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»Ein reizender, verführerischer Cosy Crime zum Zurücklehnen und Genießen!« The Times Mrs. Bradley, scharfsinnige Detektivin und gefeierte Psychiaterin, hat beschlossen, Weihnachten mit ihrem Neffen in dessen idyllischem Haus in den Cotswolds zu verbringen. Ein bezaubernder Weihnachtskrimi aus einer Zeit, in der selbst Mord noch mit schelmischer Unschuld gespickt war. Über die Weihnachtsfeiertage kehrt die Psychologin und Ermittlerin Beatrice Adela Bradley ihrer Heimatstadt London den Rücken zu und besucht ihren frisch vermählten Neffen. In seinem Haus in den malerischen Cotswolds versammeln sich schon die Weihnachtsgäste, doch in die gelöste Stimmung mischen sich böse Gerüchte: nacheinander erhalten die Dorfbewohner aus unbekannter Quelle Drohbriefe, während sich im nahegelegenen Wald seltsame Vorfälle ereignen. Dann fallen die Temperaturen, über die Hügel legt sich der Schnee – und eine Leiche wird entdeckt. Mrs. Bradley übernimmt den Fall, aber sie muss einen raffinierten Plan aushecken, um die Wahrheit ans Licht zu bringen und den Schuldigen zu finden...
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Seitenzahl: 403
Veröffentlichungsjahr: 2025
Gladys Mitchell
Das Geheimnis der weißen Weihnacht
Eine weihnachtliche Kriminalgeschichte
Aus dem Englischen von Dorothee Merkel
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe zum Zeitpunkt des Erwerbs.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH Rotebühlstraße 77, 70178 Stuttgart
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Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Groaning Spinney« im Verlag Michael Joseph Ltd, London
© The Estate of Gladys Mitchell, 1950
Für die deutsche Ausgabe
© 2025 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte sowie die Nutzung des Werkes für Text und Data Mining i.S.v. § 44b UrhG vorbehalten
Cover: Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH, München unter Verwendung einer Illustration von © Dieter Braun
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
ISBN 978-3-608-96686-2
E-Book ISBN 978-3-608-12470-5
Erstes Kapitel
Geh und halt auf die flink beflügelten Sekunden
Welche zu einer unbekannten Küste eilen,
Geh, hindere die Nacht und ihre Stunden,
sich ihre Macht mit dem lichthellen Tag zu teilen!
William Habington, 6. Elegie
Mrs Beatrice Adela Lestrange Bradley klopfte mit einer Ecke des steifen Briefumschlags, den sie in der Hand hielt, auf die Kante ihres Schreibtischs. Es kam nur sehr selten vor, dass es ihr schwerfiel, eine Entscheidung zu treffen, doch diesmal war sie vollkommen unschlüssig.
Sie legte den Umschlag auf den Tisch, griff sich stattdessen einen anderen Umschlag, öffnete ihn und las zum wiederholten Mal den darin enthaltenen Brief. Es handelte sich um eine Einladung zu einer Konferenz für Pädagogische Psychiatrie in Stockholm. Der Brief klang sehr herzlich, und darüber hinaus hatte Mrs Bradley den Herbst und Frühwinter mit einer besonders faszinierenden Forschungsarbeit verbracht und brannte geradezu darauf, ihre Ergebnisse bei dieser Konferenz zu präsentieren. Zwar würden die Ansichten der anderen Teilnehmer größtenteils nicht unbedingt mit ihren eigenen übereinstimmen, aber sie würden sich sehr dafür interessieren, was sie zu sagen hatte, ganz gleich, wie oft sie Einspruch erheben würden.
Aber es gab auch eine Einladung aus den Cotswolds. Mrs Bradley war dank ihrer drei Ehen mit einer riesigen, bunten Schar angeheirateter Verwandter gesegnet, alles lebhafte und begabte Personen, von denen sie einige sogar recht gernhatte. Der steife Umschlag enthielt einen Brief von ihrem Lieblingsneffen, der ihr den Gefallen getan hatte, eine junge Frau zu heiraten, die sie selbst für ihn auserkoren hatte. Mrs Bradley hatte den sehnsüchtigen Wunsch gehegt, im Familienkreis einen Platz für die reizende Deborah Cloud zu finden, und ihr Neffe Jonathan hatte ihr diesen Wunsch erfüllt. Dass er Deborah dabei aus eigenen und nicht aus den von seiner Tante ins Feld geführten Gründen erwählt hatte, erfreute besagte, ebenso einflussreiche wie behutsame Vermittlerin fast noch mehr als die Erfüllung ihres Wunsches.
»Jetzt, da wir eine Bleibe haben, würden wir uns sehr freuen, wenn Du uns besuchen kämst und Weihnachten mit uns verbringen würdest. Wir wollen das Weihnachtsfest mit einer Feier zur Hauseinweihung kombinieren, und uns wäre sehr daran gelegen, wenn Du daran teilnehmen würdest«, schrieb Jonathan. »Es wird eine sehr angenehme Gesellschaft werden, Deb wird wunderschön aussehen, und außerdem habe ich auch noch eine Flasche schottischen Whisky an Land gezogen. Und wenn Du bis zum Neujahrstag bleibst, verspreche ich Dir hoch und heilig, Dir auch noch einen Haggis zu servieren.
PS Es ist uns ganz gleich, wie viele Deiner Lieblingspatienten während der Feiertage ins Delirium Tremens verfallen oder an wie vielen Konferenzen Du im Januar teilnehmen willst. Blut ist dicker als Wasser, und Du hast immer gesagt, Du würdest uns besuchen kommen, sobald wir uns in unserem neuen Heim eingelebt haben. Und Du hast auch versprochen, eine ganze Weile zu bleiben. Also wie sieht’s aus? Falls Du kommst, kannst Du dir die Mühe sparen und brauchst gar nicht erst zurückzuschreiben.«
Mrs Bradley handelte nur selten impulsiv und hielt auch nichts davon, ein Dilemma mithilfe irgendwelcher abergläubischer Praktiken zu lösen. Aber im gegenwärtigen Fall war sie derart unfähig, sich zu entscheiden, dass sie plötzlich zwei Fidibusse aus einem Gefäß neben dem Kamin nahm und sie in die Luft warf. Einer landete auf dem Teppich und der andere trudelte auf den Schreibtisch. Das kleine Kätzchen, das vor dem Kamin gelegen hatte, stürzte sich sofort auf den Fidibus, der auf den Teppich gefallen war, und begann damit zu spielen.
»Wenn du den längeren erwischt hast, fahre ich nach Schweden, und wenn es der kürzere ist, in die Cotswolds«, verkündete Mrs Bradley feierlich. Sie hob das Kätzchen auf, nahm ihm den Fidibus ab und verglich ihn mit dem, der auf dem Schreibtisch gelandet war. Der Fidibus, mit dem das Kätzchen gespielt hatte, war fast einen ganzen Zentimeter kürzer als der andere. Mrs Bradley nahm ein Telegrammformular, kritzelte hastig ein paar Worte darauf und betätigte die Klingel. Sie reichte das Formular ihrer Sekretärin und wies sie an, das Telegramm sofort zu verschicken. Dann setzte sie sich, hob erneut das Kätzchen und die beiden Fidibusse auf, starrte einen Moment lang gedankenverloren vor sich hin und setzte das Kätzchen schließlich wieder ab. Anschließend betrachtete sie die beiden Papierstreifen, die aus zerschnittenem Zeitungspapier bestanden, und wickelte ihre Enden auf.
»Oje!«, rief sie laut. »Was habe ich denn jetzt angestellt!«
Das Ende des vermeintlich kürzeren Fidibusses war umgeknickt gewesen. Als sie es gerade strich, stellte sie fest, dass er in Wirklichkeit mehrere Zentimeter länger war als der Fidibus, von dem sie ursprünglich geglaubt hatte, er sei der Längere gewesen.
Ich hätte also doch nach Schweden fahren sollen!, dachte sie amüsiert, knüllte die Fidibusse zusammen und warf sie in den Korb zum Brennholz.
»Tja, das Telegramm ist schon abgeschickt«, sagte die Sekretärin, als Mrs Bradley ihr erzählte, was passiert war. »Und ich bin sehr froh darüber. Sie brauchen Urlaub. Sie können ja nächstes Jahr nach Schweden fahren!«
Jonathan Bradley und seine Frau Deborah hatten großes Glück gehabt. Sie waren bei ihrer Suche nach einer Bleibe auf ein weitflächiges Anwesen in den Cotswolds gestoßen, das man in zwei unterschiedlich große Parzellen aufgeteilt und zum Verkauf angeboten hatte. Zwei Drittel des Grundstücks sowie das darauf befindliche riesige moderne Haus hatte das Bildungsministerium erworben, aber das übrige Drittel des Landes und das ursprüngliche Herrenhaus hatte Mrs Bradleys Neffe gekauft. Das Anwesen lag inmitten jener Art von Landschaft, wie sie für die Cotswolds typisch war: hügelig und dennoch herrlich frei und offen. Es war zum Teil bewaldet, verfügte über einen munter dahinströmenden Bach und bot reichlich Gelegenheit zur Jagd, sowohl zu Fuß als auch zu Pferd mit der lokal ansässigen Jagdgesellschaft.
Jonathan und seine Frau hatten ihren Anteil am Anwesen im Januar erworben, waren im April eingezogen und hatten dann mit voller Absicht so lange damit gewartet, irgendwelche Gäste einzuladen, bis sie sich eingelebt hatten und in ihrem neuen Heim wirklich und wahrhaftig zu Hause fühlten.
Mittlerweile war es Dezember. Mrs Bradley traf zwei Tage vor Heiligabend bei ihnen ein. Sie kam mit dem Zug, denn sie hatte ihrem Chauffeur über die Weihnachtstage frei gegeben. Sie hatte ihrem Neffen absichtlich nicht mitgeteilt, wann ihr Zug eintreffen würde, denn sein Haus war meilenweit von Cheltenham (ihrer Endstation) entfernt, und sie verabscheute es, irgendjemandem Unannehmlichkeiten zu bereiten.
Dennoch stand Jonathan Bradley am Gleis, als sie in den Bahnhof einfuhr, und wartete auf sie.
»Deb wollte auch kommen«, erzählte er, »aber ich wusste nicht, ob ich den richtigen Zug ausgesucht hatte. Du hast nicht Bescheid gesagt, und ich fand, dass es ein bisschen zu kalt ist, um ihr das Herumstehen in einem zugigen Bahnhof zuzumuten. Aber jetzt wünschte ich, ich hätte sie mitgebracht.«
Er führte Mrs Bradley zu seinem Wagen und veranlasste, dass ihr Gepäck darin verstaut wurde. Wenige Minuten später huschte das Auto los, wie eine Katze, die es nach Hause zieht. Sie überquerten die Landstraße, die von Oxford nach Gloucester führt, fuhren an einer Scheune aus dem 15. Jahrhundert und einer ländlichen Bushaltestelle vorbei und setzten ihren Weg dann auf der Straße nach Cirencester fort.
Gewaltige hügelige Felder neigten sich träumerisch zu ihnen herab, als grübelten sie über die verlorengegangenen Schätze aus Weizen, Klee und Gerste nach, mit denen sie im vergangenen Sommer noch gesegnet gewesen waren. Kleine, verschwiegene Nebenstraßen führten zu Orten wie Coberley, Elkstone, Brimpsfield und Compton Abdale die Hügel hinauf oder hinab. Nach etwa einer halben Stunde Fahrt, in der sie an mehreren dichten Wäldern, einer Jagdhütte mit eigener Auffahrt, einem rauschenden Fluss mit steilen Böschungen, ein paar vereinzelten Schwarzkiefern und einem einsamen Bauernhof vorbeigekommen waren und die Abzweigungen einer schmalen Landstraße, eines sandigen Feldwegs und eines sich den Hügel hinaufwindenden Sträßchens hinter sich gelassen hatten, überquerte das Auto die Grenze zu Jonathans Besitz.
Unmittelbar darauf krochen sie einen steilen, unebenen Weg hinauf. Mrs Bradley saß neben ihrem hochgewachsenen, schwarzhaarigen Neffen und schaute interessiert aus dem Fenster. Zu ihrer Linken zog sich ein kleiner Wald entlang, und rechts vom Weg senkte sich das baumlose Gelände in geradezu sinnlichen Kurven zu einem rauschenden kleinen Bach hinab.
»Der bringt die Mühle in Gang«, sagte Jonathan und nickte zu dem Rauschen hinunter. »Wir haben eine Mühle, eine Schmiede, einen Pub und ein Postamt. Alles in allem ein wahres Musterdorf.«
Sie fuhren weiter hoch und ließen den Wald hinter sich. Eine endlose Reihe regennasser, grün leuchtender Hänge erfüllte das Blickfeld, und über dem Horizont dehnte sich der graue, von schneeschweren Wolken erfüllte Himmel. Als das Auto noch höher kroch und sich die Konturen der Hügel veränderten, entdeckte Mrs Bradley zwei kleine Häuser zu beiden Seiten des Wegs.
»Und, wie findest du das alles hier?«, fragte Jonathan und drückte auf die Hupe, als sich das Auto den Häusern näherte. Der Weg wurde etwas weniger steil und ging in eine gepflasterte Auffahrt über, und Jonathan wechselte den Gang.
»Trostlos, verwunschen und überirdisch. Eine perfekte Kulisse«, antwortete seine Tante und starrte verzückt in den wolkenverhangenen Himmel, der sich auf sie herabzusenken schien.
»Eine perfekte Kulisse wofür?«
»Für Verrat, Magie, List und Schnee. Wer wohnt in den Pförtnerhäusern?«
»Im Linken wohnt Will North, der Wildhüter. Er ist ein großartiger Kerl. Ich bin schon mehrere Male mit ihm auf die Jagd gegangen und habe immer eine gute Ausbeute gemacht. In dem anderen wohnen die Wootton-Brüder, Abel und Harry. Sie erledigen die Gärtnerarbeiten für uns – und auch für das College. Deb hat glücklicherweise selbst Freude an der Gartenarbeit, also arbeiten die beiden nicht so viel für uns. Sie fällen Bäume oder hacken irgendwelches Zeugs ab und verbrennen das Ganze dann, und sie übernehmen auch die meisten Arbeiten, bei denen es irgendetwas zu graben gibt. Meistens haben sie auf dem Grundstück des Colleges zu tun, aber man hat mich gebeten, sie trotzdem weiterhin hier im Pförtnerhaus wohnen zu lassen. Die beiden sind sehr verlässliche und respektable Burschen. Abel ist Witwer und hat einen zwölfjährigen Sohn. Harry ist Junggeselle. Es gibt auch eine Schwester, die für die Toreinfahrt zum College zuständig ist und im dortigen Pförtnerhaus wohnt. An den meisten Abenden gehen sie zum Essen zu ihr. Die Schwester ist ein echter Drache, aber sie ist sehr pflichtbewusst. Sie schaut, dass ihre Brüder keinen Unfug treiben und nicht ihr ganzes Geld im Pub verprassen, und sie flickt die Sachen des Jungen und passt auf, dass er brav in die Kirche und früh genug in die Schule geht und all sowas. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, was die beiden Brüder ohne sie tun würden.«
»Und wer kümmert sich um Will North?«, fragte Mrs Bradley.
»Oh, Will? Der kommt allein klar. Der kocht und putzt und ist ein vielseitig begabter Handwerker. Manchmal, wenn ihm danach ist, holt er sich auch von unserer Köchin etwas zu essen, aber im Großen und Ganzen ist er bemerkenswert eigenständig. Und er kann ausgezeichnet mit dem Gewehr oder mit Fallen umgehen. Der frühere Besitzer hat Fasane gezüchtet, aber ich habe keine Ahnung, wie es in dieser Hinsicht jetzt weitergehen wird. Will findet ab und zu mal einen Vogel für mich, den ich schießen kann, aber die Wälder hier werden nicht mehr als Habitat für die Fasane erhalten. Die Vögel finden hier nicht mehr die Nahrung, die sie brauchen.«
»Ich denke, diesen Will North werde ich mögen.«
»Da bin ich mir sicher. Er ist Junggeselle – sehr vernünftig von ihm! – und scheint sich, außer für seinen Hund und seine Frettchen, für nichts und niemanden zu interessieren. Er hat da hinter den Büschen, die du eben am Wegesrand gesehen hast, so einen ›Hundefriedhof‹ – wie er es nennt – mit allem Drum und Dran. Da gibt’s so richtig tief in die Erde gegrabene Gräber und sogar Grabsteine mit einer letzten Botschaft. Falls du ihm sympathisch sein solltest, zeigt er ihn dir bestimmt.«
Sie fuhren um eine Kurve, fast ein Halbkreis, und Mrs Bradley sah zum ersten Mal das Haus, das ihr Neffe gekauft hatte.
Es war aus Stein gebaut und zeichnete sich durch die hohen Giebel und die wunderbare graue Farbe aus, wie sie für alle historischen Herrenhäuser in den Cotswolds charakteristisch waren. Entstanden war das Haus im Jahr 1560, doch es war in einem recht schlichten Stil gehalten und strahlte eine strenge Kargheit aus, die eher zu einem noch früheren Baustil gepasst hätte.
Auch die Dachziegel waren aus Stein, doch weil sie verwittert waren, wirkten sie weniger abweisend als die kahlen Mauern und die Abtropfrinnen über den Fenstern im Tudorstil. Ein breiter Torbogen führte zu den Stallungen, und an einer Seite des Hauses stand ein riesiger Taubenschlag, der fast die Größe eines Cottage hatte. Über der rechteckigen Eingangstür war eine Reihe von Steinwappen ins Mauerwerk gehauen, und auf der Schwelle stand die reizende Deborah Bradley und wartete darauf, die Reisenden willkommen zu heißen.
»Wie wunderbar!«, sagte Deborah, als sie Mrs Bradley begrüßte. »Ich habe mit Jon gewettet, dass du nicht kommst! Ich war überzeugt, du würdest wie der Blitz zur nächstbesten Konferenz reisen. Erzähl doch! Welchen magischen Kräften haben wir es zu verdanken, dass du jetzt hier bist?«
Mrs Bradley erzählte die Geschichte von dem Kätzchen und den beiden Fidibussen.
»Bravo, Kätzchen!«, sagte Jonathan. »Hör mal, Deb, es ist nicht einmal drei Uhr, und Tante Adela hat gesagt, sie habe bereits im Zug zu Mittag gegessen. Wir haben also noch genug Zeit, um uns ein bisschen im Park umzuschauen.«
»Nein, das habt ihr nicht!«, protestierte seine Frau sofort. »Tante Adela wird erst einmal auf ihr Zimmer gehen wollen, und dann, wenn sie so weit ist, werde ich die Köchin bitten, den Tee zu servieren. Und wenn wir damit fertig sind, wird es bereits dunkel sein. Und außerdem musst du sowieso nach Cirencester fahren, um diese Päckchen abzuholen. Du solltest besser jetzt sofort losfahren. Dafür wirst du nicht lange brauchen. Und dann nehmen wir den Tee ein, wenn du wieder da bist. Du warst es doch, der unbedingt so bald wie möglich das Auto in die Garage stellen wollte!«
»Nicht meckern!«, sagte Jonathan und küsste sie.
»Und, gefällt es dir?«, fragte Deborah, als die beiden nach dem Tee mit Mrs Bradley eine Führung durch das mit zahlreichen Eichenbalken versehene, düstere, aber zugleich freundliche und erstaunlich alte Haus gemacht hatten.
»Ungemein!«, antwortete Mrs Bradley mit absoluter Aufrichtigkeit.
»Ja, mir auch. Ich bin froh, dass ich das Kind hier bekommen werde. Oder vielmehr die Kinder. Es werden Zwillinge, und ich werde sie Mary und Crispin nennen.«
»Tatsächlich?«, sagte Mrs Bradley und betrachtete ihre angeheiratete Nichte voller Interesse. »Das sind ja wunderbare Neuigkeiten.«
»Du wirst doch Patentante, oder? Das würde ich mir so sehr wünschen!«
»Es wäre mir eine große Freude. Wann dürfen wir eure Erben denn willkommen heißen?«
»Erst im Mai, fürchte ich. Kannst du es ertragen, so lange zu warten? Ich glaube ganz ehrlich nicht, dass ich das kann.«
»Ich werde die Tage zählen und sie in meinem Kalender durchstreichen.«
»Du bist lieb«, sagte Deborah glücklich. »Ich bin sehr sehr froh, dass du kommen konntest. Und wirst du bitte auch kommen, wenn es so weit ist? Ich würde mich so viel sicherer fühlen, wenn ich wüsste, dass du im Haus bist.«
Mrs Bradley schlief in einem Zimmer mit Eichenbalken und mehrflügeligen, nach Westen gehenden Fenstern, aus denen man auf eine Esche vor dem Haus schaute. Sie musste an M. R. James’ Geistergeschichten denken, doch das hinderte sie keineswegs daran einzuschlafen. Nach dem Frühstück machten sie, ihr Neffe und seine Frau den versprochenen Ausflug in den Park.
Es war kalt, aber nicht bitterkalt. Der Himmel war immer noch grau und von tiefhängenden Wolken erfüllt. Sie nahmen eine Abkürzung, die unmittelbar hinter dem Haus durch eine in eine Mauer eingelassene Tür führte. Von dort gelangte man auf einen Pfad, der von jahrhundertealten Hecken gesäumt wurde, deren dichtes, dunkles, von absoluter Stille erfülltes Blattwerk über ihnen aufragte. Als Nächstes gelangten sie an einen eisernen Zaun, über den Jonathan zunächst selbst hinüberkletterte und dann Deborah hinüberhob, während Mrs Bradley wie ein Rotkehlchen über das Hindernis hüpfte.
Hinter dem Zaun, der den Garten umschloss, lag eine Koppel, die sich steil – unnötig steil, wie Deborah fand, die sich an Jonathans Arm klammerte – den Hügel hinauf zum Waldrand zog.
Dort gingen sie zwischen Buchen entlang über einen breiten Weg, bis sie zu den beiden Pförtnerhäusern kamen. Sie umrundeten diese, gingen weiter durch den Wald und traten schließlich auf eine Magerweide hinaus, von der aus man einen herrlichen Blick über das Tal hatte. Auf dem gegenüberliegenden Hang konnte man das riesige, ziemlich hässliche moderne Gebäude sehen, das jetzt als College diente und hinter dem sich ein kleines Wäldchen erhob. Sie überquerten die Weide, ließen die kleine Kirche und ein paar der steinernen Häuser des Dorfes links liegen, und dann führte Jonathan sie zu einem schmalen Wäldchen, dessen vereinzelte Bäume sich auf einem windumtosten Hügel festklammerten.
Am oberen Ende des Wäldchens war ein Gatter. Jonathan blieb stehen und zeigte darauf.
»Dort treibt sich unser Geist herum«, sagte er. »Ich glaube, er ist echt. Jedenfalls ist jeder hier in der Gegend davon überzeugt. Angeblich handelt es sich um einen Pastor, der gegen 1850 hier tätig war. Man sieht ihn an mondhellen Nächten zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens über dem Gatter hängen, als sehr realistisch wirkende Leiche. Manche Leute behaupten sogar, ihn auch am helllichten Tag gesehen zu haben.«
»Und was für eine Geschichte steckt dahinter?«, fragte Mrs Bradley und trat vor, um das Gatter in Augenschein zu nehmen. Es war ein ganz gewöhnliches Gatter, wie man es auf dem Land sehr häufig findet, und das auf eine verwilderte Rasenfläche mit zahlreichen Kaninchenlöchern hinausführte.
»Das scheint keiner so genau zu wissen. In einer Geschichte wird behauptet, er sei von Räubern überfallen worden, als er gerade auf dem Heimweg von einem Gemeindemitglied war, dem er die Letzte Ölung erteilt hatte. Laut einer anderen Geschichte hatte er einfach nur etwas zu tief ins Glas geschaut und ist auf dem Heimweg zusammengebrochen und gestorben. Man fand ihn, wie er tot über dem Gatter hing, und seitdem spukt er hier herum. Man könnte das ja noch verstehen, wenn er überfallen, ausgeraubt und ermordet wurde, aber falls die andere Geschichte stimmt, ist nicht ganz einzusehen, warum er uns nicht in Frieden lässt. Es dürfte dem Pastor doch wohl kaum recht sein, dass das ganze Dorf wegen seiner Spukerei erfährt, dass er bei seinem Tod sturzbetrunken war!«
»Vieleicht wollte er ja irgendjemandem eine Botschaft überbringen«, schlug Deborah vor. »Wo sollen wir jetzt hingehen?«
»Oh, lass uns über das Feld des alten Daventry zur Straße und dann weiter zu Tinys und Bills Haus gehen. Ich würde gern etwas mit Tiny besprechen, und Tante Adela kann ihn bei dieser Gelegenheit direkt kennenlernen, und Bill auch. Sie werden schließlich den zweiten Weihnachtstag mit uns verbringen, also ist es nur gut, wenn Tante Adela jetzt schon weiß, mit wem sie es dann zu tun bekommt.«
»Tiny ist der Grundstücksverwalter«, erklärte Deborah. »Er arbeitet für uns und auch für das College. Er ist eine überaus nützliche Person, weil er hier in der Gegend jeden kennt und uns den meisten auch schon vorgestellt hat. Aber Bill, sein Cousin, ist viel netter.«
»Ja, Bill ist ein guter Kerl«, sagte Jonathan. »Aber ich glaube, du wirst sie beide mögen. Tiny müsste eigentlich ganz nach deinem Geschmack sein. Er war früher bei der indischen Polizei. Ihr werdet euch viel zu erzählen haben. Er kann mit ein paar erstaunlichen Geschichten aufwarten.«
Bei dem Haus, in dem Tiny und Bill wohnten, handelte es sich, wie sich herausstellte, um einen modernen Bungalow mit einem herrlichen Ausblick auf ein tiefes Tal. Tiny und Bill waren beide unterwegs, als die kleine Gruppe dort ankam, aber die Haushälterin meinte, sie würden bestimmt bald zurückkehren. Sie stellte ihnen Whisky und Sherry hin, scheuchte einen roten Setter, zwei Manx-Katzen und einen Bullterrier aus den Sesseln, in denen diese sich niedergelassen hatten, sagte zum zweiten Mal, dass Mr Fullalove und sein Cousin jeden Moment zurück sein müssten, und fügte dann noch die kryptische Bemerkung hinzu, dass das Dach der alten Mrs Yates kein Leck habe und noch nie eines gehabt habe, aber dass das eben typisch für die Iren sei. Dann ließ sie die Gäste allein.
»Ja, Tiny und Bill sind Junggesellen, die Glücklichen«, sagte Jonathan und lächelte Deborah an, die am heutigen Tag besonders schön aussah. »Sie haben an Mrs Dalby Whittier, ihrer Haushälterin, einen wahren Schatz gefunden. Oh ja, man muss immer ihren vollen Namen nennen. Das ist die einzige merkwürdige Verhaltensweise, die sie sich leistet. Aber ansonsten ist sie großartig. Tiny sagt, er wisse nicht, wie sie zurechtgekommen seien, bevor sie zu ihnen kam. Sie ist wie aus dem Nichts aufgetaucht und hat gefragt, ob sie Arbeit für sie hätten. Hat einfach an die Tür geklopft und gesagt, sie habe im Dorf gehört, dass sie eine Köchin und Haushälterin bräuchten. Seitdem arbeitet sie für die beiden. Es ist recht einsam hier oben, aber es scheint ihr nichts auszumachen, wenn sie immer mal wieder allein ist. Bill ist sowas wie ein Naturforscher – das sagt er zumindest über sich selbst – und ist oft nächtelang unterwegs, um Dachse zu beobachten oder sowas in der Richtung, und Tiny fährt manchmal in die Stadt und übernachtet dort. Aber sie zuckt nicht mal mit der Wimper. Was irgendwie merkwürdig ist, denn sie hat ihr ganzes Leben lang in London gewohnt, bevor sie hierhergekommen ist. Das hat sie den beiden jedenfalls so erzählt.«
»Was mag sie wohl dazu bewogen haben, London zu verlassen?«, fragte Mrs Bradley. Ihr Neffe hatte keine Zeit, ihr zu antworten, denn in diesem Moment fingen beide Hunde laut zu bellen an, eine der Katzen sprang aufs Fensterbrett und die andere auf den Tisch. Jonathan ging zum Fenster und öffnete es, und ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit einem wachsamen, dunklen Gesicht und kleinen, hellgrünen Augen, kletterte über die Fensterbank. Er schloss das Fenster, warf zunächst einen kurzen, prüfenden Blick auf seine Hosenbeine und trat dann mit einer Katze auf jeder Schulter und einer Hundeschnauze an jedem Knie in den Raum, um seine Gäste zu begrüßen.
»Runter mit dir, Mick. Runter, Deemster«, sagte er zu den Katzen. »Mach, dass du fortkommst, Lassie. Hau ab, Cripes«, fügte er an die Hunde gewandt hinzu. »Hallo, Bradley. Guten Morgen, Mrs Bradley.«
»Tante Adela, darf ich vorstellen, das ist Tiny Fullalove«, sagte Deborah. »Tiny, dies ist Jons Tante, Mrs Lestrange Bradley.«
»Ich bin immer ein wenig verdutzt, wenn ich daran erinnert werde, dass Deborah auch eine Mrs Bradley ist«, bemerkte ihre reptiliengesichtige Tante und bedachte Mr Fullalove mit einem scheinheiligen Grinsen. Er antwortete mit einer höflichen, nichtssagenden Bemerkung und schenkte ihnen Sherry ein.
Mrs Bradley musste zu ihrem Unbehagen feststellen, dass sie eine sofortige Abneigung gegen ihren Gastgeber gefasst hatte – ein Gefühl, von dem sie äußerst selten heimgesucht wurde. Es gab nur wenige Menschen, die sie nicht mochte, was auf ihren gut geschulten Verstand und ihr philosophisches Temperament zurückzuführen war. Darüber hinaus hatte eine lange Reihe scheußlich egozentrischer Patienten dafür gesorgt, dass sie den meisten ihrer Mitmenschen schon aus reinem Selbsterhaltungstrieb mit gutmütiger Toleranz begegnete. Aber im gegenwärtigen Fall revoltierten gleichsam sämtliche Zellen in ihrem Körper gegen etwas, das sie in Tiny Fullalove wahrzunehmen glaubte. Sie hatte dieses Gefühl auch früher schon ein- oder zweimal gehabt, und in diesen Fällen hatte sich ihr Instinkt ausnahmslos als richtig erwiesen. Einer der Männer, um die es damals gegangen war, hatte seine Frau vergiftet, wie Mrs Bradley sich jetzt erinnerte … Es war ein Mann gewesen, den alle außer ihr selbst äußerst charmant gefunden hatten. Selbst seine unglückselige Ehefrau hatte ihn angebetet. Er hatte sie ihres Geldes wegen vergiftet …
»Was hältst du von Tiny?«, fragte Deborah auf dem Heimweg. Sie war zusammen mit Mrs Bradley vorausgegangen. Jonathan hatte auf Bill warten wollen, den er in der Ferne entdeckt hatte, als dieser auf dem Heimweg ein Feld überquerte.
»Was hältst du denn von ihm?«, fragte Mrs Bradley zurück.
»Oh, das ist nicht fair! Ich habe dich zuerst gefragt.«
»Aber es ist ebenso wenig fair, mich zu fragen, was ich von einer Person halte, die ich gerade erst kennengelernt habe, nicht wahr?«
»Da bin ich aber erleichtert«, sagte Deborah zusammenhangslos.
»Weswegen?«
»Weil ich merke, dass du ihn nicht ausstehen kannst. Und ich kann ihn auch nicht ausstehen.«
»Gibt es einen Grund dafür?«
»Ja«, sagte Deborah, die plötzlich einen harten Zug um den Mund bekam. »Ich habe einen sehr guten Grund. Aber ich wage es nicht, Jon davon zu erzählen. Wie auch immer, es ist nur ein einziges Mal passiert, und es wird ganz gewiss nicht noch einmal passieren. Dafür habe ich gesorgt. Ich verachte Männer, die sich nicht beherrschen können, vor allem in seinem Alter.«
»Ah«, sagte Mrs Bradley und nickte. »Ich bin froh, dass du Jon nichts davon erzählt hast.«
»Warum sagst du das?«, fragte Deborah, die sich über Mrs Bradleys Tonfall wunderte.
»Es würde mir gar nicht gefallen, wenn man meinen Lieblingsneffen wegen Körperverletzung vor Gericht stellen würde. Jonathan ist nicht nur ein aufbrausender Mann, sondern auch ein sehr starker.«
»Ist es nicht seltsam, dass Männer andere Männer und Frauen andere Frauen mögen, die dann das jeweils andere Geschlecht nicht ausstehen kann?«, sinnierte Deborah. Mrs Bradley stimmte ihr zu. Sie wies jedoch darauf hin, dass es vorkommen konnte, dass Männer Frauen und Frauen Männer mochten, die das andere Geschlecht auf den ersten Blick durchschaut hatte, und dass auch das eine seltsame Sache sei.
»Und wie sieht es mit dem Cousin namens Bill aus?«, fragte sie. Deborah war auch diesmal sofort bereit, eine Lanze für Bill zu brechen.
»Er ist sehr nett, wie alle Bills«, sagte sie. »Ich habe ihm gesagt, dass ich für das Verhalten seines Cousins nicht viel übrighätte, und da meinte er, er würde dafür sorgen, dass Tiny sich in Zukunft ordentlich benimmt. Ich entgegnete daraufhin, er könne sich die Mühe sparen, da ich Tiny bereits selbst die Meinung gegeigt hätte, aber ich glaube, die beiden haben sich trotzdem deswegen gestritten. Bill ist ein ehemaliger Marineoffizier und hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. Und außerdem hatte Tiny ein blaues Auge, als Jon ihm am nächsten Tag begegnet ist. Er hat behauptet, er sei über einen der Hunde gestolpert, aber ich habe da so meine eigenen Vermutungen. Ah, hier kommt Jon. Lass uns warten, bis er uns eingeholt hat.«
Mrs Bradley interpretierte diese letzte Bemerkung als Hinweis, dass sie das Thema Tiny Fullalove auf sich beruhen lassen solle. Jonathan war gerannt, um sie einzuholen, und ging nun neben seiner Frau her. Das Gespräch wandte sich erneut den Fullalove-Cousins zu, auch wenn es sich diesmal um einen ganz anderen Aspekt drehte.
»Ich war gezwungen, beide Fullaloves auch für den ersten und nicht nur den zweiten Weihnachtsfeiertag einzuladen, Deb«, sagte Jonathan. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass du Tiny nicht leiden kannst, aber ich konnte ihn schlecht außen vor lassen.«
»Wie kommst du darauf, dass ich Tiny nicht mag?«, verlangte Deborah zu wissen. »Ich habe nie etwas in dieser Richtung gesagt.«
»Du hast eben einfach kein Pokergesicht, mein Schatz. Man sieht dir immer direkt an, was du denkst«, entgegnete ihr Gatte. »Jedenfalls haben beide die Einladung angenommen, für beide Tage, also musst du sie am ersten Feiertag zum Mittagessen und wahrscheinlich auch zum Abendessen ertragen, und am zweiten dann zum Tee und dem abendlichen Festmahl. Und dann ist da noch etwas sehr Ärgerliches: Sie wollen, dass wir ein paar Freunde von ihnen bei uns unterbringen. Es tut mir schrecklich leid. Aber sie haben in diesem Bungalow einfach nicht genug Platz für Besuch. Hallo! Was ist denn mit Worry los?«
»Ich glaube, er hat deinen Geist gesehen«, sagte Mrs Bradley und betrachtete den kleinen lebhaften Hund, der gerade in ihr Blickfeld gekommen war. »Das ist doch dasselbe Gatter wie eben, nicht wahr? Wem gehört denn übrigens dieser Worry?«
»Will North, dem Wildhüter«, antwortete Deborah. »Will muss hier irgendwo in der Nähe sein. Worry ist wegen irgendetwas ganz mitgenommen. Vielleicht hat er sich ja einen Dorn in die Pfote getreten?«
Sie rannte den Hang hinunter. Der Terrier stand etwa zehn Meter von dem Gatter entfernt und bellte entsetzlich. Deborah konnte ihm noch so gut zureden, er weigerte sich, auch nur einen Schritt weiterzugehen. In diesem Moment trat Will North, der Wildhüter, hinzu und sprach mit dem Hund. Der stupste ihn mit der Schnauze gegen das Bein und erklärte ihm dann laut winselnd, was genau ihm solche Angst eingejagt hatte.
»Hallo, Will«, sagte Jonathan. »Ich möchte Ihnen meine Tante vorstellen, Mrs Lestrange Bradley. Sie ist eine Meisterschützin und auch eine hervorragende Reiterin.«
»Ich habe von Ihnen gehört, Ma’am«, sagte der großgewachsene Mann. »Ich besitze ein Buch, das Sie geschrieben haben. Psychoneurosen in der Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts. Tut mir leid, wie Worry sich gerade aufführt. Normalerweise ist er nicht so albern.«
»Er hat den Geist gesehen«, sagte Jonathan.
»Oh ja, es scheint tatsächlich so, als hätte er einen Geist gesehen«, sagte Mrs Bradley. Der Wildhüter zog höflich grüßend seine Kappe und ging dann weiter den Hügel hinauf. Der Hund folgte ihm stillschweigend auf den Fersen. Er hatte offenbar keine Angst mehr vor dem Gatter und schritt zusammen mit seinem Herrchen hindurch.
»Der Geist ist wieder verschwunden«, sagte Jonathan. »Warum wohl?«
Mrs Bradley sah zu, wie der Mann und sein Hund den Hügel erklommen, bis sich ihre Silhouetten oben auf dem Kamm vor dem Himmel abzeichneten. Dann folgte sie Jonathan und Deborah, die bereits ein ganzes Stück vorausgegangen waren.
Als sie sich noch einmal umdrehte, fuhr ihr plötzlich ein Schock durch die Glieder – wenn auch nur sehr kurz. Ein Mann lehnte am Geistergatter – ein Mann, bei dem es sich ganz gewiss nicht um den Wildhüter handelte. Wer auch immer er war, er richtete sich sofort auf, als er sah, dass sie zu ihm zurückschaute, drehte sich um und ging in Richtung des Bungalows davon.
Zweites Kapitel
(…) und wenn die Nacht
Böses bereitet, oder es verbarg,
Verscheuch’s, wie jetzt das Licht das Dunkel scheuchet.
John Milton, Das verlorene Paradies
Am nächsten Tag wurde das Wetter kälter, und Deborah zog es vor, den Nachmittag von Heiligabend vor dem Kamin zu verbringen, während Mrs Bradley und Jonathan das Tageslicht nutzten und durch die umliegenden Hügel stapften. Mrs Bradley war erstaunt, welch weite Strecken man zurücklegen konnte, ohne jemals das Anwesen zu verlassen.
»Natürlich gehört ein ziemlich großer Teil davon nicht mir, sondern dem College«, erklärte Jonathan. »Aber die beiden Teile wurden erst beim jetzigen Verkauf voneinander getrennt, und ich habe die Erlaubnis zu gehen, wohin ich will. Nicht schlecht, das alles, oder? Ein Bursche namens Daventry bebaut das Land, das du da unten sieht. Ich habe ihn auch schon kennengelernt. Er scheint in Ordnung zu sein. Seine Frau züchtet Boxer.«
»Züchtet was? – Oh, eine Art Bulldogge.«
»Ja. Ich schenke Deb einen Welpen zu Weihnachten. Sie weiß noch nichts davon. Ich hoffe, er wird ihr gefallen. Das ist eine vernünftige, saubere und sehr gesellige Rasse, glaube ich, und es sind auch gute Wachhunde. Ich habe den Welpen noch sehr jung gekauft, weil ich möchte, dass er bei uns heranwächst und lernt, sich gut mit Rhu, meinem irischen Wolfshund, zu vertragen. Aber er muss erst noch entwöhnt werden. Sally kümmert sich im Moment um Rhu, aber ich gehe ihn nach dem Tee mit dem Auto holen. Sie wohnt nur etwa fünfundzwanzig Kilometer von uns entfernt. Wir hoffen, dass Sally uns im neuen Jahr mal übers Wochenende besuchen kommt. Sie freut sich sehr darauf, dich wiederzusehen.«
»Wie willst du den Welpen nennen?«, fragte Mrs Bradley, ohne irgendwelche Zusagen für das neue Jahr zu machen.
»Oh, Deb soll ihm einen Namen geben. Ich werde ihr vorschlagen, ihn Bob Fitzsimmons zu nennen, aber ich glaube nicht, dass sie damit einverstanden sein wird. Guten Morgen, Ed!«
Auf dem durchfurchten Weg kam ihnen ein Fuhrmann entgegen, der einen schweren Wagen lenkte. Etwa drei Meter vor dem Wagen landete plötzlich mit einem lauten Kreischen ein Eichelhäher, stakste dann mit absurd komischen Schritten seitwärts, krächzte den Fuhrmann an, flog auf und landete taumelnd auf dessen Knie. Dort schlug er balancierend seine Flügel zusammen, als wollte er den Mann zur Eile antreiben.
»Ah, da bist du ja, alter Junge«, sagte der Fuhrmann. Der Vogel schimpfte ausgiebig mit ihm.
»Merkwürdig«, sagte Jonathan. »Die Vögel kommen einfach alle zu diesem Mann geflogen. Er heißt Ed Brown und arbeitet für Daventry. Die alten Frauen im Dorf schwören, er sei ein Wechselbalg, und wenn man ihn sich so anschaut, dann möchte man das fast glauben, nicht wahr? Er erinnert mich an einen Satyr oder vielleicht auch an Puck aus dem Sommernachtstraum – nur, dass Ed hier sich anständig zu benehmen weiß. Es gibt nur eine einzige Person, die er nicht leiden kann, wenn man den Gerüchten Glauben schenken darf – und da es sich um ein Gerücht aus dem Pub handelt, kann man das wahrscheinlich! –, und das ist unser Verwalter, Tiny Fullalove. Anscheinend sind Ed und Tiny sich während des Krieges in Indien über den Weg gelaufen, und Ed gefiel es nicht, wie Tiny mit den Maultieren der Armee umgegangen ist.«
»Wie seltsam, dass die beiden sich in Indien begegnet sind, wo doch Ed Brown wahrscheinlich nur während des Krieges dort war«, bemerkte Mrs Bradley. »Und darüber hinaus war Mr Fullalove bei der Polizei und Brown bei der Armee.«
»Das stimmt. Es war Zufall. Ihre Begegnung war eben eins von diesen unerklärlichen Dingen, die manchmal passieren. Die Fullaloves sind eigentlich gar nicht von hier. Der Familienname stammt aus Yorkshire, glaube ich. Tiny kannte den früheren Besitzer dieses Anwesens, und als er hörte, dass hier eine Stelle frei wurde, hat er sich beworben. Er bekam die Stelle, packte in Indien seine Sachen zusammen, wahrscheinlich, weil er wusste, dass er dort keine Zukunft hatte, und kam hierher. Er war erst ein paar Jahre als Verwalter tätig gewesen, als das Anwesen verkauft wurde. Der frühere Besitzer ist irgendwo in den Süden Frankreichs gezogen und hat es zu einer der Bedingungen des Verkaufs gemacht, dass das College und ich Tiny auch weiterhin beschäftigen. Ist ja auch in Ordnung. Er leistet ziemlich gute Arbeit. Aber Miss Hughes, die Leiterin des Colleges, mag ihn nicht. Und im Gegensatz zu Ed geht sie auch nicht besonders taktvoll mit ihrer Abneigung um. Sie sagt immer klar und deutlich, was sie denkt, und schmückt das Ganze dann noch mit ein paar keltischen Flüchen aus. Die Frau ist so walisisch wie Llanfihangel. Ich liebe sie.«
»Ach, es ist ein College für Frauen? Das hatte ich gar nicht mitbekommen.«
»Ja. Du solltest Miss Hughes bitten, dir alles darüber zu erzählen. Sie kommt zum Weihnachtsessen. Irgendwie ärgerlich, dass ich die Fullaloves auch einladen musste, aber das ließ sich nicht verhindern. Man muss hier auf dem Land halt den Kumpel spielen. Und das College macht nur eine Woche Ferien, deshalb fährt Miss Hughes gar nicht erst nach Hause und bleibt stattdessen hier, um sich auf das nächste Semester vorzubereiten. Es ist eine von diesen Berufsfachschulen, die einen besonders dringlichen Bedarf abdecken sollen, weißt du? Wo sie die Leute innerhalb von dreizehn Monaten ausbilden. Das muss der wahre Albtraum für das Kollegium sein. Komm, gehen wir rein und holen wir den Welpen für Deb ab.«
Die Gäste, um deren Unterbringung die Fullaloves gebeten hatten, trafen am Nachmittag von Heiligabend ein. Es handelte sich um zwei Männer in Jonathans Alter, von denen der eine den eigenen Angaben nach Archäologe und der andere Naturforscher war. Gregory Mansell erklärte sich als großer Bewunderer der Bronzezeit in Skandinavien und Dänemark, während Miles Obury die Gewohnheiten britischer Säugetiere erforschte, wobei er sich insbesondere für die der Dachse interessierte. Im vergangenen Sommer war er zusammen mit Bill Fullalove nachts durch die Wälder gestreift und hatte versucht, die Tiere zu fotografieren. Die beiden Männer hatten sich zu diesem Zweck sogar eine Beobachtungsplattform in einem Baum gebaut. Die Besucher nahmen Mrs Bradley mit in den Wald, um ihr die Plattform zu zeigen, und Obury erzählte ihr, dass das kleine Wäldchen wegen der Geisterlegende »The Groaning Spinney« – das ächzende Dickicht – genannt werde.
Obury und Mansell waren angenehme und gesellige Leute, und so wurde es ein netter Abend. Kurz nach halb elf gingen Deborah und Mrs Bradley zu Bett, und Obury verkündete, er wolle noch einmal in den Wald gehen, um zu schauen, was seine Dachse so trieben. Mansell lachte und meinte, da komme er gerne mit. Vielleicht treibe der Geist ja in dieser Nacht sein Unwesen am oberen Ende des Wäldchens. Die beiden gönnten sich einen Schluck aus Jonathans Weihnachtswhiskyflasche und machten sich dann in ausgelassener Stimmung zu dem kleinen Wald auf, der sich in Richtung des Bungalows der Fullaloves den Hügel hinaufzog. Mansell war besonders fröhlich. Er glaubte nicht an die Existenz von Geistern und hegte daher nicht die geringste Befürchtung, einem zu begegnen.
Jonathan kam nicht mit. Deborah hatte nämlich in ihrem Haushalt die großzügige Sitte eingeführt, dem Personal über Weihnachten freizugeben, und zwar von der Teestunde am Heiligabend an bis um zehn Uhr morgens am Tag nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag. Und Jonathan wollte seine Frau in diesem einsamen, abgelegenen Haus auf keinen Fall allein lassen. Dass Deborah sich dank Mrs Bradleys Anwesenheit auch ohne ihn vollkommen sicher gefühlt hätte, war ihm dabei nicht bewusst.
Er zündete sich eine Zigarette an, schürte das Feuer, und ging dann in die Küche, um für den Fall, dass seine Gäste bei ihrer Rückkehr Hunger haben sollten, ein paar Würstchen im Schlafrock und mehrere Mince Pies zu holen. Danach setzte er sich in einen Sessel, nahm ein Buch zur Hand und vergaß die Zeit. Um Viertel nach elf klopfte jemand leise ans Fenster. Jonathan erschrak nicht im Geringsten. Er war es schon seit Jahren (insbesondere während der Zeit vor seiner Heirat) gewöhnt, exzentrische oder in nicht ganz legale Vorgänge verwickelte Freunde durch alle möglichen Arten von Eingängen an alle möglichen Arten von Orten zu schleusen – Schulschlafsäle, Studentenzimmer, Mietwohnungen, verschiedenartigste befestigte Stellungen in verschiedensten Teilen der Welt und einmal auch – allen Bestimmungen der Seebehörde zum Trotz – in ein U-Boot. Also trat er jetzt einfach nur seelenruhig ans Fenster und fragte, wer dort sei.
Es antwortete die wohlbekannte und beruhigende Stimme von Bill Fullalove.
»Ich dachte, ich klopfe lieber nicht an der Tür, um die werte Gattin nicht zu stören.«
»Schon gut«, sagte Jonathan. »Ich komme nach vorn und lasse Sie rein. Gehen Sie ums Haus rum nach vorne, ja? … Also, was können wir für Sie tun?«
»Oh, na ja, eigentlich nichts. Tiny und ich sind plötzlich ein bisschen in Panik geraten, weil wir uns nicht mehr sicher waren, ob wir auch richtig verstanden haben, wann wir herkommen sollen. Sie können doch sicher nicht wollen, dass wir morgen zum Mittag- und Abendessen kommen und dann auch noch zum Tee und Abendessen am zweiten Weihnachtstag, oder?«
»Natürlich wollen wir das, Sie alter Esel! Warum denn nicht, um alles in der Welt?«
»Na ja –« Bill machte ein verlegenes Gesicht. »Ehrlich gesagt erzählt man sich überall im Dorf, dass Sie Ihrer Köchin und auch allen Dienstmädchen über die Weihnachtsfeiertage freigegeben haben, und da haben wir uns gefragt … besonders, weil wir Ihnen ja auch noch Obury und Mansell aufgebürdet haben …«
»Ob Sie das Geschirr spülen müssen? Stimmt, das müssen Sie. Also wenn Sie das abschreckt, dann sagen Sie lieber gleich jetzt Bescheid!«
»Du liebe Güte, nein! Nur –« Er starrte die drei leeren Gläser an.
»Ja, Mansell und Obury sind in Groaning Spinney auf Geisterjagd gegangen«, erklärte Jonathan und grinste.
»Aber heute Nacht ist es da so duster, dass man nicht mal mehr die Hand vor Augen sieht«, sagte Bill. »Sogar unter freiem Himmel. Ich kenne den Weg wie meine Westentasche und habe trotzdem eine Taschenlampe dabei. Und außerdem glaube ich, dass es bald schneien wird. Na, wie auch immer, dann geh ich mal wieder los.« Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Dekanter mit dem Whisky. Jonathan – ein willensstarker Mann, der nicht leicht zu beeinflussen war – nahm den Dekanter, verstaute ihn in der Anrichte und holte eine Flasche Gin daraus hervor. Mit einem neuerlichen Grinsen stellte er die Flasche vor seinen Gast hin. Bill lachte und bediente sich.
»Sie bekommen morgen Abend ein Glas – und nur eins – und dann am zweiten Weihnachtsfeiertag auch nochmal«, erklärte Jonathan. »Das ist die einzige Flasche mit schottischem Whisky, die ich auftreiben konnte, und ich war bereits gezwungen, sie zu öffnen.«
Bill trank seinen Gin aus und ging. Er war schon seit einer halben Stunde fort, als Mansell und Obury zurückkehrten. Sie hatten Zeichen und Wunder zu berichten. Ihre Erzählung wurde allerdings immer wieder davon unterbrochen, dass sie sich heißhungrig die Würstchen im Schlafrock in den Mund stopften.
»Nun ja«, sagte Jonathan in dem Versuch, die wirre Geschichte zu verstehen. »Schließlich hat ihn hier in der Gegend jeder schon einmal gesehen, warum also nicht auch Sie?«
»Aber wir können ihn unmöglich gesehen haben!«, entgegnete Mansell. »Wenn der Mond geschienen hätte, dann hätte ich vielleicht noch denken können, dass mir meine Augen einen Streich spielen, aber es war stockduster, abgesehen von diesem merkwürdigen Licht, das auf das totenblasse Gesicht fiel. Ich bin überzeugt, dass uns da jemand einen Streich gespielt hat.«
»Dann muss es Bill Fullalove gewesen sein«, sagte Jonathan. »Er hat hier kurz vorbeigeschaut, während Sie unterwegs waren. Sie können ihn morgen ja zur Rede stellen. Er kommt zum Abendessen.«
»Wann war er denn hier?«, fragte Mansell.
»Oh, gegen elf, glaube ich.«
»Und wann ist er wieder gegangen?«
»Auch etwa um diese Zeit. Er war kaum länger als zehn Minuten hier, würde ich sagen.«
»Dann muss es Bill gewesen sein«, sagte Mansell.
»Unsinn!«, widersprach Obury entschieden. »Es war der Geist. Ich lasse mir doch meinen Spuk nicht verderben!«
Mrs Bradley, deren französischer Koch es ihr zu Hause nie erlaubte, selbst etwas zu kochen, bat um Erlaubnis, bei der Zubereitung des weihnachtlichen Festmahls helfen zu dürfen. Sie und ihr Neffe hatten die Küche für sich. Deborah, die zunächst hartnäckig darauf pochen wollte, dass ihr von Rechts wegen die Rolle der Hausfrau zustand, wurde von ihrem Mann freundlich aber bestimmt des Raumes verwiesen. Sie dürfe sich nur unter Strafe wieder sehen lassen, meinte er.
Also ging sie zur Kirche. Den neuen Welpen wollte sie bei seiner Mutter auf dem Bauernhof zurücklassen, der auf ihrem Weg lag, damit man sich dort bis zu seiner Entwöhnung weiterhin um ihn kümmern konnte. Obury und Mansell schürten das Feuer im Salon, machten es sich gemütlich und genossen einen herrlich faulen Weihnachtsmorgen. Sie hatten Deborah angeboten, sie in die Kirche zu begleiten, und waren sehr erleichtert, als sie einfach nur gelacht hatte. Die beiden Gäste sahen ihr vom Fenster aus zu, bis sie an der Stelle, an der die gepflasterte Auffahrt in den Feldweg überging, dem hochgewachsenen Wildhüter Will North begegnete und ihm den Welpen überreichte. Daraufhin seufzten sie genüsslich und ließen sich zu beiden Seiten des Kamins in zwei tiefe Sessel fallen.
»Würden Sie denn in Bill Fullalove den Geist wiederkennen, falls es sich herausstellt, dass er es tatsächlich war?«, fragte Jonathan, der kurz den Kopf in den Salon gesteckt hatte, um zu schauen, ob ihnen irgendetwas fehlte. Mansell und Obury waren sich keineswegs sicher, dass ihnen das gelingen würde.
»Wir kennen Bill natürlich beide schon eine ganze Weile«, sagte Mansell. »Aber dieses abscheuliche Gesicht, das wir da gestern Nacht gesehen haben, sah irgendwie vollkommen unwirklich aus. Was meinst du, Obury?«
»Oh, ich gebe dir recht. Ob es nun Bill war oder nicht – ich würde es nicht wiedererkennen. Aber ich bin nach wie vor überzeugt, dass es der Geist war. Und selbst wenn es Bill war, dann könnte ich das nicht beschwören, obwohl wir ja letzten Sommer häufig zusammen die Dachse beobachtet haben. Dazu war das Gesicht einfach zu weit weg. Und dann wurde es auch noch von diesem grausigen Licht beschienen.«
Sie unterhielten sich über den Geist, bis Jonathan wieder in der Küche gebraucht wurde und Mansell das Thema langsam langweilig fand und einschlief. Obury spielte mit der Katze, rauchte, aß Pralinen, las einen Roman und schaffte es, sich die Zeit zu vertreiben, bis der geschäftige Jonathan mit zerzausten dunklen Locken und einer riesigen weißen Schürze um die Taille wieder in den Raum geeilt kam, dieses Mal, um seinen Gästen Getränke zu bringen.
Obury weckte Mansell auf, und sie waren gerade im Begriff, sich zu bedienen, als die Fullaloves an der Haustür erschienen. Fast unmittelbar darauf kehrte Deborah aus der Kirche zurück und brachte Miss Hughes mit, die Leiterin des Colleges. Jonathan und Deborah hatten sie zum Abendessen eingeladen und ihr gesagt, sie könne auch darüber hinaus bleiben, so lange sie wollte.
Miss Hughes stellte sich als rothaarige, fünfundvierzigjährige Frau mit haselnussbraunen Augen heraus. Sie war bereits zwanzig Jahre erfolgreich als Schulleiterin tätig, auch wenn ihre ersten Jahre als Lehrerin anscheinend die Hölle gewesen waren. Sie war eine hochintelligente und willensstarke Frau, wobei ihre Intelligenz sie vor Starrköpfigkeit bewahrte. Die wenigen Freunde, die sie hatte, waren Freunde fürs Leben, deren Zuneigung und Treue nie ins Wanken geriet. Feinde hatte sie merkwürdigerweise keine. Sie war das dritte Kind einer Familie mit zwölf Kindern, und das Leben in einem derart großen Haushalt hatte sie zu einer wahren Improvisationskünstlerin gemacht. Ihre Fantasie und Warmherzigkeit hatte sie hingegen ihrer walisischen Herkunft zu verdanken. Sie war jedoch auch eine sehr praktisch veranlagte Person, so wie es viele walisische Frauen notgedrungen schon immer waren, und die Leitung eines Colleges mit all seinen Problemen – seien es nun Probleme der Disziplin, der Verpflegung, der Dienerschaft, der Handwerker, dem Umgang mit dem Bildungsausschuss und dem Ministerium oder all jene internen Probleme, die zu zahlreich und teilweise zu unwichtig waren, um sie beim Namen zu nennen – war ihr zur zweiten Natur geworden.
Es war ein großer Glücksfall für sie gewesen, dass sie diesen Ort für das College gefunden hatte. Zwar waren die Cotswolds nicht dasselbe wie ihre heimischen walisischen Hügel, aber bei ihrem Anblick wurde ihr dennoch warm ums Herz, und das versöhnte sie mit dem Opfer, das sie hatte bringen müssen, indem sie das Tal ihrer Kindheit verließ.
Sie hatte es als eine ihrer ersten Pflichten angesehen, die Bewohner des alten Herrenhauses aufzusuchen, und Jonathan sofort sympathisch gefunden. Sie liebte Deborah wie eine Tochter, und als sie hörte, dass Jonathans reizende Frau für kurze Zeit an der berühmten Berufsfachschule von Cartaret Englisch unterrichtet hatte, war ihre Freundschaft endgültig besiegelt. Daraus folgte dann auch ganz selbstverständlich, dass Miss Hughes die Weihnachtstage bei den Bradleys verbringen würde, statt in einsamer Pracht in dem riesigen Haus auf dem gegenüberliegenden Hügel zu verweilen.
»Ein Geist?«, fragte Miss Hughes, nachdem sie mit großem Interesse einer Unterhaltung zwischen Mansell und Bill Fullalove gelauscht hatte, in der Mansell Bill ermahnt hatte, er brauche gar nicht erst so zu tun, als sei er nicht der Geist gewesen. »Ich wusste gar nicht, dass es hier in so unmittelbarer Nähe einen Geist gibt.«
»Tja, aber genau so ist es«, sagte Jonathan. »Seine Existenz ist angeblich durch zahlreiche Zeugen belegt. Und es ist auch ein sehr artiger Geist. Er kommt nie näher an unser Haus heran als bis zu diesem Gatter, über dem Mansell und Obury ihn haben hängen sehen. Ich habe einmal ein wenig über ihn geforscht, seit wir hierhergezogen sind. Es handelt sich um Hochwürden Horatius Pile, der dieser Gemeinde von 1801 bis 1857 als Hirte diente. Aber niemand scheint so ganz genau zu wissen, wie es dazu kam, dass man ihn tot über dem Gatter hängend fand. Hier, trinken Sie noch ein bisschen Sherry. Tante Adela hat ihn mitgebracht, deshalb weiß ich, dass er etwas taugt.«
»Na, ich weiß nicht, was Obury oder Mansell