daran, dass Cynth schon bald aus unserer kleinen Wohnung ausziehen würde, stets präsent, lauerte wie eine unausgesprochene unheilschwangere Frage zwischen uns. Wir wussten beide, dass sie und Samuel zusammenziehen würden, aber ich konnte mir nicht vorstellen, die Wohnung mit jemand anderem zu teilen, und darum redete ich nicht darüber, und sie auch nicht. Ich prahlte mit meinem neuen Job, sie erzählte von den Hochzeitsvorbereitungen und machte mir Sandwiches, die ich nicht beachtete. Mit dem, was ich im Skelton verdiente, würde ich die Miete alleine bezahlen können, das war mein einziger Trost.

»Ich bin ganz gern mit mir alleine«, sagte ich und schluckte krampfhaft. »Es wird schön, ein bisschen mehr Platz zu haben.«

Quick streckte die Hand nach ihrer Zigarettenschachtel aus, schien es sich aber im selben Moment wieder anders überlegt zu haben. Wenn du hier allein wärst, dachte ich, hättest du schon drei mehr geraucht. Ihr Blick ruhte kurz auf mir, als sie den Stahldeckel hob, unter dem ein Zitronenbaiser zum Vorschein kam. »Essen Sie etwas, Miss Bastien«, sagte sie. »Es ist genug da.«

Während ich artig mein Stück Baiser aß, rührte Quick nichts davon an. Sie schien dafür geboren zu sein, für das Rauchen, sich Essen per Telefon ins Büro zu bestellen, andere Leute aus dem Augenwinkel zu beobachten. Ich stellte sie mir als junge Frau vor, wie sie mit lauter schicken Leuten in London um die Häuser zog, immer cool inmitten des Bombenhagels, eine Mischung aus Mitford und Waugh, dazu der Glanz der von mir gerade erst entdeckten Muriel Spark. Vielleicht lag es an dem Bildungssystem, in dem ich groß geworden war – Schulen, die sich am Vorbild der englischen Privatschulen mit ihrem Latein- und Griechischunterricht und ihren Kricketmannschaften orientierten –, aber ich hatte immer schon einen besonderen Drang zum »Höheren«, wie eine Motte zum Licht zog es mich zu exzentrischen, selbstbewusst auftretenden Leuten, deren Gesellschaft mein Leben bereichern sollten, die Sorte Menschen, die man nur in Romanen findet. Quick musste gar nicht viel dazu tun, ich war nur allzu begierig, mich von ihr faszinieren zu lassen. Wie ausgehungert begann ich damit, phantastische Luftschlösser zu bauen.

»Ihre Bewerbung hat mich sofort angesprochen«, sagte sie. »Sie schreiben sehr gut, wirklich gut. Offenbar waren Sie an Ihrer Universität eine der Besten. Sicher finden Sie, dass es unter Ihrem Niveau ist, als Sekretärin zu arbeiten.«

Ich bekam Angst. Bedeutete das, dass sie mich nicht wollte, dass ich mich in der Probewoche nicht bewährt hatte? »Ich bin sehr dankbar, dass ich hier arbeiten darf«, sagte ich. »Es gefällt mir sehr gut hier.«

Sie verzog das Gesicht in leichter Ironie, und ich fragte mich, worauf sie eigentlich hinauswollte. Ich nahm ein Brötchen und hielt es in der Hand. Irgendwie fühlte es sich an wie ein kleines Tier, ich hatte das instinktive Bedürfnis, darüber zu streicheln. Stattdessen bohrte ich meinen Daumen in die Kruste.

»Was möchten Sie denn schreiben?«

Ich dachte an das Blatt Papier in meiner Schreibmaschine. »Hauptsächlich Gedichte. Irgendwann einmal auch einen Roman. Ich habe nur noch nicht den richtigen Stoff.«

Sie lächelte. »Warten Sie nicht zu lange.«

Ich war erleichtert. Wenn ich erwähnte, dass ich schrieb, wollten mir die Leute sonst immer einreden, dass ihre Lebensgeschichte sich ideal für einen Roman eignete.

»Im Ernst«, sagte Quick. »Sie dürfen nicht herumtrödeln. Man weiß nie, wann es einen überkommt.«

»Mache ich nicht.« Ihre Anteilnahme tat mir gut.

Sie lehnte sich zurück. »Sie erinnern mich an jemanden, den ich mal kannte.«

»Tatsächlich?« Ich fand das ungemein schmeichelhaft und wartete, dass sie weiterredete, aber ihr Gesicht verfinsterte sich, und sie knickte die Zigarette, die sie am Rand des Aschenbechers abgelegt hatte, in der Mitte durch.

»Was halten Sie von London?«, fragte sie. »Sie sind seit '62 hier. Wie gefällt es Ihnen?« Ich war wie gelähmt. »Miss Bastien«, sagte sie und beugte sich nach vorn, »das hier ist keine Prüfung, es interessiert mich wirklich. Ich werde es auch bestimmt niemandem weitererzählen, Hand aufs Herz.«

Es war das erste Mal überhaupt, dass ich es laut aussprach. Vielleicht lag es am Gin oder an ihrem ehrlichen Gesicht oder daran, dass sie nicht über meinen Traum lachte, vielleicht war jugendliche Unbekümmertheit daran schuld oder dieser einarmige Kellner, jedenfalls platzte es jetzt aus mir heraus: »Ich habe noch nie so viel Ruß gesehen wie in London.«

Sie lachte. »O ja, es ist dreckig hier.«

»So wie die Leute in Trinidad immer geredet haben, dachte ich, London ist das reinste Märchenland.«

»Ich auch.«

»Sind Sie gar nicht von hier?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich bin jetzt schon so lange hier, dass ich es kaum mehr anders weiß.«

»Man stellt sich vor, in London gibt es nichts als Ordnung und Überfluss und Anstand und grüne Natur. Man verliert ganz das Gefühl für die Distanz.«

»Für welche Distanz, Miss Bastien?«

»Na ja, die Queen regiert in London und ist gleichzeitig Staatsoberhaupt unserer Insel. Also fühlt es sich so an, als wären wir in London zu Hause.«

»Ach so.«

Ich hatte meine Zweifel, dass Quick wirklich verstand, was ich meinte, darum redete ich weiter: »Man denkt, die Leute hier kennen einen, weil sie auch Dickens und Brontë und Shakespeare lesen, aber ich habe hier noch niemanden getroffen, der auch nur drei seiner Stücke nennen könnte. In der Schule haben sie uns Filme über das Leben in England vorgeführt, wir haben Bowler und Busse über die Leinwand flimmern sehen, während draußen Baumfrösche gequakt haben. Warum haben sie uns solche Dinge gezeigt?« Meine Stimme wurde schrill. »Ich dachte, hier gibt es nur feine Herrschaften –« Ich brach ab, ich fürchtete, dass ich schon zu viel gesagt hatte.

»Sprechen Sie nur weiter«, sagte sie.

»Ich dachte, in London würden mich Wohlstand und freundliche Menschen erwarten. Ein neues Leben, Ruhm und Erfolg. Ich dachte, nach England zu gehen wäre so, als würde ich bloß aus dem Haus auf die Straße treten, eine Straße, auf der es vielleicht ein bisschen kühler ist als in Trinidad, wo aber eine beti mit ein bisschen Grips Tür an Tür mit Queen Elizabeth leben kann.«

Quick lächelte. »Sie haben viel darüber nachgedacht.«

»Manchmal kann ich an überhaupt nichts anderes mehr denken. Die Kälte, die Feuchtigkeit, die Miete, der Mangel an allem und jedem. Aber … ich gebe mir alle Mühe, zu leben.«

Ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt besser den Mund halten sollte. Ich konnte es kaum fassen, dass ich all das gesagt hatte. Auf meinem Schoß lagen die Brösel des Brötchens, das ich zwischen meinen Fingern zerrieben hatte. Quick dagegen wirkte vollkommen entspannt. Sie lehnte sich zurück, ihre Augen blitzten. »Keine Angst, Odelle«, sagte sie, »Sie werden es schon schaffen.«

4

Cynthia heiratete Samuel im Standesamt von Wandsworth, in einem kleinen Raum mit dunkelgrün gestrichenen Wänden und Stahlstühlen, in dem es nach Bürokratie und billigem Parfüm roch. Shirley und Helen, zwei Kolleginnen aus dem Schuhgeschäft, waren da, beide in ihrem besten Sonntagsstaat, außerdem Sams Trauzeuge, sein Freund und Kollege Patrick Minamore, der seine Freundin Barbara mitgebracht hatte, eine überaus gesprächige junge Schauspielerin. Der Standesbeamte musterte uns kritisch. Die Männer trugen Anzüge und Krawatten – die von Patrick war besonders knallig –, und alle wirkten todschick in dieser tristen Umgebung. Cynth war wunderschön. Ich meine: Sie wäre auch wunderschön gewesen, wenn sie nicht vor lauter Liebe so gestrahlt hätte, aber jetzt, in dem weißen Minikleid, mit dem schlichten weißen Hütchen und den weißen Schuhen, die Connie, die Filialleiterin von Dolcis, ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, sah sie einfach umwerfend aus. Sie trug eine Halskette mit blauen Keramikblumen und Ohrstecker mit kleinen Perlen, die so vollkommen und rund waren, als hätten die Austern sie eigens für sie gemacht.

Patrick, ein begeisterter Hobbyfotograf, hielt das Ereignis für die Nachwelt fest. Ich besitze noch immer ein paar von den Fotos, die er gemacht hat. Sam und Cynth, wie sie Hand in Hand lachend auf der Treppe vor dem Standesamt stehen, während Reiskörner wie weißer Regen auf sie niedergehen.

Zumindest mit ihrer Heirat hatte Cynth einen großen Treffer gelandet. Es war für keine von uns beiden leicht, ihren Weg zu finden, und eigentlich hätte Cynth längst ein eigenes Schuhgeschäft besitzen müssen, so gut war sie in ihrem Beruf. Es war nicht gerade einfach für ein Mädchen aus Trinidad, 1967 in der Clapham Highstreet Schuhe zu verkaufen, und vermutlich war es sogar um einiges schwieriger, als ein Gedicht über Blumen zu schreiben, es ans Britische Konsulat zu schicken und einen Preis damit zu gewinnen. Aber sie hatte immerhin Sam bekommen, und die beiden passten gut zusammen, er ernst und schüchtern, sie findig und entschlossen. Wie ihr Glanz auch ihn erstrahlen ließ, als er seine Unterschrift auf das Papier setzte!

Anschließend fuhren wir in schwarzen Taxis zur Wohnung von Sam und Patrick. Wir sagten den Fahrern, dass unsere Freunde gerade geheiratet hatten, und sie alle kurbelten die Fenster runter und ließen aus ihren Radios dieselbe Musik spielen, so laut, dass wir schon fürchteten, wegen Ruhestörung verhaftet zu werden. In der Wohnung hoben wir bester Laune die Servietten von den Sandwiches, suchten Flaschenöffner und Korkenzieher, legten Platten auf und feuerten das Brautpaar an, als es die weiße, großzügig mit Rum getränkte Torte anschnitt.

Nach ein paar Stunden tauchten noch mehr Gäste auf, Freunde von Freunden. Barbara hatte eine Horde Leute eingeladen, die alle ziemlich hip aussahen, Frauen mit langen Haaren und kurzen Kleidern, Typen mit offenem Hemdkragen und Dreitagebart. Ich warf nur einen flüchtigen Blick auf sie; ich hatte mir längst gesagt, dass solche Leute nichts für mich waren und ich nichts für sie. Mein Rücken war klatschnass geschwitzt, und die Zimmerdecke kam mir niedriger vor als vor einer Stunde. Ein paar von Barbaras Freunden stießen im Getümmel gegen einen Tisch, und eine kleine rote Lampe mit Quasten fiel auf den Boden. Marihuanaschwaden zogen durch den Raum. Ich hatte selber noch nie geraucht, aber ich kannte den Geruch.

Als es zum Bersten voll und die Stimmung auf dem Höhepunkt war, hob Cynth, die schon drei Dubonnets mit Limonade zu viel intus hatte, die Nadel von der Platte und verkündete: »Meine Freundin Delly ist eine Dichterin und hat ein Gedicht über die Liebe geschrieben.« Vereinzelte Beifallsrufe waren zu hören. »Und das wird sie jetzt vorlesen.«

»Cynthia Morley, nein!«, zischte ich. »Wenn du meinst, du kannst mich herumkommandieren, bloß weil du jetzt verheiratet bist, hast du dich geschnitten.«

»Was ist los mit dir, Delly?«, rief Sam. »Warum zierst du dich so?«

»Komm schon, Delly, mir zuliebe«, sagte Cynth und zog zu meinem Entsetzen das Gedicht aus der Handtasche, während eine weitere Runde schütterer Beifall in dem verqualmten Zimmer aufkam. Als ich es ihr vor einer Woche gezeigt hatte, unsicher wie ein Schulmädchen, das die endlos lange Strecke nach vorn zum Pult der Lehrerin überwinden muss, hatte sie es schweigend gelesen, mich dann ganz fest an sich gedrückt und ergriffen geflüstert: »Mein Gott, Delly, du bist wirklich genial.«

»Es ist ein sehr gutes Gedicht, Delly«, sagte sie jetzt und drückte mir das Blatt in die Hand. »Zeig diesen Leuten, was du draufhast.«

Und das tat ich. Ein bisschen wacklig auf den Beinen, warf ich einen kurzen Blick auf die Gesichter vor mir, schwebende Monde, die allein meinetwegen stillstanden. Ich las mein Gedicht über die Liebe vor, obwohl ich es auswendig konnte. Es war ganz still im Raum, und auch als ich fertig war, blieb es noch eine Weile ruhig, und ich wartete darauf, dass Cynth etwas sagte, aber selbst sie war offenbar sprachlos.

Ich sah nicht sein Gesicht in der Menge, als ich das Gedicht vortrug. Ich spürte nicht seinen Blick, obwohl er, wie er mir später sagte, seine Augen nicht von mir abwenden konnte. Ich fühlte keine Veränderung im Raum, nur den Schock, einzig meine eigene Stimme zu hören, und jene besondere Euphorie, die auf den Beifall folgte und in der Ernüchterung und Triumph gleichermaßen spürbar waren.

Er kam eine halbe Stunde später zu mir in die winzige, zugemüllte Küche, wo ich all die schmutzigen Teller zusammensammelte und aufeinanderstapelte, um etwas Ordnung zu machen. »Hallo«, sagte er. »Sie sind also die Dichterin. Ich bin Lawrie Scott.«

Mein erster Gedanke war, zu überprüfen, ob Reste von Eiersandwiches an meinen Fingern klebten. »Ich bin keine Dichterin, ich schreibe nur Gedichte«, sagte ich und schaute auf meine Hände.

»Ist das ein Unterschied?«

»Ja, ich glaube schon.«

Er lehnte sich gegen das Küchenbuffet. Seine langen Beine blieben ganz gerade, er verschränkte die Arme vor der Brust wie die Kriminalkommissare in den Filmen. »Ist Delly Ihr richtiger Name?«, fragte er.

»Ich heiße Odelle.« Dankbar für das Scheuermittel, das da stand, machte ich mich daran, die Spüle zu schrubben.

»Odelle.« Er blickte hinüber zum Wohnzimmer, wo die Party mittlerweile dabei war, aus dem Ruder zu laufen und in einem Meer aus Zigarettenkippen und schrillen Schreien, Kronkorken, verlorenen Haargummis und einem zertrampelten Jackett, das auf dem Boden lag, unterzugehen. Sam und Cynth würden sich bald verabschieden, um ihre Hochzeitsnacht in unserer Wohnung zu verbringen. Ich hatte versprochen, sie ihnen diese Nacht ganz zu überlassen, was für mich hieß, dass ich hier in dieser Räuberhöhle bleiben musste. Lawrie wirkte gedankenverloren, vielleicht war er auch ein bisschen high, und mir fiel auf, dass er dunkle Ringe um die Augen hatte.

»Woher kennen Sie das Brautpaar?«, fragte ich.

»Ehrlich gesagt, kenne ich die beiden überhaupt nicht. Ich bin mit Barbara befreundet, und sie hat gesagt, hier steigt eine Party. Ich wusste nicht mal, dass es eine Hochzeit ist. Ich komme mir reichlich ungezogen vor, aber Sie wissen ja, wie so was geht.« Ich wusste es nicht und schwieg. »Und Sie?«, fragte er.

»Ich bin mit Cynthia zur Schule gegangen. Wir wohnen zusammen … na ja, jetzt nicht mehr.«

»Sie kennen sie also schon lange?«

»Sehr lange.«

»Ihr Gedicht war wirklich gut«, sagte er.

»Danke.«

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn man verheiratet ist.«

»Ich denke, es wird nicht so sehr anders sein.« Ich zog gelbe Gummihandschuhe an.

Er drehte sich zu mir um. »Glauben Sie wirklich? Haben Sie deswegen ein Gedicht über die Liebe geschrieben statt über die Ehe?«

Das Wasser lief immer noch, die ganze Spüle war schon voller Schaum. Sein Interesse kam mir echt vor, und ich fühlte mich geschmeichelt. »Ja«, sagte ich, »aber verraten Sie es Cynth bitte nicht.«

Er lachte, es klang sympathisch. »Meine Mutter meinte immer, mit etwas Übung geht es besser in der Ehe. Sie war da allerdings schon beim zweiten Versuch.«

»Lieber Himmel«, sagte ich lachend, wahrscheinlich nicht ohne Missbilligung im Ton. Zu dieser Zeit war die Scheidung noch mit einer Aura des Unsittlichen, Lasterhaften umgeben.

»Sie ist vor zwei Wochen gestorben«, sagte er.

Meine Hand mit dem Schwamm verharrte regungslos über der Spüle. Ich sah ihn an, unsicher, ob ich mich vielleicht verhört hatte. »Mein Stiefvater hat mir zu verstehen gegeben, dass ich verschwinden soll«, fuhr Lawrie fort. »Ich gehe ihm auf die Nerven. Und dann lande ich ausgerechnet auf einer Hochzeitsfeier, wie passend.«

Er lachte wieder, aber nur kurz, und verschränkte dann schweigend die Arme über der Brust. Ich hatte noch nie, seit ich in England war, mit jemandem, den ich eigentlich gar nicht kannte, ein so persönliches Gespräch geführt. Ich konnte ihm keinen Rat geben, und er schien auch keinen zu erwarten. Ihm musste heiß sein in seiner schicken Lederjacke, aber er machte keine Anstalten, sie abzulegen. Vielleicht hatte er nicht vor, noch länger zu bleiben. Ich ertappte mich dabei, dass ich bei dem Gedanken Bedauern empfand.

»Ich habe meine Mutter seit fünf Jahren nicht mehr gesehen«, sagte ich und tauchte einen mit Creme verschmierten Kuchenteller in das heiße Wasser.

»Aber sie ist wenigstens nicht gestorben.«

»Nein. Nein, sie ist nicht tot.«

»Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, ich denke immer, sie ist da, wenn ich nach Hause komme. Aber da ist bloß Gerry, dieser Scheißkerl.«

»Gerry ist Ihr Stiefvater?«

Er wurde rot. »Ja, Entschuldigung. Und meine Mutter hat alles ihm hinterlassen.«

Ich überlegte, wie alt Lawrie wohl war. Dreißig vielleicht, schätzte ich, die Art, wie er sein Herz vor mir ausschüttete, sprach allerdings eher dafür, dass er jünger war. »Das ist hart«, sagte ich. »Wieso hat sie das getan?«

»Das ist eine lange Geschichte. Übrigens stimmt es gar nicht. Ein Ding hat sie mir doch hinterlassen. Gerry hat es von Anfang an verabscheut – schon daran sieht man, was für ein Schwachkopf er ist.«

»Es ist gut, dass Sie immerhin etwas von ihr haben. Was ist es?«

Lawrie seufzte und ließ die Arme sinken. »Ein Gemälde. Das mich ständig an sie erinnert.« Er lächelte wehmütig mit schiefem Mund. »Liebe ist blind, das weiß jedes Kind. Sehen Sie, ich kann auch dichten.« Er wies mit einer Kopfbewegung in Richtung Kühlschrank. »Ist Milch da?«

»Ich glaube, ja. Wissen Sie, ich finde, es ist besser, Sie erinnern sich an Ihre Mutter, als wenn Sie versuchen, sie zu vergessen. Mein Vater ist gestorben, und ich habe überhaupt nichts von ihm. Nur meinen Namen.«

Lawrie erstarrte, die Hand an der Tür des Kühlschranks. »Oh. Das tut mir leid. Und ich stelle mich hin und rede die ganze Zeit –«

»Das ist schon in Ordnung. Nein, wirklich.« Er machte mich verlegen, ich wünschte mir, er würde einfach die Milch aus dem Kühlschrank nehmen und sich nicht ausschließlich mit mir beschäftigen. Ich redete sonst nie über meine Eltern, und doch machte ich zwanghaft weiter. »Er ist im Krieg umgekommen. Er wurde abgeschossen.«

Lawrie sah mich überrascht an. »Meiner auch. Aber nicht in einem Flugzeug.« Er hielt inne, und ich hatte das Gefühl, dass er etwas sagen wollte, es dann aber doch seinließ. »Ich habe ihn nie kennengelernt«, sagte er schließlich.

Dass unsere Lebensumstände sich so ähnelten, war mir mit einem Mal sonderbar peinlich: Ich fühlte mich irgendwie ertappt, so als hätte ich diese Konstellation gesucht. Ich sprach hastig weiter. »Ich war damals noch ganz klein, ich habe keine Erinnerung an ihn. Er hieß Odell, ohne ›e‹ am Ende. Als er starb, hat meine Mutter meinen Namen geändert.«

»Was? Wie haben Sie denn vorher geheißen?«

»Das weiß ich gar nicht.«

Das klang so absurd und komisch – jedenfalls in diesem Moment, vielleicht auch wegen der Marihuanaschwaden, die in der Luft hingen –, dass wir beide in Lachen ausbrachen. Wir konnten auch gar nicht mehr aufhören, mir tat schon der Bauch weh, so verrückt kam mir das alles vor: dass eine Mutter ihre Tochter umbenennen und ein Mensch so mir nichts, dir nichts plötzlich sterben kann, und dass man selber gerade in einer Küche nicht weit vom Britischen Museum steht mit gelben Gummihandschuhen an den Händen.

Lawrie wandte sich mir zu, die Milchflasche achtlos in der Hand. Wieder einigermaßen nüchtern, starrte ich die Flasche an. Er hielt sie so gefährlich schief, dass ich fürchtete, die Milch würde durch den Deckel auslaufen.

»Hören Sie zu«, sagte er, »Delly.«

»Odelle.«

»Wollen Sie mit mir weg?«

»Weg wovon?«

»Na, von hier – was für eine verrückte Frage!«

»Wer von uns beiden ist bitte verrückt?«

»Wir könnten nach Soho. Ich habe einen Freund, der uns helfen kann, in den Flamingo Club reinzukommen. Sie müssten nur vorher diese Handschuhe ausziehen – es ist nämlich nicht die Sorte Etablissement.«

Ich wusste nicht recht, was ich von Lawrie halten sollte. Sicher, er trauerte um seine Mutter, aber es wirkte beinahe so, als ob die Trauer noch gar nicht richtig eingesetzt hatte. Vielleicht stand er unter Schock – es war schließlich erst vierzehn Tage her. Er war zornig und ein bisschen verloren, bei sich und zugleich außer sich, alles das könnte man von ihm sagen. Er konnte sich gut ausdrücken, und er redete über Gerry und das Haus und seine geschiedene tote Mutter, und das mit einem geübten Lebensüberdruss in der Stimme, den er entweder hinter sich lassen oder vielleicht auch bewusst aufrechterhalten wollte – ich wusste nicht, was von beiden.

»Ich – ich bin müde«, sagte ich. »Und ich kann nicht weg von hier.« Ich zog den Stöpsel, das Spülwasser lief gurgelnd ab. Ich fragte mich, wie seine Mutter wohl gestorben war.

»Der Flamingo, Odelle.«

Ich hatte vom Flamingo noch nie gehört, aber das würde ich Lawrie nicht auf die Nase binden. »Ich kann Cynth nicht alleinlassen.«

Er hob eine Augenbraue. »Ich glaube nicht, dass sie Ihre Hilfe heute Nacht braucht.« Ich errötete und blickte hinunter auf den Schaum, der langsam im Ausguss verschwand. »Schauen Sie«, sagte er, »mein Auto steht da draußen. Wir könnten zu einem Freund von mir fahren und das Gemälde bei ihm unterstellen, und dann gehen wir tanzen. Es muss nicht der Flamingo Club sein. Tanzen Sie nicht gerne?«

»Sie haben das Bild dabei?«, fragte ich neugierig.

»Ach so.« Er fuhr sich durch die Haare. »Sie gehören zu denen, die sich mehr für Kunst interessieren als für Nachtklubs.«

»Eigentlich gehöre ich weder zu den einen noch zu den anderen. Aber ich arbeite in einem Museum.« Ich wollte ihn beeindrucken, ihm klarmachen, dass ich nicht so eine tugendhafte Jungfrau war, die lieber in der Küche das Geschirr abwusch, als sich mit den anderen auf dem Teppich zu wälzen.

Lawries Augen leuchteten auf. »Wollen Sie es sehen?«, fragte er. »Es ist im Kofferraum meines Wagens.«

Lawrie versuchte nicht, mich in dieser Küche zu betatschen, er behielt seine Hände hübsch bei sich. Ich war erleichtert, dass er sich zurückhielt, und sehnte mich gleichzeitig danach, dass sich das vielleicht ändern könnte – beides zusammen, glaube ich, brachte mich dazu, auf seinen Vorschlag einzugehen. Ich ließ die ungespülten Teller stehen und folgte ihm.

Wahrscheinlich erwartete er, es würde mich beeindrucken, dass er einen MG fuhr, aber der Gedanke verflüchtigte sich im selben Moment, in dem ich einen Blick auf das Gemälde im Kofferraum warf. Es war nicht groß und hatte keinen Rahmen. Das Bild war einfach und doch nicht leicht zu entschlüsseln: Auf der einen Seite ein Mädchen, das den abgetrennten Kopf eines zweiten Mädchens in den Händen hielt, ihr gegenüber auf der anderen Seite ein Löwe, der wie zum Sprung bereit dasaß. Das ganze Arrangement hatte die Aura einer Fabel.

Obwohl die orangene Straßenbeleuchtung die Farben leicht verfälschte, erinnerte mich der Hintergrund an eine Renaissancemalerei – dieses Patchwork von Wiesen und Feldern in allen möglichen Abstufungen von Grün und Gelb, dazwischen etwas, das wie eine kleine weiße Burg aussah. Der Himmel darüber war dunkler und nicht so dekorativ; die verschiedenen Indigotöne, die mich an Blutergüsse denken ließen, waren mir unheimlich. Das Bild machte mir unmittelbar deutlich, dass sich hier zwei Parteien feindlich gegenüberstanden, auf der einen Seite die Mädchen, auf der anderen ihr Widersacher, der Löwe. Und das Bild hatte außer der schönen Palette von Farben noch etwas, das den Betrachter fesselte, etwas schwer Fassbares, von dem ein besonderer Reiz ausging.

»Was meinen Sie?«, fragte Lawrie. Seine Gesichtszüge wirkten hier draußen etwas weniger scharf als im hellen Licht der Küche.

»Ich? Ich bin bloß eine Schreibkraft«, sagte ich.

»Ach was, ich habe Ihr Gedicht gehört. Machen Sie doch ein Gedicht draus.«

»So funktioniert das nicht –« Ich verstummte peinlich berührt, als mir plötzlich klar wurde, dass er mich aufzog. Ich wandte mich wieder dem Bild zu. »Es ist sehr ungewöhnlich, glaube ich. Die Farben, das Sujet … Ich frage mich, wann es gemalt worden ist. Vorige Woche oder im vorigen Jahrhundert?«

»Vielleicht noch früher?«, fragte er erwartungsvoll.

Ich blickte wieder auf die in alter Manier gemalten Felder im Hintergrund und dann auf die Figuren. »Ich glaube nicht. Das Kleid des Mädchens und die Strickjacke – das scheint aus neuerer Zeit zu sein.«

»Ist das wohl Blattgold?« Lawrie beugte sich vor und deutete auf die Löwenmähne, die welligen Strähnen des Fells, die im Lichtschein glitzerten. Sein Kopf war sehr nahe an meinem, ich konnte seine Haut riechen und eine Spur Aftershave, die mir Gänsehaut machte.

»Odelle?«, sagte er.

»Es ist kein gewöhnliches Bild«, sagte ich hastig. Als ob ich gewusst hätte, was ein gewöhnliches Bild ist! Ich richtete mich auf. »Was wollen Sie damit anfangen, Mr Scott?«

Er wandte sich mir zu und lächelte. Das orangene Licht fiel auf sein Gesicht und verlieh ihm etwas Gespenstisches. »Es gefällt mir, wenn Sie mich Mr Scott nennen.«

»Ach so, dann nenne ich Sie doch besser Lawrie.«

Er lachte, und ich musste mich sehr zusammennehmen, damit mir nicht ein Lächeln auskam. »Ich glaube nicht, dass das ein Amateur gemalt hat«, sagte ich. »Was wusste Ihre Mutter darüber?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie es überallhin mitnahm. Und zu Hause hing es immer in ihrem Schlafzimmer, nie in anderen Räumen.«

Ich zeigte auf die Initialen unten rechts. »Wer ist I. ‌R.?«

Lawrie zuckte die Achseln. »Das ist nicht meine Stärke.«

Ich fragte mich, was wohl seine Stärken waren und ob ich es je herausfinden würde und warum es mich überhaupt interessierte – und warum ich mich in seiner Gegenwart so sonderbar fühlte.

Aus lauter Angst, dass er vielleicht meine Gedanken lesen konnte, beugte ich mich wieder zu dem Bild hinunter. Das Mädchen trug ein hellblaues Kleid und dazu eine dunkle Wolljacke – man konnte sogar das Strickmuster erkennen. Die Haare des Kopfs in ihren Armen waren zu einem langen dunklen Zopf geflochten, der sich in unruhiger Bewegung hinunter zu dem rötlichen Lehmboden schlängelte. Obwohl das Mädchen, zu dem der Kopf gehörte, keinen Körper hatte, wirkte es merkwürdigerweise nicht tot. Sie lud den Betrachter ein, näher zu treten, aber in ihren Augen war Vorsicht zu lesen. Beide Mädchen wirkten zurückhaltend. Und doch schienen sie den Löwen, der sich vielleicht jeden Moment auf sie stürzen konnte, gar nicht zu beachten.

»Ich muss gehen«, sagte ich und drückte ihm das Bild in die überraschten Hände. Ich wusste nicht, woran es lag, an Lawrie, dem Fest, dem Gedicht, daran, dass Cynth geheiratet hatte, an dem Bild, jedenfalls hatte ich plötzlich das dringende Bedürfnis, allein zu sein.

Lawrie legte das Gemälde wieder in den Kofferraum und schloss ab. Er musterte mich mit schiefgelegtem Kopf. »Alles in Ordnung? Soll ich Sie begleiten?«

»Ja«, sagte ich. »Ich meine nein. Mir geht's gut. Danke. Entschuldigen Sie. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Machen Sie's gut.« Ich wandte mich ab und ging zurück. Ich war schon an der Haustür, da rief er mir nach.

»Hey, Odelle.« Ich drehte mich um. Er hatte die Hände in den Taschen seiner Lederjacke vergraben und die Schultern wieder hochgezogen. »Ich … wissen Sie … das war ein wirklich gutes Gedicht.«

»Es geht nicht so leicht, wie Sie denken, Mr Scott«, sagte ich. Er lachte, und ich brachte jetzt ein anständiges Lächeln zustande; trotzdem war ich froh, dass ich aus dem verräterischen Licht der Straßenlampe heraus war.

5

Früher aßen meine Mutter und ich sonntags immer bei Cynths Familie. Um vier Uhr nachmittags, auf dem Herd stand ein großer Topf, man ging in die Küche und bediente sich, und später, wenn alle gegessen hatten, gegen halb acht, stellten wir unsere Stühle vor das Radiogerät und hörten Caribbean Voices auf BBC, die einzige Radiosendung, die zählte, wenn man davon träumte, Schriftstellerin zu werden.