Das Haus an der Herengracht - Jessie Burton - E-Book
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Das Haus an der Herengracht E-Book

Jessie Burton

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Beschreibung

Amsterdam, 1705: Thea Brandt ist gerade achtzehn geworden und will endlich tun und lassen, was sie will. Sie liebt das Theater und nach den Vorstellungen besucht sie heimlich ihren Geliebten, Walter, den Kulissenmaler der Schouwburg. Doch als Tochter einer verarmten Kaufmannsfamilie, die nach und nach ihren Hausrat verkaufen muss, um sich über Wasser zu halten, wird von Thea erwartet, „eine gute Partie“ zu machen. Auf einem Ball stellt ihre Tante ihr Jacob van Loos vor, einen wohlhabenden Sohn aus gutem Hause. Eine Heirat mit ihm würde Thea nicht nur vor einem Leben in Armut bewahren, sondern ihr und ihrer Familie auch einen Platz in der feinen Gesellschaft sichern, der ihr bislang verwehrt war – Thea ist unehelich und hat auffallend dunkle Haut. Thea muss sich entscheiden: Rettet sie ihre Familie – oder folgt sie ihrem Herzen?

In ihrem fulminanten neuen Roman führt Jessie Burton uns durchs Goldene Zeitalter Amsterdams und erzählt von einer leidenschaftlichen jungen Frau, die ihren Weg selbst bestimmen will.

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Seitenzahl: 565

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Cover

Titel

Jessie Burton

Das Haus an der Herengracht

Roman

Aus dem Englischen von Peter Knecht

Insel

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel The House of Fortune bei Picador, einem Imprint von Pan Macmillan, London.

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4963.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen AusgabeInsel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2023© Peebo & Pilgrim Ltd 2022Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung von Rothfos & Gabler, unter Verwendung des Originalumschlags von Macmillan Publishers; Entwurf und Modellbau: Line Lunnemann Andersen/ Andersen M Studio, Fotografie: Martin Andersen/Andersen M Studio, Illustrationen Figuren: Dave Hopkins

eISBN 978-3-458-77645-1

www.suhrkamp.de

Widmung

Für meinen Sohn, dem ich diese Geschichte zu einer Zeit vorgelesen habe, als wir beide sie noch gar nicht verstanden.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

1705 Eine Familientradition

I

II

III

IV

V

VI

Sonderbare Geschenke

VII

VIII

IX

X

XI

Ein Gewächshaus

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

Eine Ehefrau

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

Die Verschwundene

XXVI

XXVII

XXVIII

Grünes Gold

XXIX

XXX

XXXI

XXXII

XXXIII

Danksagung

Informationen zum Buch

Die Gefangenschaft wird noch lange währen: baut Häuser und wohnt darin, pflanzt Gärten und esst ihre Früchte.

– Jeremia, 29:28, von Marin Brandt angestrichen in der Familienbibel

Jede Frau ist die Baumeisterin ihres eigenen Glücks.

– eine Botschaft der Miniaturistin an Nella Brandtim Herbst 1686

1705

Eine Familientradition

I

Mit ihren achtzehn Jahren ist Thea zu alt, um Geburtstage zu feiern. Rebecca Bosman ist im Dezember dreißig geworden und hat kein Wort darüber verloren: das ist Reife. Draußen dämmert ein dunkler Januarmorgen, und Thea fröstelt unter ihrer Bettdecke. Sie kann hören, wie ihre Tante und Cornelia unten im Salon miteinander zanken, während ihr Vater den Tisch zur Seite schiebt, denn an Theas Geburtstag frühstücken sie immer auf dem Teppich, das ist eine unverzichtbare Tradition bei ihnen: Sie tun so, als wären sie Abenteurer, die sich mit dem behelfen, was eben gerade aufzutreiben war. Wenn man bedenkt, dass sie alle seit Jahren nicht mehr aus der Stadt hinausgekommen sind, bekommt diese Fantasie einen deprimierenden Beigeschmack, und überhaupt: Was spricht gegen einen Tisch? Sie müssen froh sein, dass ihnen das gute Stück geblieben ist, sie sollten es benutzen, wie es sich für Erwachsene gehört. Wenn Rebecca Bosman ein Geburtstagsfrühstück über sich ergehen lassen müsste, würde sie an einem Tisch sitzen.

Aber Thea kann ihnen das nicht sagen. Es ist einfach zu schrecklich, sich vorzustellen, wie ihre Tante sich abwenden und die schäbigen Papiergirlanden herunterreißen würde, die sie sicher vor den großen vereisten Fenstern aufgehängt hat. Wie ihr Vater auf den abgetretenen Teppich starren, wie Cornelia traurig auf die Poffertjes blicken würde, die sie in der Nacht gebacken hat. Thea möchte sie nicht betrüben, aber sie weiß nicht, wie sie aus dieser Rolle von ihrer aller Kind herauskommen soll, in die sie sie gesteckt haben. Sie mag heute eine Frau geworden sein, aber Freude ist in diesem Haushalt immer mit Angst vor Verlust verbunden.

Und hier kommt diese Geburtstagsfreude, in Gestalt von Essen, von süßem Gewürzduft, der von der Küche her durch den Spalt unter der Tür hereinzieht. Mit Rosenwasser aromatisierte Poffertjes, die ihren Namen buchstabieren, falls sie ihn vergessen sollte. Cornelias fluffige Rühreier mit Kümmel, um sie wehrlos zu machen, und heiße Brötchen mit leckerer Delfter Butter, um sie aufzuwärmen, dazu ein Schlückchen Süßwein für die Erwachsenen. Thea schlägt die Bettdecke zurück, kann sich aber immer noch nicht dazu durchringen, aufzustehen, auch die Aussicht auf die köstliche Butter hebt ihre Stimmung nicht. Sie hofft nur, dass sie ihr Karten für die Schouwburg gekauft haben, damit sie Rebecca Bosman wieder einmal auf der Bühne sehen kann. Und danach, wenn das Stück zu Ende ist, kann sie sich zu Walter davonstehlen. Der Gedanke an ihn ist das Einzige, was sie dazu bewegen kann, aus ihrem Bett zu schlüpfen.

Bald, denkt Thea. Bald werden wir zusammen sein, und alles wird sich richtig anfühlen. Aber bis dahin muss sie immer noch dieses fade Leben eines Kinds führen.

Schließlich bringt sie den Willen auf, ihre Pantoffeln und ihren Morgenrock anzuziehen, und als sie die Treppe hinuntergeht, ganz langsam, damit man sie nicht hört, zwingt sie sich, dankbar zu sein. Sie muss versuchen, sie nicht zu enttäuschen. Früher hat der übertriebene Geburtstagsjubel ihrer Familie sie nie gestört, aber es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man ein kleines Mädchen oder eine Achtzehnjährige ist. Sie werden anfangen müssen, sie wie eine Erwachsene zu behandeln. Und vielleicht schenkt ihr dieses Jahr, zum ersten Mal in Theas Leben, jemand das, was sie sich wirklich wünscht, und spricht über ihre Mutter, schenkt Thea eine Geschichte oder auch nur eine Anekdote. Ja, wir alle wissen, dass heute der schwerste Tag im Kalender der Familie Brandt ist. Ja, heute vor achtzehn Jahren starb Marin Brandt in diesem Haus und schenkte Thea das Leben. Aber für wen könnte dieser Tag schmerzlicher sein als für mich, denkt Thea, während sie über die Fliesen im Flur schreitet – für mich, die ich ohne Mutter aufgewachsen bin?

Jedes Jahr reden sie nur darüber, wie viel größer Thea in zwölf Monaten geworden ist, wie viel hübscher oder klüger, als ob Thea jedes Mal ein ganz neuer Mensch würde. Als ob sie an jedem achten Januar, der immer ein kalter und wolkenlos blauer Tag ist, wie frisch aus dem Ei geschlüpft zu ihnen käme. Aber Thea will nicht hören, wie sie gewachsen ist. Das sagt ihr auch der Spiegel. An ihrem Geburtstag will sie darin ihre Mutter sehen, erfahren, wer sie war und warum ihr Vater nie von ihr spricht. Warum sie mit ihren Fragen meist nur düstere Blicke und Schweigen erntet. Sie zögert, den Rücken an die Wand gedrückt. Vielleicht reden sie gerade jetzt über Marin Brandt.

Als geübte Lauscherin wartet Thea eine Weile im dunklen Flur, den Atem angehalten vor Hoffnung.

Nein, sie streiten sich darüber, ob Lucas, der Kater, es sich gefallen lassen wird, wenn man ihm eine Geburtstagskrause umlegt. »Er hasst es, Cornelia«, sagt ihre Tante. »Sieh dir seine Augen an. Er wird auf den Teppich kotzen.«

»Aber es bringt sie zum Lachen.«

»Nicht, wenn er direkt neben ihre Poffertjes speit.«

Lucas, ihr gelbäugiger Speiserestevertilger, miaut entrüstet. »Cornelia«, mischt sich Theas Vater ein, »erspare Lucas beim Frühstück die Halskrause, sei so gut. Man kann sie ihm ja vielleicht zum Abendessen anziehen.«

»Du hast keinen Sinn dafür, was sich bei so einem feierlichen Anlass gehört«, erwidert Cornelia. »Er mag es.«

Diese vertrauten Rhythmen, diese Stimmen: Thea hat so gut wie nie etwas anderes gekannt. Sie schließt die Augen. Früher hat sie nichts lieber getan, als Cornelia, ihrer Tante Nella, ihrem Vater zuzuhören, ihnen zu Füßen zu sitzen oder sich an sie zu schmiegen, sich bewundern und streicheln, sich knuddeln und necken zu lassen. Aber heute ist das nicht mehr die Musik, die ihr gefällt, und nicht sie sind es, an die sie sich schmiegen will. Und dieses Gespräch darüber, ob ihr Riesenkater eine Festkrause tragen soll oder nicht, weckt in Thea den heftigen Drang, woanders zu sein. Sie will weg von ihnen und ihr eigenes Leben beginnen, denn sie haben keine Ahnung, wie es ist, wenn man achtzehn ist.

Sie holt tief Luft, atmet aus und geht hinein. Alle drei drehen sich gleichzeitig zu ihr um, und ihre Augen leuchten auf. Lucas trottet herbei, geschmeidig trotz seiner Körperfülle. Die Papiergirlanden sind an den Fenstern aufgehängt. Alle sind noch im Nachthemd – eine weitere Geburtstagstradition –, und Thea ist es unangenehm, zu sehen, wie ihre alten Körper sich darunter abzeichnen. Ihre Tante hält sich zwar mit ihren siebenunddreißig Jahren noch halbwegs gut, aber ihr Vater ist einundvierzig, und ein Mann dieses Alters sollte vollständig angezogen sein, bevor er zum Frühstück kommt. Cornelia hat so breite Hüften – ist es ihr nicht peinlich, wie das Licht durch den Stoff ihres Hemds schimmert? Mir wäre es peinlich, denkt Thea. Ich werde nie zulassen, dass ich so auseinandergehe. Aber sie können es nicht ändern. Cornelia würde ihr entgegnen: »Man wird alt, bekommt breitere Hüften, dann stirbt man.« Aber Thea wird wie Rebecca sein, der immer noch Kleider passen, die sie in Theas Alter trug. Man muss einfach nur schnell an jeder Bäckerei vorbeigehen, sagt Rebecca, das ist das ganze Geheimnis. Cornelia würde dem nicht zustimmen.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Teekännchen!« Cornelia strahlt.

Thea zuckt bei dem Spitznamen zusammen. »Danke schön«, sagt sie. Sie schnappt sich Lucas und geht hinüber zu dem Teppich, auf dem sie alle versammelt sind.

»Wie groß du bist!«, sagt ihr Vater. »Wann wirst du jemals aufhören zu wachsen? Ich kann nicht mehr mithalten.«

»Papa, ich bin schon seit zwei Jahren so groß.«

Er nimmt sie in seine Arme und drückt sie lange. »Du bist vollkommen.«

»Sie ist Thea«, sagt ihre Tante.

Thea sieht ihrer Tante in die Augen und setzt Lucas ab. Es ist immer Tante Nella, die sich bemüht, ihren Vater vom Rand des Überschwangs zurückzuziehen. Immer ist es Tante Nella, die als Erste etwas zu mäkeln findet.

»Lasst uns essen«, sagt Cornelia. »Lucas, nein!« – denn der Kater, ohne Krause und ohne Skrupel, hat schon ein Stück Rührei im Maul. Er verzieht sich in die Ecke. Viele Amsterdamer dulden in ihren Häusern keine Tiere, die Pfotenabdrücke oder gar Kot auf den frisch geschrubbten Fußböden hinterlassen und Möbel ruinieren könnten. Aber Lucas ist unbeeindruckt davon, was andere denken. Er hat seine ganz eigenen Vorstellungen und ist Thea seit Jahren ein Trost.

»Das gierigste Geschöpf der Herengracht«, sagt Tante Nella. »Will keine Mäuse fangen, aber unser Frühstück lässt er sich gerne schmecken.«

»Lass ihn«, sagt Thea.

»Teekännchen«, sagt Cornelia, »hier sind deine Geburtstagspoffertjes.« Sie präsentiert sie, lauter winzig kleine Pfannkuchen, auf einem Tablett zu Buchstaben aneinandergereiht, die den Namen THEA BRANDT bilden. »Es gibt Rosenwassersirup, aber wenn du etwas anderes –«

»Nein, nein, es ist prima so, danke.« Thea setzt sich auf den Teppich und steckt sich zwei Poffertjes auf einmal in den Mund.

»Langsam!«, sagt Cornelia tadelnd. »Otto, ein Butterbrötchen mit Ei?«

»Bitte«, antwortet er. »Meine Knie halten den Teppich nicht aus. Ich setze mich auf einen Stuhl, wenn es niemanden stört.«

»Du bist keine achtzig«, sagt die Tante, aber Theas Vater ignoriert sie.

Die Frauen sitzen auf dem Teppich. Thea kommt sich lächerlich vor und ist froh, dass niemand sie von der Straße aus sehen kann. »Ein Schlückchen Wein für dich?«, fragt Tante Nella.

Thea stellt erstaunt ihren Teller ab. »Wirklich?«

»Du bist achtzehn. Kein Kind mehr. Bitte.« Tante Nella reicht ihr ein kleines Glas.

»Das ist Madeira«, sagt ihr Vater. »Der wurde zum halben Preis verkauft – bei der VOC gab es drei überzählige Fässer.« Die VOC ist die Verenigde Oost-Indische Compagnie, die große Handelsgesellschaft, bei der Otto angestellt ist.

»Gott sei Dank«, sagt ihre Tante. »Sonst hätten wir uns das nicht so leicht leisten können.«

Ein Anflug von Gereiztheit huscht über Ottos Gesicht, und Tante Nella sieht es. Sie errötet und starrt durch die Fenster des Salons, dann hinunter in die Wirbel des Teppichs. »Lasst uns auf das Geburtstagskind trinken«, fährt Theas Vater fort. »Auf unsere Thea. Möge sie immer sicher sein –«

»– wohlgenährt«, sagt Cornelia.

»– und glücklich«, fügt Thea hinzu.

»Und glücklich«, schließt ihre Tante.

Thea schluckt den Wein. Ein helles, scharfes Brennen, und dann ein Glühen in ihrem Magen, das ihr Mut macht. »Wie war es«, fragt sie, »an dem Tag, an dem ich geboren wurde?«

Stille auf dem Teppich, Stille auf dem Stuhl. Cornelia nimmt noch ein Brötchen und gibt fluffiges Rührei darauf. »Nun?«, sagt Thea. »Ihr wart alle da.«

Tante Nella wendet sich Theas Vater zu. Ihre Blicke treffen sich.

»Du warst dabei, nicht wahr, Papa?«, sagt Thea. »Oder bin ich allein auf die Welt gekommen?«

»Wir kommen alle allein auf die Welt«, sagt ihre Tante. Cornelia verdreht die Augen. Theas Vater sagt nichts. Es ist immer das Gleiche.

Thea seufzt. »Es hat euch nicht gefreut, dass ich geboren wurde.«

Ihre Familie erwacht zum Leben und wendet sich ihr erschrocken zu. »Oh, nein«, ruft Cornelia. »Wir haben uns so sehr gefreut! Du warst ein Geschenk des Himmels.«

»Ich war das Ende von etwas«, sagt Thea.

Tante Nella schließt die Augen.

»Du warst ein Anfang«, sagt ihr Vater. »Der beste Anfang überhaupt. Und jetzt, denke ich, ist es Zeit, dass die Geschenke überreicht werden.«

Thea weiß, dass sie wieder einmal besiegt worden ist. Am einfachsten ist es, noch ein Butterbrötchen zu essen und die Geschenke auszupacken. Eine Dose mit ihren Lieblingszimtkeksen von Cornelia, und von ihrem Vater und ihrer Tante – ja, sie haben zumindest etwas von ihrem wahren Wesen erkannt – zwei Karten für die heutige Vorstellung von Titus. »Galerieplätze!«, sagt sie, und ihr Herz schlägt höher. Das ist wirklich großzügig. »Oh, danke!«

Ihr Vater lächelt. »Man wird nicht jeden Tag achtzehn.«

»Wir können uns einen schönen Tag machen«, sagt Cornelia. »Du und ich.«

Thea schaut auf ihre deutlich aufgehellten Gesichter. Sie merkt, dass sie darüber geredet haben, wer sie begleiten wird. Es ist am besten so, denkt sie, denn ihr Vater wird bald zu seiner Arbeit bei der VOC aufbrechen müssen, und ihre Tante geht nicht gern ins Theater. »Danke, Cornelia«, sagt sie, und ihr altes Kindermädchen drückt ihre Hand.

Titus ist ein überaus gewalttätiges Stück, aber Thea mag am liebsten Romanzen. Waldidyllen, Inselträume, in denen alles durcheinandergeraten ist, bevor es wieder in Ordnung gebracht wird. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr schleppt Thea entweder ihre Tante oder Cornelia in das städtische Schauspielhaus der Stadt. Sie kommen früh, bezahlen den Eintritt und zwei Stuiver Aufpreis für Stehplätze – an Balkon- oder gar Logenplätze ist gar nicht zu denken – und warten darauf, dass sich das Haus mit siebenhundert anderen Menschen füllt. Ihre Fluchten in die Komödie oder Tragödie fühlen sich an wie eine Art Heimkehr. Als Cornelia sechzehn Jahre alt war, erlaubte ihre Familie nach langem Bitten und Betteln und Cornelias vehementem Widerspruch zum Trotz, dass sie den fünfminütigen Weg zum Schauspielhaus allein zurücklegte, unter der Bedingung, dass sie direkt nach dem Ende der Vorstellung nach Hause kam. Es wäre ihnen grausam vorgekommen, ihr das Einzige zu verweigern, was ihr Vergnügen bereitete, und bis vor sechs Monaten, als Thea hinter der Bühne Walter kennenlernte, hat sie ihren Teil der Abmachung immer eingehalten. Aber die Dinge ändern sich. Sie musste ihre Familie hinters Licht führen. Sie gibt die Dauer der Aufführungen falsch an, um Zeit herauszuschlagen, die sie mit Walter verbringen kann. Sie hat ihnen auch schon öfter vorgeflunkert, sie wolle sich dieses oder jenes Stück ansehen, während sie in Wahrheit Walter hinter der Bühne getroffen hat. Ihre Familie hat ihre Angaben nie bezweifelt. Sie haben nie überprüft, was wirklich und ob überhaupt etwas auf dem Spielplan stand. Und obwohl Thea manchmal ein schlechtes Gewissen hat, ist ihre und Walters Liebe zu wichtig für sie. Es ist eine ungeschriebene Romanze, die in den hinteren Gängen der Schouwburg gespielt wird, doch ihr Text ist unverlierbar in ihrem Herzen aufbewahrt. Thea weiß, dass sie nie davon lassen wird.

»Und am Abend ist ja auch noch etwas geboten«, sagt ihre Tante.

Thea blickt von den beiden Karten in ihrer Hand auf. »Am Abend?«

Sie sieht, wie ihre Tante gereizt nach Luft schnappt. »Du hast es vergessen?«, fragt Nella. »Den Dreikönigsball bei Sarragons, Thea! Es ist ein Wunder, dass wir eingeladen wurden. Ich habe Clara Sarragon seit letztem Herbst den Hof gemacht, damit es klappt.«

Thea wirft ihrem Vater, der mit steinerner Miene zuhört, einen Blick zu und beschließt, es zu riskieren. »Du magst diese Leute nicht. Warum gehen wir da überhaupt hin?«

»Weil wir müssen«, sagt Tante Nella und tritt an eines der hohen, breiten Fenster des Salons, die auf die Herengracht hinausgehen.

»Aber warum müssen wir?«, drängt Thea.

Niemand antwortet. Thea spielt ihre letzte Karte aus. »Besitzt Clara Sarragon nicht Plantagen in Surinam?«

Die Stimmung ist gespannt. Thea weiß, dass ihr Vater als Sklave in diese Kolonie verschleppt wurde und mit sechzehn Jahren von ihrem inzwischen verstorbenen Onkel nach Amsterdam gebracht wurde. Cornelia hat ihr einmal erzählt, dass die Amsterdamer Frauen sich damals oft einen Spaß daraus machten, ihrem Vater Singvögel ins Haar zu setzen, eine Geschichte, die bei Thea ein tiefes Unbehagen hervorgerufen hat. Aber davon abgesehen, weiß sie fast nichts über die Vergangenheit ihres Vaters: Es ist, als läge das alles auf dem Grund eines dunklen Brunnens verborgen. Wo ihr Vater vor dieser Zeit in Surinam war und die näheren Umstände seines Lebens in der Kolonie sind Thea unbekannt. Er spricht nie darüber. Es ist eine Leerstelle, nichts als stummes, schwarzes Dunkel, ebenso wie die Sache mit ihrer weißen Mutter, die ebenfalls in Schweigen gehüllt bleibt, ein weiteres jener unausgesprochenen Dinge, die dieses Haus wie ein Nebel durchziehen. Otto Brandt könnte genauso gut aus einem Ei geschlüpft sein.

Thea hat die Nase voll davon, dass ihr keiner etwas erzählt. Selbst von Cornelia bekommt sie keine brauchbaren Antworten. »Ich komme aus dem Waisenhaus«, sagt Cornelia immer. »Und dein Vater wurde von dort, wo er zuerst zu Hause war, verschleppt. So ist es eben bei uns. Dieses Haus ist unser Hafen. Es ist der Ort, wo wir bleiben und wo wir hingehören.«

Aber was ist, wenn ich nicht mehr in diesem Hafen bleiben will?, fragt sich Thea, traut sich jedoch nicht, es laut auszusprechen. Was ist, wenn ich das Gefühl habe, nicht hierher zu gehören?

»Was Clara Sarragon besitzt oder nicht besitzt, muss dich nicht kümmern«, erwidert ihre Tante streng, aber keiner von ihnen sieht Theas Vater an. »Vergiss es nicht. Heute Abend um sechs Uhr stehen wir in unserem besten Festtagsstaat bereit.«

»In dem, was davon noch übrig ist«, sagt Thea.

»Genau«, seufzt ihre Tante.

»Geh und zieh dich an, Teekännchen«, sagt Cornelia mit heiterer Stimme. »Ich komme dann und helfe dir beim Frisieren.«

Thea wirft einen Blick auf ihren Vater, der nun aus dem Fenster schaut. Leicht errötend macht sie auf dem Absatz kehrt und lässt ihre Familie im Salon zurück. Als sie die Treppe hinaufsteigt und in das Halbdunkel des oberen Korridors eintaucht, vergisst Thea den Ball und die unbedachte Erwähnung von Surinam und denkt an ihr eigentliches Geburtstagsgeschenk. Es wird ihr Vergnügen machen, zu erleben, wie Rebecca auf der Bühne ihren Zauber entfaltet, aber hinter den gemalten Kulissen erwartet Thea etwas viel Realeres: ihre große Liebe, ihr Lebensinhalt. Kein dröges Fest in einem der besten Häuser Amsterdams wird ihr die Freude auf Walter Riebeeck verderben.

II

Gegen halb zwölf sind Thea und Cornelia mit flatternden Schals und unter heiterem Geplauder abgezogen, und Nella und Otto bleiben allein zurück. Erschöpft von den Anstrengungen des Geburtstagsfrühstücks kommen die beiden, nachdem sie sich angekleidet haben, wieder in dem noch unaufgeräumten Salon zusammen. Das Haus um sie herum ist still und leer, Lucas, vollgefressen mit Rührei, schläft tief und fest, ein Kissen auf ein Kissen gebettet. Nella blickt auf die kahlen Wände und das spärliche Feuer. Sie haben dieses Zimmer seit Monaten nicht mehr genutzt – es lässt sich schwer heizen: Es ist zu groß, zu viele kahle Flächen. Ende Dezember sind die Kanäle zugefroren, und man spürt in dem Raum, wie sich die Stadt da draußen verhärmt zurückgezogen hat.

Ins Freie zu gehen, kostet Überwindung: Regen durchnässt die Kapuzen, der Wind packt einen mit eisigen Händen. Nella sehnt sich nach helleren Vormittagen, längeren Nachmittagen, danach, dass sie ihren abgenutzten Pelzkragen wieder in die Truhe aus Zedernholz legen kann. Das kostbare Brennholz wird nach der Feier heute Morgen auf einen kleinen Haufen geschrumpft sein, aber normalerweise macht man ja nur in der Küche Feuer. Es wäre sinnlos, dieses ganze kahle Gebäude zu beheizen, das zu groß ist und in dem es überall hallt, weil sie viele Möbel und auch die Wandbehänge verkauft haben. Sie haben noch Torf, der aber schrecklich qualmt. Nella sehnt sich nach dem Frühling.

»Ich glaube nicht, dass wir das zu ihrem Neunzehnten noch einmal machen«, bemerkt sie. »Hast du den Ausdruck auf ihrem Gesicht gesehen?«

»Es hat ihr gefallen«, sagt Otto.

Nella wechselt das Thema. »Wir sollten uns öfter hier drin sehen lassen«, sagt sie. Sie starrt durch die großen Fenster. »Damit die Nachbarschaft weiß, dass bei uns alles in Ordnung ist.«

»Dieses Theater ist so ermüdend.«

»Das ist mir wohl bewusst.«

»Wir müssen sparsamer wirtschaften. Wieder ein Gulden für Wachskerzen.«

»Es ist ihr Geburtstag«, sagt Nella, aber sie weicht Ottos Blick aus. Sie will nicht zugeben, dass sie selbst es war, die diese Kerzen haben wollte: Sie sollten ihr in Erinnerung rufen, wie es war, als das ganze Haus mit dem Duft von Honig erfüllt war. »Weißt du noch«, sagt sie zögernd, denn Otto schwelgt nicht gern in Erinnerungen an die Vergangenheit, »wie wir Rosenöl verbrannt haben?«

»Haben wir das?«

»Das beste, das es in der Stadt gab, von einem Händler, der es aus Damaskus mitbrachte. Wir haben sämtliche Räume damit parfümiert.« Nella schweigt eine Weile. »Ich bedaure es nicht. Oder vielleicht doch?« Sie fuchtelt hilflos herum. »Weil wir jetzt unsere Bilder verkaufen, damit wir den Metzger bezahlen können.«

Otto seufzt erneut, und Nella schüttelt eines der verbliebenen Kissen auf, dass es staubt. Sie setzt sich, das Kissen auf ihrem Schoß, als wollte sie es wiegen wie ein Kind, und streicht mit den Handflächen über die geschnitzten Löwenköpfe des Stuhls, die vertrauten mit Akanthusblättern umkränzten Mähnen. Sie schließt die Augen, zeichnet mit den Fingerspitzen die hölzernen Nüstern nach und schickt ein Stoßgebet zu Gott, aber auch – warum nicht? – an Aphrodite: Lass es heute Nacht gelingen. Mach, dass sie einem gefällt.

Sie öffnet die Augen und sieht, dass Otto sie anschaut. Sein Blick ist missbilligend. »Ich weiß, dass du nicht auf den Ball gehen willst«, sagt sie.

»Du wirst mir ja wohl nicht weismachen wollen, dass du die Gesellschaft von Clara Sarragon angenehm findest.«

»Was ich angenehm finde, ist unerheblich. Was im Besonderen Clara Sarragon betrifft, so will ich möglichst wenig mit ihr zu tun haben. Wir gehen um Theas willen dorthin.«

»Damit sie angestarrt und hinter vorgehaltener Hand über sie getuschelt wird? Mein ganzes Leben lang habe ich mich bemüht, alles zu tun, damit mein Kind kein Schaustück wird. Sie werden sie zu einem machen. Und wir werden diejenigen sein, die daran schuld sind.«

»Es könnte etwas Gutes sein, wenn die Leute auf sie aufmerksam werden. Thea ist schön, eine vollendete Schönheit. Sie verdient eine Chance.«

»Eine Chance auf was?«

Nella wagt es nicht, das große Wort auszusprechen: Heirat. Otto starrt in den leeren Kamin, sein Mund ist ein Strich. »Du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn die Leute auf jemanden wie mich und wie Thea ›aufmerksam werden‹«, sagt er. »Es ist nicht so, wie du denkst.«

Nella hütet ihre Zunge. Amsterdam ist eine Hafenstadt, voller Menschen verschiedenster Art. Da sind die Hugenotten, protestantische Franzosen, die vor den mörderischen Verfolgungen durch Katholiken aus ihrer Heimat geflohen sind; sie wurden ihrer Handwerkskunst wegen in dieser stets pragmatischen Stadt willkommen geheißen, denn sie verstehen es, die Seide, die aus dem Osten hereinkommt, zu schönen Kleidern zu verarbeiten, in denen die Amsterdamer herumstolzieren können. Und dann gibt es noch all die anderen Migranten, Deutsche, Schweden, Engländer, Dänen, die im Haushalt arbeiten oder auf dem Bau. Reiche portugiesisch-jüdische Kaufleute, die Plantagen in Brasilien besitzen, bauen sich Häuser in der Nähe des Goldenen Bogens; überall in der Gegend hört man die unverständlichen melodischen Laute ihrer zwei Sprachen. Am Hafen leben Männer aus Java und Japan – Seeleute, Ärzte, Händler, Reisende, die allerlei Krimskrams verkaufen. Und es gibt Jugendliche beiderlei Geschlechts aus Afrika, aus Ländern, deren Namen Nella noch nie gehört hat: Sie erledigen Besorgungen aller Art und unterhalten bei Festen mit ihrer Musik die Gäste.

Und trotz der exotischen Vielfalt, die in der Stadt zu beobachten ist, erlebt Nella immer wieder, dass die Leute die Köpfe drehen, dass ihre Blicke an Thea hängen bleiben, wenn ihr Kopftuch sich löst und ihre krausen Locken hervorspringen, die zugleich kühn und subtil von Theas Herkunft künden. Sie hat tiefbraune Augen und ockerfarbene Haut, die im Sommer dunkler wird, während Nella und Cornelia rosa anlaufen. Nella hat die Leute starren sehen, aber sie hat ihre Blicke nicht am eigenen Leib gespürt, und das hat achtzehn Jahre lang eine Grenzlinie zwischen ihr und Otto gezogen.

»In dieser Stadt steht man immer unter Beobachtung«, sagt er. »Die eine Hand mahnt zum Frieden, die andere kratzt mit den Fingernägeln, um aufzudecken, was unter der Oberfläche liegt. Also erinnere dich daran, wie es für sie ist.«

»Ich weiß es wohl. Wir haben unser Bestes getan. Welche Wahl haben wir denn, Otto? Willst du, dass wir sie ständig verstecken? Das einzige Neugeborene, das wir alle jemals haben werden, und es gab kein Stück Klöppelspitze an der Haustür, um anzuzeigen, dass wir ein Mädchen bekommen haben.«

Er sieht sie an. »Wir?«

Sie ignoriert seinen Einwurf. »Kein Vaterschaftshäubchen für dich, keine Späße mit anderen Männern und kein Schulterklopfen. Keine Gnadenfrist bei den städtischen Steuern. Kein Festmahl, keine Musik, kein Tanz. Keine Vorstellungszeremonie, bei der man die Kleine am Fenster hochgehalten hätte, damit die Nachbarn uns gratulierten und sagten, wie schön rundlich und wohlgeraten sie ist.« Nella zögert. »Auch keine Mutter.«

Sie ist zu weit gegangen, und jetzt ist Theas Mutter bei ihnen im Zimmer, Marin, die hoch aufgereckt dasteht und sie mit ihren milden grauen Augen ansieht. Marin, die bei Theas Geburt gestorben ist, die sie wie Schiffbrüchige in einem fremden Meer zurückgelassen hat, allein mit einem Säugling, ohne Karte, ohne Kompass, ohne jegliche Ahnung, was aus ihnen allen werden soll. Sie haben in Gegenwart anderer Leute nie darüber gesprochen, wer Theas Mutter war. Soweit die Stadt weiß, ist Thea mutterlos und von etwas dunklerer Hautfarbe, ein Geheimnis, das sie unter keinen Umständen jemals lüften würden. Sie haben nie jemandem genauere Erklärungen geliefert, und es hat nie jemand welche verlangt, aber es ist für Nella immer wieder erstaunlich, wie Eigentümlichkeiten von Marin in Thea neu zum Vorschein kommen, wenn etwa die Art, wie Thea den Kopf dreht oder die Lippen spitzt, oder der Klang eines Seufzers ihre abwesende Mutter heraufbeschwört.

Als Thea etwa sechs Monate alt war, kamen Nella, Otto und Cornelia überein, dass es das Vernünftigste und Barmherzigste wäre, Thea nicht allzu viel über die verbotene Art und Weise ihrer Empfängnis, die Einzelheiten des Todes ihrer Mutter und darüber, dass sie vor aller Welt geheim hielten, wer ihre Mutter war, zu erzählen. Es war ohnehin schwer, mit einem Kind über solche Dinge zu sprechen, und im Laufe der Jahre verkümmerte der Drang, sich dem Thema zu nähern, vollends wie ein Muskel, den man nicht benutzt. Sie wollten nicht, dass Thea etwas von den Schuldgefühlen und der Scham oder gar dem Schrecken von damals erfuhr. Ob es nun richtig war oder nicht, so wuchs sie doch jedenfalls auf als die Tochter ihres Vaters, die Nichte ihrer Tante und als Cornelias Schützling. Sie war nicht irgendwie illegitim. Sie war Thea. Lassen wir Thea Thea sein, sagten sie sich.

Sie lernten mit dem unausgesprochenen Thema Marin zu leben, bis das Schweigen zu einem Nichts schrumpfte, in der Wandvertäfelung verschwand, in den Möbeln aufging. Sie drängten Marin in den Schatten. Thea hatte kurzzeitig eine Mutter gehabt: jetzt war sie tot. Es konnten keine Fragen gestellt werden, denn es gab nichts, worauf Nachforschungen zielen konnten. Es war eine Entscheidung, die aus einer Panik heraus getroffen wurde, denn sie lebten in einer Gesellschaft, in der eine drakonisch strenge Ordnung herrschte. Marin war unverheiratet, als sie ihr Kind bekam. Marin und Otto hätten niemals heiraten können, nicht in dieser Welt, und ihr gemeinsames Kind war eines, wie es nur wenige am Goldenen Bogen je gesehen hatten. Angesichts dieser Unmöglichkeiten mussten sie es irgendwie schaffen, das kleine Mädchen zu einer starken und selbstbewussten Frau zu erziehen.

Was haben wir uns nur dabei gedacht?, fragt sich Nella. Man kann nicht eine Mutter begraben und erwarten, dass sie nie wieder aufersteht. Ich sollte es wissen.

Thea fragt ihre Tante nie direkt: Wie war meine Mutter? Stattdessen macht sie es mit sich selbst aus: Du wolltest mich nicht. Du hast dich nicht darüber gefreut, dass ich geboren wurde. In vielerlei Hinsicht ist das schlimmer. In vielerlei Hinsicht sind sie mit ihren Erziehungsbemühungen gescheitert.

»Wir haben nur versucht, sie zu schützen«, sagt Otto, als ob er ihre Gedanken lesen könnte.

»Und jetzt braucht sie eine andere Art von Schutz. Lass mich die Sache in die Hand nehmen, Otto. Ich werde die richtigen Feste und Bälle für sie finden. Es hat lange gedauert, bis wir wieder in diese Stadt aufgenommen wurden, und es hat mich große Mühe gekostet: Ich habe im letzten Jahr andauernd Tee mit Leuten getrunken, die ich am liebsten in den Kanal stoßen würde.«

Nella ist verzweifelt. Die beiden sind schon so oft an diesem Punkt gewesen. »Es wird schlimmer, jetzt wo sie älter ist«, sagt er. »Die Leute haben weniger Hemmungen. Sie sind nicht mehr bloß neugierig, sondern offen schockiert. Sicher, Thea und ich sind nicht die einzigen Menschen in dieser Stadt, die so aussehen wie wir, aber wir sind außerdem auch noch gut gekleidet, und das ist es, was die Leute so empört.«

Nella erinnert sich an eine Szene auf dem Gemüsemarkt, als Thea gerade einmal sechs Jahre alt war. Eine Frau an einem Stand in der Nähe blickte auf sie hinab, und dabei nahm ihre Miene einen Ausdruck geradezu entsetzter Neugier an. »Oh, was für ein Geschöpf!«, rief sie und tauchte ihre Finger in das schwarze Kraushaar der Kleinen. »Ich weiß gar nicht, was das – oh, das kann doch nicht sein!« »Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram«, hatte Cornelia zu ihr gesagt und einen der Kohlköpfe wie eine Waffe in die Hand genommen.

Es hat in den letzten achtzehn Jahren viele solche Kohlweiber und -männer gegeben, blass wie Kohl und ebenso intelligent, diese wandelnden Krautköpfe sind Legion. Und dann gibt es noch die Mädchen und Jungen, die dunkler sind als Thea, die afrikanisch-brasilianischen Dienstmädchen, die vor den Synagogen stehen und warten, um einen guten Platz für ihre Herrinnen, die portugiesischen Kaufmannsfrauen, zu reservieren. Thea gefiel es, wenn die Mädchen einander ihre portugiesisch oder hebräisch klingenden Namen zuriefen – Francisca, Yizka, Gracia. Mehr als einmal hat sie Nella gezwungen, stehen zu bleiben, weil sie diese Mädchen beobachten wollte. Später, als Thea schon größer war, versuchte sie, Blickkontakt mit ihnen aufzunehmen in der Hoffnung auf etwas wie Anerkennung, aber sie erwiderten ihren Blick fast nie. Sie wollten keinen Ärger, vermutet Nella. Der Erbteil ihrer weißen Mutter in Theas äußerer Erscheinung kennzeichnet sie als jemanden, der nicht ihresgleichen ist. Oder vielleicht hat Otto recht, der meint, dass Theas Kleidung daran schuld ist: Sie ist einfach im Schnitt, aber von feinerer, besserer Qualität. Oder vielleicht liegt es weder an dem einen noch an dem anderen – Nella hat immer schon das Gefühl gehabt, dass sie von diesen Dingen nichts versteht.

»Wenn Thea auf dem Ball einen reichen Mann findet, dann wäre sie geschützt«, sagt Nella. Sie zögert. »In so einer Ehe wäre sie sicher.«

»Einer Ehe«, sagt Otto. »Als ob eine Ehe irgendwelche Sicherheiten garantieren würde! Gerade du solltest das eigentlich besser wissen.«

Ihre Blicke treffen sich. Sie betreten gefährliches Terrain. »Meine Tochter ist besser dran, wenn sie hierbleibt«, sagt Otto.

»Und hast du sie gefragt, ob sie das will? Du kennst unsere wirtschaftlichen Verhältnisse. Du weißt, wie schlimm es steht. Du und ich werden nicht ewig hier sein. Und was dann? Willst du, dass sie allein hier in dieser riesigen Gruft lebt, ohne Einkommen, ohne Schutz?«

Er steht auf. »Natürlich nicht.«

»Ich übertreibe natürlich«, scherzt sie, um die gespannte Stimmung etwas aufzulockern, »denn in Wirklichkeit wird zumindest Cornelia nie sterben. Cornelia wird uns alle überleben.«

Ottos muss wider Willen lächeln, und das verschafft ihnen beiden einen Moment lang Erleichterung. Sie und Otto sind in den letzten achtzehn Jahren merklich gealtert, aber Cornelia klappert in der Küche mit den Pfannen, als wäre sie noch zwanzig, und nimmt so energisch wie eh und je den Kampf gegen Geflügel und Fisch und widerspenstige Knollen aller Art auf. Die Annahme, Cornelia sei unsterblich, scheint durchaus plausibel zu sein.

»Thea ist nicht auf der Welt, um uns zu retten, Petronella«, sagt Otto. »Sie ist uns nichts schuldig.«

»Guter Gott. Denkst du, das weiß ich nicht?«

»Bist du sicher?« Otto sieht ihr direkt in die Augen. »Wenn du so fest daran glaubst, dass sie ihr Heil in einer Ehe finden würde, warum heiratest du dann nicht selbst? Du brauchst dich nicht mehr um ihre Erziehung zu kümmern. Du bist siebenunddreißig, und sie ist erst achtzehn.«

»Ich war achtzehn, als ich geheiratet habe.«

»Und sieh nur, wie es dir ergangen ist.«

»Otto –«

»Du bist eine passable Partie. Clara Sarragon hat dich zu ihrem Ball eingeladen. Die Leute sehen in dir eine reiche Witwe, von einem Hauch Skandal umwittert, mit einem Haus an der Herengracht –«

»Das Johannes dir vermacht hat! Ich für meinen Teil besitze keine nennenswerten Reichtümer.«

Otto seufzt. »Es wird sich jemand finden, der dir gibt, was du willst.«

Er geht zum Fenster, und Nella springt auf, um ihm zu folgen. »Und was will ich?«, fragt sie.

Otto antwortet nicht, aber Nella weiß, was er denkt. Dass sie Kinder will. Seine Annahme schmerzt, und vielleicht war ihm das von Anfang an klar. Nella weiß, wie andere in dieser Stadt sie sehen: dass sie mit ihren siebenunddreißig Jahren nicht mehr jung ist. Dass sie schon lange verwitwet, unverheiratet und kinderlos ist. Reserviert, zurückhaltend, unauffällig gekleidet. Aber Nella selbst hat in vielerlei Hinsicht keine Ahnung, wer sie ist. Sie dachte, sie wäre erdgebunden, solide, selbstsicher. Aber innerlich ist sie ein wässriger Mensch, der leicht weggeschwemmt oder in einen See gespült werden kann. Würde ein Arzt sie als Melancholikerin bezeichnen? Ihre Lebenszeit ist flüssig, rinnt ihr durch die Finger. Ihr Geist ist stumpf, von keinen Stürmen der Fantasie aufgewühlt. Früher hat sie das Gefühl gehabt, ihre Gedanken befänden sich in unzähligen schimmernden Spiralkammern einer Nautilusschale, die aus dem Bett ihres Schädels aufstieg.

»Du willst ein eigenes Zuhause«, sagt Otto.

»Das hier ist mein Zuhause. Die Heirat mit Johannes hat mein Leben zum Besseren verändert.«

»Das ist nicht das, was du sonst immer sagst.«

Sie ignoriert das. »Auch für Thea wird sich der Richtige finden.«

»Was er dir versprochen hat, war alles gelogen, und du hast die letzten achtzehn Jahre dafür büßen müssen. Glaubst du, er ist der einzige Mann, der so etwas tut?«

Nella lässt sich nicht beirren. »Marin hat auch gelogen. Aber du machst ihr keine Vorwürfe.«

Otto tritt weg vom Fenster. »Warum verkaufst du nicht diesen alten verfallenen Kasten?«, fragt er. »Das würde ein bisschen Geld bringen.«

Nella spürt ein dunkles Pochen in ihrem Magen. Nicht das. Nicht das Haus. Ab und zu erinnert Otto sie an ihr Elternhaus in Assendelft, in dem sie seit dem Tag, an dem sie nach Amsterdam geschickt wurde, um Johannes Brandt zu heiraten, nie mehr gewesen ist. Auch nach dem Tod von Arabella, des letzten ihrer Geschwister, vor vier Jahren hat Nella sich nicht dazu durchringen können, die Reise in die Vergangenheit zu unternehmen. Sie hat jemanden beauftragt, das Haus zu besichtigen und ihr zu berichten. Was dabei herauskam, war vernichtend, wie Otto nur zu gut weiß: große Löcher im Dach, das Obergeschoss unbewohnbar, der See mit Wasserpflanzen zugewachsen und die Obstgärten verwildert. In dem einstigen Kräutergarten grasten Kühe, und im Haus sah es aus, als hätte sich eine Räuberbande monatelang in der Küche und den Zimmern im Erdgeschoss einquartiert, mitten auf den Teppichen Feuer gemacht und Fenster eingeschlagen. Die Leute aus dem nahe gelegenen Dorf behaupteten, dass es dort spuken würde. Damit war das Thema für Nella ein für alle Mal erledigt gewesen: Sie hatte angeordnet, das Haus mit Brettern zu vernageln – sie wollte nie wieder dorthin zurückkehren.

Aber schon zu der Zeit, als sie ihr Elternhaus verließ, hatte sie es als einen Ort empfunden, den sie mit Gefühlen des Verlusts, der Angst und des Verfalls verband, auch wenn sie mit niemandem je darüber geredet hat. Sie hat sich mit aller Anstrengung bemüht, sich von der Nella, die dort lebte, in die Frau zu verwandeln, die hier lebt. Das Anwesen gehört ihr. Es hängt ihr wie ein Mühlstein um den Hals, aber es ist ihr ureigener Mühlstein.

»Ich habe es dir schon gesagt«, sagt sie: »Assendelft steht nicht zum Verkauf.«

»Nella, du setzt nie einen Fuß dorthin.«

»Es wird nicht verkauft.«

»Nenne mir einen einzigen Grund, warum nicht.«

Nella setzt sich auf den Stuhl und stützt ihren Kopf in die Hände.

Er gibt nicht auf. »Ich verstehe nicht, warum du nie davon sprichst«, sagt er.

Sie wirft den Kopf hoch. »So wie ich nicht von Assendelft spreche, sprichst du nicht von Marin. Auch nicht über deine Zeit in Surinam oder über deine Kindheit in Dahomey. Wir haben beide unsere Vergangenheit, Otto. Wir haben beide Dinge, über die wir nicht sprechen. Ich frage dich nie – mit welchem Recht fragst du mich?«

Er wendet sich ihr zu. »Diese Dinge kann man nicht vergleichen. Das eine ist ein Haus auf dem Lande, das andere ist mein Leben.«

»Wir haben alle unsere Mühlsteine«, sagt sie.

»Was soll das heißen?«

Nella beißt sich auf die Lippe. »Nichts.« Sein Gesicht verfinstert sich. Sie versucht es noch einmal: »Otto, niemand wird es kaufen. Niemand kann darin leben. Es ist ödes Land.«

Er geht zur Tür. »Ich muss zur Arbeit.«

»Du wirst zu spät kommen.«

»Bert Schippers ist für mich eingesprungen, damit ich beim Geburtstagsfrühstück dabei sein konnte.«

»Was arbeitest du im Moment?«

»Eine Ladung Muskatnuss ist gerade von den Molukken eingetroffen.«

»Und wirst du –«

Aber Otto ist schon weg. Nella hört ihn im Flur, wie er seinen Mantel und seinen Hut zusammensucht, und dann das Geräusch der Haustür. »Denk an den Ball«, sagt sie zu den kahlen Wänden.

Sie nimmt den überraschten Lucas auf den Arm und setzt sich hin. Diese Gespräche mit Otto regen Nella auf, sie wecken alte Erinnerungen, die sie lieber ruhen lassen würde, aber es scheint unmöglich, die Vergangenheit nicht aufzurühren, wenn man versucht, eine Zukunft zu gestalten.

Bevor ihr Mann Johannes und seine Schwester Marin vor achtzehn Jahren starben, hatten sie beide ein Testament verfasst – denn sie hatten zwar ihre Geheimnisse, waren aber auch vernünftige, seriöse Mitglieder des Gemeinwesens. Das Haus an der Herengracht vermachten sie Otto, die VOC-Anteile, die kleinen Grundstücke außerhalb der Stadt und das gesamte Mobiliar bekam Nella. Eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als könnten die Witwe Brandt, Otto, Cornelia und Thea den Verlust von Johannes und Marin relativ unbeschadet überstehen. Diese Hoffnung war naiv gewesen.

Obwohl Otto fast ein Jahrzehnt lang an der Seite von Johannes gearbeitet hatte, wandten die Kaufleute, die mit Johannes Geschäfte gemacht hatten, und seine ausländischen und inländischen Kunden sich mehr und mehr von ihm ab. Verträge liefen aus, Kontakte rissen ab. Er wurde seltener zu privaten Abendessen und nicht mehr zu Veranstaltungen der Gilde eingeladen. Die Art und Weise, wie Johannes gestorben war, und die Vorurteile der Leute Otto gegenüber hatten katastrophale Folgen für ihre wirtschaftliche Lage. Wäre ihr Mann ein anderer gewesen, hätte Nella es vielleicht geschafft, ähnlich wie andere Witwen in Amsterdam als Erbin seines Unternehmens ernst genommen zu werden. Aber ihr Ehemann war ein Sodomit gewesen, dessen Schande öffentlich geworden war, und Schande ist wie ein gewaltiger Feuerschein, den niemand übersehen kann: Er stach den Leuten in die Augen, und sie gingen auf Abstand.

Nachdem die Familie so drei Jahre geächtet worden war, hatte sich ihr Status in der Stadt drastisch verschlechtert. Die kleine Thea, die auf den Parkettböden herumtapste, musste ernährt und gekleidet werden, und Ottos und Nellas spärliche Einkünfte reichten nicht aus, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie verkauften die Grundstücke und die Anteile an der VOC, aber irgendwann waren auch diese Mittel aufgebraucht, und Cornelia sagte, nun könnten sie nur noch beten. Otto nahm eine Stelle als Buchhalter im Lagerhaus der VOC an, die ihm von einem der Direktoren angeboten wurde, der Mitleid mit der Familie Brandt hatte und mehr Sympathie für Theas Vater als der Rest der VOC und der Zünfte zusammengenommen. Die Arbeit war Ottos Fähigkeiten bei weitem nicht angemessen, aber es war die einzige, die er finden konnte. Einige seiner Kollegen dort waren noch Lehrjungen, für sie war er ein Methusalem, ein Mann, dessen Berufserfahrung und reiches Wissen sie nutzen konnten, um selbst vorwärtszukommen. Aber die Familie war verzweifelt, und das Geld, das Otto verdient, hat sie in vielerlei Hinsicht über Wasser gehalten. Schon bald nachdem er die Stelle angetreten hatte, versuchte Otto, Nella davon zu überzeugen, dass es am besten wäre, wieder zu heiraten. Es ist ein Refrain, den er in all den Jahren seither öfter wiederholt hat, als Nella lieb ist. »Vielleicht sollte Nella einen reichen Mann heiraten?«, sagt er immer.

Im Laufe der Jahre, als das Leben immer ärmlicher und beengter wurde, ist Nella mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass Marin ihre Ehe mit Johannes arrangiert hat, um sich selbst zu schützen, und dass Nella nur ein leider notwendiges Mittel zum Zweck war. Johannes, zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt und zu egoistisch, um den Kampf mit seiner starken Schwester aufzunehmen, hat sich von seiner jungen Frau lieben lassen, ohne Rücksicht darauf, welchen Preis sie dafür zahlen musste. Wenn Nella in den Monaten nach seinem und Marins Tod überhaupt Schlaf fand, träumte sie nicht von einem Mann, der mit einem Stein um den Hals auf den Meeresgrund sank. Stattdessen hatte sie das Gefühl, dass ein Stein auf ihren Schultern lag. Um Theas willen waren Marin und Johannes bereit gewesen, Nellas Leben zu opfern. Was hat sie in den letzten achtzehn Jahren geleistet? Sie, Bürgerin einer Nation, die sich rühmt, sich selbst erschaffen zu haben, hat nichts geschaffen, weder innerlich noch äußerlich. Und doch tut es ihr jedes Mal weh, wenn Otto ihr unterstellt, sie wäre froh, wenn sie einfach von hier weggehen und Thea zurücklassen könnte. Woher nimmt er die Gewissheit, dass sie bereit sein würde, neu anzufangen?

Wahr ist, dass in den Jahren nach Johannes’ Tod jene reichen Witwen Nellas Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, die sich dafür entschieden, nicht wieder zu heiraten. Das mussten sie auch nicht. Sie hatten ihr eigenes Geld und das Vermögen ihres verstorbenen Mannes. Als Witwen waren sie rechtlich selbständig und standen nicht unter der Vormundschaft eines Ehemannes. Nella begegnete ihnen am Goldenen Bogen oder sah sie, Perlen so groß wie Hühnereier um den Hals oder an den Ohren baumelnd, in ihren Barken vorbeifahren, wenn sie in ihre komfortabel ausgestatteten Palais heimkehrten, ohne Verpflichtungen und ohne Sorgen, im Besitz von Wertpapieren, die dafür sorgten, dass sie in den kabbeligen Gewässern von Amsterdam immer oben schwammen bis zu dem Tag, an dem auch sie vor ihren Gott treten mussten. Kein Mann, dem man im Bett gefallen musste. Keine Angst, bei der Geburt eines Kinds zu sterben. Nella gingen diese Frauen nicht aus dem Kopf, obwohl sie wusste, dass sie selbst keine riesigen Perlen hatte, keine Wertpapiere, sondern nichts als lauter Sorgen und Verpflichtungen.

Warum sollte ich zulassen, dass ein fremder neuer Mann am Ufer meines Haushalts an Land geht und verlangt, dass ich ihn zum Herrn darüber einsetze?, hat Nella jedes Mal gedacht, wenn sie wieder eine dieser in Parfümwolken gehüllten Damen hinter ihrer großen Eingangstür verschwinden sah. Und wie würde so einer Thea behandeln? Wie viel Respekt würde er Otto oder Cornelia erweisen? Warum sollte sie das Risiko eingehen? Ihr Leben war schwierig, aber es gehörte ihr. Sie hatte gekämpft und den Preis für ihr bisschen Selbstbestimmung bezahlt.

Doch es gibt immer eine Kehrseite der Medaille. Tatsache ist, dass sie nie einen anderen Mann kennengelernt hat, den sie hätte heiraten wollen. Kein anständiger Mann ist ihr über den Weg gelaufen. Da ihr gesellschaftliches Leben eingeschränkt ist und sie ihre ganze Aufmerksamkeit Thea widmet, gab es in den letzten Jahren kaum Ehekandidaten, und je älter sie wird, desto seltener wird sie mit einem Nachnamen wie dem ihren und seinem Erbe an Schande und finanziellem Niedergang einem begegnen. Sie hat ihr einsames, abgesondertes Leben, sonst nichts, und sie sieht keine Zukunft für sich. Otto meint, sie wünsche sich Kinder, aber was weiß er schon von ihren Wünschen? Sie selbst kennt sie kaum.

Nella setzt Lucas ab und geht zügig in den hallenden Flur, die Treppe hinauf, dann noch eine Treppe in das engere Dachgeschoss und schließlich zum Dachboden. Eine Kerze in der Hand und darauf bedacht, sich nicht auf die Röcke zu treten, bewegt sie sich geduckt in der klammen Kälte durchs Dunkel. Niemand weiß, dass sie an jedem Jahrestag von Marins Tod hier hochkommt. Es ist eines ihrer Geheimnisse.

In der Ecke, im Schatten, steht Marins Reisetruhe. Cornelia würde es wahrscheinlich für morbide und respektlos halten, sie zu öffnen. Otto würde sagen, sie habe kein Recht, es zu tun. Thea weiß nicht einmal von der Existenz dieser Truhe und dass die darin verborgenen Gegenstände geradezu die Verkörperung des Geheimnisses ihrer Mutter sind. Nella und Cornelia haben vorgehabt, sie ihr zu zeigen, aber irgendwie war nie der rechte Zeitpunkt dafür. Nella empfindet es als tröstlich, dass sie die Einzige ist, die vor Marins Truhe niederkniet, die alten Verschlüsse auf beiden Seiten öffnet und den Deckel anhebt.

Der Duft von Zedernspänen steigt auf, und Nellas Herz klopft heftig. Es ist, als blickte sie in einen kleinen Sarg, nur dass die Leiche weg ist und statt eines zerknitterten Leichentuchs etliche Papierrollen da liegen. Nella hält ihre Kerze hoch und sieht jetzt auch die vertrauten verstreuten Samen und bunten Federn, die einst Marins Zimmer schmückten. Ihre getrockneten Blütenblätter, die Tierschädel. Da liegen auch Marins Bücher, gestapelt und mit Schnüren zusammengebunden. Nella sieht den obersten Titel: Die unglückselige Fahrt des Schiffs Batavia, eines von Marins Lieblingsbüchern, eine Geschichte von Schiffbruch und Meuterei, grausamer Metzelei und Versklavung. Sie nimmt einen stark zerlesenen Band heraus, Die denkwürdige ostindische Reise der Nieuw Hoorn, und während sie mit dem Finger über die vertrauten Holzschnitte fährt, die Schiffbrüche und Küstenlinien zeigen, stellt sie sich Marins schlanke Hand auf ihrer Schulter vor. Spionierst du schon wieder, Petronella? Diese Dinge gehen dich nichts an.

Marins Stimme ist nicht von dieser Welt, und Nella kann sie nicht wirklich hören, so wie sie gewöhnliche Stimmen hören kann, doch irgendwie fühlt es sich an, als käme sie aus der Tiefe von Nellas Körper.

Da sind die Karten von Marin: Nella rollt jede einzelne auf, bis die ganze Welt um sie herum auf den Dielen ausgebreitet liegt. In der Stille des Dachbodens ist hier Afrika, und da sind die Molukken, Java und Batavia. Hier England, Irland, Frankreich, Nord- und Südamerika. Und da sind Marins handgeschriebene Worte: Klima? Nahrung? Gott? Fragen, auf die Marin nie Antworten gefunden hat.

Nella starrt angestrengt auf den afrikanischen Kontinent, auf die gezeichneten Zacken und Linien, die für Felsküsten und Berge, Wüsten und Seen stehen, und sucht in diesen unbekannten Regionen eine Erklärung für Ottos beharrliches Schweigen, warum er nicht darüber redet, wo er herkommt, wo er gelebt hat, bevor er nach Amsterdam gelangte. Sie rollt die Karte von Surinam auf, fährt mit dem Finger über den Namen und denkt an Otto, an den Duft von Zucker, der in der Luft hängt, an den Ball heute Abend, an Hitze und Musik. Besitzt Clara Sarragon nicht Plantagen in Surinam?

Nella stellt den Leuchter ab, taucht ihre Hand in die Zedernspäne und berührt das, wonach sie eigentlich gesucht hat.

Über all die Jahre hinweg hat sie diese Miniaturen aufbewahrt. Die zwei Puppen von Otto und Marin und den kleinen Säugling aus Wachs, den sie vor achtzehn Jahren aus einer Werkstatt gestohlen hat, an jenem Tag, als ihr Leben auf den Kopf gestellt wurde. Sie nimmt sie heraus, eine nach der anderen. Die Zeit hat ihren kleinen Körpern nichts anhaben können. Nella fragt sich, ob es ihr Verdienst ist, dass Otto all die Zeit in Sicherheit lebte, weil sie dafür gesorgt hat, dass das Figürchen unversehrt blieb. Sie hat immer geglaubt, dass in den von der Miniaturistin geschaffenen Stücken eine Art Zauber liegt, aber jetzt, nach achtzehn Jahren, kommt ihr diese Frage anmaßend vor, und Otto würde es genauso sehen. Seine Existenz ist und war wie die von Nella selbst immer alles andere als sicher.

Auch die Miniatur von Marin ist perfekt erhalten geblieben. Sie blickt zu ihrer Schwägerin auf: ein schmales, blasses Gesicht, graue Augen, hohe Stirn, langer, schlanker Hals. Sie sieht so lebensecht aus. Sie ist nur kleiner geworden, das ist alles: Sie ist nur scheinbar gestorben. Marins Kleid ist schlicht, aber aus teuren Materialien: schwarze Wolle und Samt. Nella streicht über den Stoff, der mit Zobelfell gefüttert ist und einen großen Spitzenkragen hat, der längst nicht mehr Mode ist. Sie kann sich nicht von dem Anblick losreißen. Diese Puppen waren immer zu gut gemacht, zu detailgenau, zu liebevoll gestaltet, als dass man sie unbeachtet hätte lassen können. Sie spürt, wie ihr ein Schauer über den Rücken läuft.

»Was sollen wir nur tun, Marin?«, flüstert sie.

Sie wartet, aber die Miniatur bleibt stumm.

Vorsichtig legt Nella Otto und Marin auf den Boden der Truhe, wo sie sie gefunden hat. Sie legt die Karten und die Schädel hinein, die glänzenden schwarzen Samen, die getrockneten Blumen, die unförmigen Schoten, die schillernden blauen und rubinroten Federn. Sie verstaut auch Marins Bücher, nachdem sie die Schnüre überprüft hat. Aber dann, als nur noch das Baby übrig ist, zögert Nella. Sie hält es unschlüssig in der Hand. Dieses winzige Ding hat für sie immer Thea verkörpert, und obwohl es überhaupt kein Gewicht zu haben scheint, glaubt Nellas zu spüren, wie es auf ihrer Haut summt, so perfekt, so sorgfältig gearbeitet ist es, gewickelt mit Streifen feinsten gebleichten Batists. Nella genießt das Gefühl. Damals, als Thea geboren wurde, war es für sie ein Zeichen, dass Thea ihnen schon immer bestimmt war. Ein Samenkorn der Hoffnung, eine Zusicherung, ein Muster, das demonstrierte, was die Kunst der Miniaturistin vermochte. Ein Versprechen, dass alles sich erneuern würde.

Nella drückt das Neugeborene sanft, als wollte sie es drängen, seinen geheimen Zauber wirken zu lassen. Es ist so klein, halb so lang wie Nellas kleiner Finger, und sein Gesicht lugt wie eine Nuss aus den weißen Bandagen, in die es gewickelt ist. Thea ist schon lange kein Säugling mehr, aber für Nella fühlt es sich an, als wäre dies alles, was sie hat, dieses gestohlene Versprechen von Trost und Rat, das Gefühl, gesehen zu werden.

»Komm wieder«, spricht sie in die Dunkelheit.

Das Kind liegt bewegungslos in ihrer Hand. Auf dem Dachboden ist es still. Das einzige Geräusch ist das Kratzen von Lucas am Fuß der Dachbodentreppe, der sich Sorgen macht, was seine Herrin wohl dort im Dunkeln treibt. Nella geht zum Fenster und schaut auf den Kanal hinunter, aber nicht die kleinste Spur einer Frau, die das Haus beobachtet, ist zu entdecken, nirgends ein blonder Kopf ohne Haube oder Hut. Obwohl, das Haar der Miniaturistin könnte inzwischen grau geworden sein. Achtzehn Jahre sind eine lange Zeit. Zu lang. Was damals geschah, kann sich nicht wiederholen. Und überhaupt ist da auf dem Weg keine Menschenseele.

Doch ohne weiter zu zögern – denn wenn sie innehalten und darüber nachdenken würde, was Cornelia und Otto sagen könnten, wenn sie ihr auf die Schliche kämen, würde der Mut sie verlassen –, steckt Nella das Wickelkind in ihre Rocktasche. Sie klappt den Deckel von Marins Kiste zu und geht langsam im Licht ihrer Kerze die Dachbodentreppe hinunter. Sie klopft die Spinnweben von ihrem Rock, umkreist von Lucas. Wenn er auch dazu neigt, unvernünftig viel zu fressen, ist er doch ein kluger Kater. Er weiß, dass etwas passiert ist, etwas hat sich verändert. Aber ebenso wie seine Herrin kann er die Folgen nicht absehen.

III

Thea ist wie gebannt von den Szenen, die sich im Kerzenlicht abspielen. Titus heißt das Stück auf Niederländisch, und es basiert auf einem Drama von William Shakespeare. Rebecca spielt die Lavinia. Das Publikum sieht nicht, wie sie von den Brüdern Demetrius und Chiron vergewaltigt wird, aber es wird ihm vorgeführt, wie Lavinia danach die Hände und die Zunge abgeschnitten werden. Wie der Kaiser Titus, verkörpert von einem stämmigen Schauspieler, eine Pastete mit dem Fleisch von Kindern füllt. All das ist grauenhaft anzusehen, und das Publikum stöhnt und seufzt. Als Lavinia die Zunge herausgeschnitten wird und ihr Mund ein rotes Band ausspuckt, und später, als die Figuren die Kinderpastete essen und dabei immer wieder blutige Organe in die Höhe halten, bevor sie sie verschlingen, blickt Cornelia auf den Boden und flüstert: »Ich halte das nicht mehr aus. Ich glaube, mir wird schlecht.«

»Es ist nicht wirklich«, flüstert Thea zurück, aber sie tastet unwillkürlich mit der Zunge nach der Stelle, wo sie angewachsen ist. Denn trotz allem, was sie zu Cornelia sagt, erlebt auch sie es, als wäre es sehr wohl wirklich, jede Einzelheit. Es fühlt sich wirklicher an als die Wirklichkeit. Rebecca Bosman ist die beste Schauspielerin in den ganzen Vereinigten Provinzen und darüber hinaus. Niemand kann ihr das Wasser reichen. Wenn sie spielt, ist es, als wäre das, was da auf der Bühne passiert, die echte Welt und das Geschehen im Zuschauerraum mit all den verschwitzten Leibern und hektisch bewegten Fächern wäre nur ein Zwischenspiel, eine Vorhölle, eine traurige Pause im Angesicht von Farbe und Leidenschaft. Manche Menschen kommen in die Schouwburg, um sich für ein paar Stunden zu verlieren, aber Thea kommt, um sich selbst zu entdecken, sich von Worten und Licht seelisch erheben zu lassen. Sie hat schon viermal gesehen, wie Rebecca ihre Zunge verlor, und jedes Mal erlebt sie es, als wäre es das erste Mal.

Thea treten Tränen in die Augen, als Lavinia in ihrem gerechten Zorn nach Rache dürstend ohne Worte erzählt, was ihr angetan wurde. Sie spürt, dass sie in Rebecca ist und Rebecca in ihr. Sie fühlt sich ermutigt und an einen Ort höherer Wahrhaftigkeit versetzt, an dem eine Frau offen das Wort gegen die Tyrannei ergreift. Als das Stück zu Ende ist und die Schauspieler sich verbeugt haben, beginnt das Publikum aus dem Saal zu strömen, unter den drei Bögen der Schouwburg hindurch und in den dunkler werdenden Nachmittag an der Keizersgracht. Cornelia steht auf, blass im Gesicht, aber Thea zerrt an ihr, damit sie sich wieder hinsetzt. »Warte einen Moment, sei so gut«, sagt sie. Sie denkt an Walter, wie sie es schaffen könnte, hinter die Bühne zu kommen und ihn zu sehen. »Ich will es ganz auskosten.«

»Ich nicht«, sagt Cornelia. »Das war ein Albtraum von Anfang bis Ende.« Aber weil es der Geburtstag ihres geliebten Schützlings ist, setzt sie sich wieder hin. »Warum konnte es keine Komödie sein?«

»Weil die Welt grausam ist.«

Cornelia verdreht die Augen. »Ich brauche keine zwei Stunden im Theater, um das zu wissen.«

»Aber fühlst du dich dadurch nicht lebendig?«

Cornelia erschaudert, die Erinnerung an Blut und Schmerz und Gewalt steht ihr noch im Gesicht geschrieben. »Ich habe immer nur an den Tod denken müssen. Bitte, Teekännchen, lass uns gehen.«

Thea holt tief Luft. »Ich musste an meine Mutter denken.«

Cornelia erstarrt: Sie versteht nicht, wo der Zusammenhang ist, aber Thea wartet noch. Cornelia war über die Jahre hinweg der einzige Mensch, der ihr hin und wieder etwas von Marin Brandt und ihrem Bruder erzählt hat. Von ihr hat Thea erfahren, dass ihre Mutter die Familie gezwungen hat, Hering zu essen, obwohl sie sich etwas Besseres hätten leisten können. Dass ihre Röcke mit feinstem Zobel gefüttert waren, aber das verriet sie niemandem. Wie gut sie mit Zahlen umgehen konnte. Doch so interessant diese vereinzelten Wesenszüge auch sind, sie ergeben kein vollständiges Porträt.

Warum hat sie euch gezwungen, Hering zu essen? Warum durfte niemand von dem Pelzfutter in ihren Röcken wissen? Jedes Mal, wenn Thea so fragt, verstummt Cornelia, als wäre sie der Meinung, dass sie schon genug gesagt hätte und es ihr nicht gestattet wäre, weitere Erklärungen zu liefern. Und doch hat Thea schon oft in Cornelia den Drang gespürt, mehr zu erzählen, ja über ihre tote Herrin zu klatschen, aber es ist, als dürfte sie es nicht.

»Cornelia, ich bin jetzt eine erwachsene Frau«, sagt Thea in einem Ton, als redete sie mit einer etwas einfältigen Person.

Cornelia zieht die Augenbrauen hoch.

»Warum darf ich nicht wissen, wer sie war? Papa erzählt mir nichts. Wie waren er und meine Mutter als Paar?«

Cornelia wirkt peinlich berührt. »Thea, wir sind hier in der Öffentlichkeit.«

»Niemand hört uns zu.«

Cornelia wirft einen Blick über ihre Schultern. »Du wirst doch wohl nicht erwarten, dass ich hier mitten im Theater darüber rede, wie deine Eltern sich hinter verschlossenen Türen benommen haben.«

Thea beugt sich vor. »Dann erzähl mir von meinem Onkel. Warst du dabei, als sie ihn ertränkt haben?« Cornelia fingert hektisch an der Schnur ihres Geldbeutels. Sie sieht Thea böse an, aber diese gibt nicht auf. »War jemand dabei?«

Cornelia kaut auf ihrer Lippe. »Das ist wirklich kein Gesprächsthema für einen Geburtstag.«

»Ich weiß, was er war«, flüstert Thea.

Cornelia hebt ihre Hand und bewegt sie ganz langsam auf Theas Wange zu. Es ist nur ein symbolischer Schlag, aber Thea zuckt zusammen, als die kühle Handfläche sie berührt, und sie sieht ihrem früheren Kindermädchen in die Augen. »Er war ein Mann«, sagt Cornelia. »Er liebte seine Familie. Die Menschen respektierten ihn. Und es hat uns schwere Mühe gekostet, uns diesen Respekt wieder zu verdienen. Wir müssen nicht mehr in Angst und Scham leben, weil dein Vater und deine Tante die bösen Geister der Vergangenheit vertrieben haben.«

»Indem sie Clara Sarragon den Hof gemacht haben?« Thea verzieht das Gesicht.

Cornelia zuckt mit den Schultern. »Man tut, was man tun muss. In einer Stadt wie dieser kann es einem nicht gleichgültig sein, was die Leute von einem denken.«

»Warum leben wir dann in einer Stadt wie dieser?«

»Weil wir nirgendwo anders in der Welt leben können.«

Thea seufzt. »Ach, Cornelia, du hast zusammen mit mir schon so viele Stücke gesehen, die an den verschiedensten Schauplätzen spielten, in fernen tropischen Ländern, auf den Straßen von London, in den Pariser Palais vornehmer Herrschaften – und du sagst mir, eine Frau kann nirgendwo anders als hier in Amsterdam ihren Hut ablegen und beschließen, dass das jetzt ihr Zuhause ist?«

»London ist eine so schmutzige Stadt«, sagt Cornelia. »Und Paris ist noch schlimmer.«

»Aber warum sollte es so schrecklich wichtig sein, was Leute wie Clara Sarragon von uns denken?«, fragt Thea. »Clara Sarragon hat keinerlei Talente. Sie ist kein Mensch, den ich achte oder schätze. Sie ist reich, das ist alles.« Thea schwenkt ihren Arm über die leeren Sitze ringsum. »Diese Frau könnte nie ein Theater wie dieses füllen. Sie ist keine Rebecca Bosman. Sie hat keine Seele.«

»Jeder Mensch hat eine Seele.«

»Sie könnte niemals irgendjemandem Liebe einflößen. Sie hat mir nichts zu bieten.«

Aber Cornelia ist an solche Ausbrüche gewöhnt und lässt sich nicht beirren. »Thea, du gehst trotzdem auf diesen Ball. Du kannst noch so große Reden halten, es wird dir nichts nützen. Und im Übrigen glaube ich nicht, dass Clara Sarragon besonderen Wert auf deine Liebe legt. Sie ist eine wichtige Figur im Spiel um Geld und Macht, und laut deiner Tante können anständige junge Mädchen, die sie unter ihre Fittiche nimmt, davon nur profitieren.«

»Die kenne ich, die anständigen jungen Mädchen der Stadt«, sagt Thea voller Verachtung.