Das Geheimnis des Dr. Alzheimer - Jørn Precht - E-Book + Hörbuch

Das Geheimnis des Dr. Alzheimer E-Book und Hörbuch

Jørn Precht

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Beschreibung

Frankfurt am Main, 1901: Der verarmte Krankenpfleger Karl Walz träumt davon, Arzt zu werden und die geheimnisvolle neue Krankheit zu enträtseln, die das Gedächtnis seiner erst 50-jährigen Ziehmutter mehr und mehr zerstört. Er erhält die Chance, als Assistent des Psychiaters und Gerichtsgutachters Dr. Alois Alzheimer zu arbeiten, doch der verschwiegene Lehrmeister wird ihm dabei immer unheimlicher. Was hat der geheimnisvolle Hirnforscher zu verbergen? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

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Seitenzahl: 288

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Sprecher:Jørn Precht

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Jørn Precht

Das Geheimnis des Dr. Alzheimer

Roman

Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur Lesen & Hören, Anna Mechler, Berlin

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung von: © Fotografie und Compositing:

Marc Ferdinand Körner | emefka.bewegtbildmanufaktur

Bearbeitung: Marcel Krämer

Darsteller: Danijel Marsanic, Thomas Goersch

ISBN 978-3-8392-5540-7

Bemerkung

frei nach einem Drehbuch von

HARDY MARTINS, JØRN PRECHT

und BERND SCHWAMM

Dramatis Personae:

KARL WALZ

* 1. Februar 1881 in Frankfurt Sachsenhausen

Assistent Dr. Alzheimers

DR. ALOIS ALZHEIMER

* 14. Juni 1864 in Marktbreit (Unterfranken)

Nervenarzt, Neurologe, Psychiater, Neuropathologe und Oberarzt an der städtischen Irrenanstalt in Frankfurt

AUGUSTE DETER, geborene Höhmann

* 16. Mai 1850 in Kassel

Hausfrau, erste verbürgte Alzheimer-Patientin

WILHELMINE »MINA« GEHWEILER, geborene Kocher

* 31. Mai 1877 in Heidelberg

Hausfrau, vormals Krankenschwester

DR. HERMANN PAUL NITSCHE

* 25. November 1876 in Colditz, Sachsen

Assistenz- und Abteilungsarzt in der Irrenanstalt Frankfurt

DR. LEOPOLD LAQUER

* 9. März 1957 in Namslau (Schlesien)

Nervenarzt und Kinder-Psychiater

DR. ADOLF ALBRECHT FRIEDLÄNDER

* 8. August 1870 in Dornbach bei Wien

Assistenzarzt Professor Emil Siolis

PROF. EMIL SIOLI

* 29. Juli 1852 auf Gut Lieskau bei Halle an der Saale

Psychiater und Direktor der Anstalt für Irre und Epileptiker in Frankfurt am Main

OSKAR MÄDER

* 16. April 1865 in Bremen

Vagabund

GRETE QUILLING

* 1. Mai 1856 in Bad Nauheim

Prostituierte

MANFRED »FREDDY« WEIGERT

* 29. Dezember 1892 in Offenbach

Anstaltsinsasse mit Down-Syndrom

KARL DETER

* 27. November 1846 in Neustadt an der Dosse, Kreis Ruppin

Eisenbahn-Kanzlist

EHRENTRAUD STADLBAUER

* 18. Oktober 1845 in Landau in der Pfalz

Schwester Oberin in der Anstalt für Irre und Epileptiker in Frankfurt am Main

LUDO SINZHEIMER

* 12. Mai 1880 in Bad Nauheim

Oberwachtmeister, Karls einstiger Verbündeter im Kinderheim

Prolog

Die Irrenanstalt sah bedrohlich aus. Ungewöhnlich früh hatte an diesem nebligen Herbstabend des Jahres 1888 die Dunkelheit eingesetzt. Auf den siebenjährigen Jungen wirkten die leuchtenden Fenster des hohen Gebäudes, auf das er zuging, wie riesenhafte Augen. Dennoch zog der Knabe seine erwachsene Begleiterin aufgeregt an der linken Hand voran. Mit der rechten umklammerte er nicht minder fest eine Tüte mit Gebäck. Der Kleine hatte es eilig. Selbst als aus dem Inneren des Gebäudes furchterregende Schreie zu hören waren, zögerte er nur kurz. Er wusste, er durfte jetzt keiner Angst nachgeben, denn allein in den Mauern, die da vor ihm aufragten, konnte er sie endlich, endlich wiedersehen. Die Person, nach der er sich drei endlos wirkende Wochen lang so schrecklich gesehnt hatte.

»Geduld, Karl«, kam es von der Dame neben ihm, »deine Mutter kann dir von dort drinnen nicht fortlaufen.«

Da mochte sie wohl recht haben, es erwies sich jedenfalls bereits als äußerst schwierig, das Gebäude überhaupt zu betreten. Erst nach längerer Überzeugungsarbeit durch eine Sprechluke hindurch schloss ihnen ein alt und müde ausse­hender Wärter die Anstaltstüren auf und ließ sie ein.

Der greise Pfleger führte sie wortlos zu einer ungewöhnlich hoch gewachsenen Krankenschwester. Diese unterhielt sich gerade mit einer jüngeren Kollegin. »Nichts kann man diesem neuen Direktor recht machen«, lästerte sie. »Jahrelang ging hier alles gut – und er will alles ändern. Sioli – was ist das überhaupt für ein Name?«

Da bemerkte sie die beiden Besucher und warf ihnen einen strengen Blick zu. »Was wollen Sie denn hier?«

»Mein Name ist Auguste Deter«, erklärte Karls Begleiterin mit selbstbewusster Stimme, »ich bin die Nachbarin von Frau Walz. Sie ist die Mutter des Knaben hier.«

Die Schwester blickte feindselig in das Gesicht der Dame vor ihr: Diese Auguste Deter mochte Ende 30 sein, hatte ihr kastanienbraunes Haar hochgesteckt und einen wachen Blick.

Der kleine Karl hatte in den letzten Monaten ein tiefes Ver­trauen zu der neuen Nachbarin gefasst. Sein trunksüchtiger Vater hatte nach seinem Tod vor einem Jahr die Mutter und den Jungen völlig mittellos hinterlassen, Spielschulden, hieß es. Ihre Wohnung in der Wallstraße 18 im Frankfurter Stadt­teil Sachsenhausen hatten sie Anfang des Jahres aufgeben müssen – und es war allein ihrer Nachmieterin Auguste Deter zu verdanken, dass sie nicht obdachlos geworden waren. Sie hatte den Vermieter, den Farbenhändler Georg Hagelauer, schon im Vorfeld ihres Einzugs überredet, Mutter und Sohn statt der zu teuren Wohnung im ersten Stock ein winziges Zimmer im Keller zur Verfügung zu stellen. Doch dann war Karls Mutter immer kranker und unheimlicher geworden, hatte trotz ihrer jungen Jahre immer öfter darüber geklagt, dass sie schlecht sehe, ihr alles vor Augen verschwimme – und am Ende nur noch geweint und getobt. Schließlich hatten zwei unheimliche Männer die rasende junge Frau abgeholt, und ihr kleiner Sohn war zunächst bei den Deters unterge­kommen. Herr Deter war aber alles andere als begeistert gewesen, dass der Sohn eines Rauf- und Trunkenbolds mit ihrer 14-jährigen Tochter Thekla aufwachsen sollte. So war der kleine Karl Walz nach einer Woche ins Heim gekommen, nur noch am Wochenende holte Auguste ihn ab. Die schrecklichen Tage im Kinderheim, wo er sich gegen Schläge des brutalen Heimaufsehers wehren musste, überstand der Knabe in sehnender Erwartung der Sonntage bei den Deters. Und jedes Mal bettelte er Auguste an, mit ihm die Mutter im Irrenhaus zu besuchen.

Heute endlich war es so weit. Erwartungsvoll sah er die große Krankenschwester an. Da wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt: Ein dürrer Mann in einem zerfledderten und verschmierten Leinennachthemd kam von einer Treppe aus dem Untergeschoss heraufgerannt und rüttelte hysterisch an der Klinke der Ausgangstür. Scheinbar aus dem Nichts tauch­ten zwei Pfleger auf und griffen ihn an. Vor Anstrengung keuchend, versuchten sie, dem tobenden Mann eine Zwangs­jacke anzulegen. Der kleine Karl war sofort hellwach und aufmerksam – genau so, wie er es bei dem Wärter im Kinder­heim immer war – und wie damals, wenn sein Vater wieder einmal zornig geworden war. Der Junge hatte gelernt, vor­sichtig zu sein, ließ die Kämpfenden nicht aus den Augen. Ihm fiel auf, dass die beiden Wärter ähnliche Arbeitskleidung anhatten wie die Männer, die vor drei Wochen seine Mutter mitgenommen hatten. Schließlich wurde dem Tobsüchtigen die Zwangsjacke angelegt, dem Mann blieb nur noch hilfloses Zucken. Die Pfleger zerrten den winselnden Insassen wie ein erlegtes Tier die Treppe zum Untergeschoss hinunter.

»Das hier ist kein Ort für ein Kind«, zürnte derweil die Schwester mit Auguste. »Sehen es ja wohl selbst!«

»Er möchte doch nur einmal seine Mutter wiedersehen«, warf Karls Nachbarin ein. »Steht es denn so schlecht um sie?«

»Sie ist da, wo die Kollegen den Mann hinbringen. Und dort darf sie niemand besuchen«, erwiderte die Schwester zu Karls großem Entsetzen. »Gehen Sie jetzt!«

Auguste erklärte der Schwester, der Knabe habe seiner Mutter Plätzchen gebacken, fragte, ob sie ihr die nicht wenigstens zukommen lassen könne. Doch Karl hatte genug gehört. Nachdem die Schwester die von Auguste gereichte Gebäcktüte angesehen hatte wie einen Haufen Unrat und dann etwas auf einen Zettel kritzelte, schnappte sich der Junge heimlich seine Plätzchen vom Tisch und schlich davon. Er hörte die Schwester noch zu Auguste sagen »Unterschrei­ben Sie hier!«, da war er auch schon jene Treppe hinunterge­laufen, über welche die Pfleger mit dem Tobsüchtigen verschwunden waren.

Unten erwartete den kleinen Karl ein dunkler, modrig rie­chender Steingang, der rechts und links von schweren Eisen­türen gesäumt war. Er erschrak, als plötzlich eine Hand nach seinem Hosenbein griff. Am Boden in der Ecke kauerte ein junger Mann mit zerzaustem Haar, das in alle Richtungen abstand. Er hatte verschmiertes Papier unter dem Arm und zeigte Karl irre kichernd eine offene Tasche. Im Zwielicht konnte der Junge nicht erkennen, was sich darin befand, es stank jedoch bestialisch. Weiter hinten im Gang stand eine Tür offen. Licht fiel heraus. Karl vermutete dort die Pfleger und eilte in diese Richtung. Dafür musste er an einem ausge­mergelten nackten Mann vorbei, der vor sich hin heulend auf einem zerrissenen Strohsack lag und Karl schimpfend hinterherspuckte. Die Leute nannten diesen unheimlichen Ort »Affenstein«. Inzwischen ahnte der Junge, weshalb. Karl passierte die Türen, hinter denen ebenfalls gejammert und geschrien wurde. Je näher er dem Licht am Ende des Gangs kam, desto besser sah er, dass der Boden mit Essensresten und Schlimmerem verschmiert war.

Der Knabe kam an der offen stehenden Eisentür an und linste hinein. Es stank wie in einem Viehstall, am Boden lag Stroh – und die Zwangsjacke. Er wurde Zeuge, wie die beiden Wärter versuchten, den Tobsüchtigen an die Wand zu ketten. Dieses Schicksal teilten bereits mehrere Personen in dem stinken­den Kellerverlies. Und schließlich entdeckte Karl eine junge Frau in Lumpen, deren wirre Haare ihr ins Gesicht hingen. Er stöhnte auf – seine Mutter! Ungläubig ging er langsam auf sie zu. Doch als das irr wirkende Gesicht der jungen Frau frei von Haaren war und sie den Jungen bemerkt hatte, versuchte sie kreischend auf Karl loszugehen. Er ließ vor Schreck die Plätz­chen ins schmutzige Stroh fallen. Im letzten Moment wurde die Rasende von ihren Ketten zurückgehalten.

»Mutter«, rief Karl in tiefster Verzweiflung.

Die Krankenschwester und Auguste kamen herangestürmt, die Plätzchen zertretend. Auguste erfasste die Lage mit Entsetzen, schnappte sich den Jungen rasch, nahm ihn auf den Arm.

»Sofort hinaus mit dem Kind!«, fauchte die Schwester.

Lärm wie in einem Affenhaus folgte als Antwort der Eingesperrten. Schreien, Heulen, Brüllen. Grob zerrte die Schwester Auguste und deren Nachbarsjungen aus der Zelle. Karl fühlte sich wie in einem Albtraum. Tränen rannen über sein Gesicht, und er schluchzte verzweifelt, als er über die Schulter ein letztes Mal auf seine Mutter sah. In deren Gesicht war noch immer kein Erkennen. Die schwere Eisentür fiel zu.

Ratter-klack! Geräuschvoll wurde von den Pflegern der Schlüssel im Schloss herumgedreht. Das Geräusch von Türen, die verschlossen werden, kannte Karl nur zu gut. Er hatte es immer gehört, wenn sein Vater ihn eingeschlossen hatte, um die Mutter zu verprügeln. Auch als man vor einem Jahr schließlich seine Leiche heimbrachte, nachdem er betrunken auf der Baustelle verunglückt war. Man hatte Karl den Anblick ersparen wollen und ihn weggesperrt. Ratter-klack! Hastig hatte ihn die Mutter später auch ausgesperrt, wenn sie all die keuchenden Fremden einließ, welche sie oft zum Weinen brachten – die ihnen aber nach ihren Besuchen Geld daließen. Doch Karl hatte gelernt, durch Schlüssellöcher zu blicken, und was er durch sie gesehen hatte, war häufig auf verstörende Weise unvergesslich gewesen.

Als man nun die Anstaltstür hinter ihm und seiner Nachbarin Auguste Deter verschloss, ahnte der Junge, dass er seine Mutter nie wiedersehen würde. Ratter-klack!

*

Erster Teil:Der geheimnisvolle Dr. Alzheimer

1: Der Unfall

Was ich hier tue, ist wichtig, nicht vergessen, es ist wichtig! Er wischte mit seinem Schrubber über den Boden des Korridors der Gemeinschaftspraxis – und er tat es so gründlich, als wäre jedes bisschen Schmutz, jedes unsichtbare Bakterium lebensbedrohlich für die kleinen Patienten, die hier verkehrten. Auch die Flure in einer Poliklinik zu reinigen, es war wichtig. Dies musste sich Karl, mittlerweile ein athletischer junger Mann mit einer länglichen Narbe auf der rechten Wange, jeden Tag einreden. Im Februar vor drei Jahren hatte ihn seine Nachbarin Auguste Deter aus Anlass seines 16. Geburtstages endgültig aus dem verhassten Waisenhaus geholt. Sie hatte dafür gesorgt, dass er wieder in das Kellerzimmer in der Wallstraße ziehen durfte; sie selbst war inzwischen mit ihrer Familie in ein etwas repräsentativeres Mietshaus in der nur einen Kilometer entfernten Mörfelder Landstraße gezogen. Außerdem hatte sie ihm eine Stelle als Hilfshausmeister hier beim bekannten Kinderpsychiater Leopold Laquer im Frankfurter Nordend besorgt. Karl war damals außer sich gewesen vor Freude: Ein erster Schritt in Richtung seines bisher unerreichbaren Traumberufes – Mediziner. Doch die Monate waren ohne größere Entwicklungen ins Land gezogen. Im letzten Dezember hatten sie den Jahrhundertwechsel gefeiert, und Karl hatte allmählich die Hoffnung aufgegeben, dass er je mehr tun könnte, als Dr. Laquer bei Arbeit und Forschung heimlich zu beobachten, heimlich medizinische Werke zu lesen. Er würde sich wohl weiterhin fühlen wie ein Rettungsschwimmer, der weiß, wie man schwimmt, ahnt, wie man Menschen rettet, dem es aber von Standes wegen nicht gestattet ist, selbst Lebensretter zu werden. Also blieb ihm sein Putzdienst. In jeder Ecke. Gründlich. Gewissenhaft. Es ist wichtig! Es ist wichtig!

»Karl?« Rottenmeier, ein hagerer Endvierziger in Pfleger-Kleidung, kam eilig den Flur entlang. Karl reagierte zunächst nicht; erst als Rottenmeier ihn an der Schulter berührte, fuhr er erschrocken herum und schlug die Hand des Pflegers mit überraschender Kraft von sich.

Rottenmeier war verstimmt. »Ah, der Herr Hilfshausmeister möchte schriftlich zur Arbeit gebeten werden, oder was?«

Karl wirkte schuldbewusst, wütend auf sich selbst. Verdammter Zorn! Wann würde endlich auch sein Unterbewusstsein verstehen, dass inzwischen weder sein Vater noch der Heimaufseher noch die anderen Waisenjungen ihn angreifen konnten? Er bat Rottenmeier kleinlaut um Entschuldigung.

»Abgelehnt«, erwiderte dieser. »Geh in Laquers Zimmer, und wisch die Tinte des Bengels weg! Ich hätte ihm den Hintern versohlt, wenn ich dürfte. – Und bei dir würde das auch nicht schaden«, rief ihm Rottenmeier hinterher, während Karl sich gehorsam in Richtung des Zimmers seines Arbeitgebers Dr. Laquer aufmachte. Doch Karl wusste, dass Rottenmeier nur scherzte. Der Pfleger hätte sich zwar lieber die Zunge abgebissen, als es zuzugeben – doch er schätzte den jungen Karl Walz sehr.

Dieser schob seinen Putzwagen den Korridor entlang, als ihm Laquers zweiter Pfleger entgegenkam, ein wahrer Hüne. Der »führte« einen zehnjährigen Jungen derart grob am Ohr, dass er vor Schmerz wimmerte. Das sah Karl gar nicht gern. »Muss das denn sein? Der Junge …«, setzte er an zu sagen, doch der Hüne unterbrach ihn sogleich unwirsch: »Halt dich da raus, Walz!«

Karl kämpfte den in ihm aufflammenden Zorn nieder, verzichtete auf eine weitere Bemerkung und betrat Laquers Büro.

Die Spuren der Auseinandersetzung zwischen dem Arzt und dem jähzornigen Kind waren unübersehbar: Die Wand und das Porträt Kaiser Wilhelms hinter Dr. Laquers Schreibtisch waren voller Tintenspritzer. Karl stellte den Stuhl wieder auf, ebenso den umgefallenen Rahmen mit Laquers Familienfoto. Dann machte er sich daran, das umgekippte Tintenfässchen auf dem Schreibtisch zu bergen.

Dabei blieb sein Blick auf den aufgeschlagenen Seiten eines Buches hängen, die ebenfalls kleine Tintenspritzer abbekommen hatten. Karl schaute kurz auf die Titelseite. Es handelte sich um das neue Werk Sigmund Freuds – die »Traumdeutung«. Karl konnte nicht anders – wann immer er eine medizinische Veröffentlichung in die Hände bekam, war seine Neugier geweckt. Er las auf den mit Tinte besprenkelten aufgeschlagenen Seiten: »Es sind die unauslöschlichen Erinnerungen an Bestrafungen, die wir in der Kindheit erlitten haben …«

Ja, die Erinnerungen an die sinnlosen und willkürlichen Prügelstrafen seines häufig betrunkenen Vaters hatten sich tatsächlich unauslöschlich in Karls Gedächtnis eingebrannt. Mal war die Mutter an der Reihe gewesen, mal er selbst, mal beide. Wie oft hatte er hilflos wimmernd in einer Zimmerecke gekauert, wenn sein rasender Vater mit einem Gürtel oder anderen Gegenständen auf ihn eindrosch.

»Entschuldigung?« Der Klang einer Frauenstimme hinter ihm riss Karl aus seinen dunklen Erinnerungen. Er fuhr erschrocken herum, dabei glitt ihm das Buch aus den Händen und fiel zu Boden.

Eine hübsche Frau, Mitte 20, stand in der Tür. »Verzeihung. Mein Name ist Wilhelmine Gehweiler, ich bin mit Doktor Laquer verabredet«, erklärte sie. Die junge Dame war nicht teuer, aber stilvoll gekleidet, hatte ihr flachsblondes Haar kunstvoll hochgesteckt.

Während Karl das Buch aufhob, stammelte er: »Karl Walz, angenehm. Der Doktor … müsste jeden Augenblick zurück sein. Es gab … ein kleines Malheur mit einem ungezogenen Jungen.«

»Das tut mir leid.« Die Fremde deutete lächelnd auf das Buch. »Wissen Sie denn noch, auf welcher Seite Sie waren?«

»Ja, an der Stelle über Jungs, die ihren Vätern den Tod wünschen«, erwiderte Karl, nun etwas mutiger.

Sie blickte ihn schmunzelnd an, und ihm fielen ihre veilchenblauen Augen auf. »Na, solange Sie nicht vor lauter Liebe Ihre Mutter ausstopfen wollen wie das Kind in dem Buch …«

Nach einer perplexen Pause meinte Karl, dass er so weit noch nicht sei. Die hübsche Dame war wahrlich nicht auf den Mund gefallen, dachte er beeindruckt. Und sie kannte dieses neue Werk!

Da betrat der schmächtige Klinikgründer Dr. Leopold Laquer den Raum. Die Anzugsweste des untersetzten Mittvierzigers mit dunklem Vollbart war noch nass, die Tintenspritzer nicht gänzlich entfernt. Seinem Hilfshausmeister nickte er nur zu, die junge Dame jedoch begrüßte er herzlich wie ein Vater seine Tochter. »Mina, meine Liebe. Nimm doch Platz.«

Mina war also der Kosename der hübschen Wilhelmine, dachte Karl gerade, als Dr. Laquer sich kurz an ihn wandte: »Walz, bringen Sie einfach das Nötigste in Ordnung; die Tinte von Wand und Bild zu entfernen, bedarf ohnehin einer größeren Restaurierung.«

Karl tat, wie ihm geheißen, Mina setzte sich.

»Entschuldige das Durcheinander«, sagte Laquer seufzend. »Es gibt nichts Fürchterlicheres als jähzornige Kinder.«

Mina grinste. »So fürchterlich, dass Sie darüber ganze Bücher schreiben.«

Karl musste schmunzeln. Tatsächlich schrieb sein Arbeitgeber, der seit diesem Jahr auch offizieller Schularzt der Stadt Frankfurt war, an Büchern über psychisch gestörte Kinder. Karl hatte dies oft voller Neugier beobachtet. Und Mina wusste es offenbar auch. Dr. Laquer lachte ertappt. »Was führt dich zu mir?«

»Es geht um meinen Mann …«, erwiderte sie.

Karl, der dem Gespräch unauffällig, aber aufmerksam zuhörte, spürte ein vages Gefühl von Enttäuschung. Aber eigentlich war es bei einer Dame ihres Formats zu erwarten gewesen – dass ein Ehegatte existierte. Und eigentlich würde Karl eine solche Dame ohnehin niemals auch nur halbwegs angemessen versorgen können. Wer immer also der glückliche Mann an Minas Seite sein mochte, mit ihm war sie gewiss besser dran als mit dem Hilfshausmeister Karl Walz. Doch ihr Gatte bereitete ihr Sorgen, das war ihr deutlich anzumerken.

»Was ist mit ihm?« hakte der Psychiater nach.

»Seit einiger Zeit ist er äußerst vergesslich«, berichtete Mina ernst, »ihm fallen viele Worte nicht mehr ein – und er macht immer mehr Fehler beim Modellieren.«

Laquer runzelte die Stirn. »Oh, das passt wirklich gar nicht zu ihm. Juwelier Hessenberg betont immer wieder, dein Joseph sei sein vortrefflichster Bildhauer.«

Mina wirkte nun sehr ernst. »Nicht mehr. Neulich wusste er nicht mal mehr Hessenbergs Namen.«

»Das klingt aber gar nicht gut«, konstatierte der Mediziner.

Karl putzte besonders gründlich, um kein Wort zu verpassen, doch angesichts der Tatsache, dass das Gespräch jetzt sehr privat wurde, wandte sich Laquer an ihn: »Walz, lassen Sie es gut sein für heute. Sie können gehen.«

Karl nickte und begann ein wenig enttäuscht, seine Putzutensilien zusammenzupacken – langsam, um so zumindest noch den nächsten Wortwechsel der beiden zu verfolgen.

Mina versuchte ein Lächeln. »Meine Mutter hat mich gewarnt, ich solle keinen Mann heiraten, der über 20 Jahre älter ist, da hätte ich früh einen Greis an meiner Seite. Aber Altersvergesslichkeit mit 45?«

Dr. Laquer bat, Minas Gatte möge ihn umgehend aufsuchen.

»Das ist das Problem«, erwiderte sie. »Er weigert sich.«

Laquer nickte ernst. »Verstehe. Also müssen wir das anders lösen.«

Beim Hinausgehen kam es noch zu einem kurzen Blickkontakt zwischen Karl und Mina. Sie lächelte recht freundlich – er eher verschüchtert.

*

Karl verstaute seine Arbeitsutensilien, hängte seinen Kittel in den Schrank und zog seinen Wintermantel an. Als er aus dem Praxisgebäude in der Jahnstraße 42 kam, fegte Pfleger Rottenmeier den Weg zur Straße, der mit bunten Blättern überhäuft war. Karl winkte ihm zu und ging zu seinem Fahrrad. Dieses war sein ganzer Stolz. Thekla, die Tochter von Nachbarin Auguste, hatte es ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt. »Ich habe mich verliebt«, hatte sie gut gelaunt gesagt. »Alle Welt soll glücklich sein.« Er war überwältigt gewesen. Selbst gebrauchte Fahrräder waren teuer. Heute Abend würde sich Karl von Thekla, die wie eine große Schwester für ihn war, verabschieden müssen. Sie zog mit ihrem Angetrauten, einem freundlichen Gerichtsaktuar, nach Berlin. Gerade als Karl auf sein Rad steigen wollte, kam Wilhelmine Gehweiler aus dem Gebäude. Er freute sich einerseits, sie noch einmal zu sehen, andererseits versetzte ihm ihr Anblick einen Stich in der Magengegend. So anziehend – und so unerreichbar. Zu seiner Überraschung ging Mina ihrerseits zu einem Fahrrad. Für Frauen war das Radfahren ungewöhnlich und durchaus verpönt!

Plötzlich hörte Karl lautes Wiehern und Rattern auf dem Pflaster. Die Pferde eines mit Fässern beladenen Fuhrwerks waren durchgegangen, der Kutscher schien die Kontrolle über die Tiere verloren zu haben. Der Vierspänner raste geradewegs auf das Vorgärtchen der Praxis zu. Rasch waren die Pferde nur wenige Meter von Karl und Mina entfernt. Karl spurtete spontan los, riss Mina zu Boden und zerrte sie rasch hinter eine Büste mit Steinsockel.

An dieser zerbarsten Sekundenbruchteile später krachend Teile der Kutsche. Holzsplitter überall, Fässer wurden durch die Luft geschleudert und rollten polternd davon.

Karl und Mina waren unverletzt, aber einige Meter neben ihnen hörte man Schreie. Sie rappelten sich auf und erfassten sogleich geistesgegenwärtig das Ausmaß des Unglücks: Das Fuhrwerk hatte sich in dem schmiedeeisernen Metallzaun verfangen und war förmlich auseinandergerissen worden. Der Kutscher war von seinem Bock geschleudert worden und lag wimmernd neben dem Kiesweg. Der blutüberströmte Rottenmeier war unter der Kutsche eingeklemmt.

Neugierig kamen Schaulustige aus den Nachbarhäusern, Passanten standen vor Schreck wie gelähmt am Unglücksort. Karl und Mina jedoch funktionierten in der Schocksituation wie ein Uhrwerk. Während Mina zum Kutscher stürzte und seine Beine erhöhte, stürmte Karl zum eingeklemmten Pfleger. Er kniete nieder und sprach mit ihm, während er am Hals den Puls fühlte. »Herr Rottenmeier! Können Sie mich hören?«

Rottenmeier presste mühevoll hervor, dass er nicht atmen könne.

Indes war sein hünenhafter Kollege angekommen, starrte mit den Schaulustigen.

»Wir müssen sofort den Wagen hochheben!«, wies Karl ihn an.

Doch der Hüne meinte aufgebracht, man dürfe Rottenmeier da nicht hervorziehen. »Wenn wir was falsch machen, ist er hernach gelähmt oder dergleichen. Das muss doch der Herr Doktor entscheiden.«

Karl sprang auf und zerrte vergeblich an dem Wagen. Nachbarin Auguste Deter hatte ihm vor drei Jahren geraten, seine Neigung zu Zornesausbrüchen nur noch bei zivilisierten Boxkämpfen auszuleben – daher verbargen sich unter seiner drahtigen Figur starke Muskeln. Das Fuhrwerk war dennoch zu schwer für einen einzelnen Mann. Karl verzweifelte zusehends. Bald würde es für Rottenmeier zu spät sein! »Er kann nicht atmen – er erstickt, wenn wir ihn dort nicht herausschaffen.« Karls Stimme schwoll zu einem Brüllen an: »Sehen Sie nicht, dass er da unten stirbt?«

Mina, die mittlerweile den offenbar nur leicht verletzten Kutscher versorgt hatte, kam herbeigeeilt. Vergeblich versuchten sie und Karl erneut, den Wagen hochzubekommen. Die junge Frau rief in die Menge, ob ihnen nicht bitte irgendwer helfen könne. »Er hat recht, der Mann da unten wird sonst ersticken!« Sie erntete jedoch allseits nur ängstliche Blicke. Dann sah sie dem Hünen derart flehend in die Augen, dass dieser sich endlich ein Herz fasste – sie versuchten es zu dritt. Doktor Laquer kam hinzu. Er verhielt sich ungewöhnlich zurückhaltend für einen Arzt, wie Karl am Rande wahrnahm. Der Kinderpsychiater schien beinahe so erschrocken und hilflos wie die umstehenden Schaulustigen. »Mein Gott, Rottenmeier«, sagte er kaum hörbar.

Doch nachdem die Kutsche sich so bewegen ließ, dass Hoffnung aufkeimte, den Verletzten bergen zu können, packten nun doch endlich mehrere der Umstehenden mit an. Laquer versuchte, noch weitere Passanten zu animieren. »So helfen Sie doch auch, bitte!«

Der Arztkittel schien dabei überzeugender als seine zurückhaltende Stimme. Gemeinsam gelang es, das schwere Fuhrwerk kurz anzuheben. Karl und Mina zogen Rottenmeier rasch heraus, bevor es wieder zu Boden krachte.

Rottenmeiers Augen waren geschlossen. Karl kniete bei ihm, hob das Kinn des Pflegers an. Atme, atme! Komm schon! Schließlich keuchte Rottenmeier hörbar. Karl seufzte erleichtert. Dann sprang er auf und wandte sich an Dr. Laquer: »Wir müssen ihn hineintragen, Sie sollten sofort die offene Fraktur am Bein operieren. Er verblutet sonst.«

Laquer trat erschrocken einen Schritt zurück. Unmöglich! Er habe doch überhaupt nicht die nötigen Gerätschaften in der Ordination, erläuterte er hastig. »Ich habe schon nach Hilfe aus dem Spital geschickt. Sie müsste jeden Augenblick hier sein.«

Karl schaute hilflos auf den in seinem Blut liegenden Rottenmeier. Er und Mina warfen sich einen besorgten Blick zu. Die kommen doch viel zu spät …

*

2: Der merkwürdige Dr. Alzheimer

Knapp eine Stunde später saßen Karl und Mina benommen bei Dr. Laquer in dessen Sprechzimmer. Der Arzt klang triumphierend: »Na, sehen Sie, Walz, jetzt hat es doch noch gereicht. Im Spital wird man Rottenmeier schon wieder hinbekommen. Dank Ihrer hervorragenden Erstversorgung.«

Er fixierte Karl nun fragend, wollte wissen, woher er sein medizinisches Wissen habe.

Karl versuchte abzulenken. »Ich finde, Frau Wilhelmine hat hervorragende Arbeit geleistet. Ohne sie …«

Doch sein Arbeitgeber fiel ihm ins Wort, Frau Gehweiler sei eine ausgebildete Krankenschwester. »Sie hingegen sind Hausmeistergehilfe. Also …?«

Karl antwortete so zögerlich, als habe er ein bitteres Geständnis abzulegen: »Ich habe das eine oder andere Buch gelesen. Bücher über Medizin … Behandlungsmethoden und dergleichen.«

Dr. Laquer gab sich erstaunt. »Sie haben Fachbücher gelesen? … Freiwillig?«

Mina lachte, und sogar Karl musste schmunzeln. Sie fixierte ihn mit neugierigem Blick, was Karl ein wenig nervös machte. »Die Medizin scheint Sie ja mächtig zu interessieren.«

Karl vergaß völlig, dass sein Arbeitgeber im Raum war. Irgendetwas an Wilhelmine Gehweiler erweckte ein tiefes Vertrauen in ihm. »Meine Mutter litt an … einer unheilbaren Krankheit. Als Kind dachte ich, Medizin sei wie Zauberei – und könnte sie retten. Seither wollte ich alles darüber wissen.«

Dr. Laquer bemerkte, dass die beiden jungen Menschen offenbar seine Anwesenheit zu vergessen drohten, räusperte sich. »Nun, jedes Handeln hat Folgen, mein Junge.«

Karl sah ihn in vager Sorge an. Was meinte Laquer?

Der Arzt ging auf ein kleines Wandschränkchen zu, holte eine Flasche Likör und drei Gläschen heraus, während er weitersprach: »Unser guter Rottenmeier ist wohl leider auf unabsehbare Zeit indisponiert. Wie wäre es, wenn ich Sie als Ersatzpfleger auf Probe einstelle, Herr Walz? Einen neuen Hausmeistergehilfen finden wir schon.«

Karl war zunächst sprachlos.

»Was denkst du darüber, Mina?«, wandte sich der Arzt an die ehemalige Krankenschwester.

Die lächelte aufmunternd in Karls Richtung. »Ich denke, bei einem derartigen Interesse an der Medizin könnte das der Beginn einer glänzenden Laufbahn werden.«

Laquer fixierte ihn fragend. »Nun, Walz, stimmen Sie der Dame zu?«

Karl blickte fassungslos, deutete ein zustimmendes Kopfnicken an.

Der Likör war inzwischen eingeschenkt. Laquer hob sein Glas.

»Gratulation, Herr Krankenpfleger«, sagte Mina, als sie das ihre hob.

Karl strahlte.

*

Krankenpfleger! An diesem lauen Oktoberabend radelte Karl halsbrecherisch schnell durch die Mainmetropole. An der Hauptwache vorbei, die Kaiserstraße hinab. Aus dem Weg, hier kommt der berühmte Krankenpfleger Karl Walz! Er würde endlich Menschen mittels Medizin helfen. Der Fahrtwind wehte ihm ins Gesicht, er schrie seine Freude heraus und streckte die Arme dabei nach oben. Das Rad schlitterte, um ein Haar wäre er gestürzt beim Überqueren der Untermainbrücke, deren Pflaster aufgrund der feuchten Herbstblätter rutschig war. Doch die Freude überwog. Hier kommt Doktor Karl Walz, juhuuu …

Der frischgebackene Krankenpfleger passierte schließlich den Südbahnhof. Er war fast an jenem Mietshaus in der schwach mit Gaslaternen beleuchteten Mörfelder Landstraße angekommen, in dem Familie Deter wohnte; da traf er auf die elegante Nachbarin Frau Hensler, die gerade aus der gegenüberliegenden Villa kam. Karl sprang vom Rad und rief ihr »Guten Abend« zu.

Die edel gekleidete Mittvierzigerin erwiderte den Gruß lächelnd und teilte mit: »Wenn du dich wegen Thekla so beeilst, sie und ihr Mann sind schon abgereist.«

»Hatte ich befürchtet, hab’s aber nicht eher geschafft«, keuchte Karl außer Atem. »Schönen Abend noch.«

Er winkte der Dame zu und ging eilig ins Haus Nummer 64. Im Erdgeschoss befand sich die Kohlenhandlung Geissler sowie ein Büro der Deutschen Dampfschifferei-Gesellschaft Nordsee. Deren Plakate weckten stets das Fernweh in Karl, der das Meer selbst noch nie gesehen hatte. Er ging in den dritten Stock hinauf und betrat dort die Wohnung der Familie Deter, zu der er einen Schlüssel besaß. Er eilte direkt in die Küche, wo Auguste nur einen kurzen Blick für ihn übrig hatte und sich sofort wieder ihrer Arbeit am Spülstein zuwandte. Sie war im Mai 50 geworden, aber immer noch hübsch.

»Mamuschka, es tut mir so leid«, entschuldigte sich Karl und nahm die Mütze ab. »Frau Hensler hat mir gesagt, dass Thekla schon fort ist.«

»Ja, die feine Hensler weiß immer ganz genau, was bei uns los ist«, erwiderte Auguste spöttisch. »Ich hoffe, du hast eine gute Ausrede für dein Zuspätkommen.«

Karl nickte grinsend. Oh ja, die hatte er. Ehe er jedoch davon berichten konnte, ertönte aus dem Wohnzimmer eine Oboe. »Der Mond ist aufgegangen« wurde gespielt.

Karl wusste, dass Augustes Mann, der ebenfalls Karl hieß, das Instrument spielte. Der heutige Kanzleiassistent hatte einst als Militärmusiker im Kasseler Infanterieregiment gedient. »Er wollte allein sein«, erklärte Auguste. »Schämt sich seiner Tränen, weil seine Tochter nach Berlin zieht. Ich wärm dir was auf.«

Sie wandte sich zum Herd. »Und … was willst du mir sagen?«

Nun erzählte Karl seiner einstigen Nachbarin in allen Einzelheiten von dem Unfall vor Dr. Laquers Poliklinik und dessen Folgen.

Als er geendet hatte, stellte Auguste den vollen Teller vor ihn auf den Küchentisch.

»Der Herr Krankenpfleger«, meinte sie lächelnd. »Lass es dir schmecken.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Deine Mutter wäre heute sehr stolz auf dich.«

Karl nickte und sah gedankenverloren auf seinen Teller. Die Situation erinnerte ihn an jenen Abend vor zwölf Jahren, als er zuvor in der Irrenanstalt seine Mutter zum letzten Mal gesehen hatte. Auch damals war er am Küchentisch der Deters gegessen, seinerzeit noch in der Wallstraße, wo auch seine Familie gelebt hatte. Nach dem schrecklichen Besuch in der Anstalt hatte Auguste den siebenjährigen Nachbarsjungen mit einem guten Essen zu trösten versucht. Doch natürlich hatte er keinen Appetit gehabt, die Mahlzeit nicht angerührt. Karl erinnerte sich noch heute an jedes Wort.

»Du musst essen, Karl. Auch wenn das Schicksal manchmal gemein ist«, erklärte Auguste dem todtraurigen Knaben. »Wir dürfen nie aufgeben. Das sind wir den Menschen, die wir lieben, schuldig. Leben heißt kämpfen!«

Sie deutete eine kämpferische Geste mit der Faust an, strich ihm dann liebevoll über den Kopf. Da rief aus der Wohnstube Herr Deter, verlangte nach seinem Bier. Auguste nahm eine braune Flasche und ging zur Tür. »Komme!«

Der kleine Karl sprang auf und lauschte neugierig durch die Luftschlitze des Kachelofens den Stimmen der Deters.

»Hab dem Kleinen nur schnell das Essen hingestellt.«

»So geht das nicht weiter. Ich will den Kerl auch am Wochenende nicht mehr in meiner Wohnung haben. Er hat einen schlechten Einfluss auf unsere Thekla.«

»Ach was, sie liebt Karl doch schon wie einen kleinen Bruder.«

»Ein Rabauke ist er! Kein Wunder, bei dem Vater – ein Schläger, der sich totgesoffen hat …«

Warum Auguste immer allen helfen müsse, wollte er wissen. Sie erklärte, schon ihr Vater habe sich stets um die Armen gekümmert, dieser Familientradition sei sie verpflichtet. Ihr Mann erwiderte jedoch, er würde Karl eigenhändig hinauswerfen, sollte er nächstes Wochenende wieder bei ihnen auftauchen.

Auguste protestierte: »Aber grad jetzt, wo der Kleine so arm dran ist. Seine Mutter …«

Herr Deter unterbrach seine Frau unwirsch: »So eine ist wohl selbst schuld, wenn sie krank wird.«

Nun war auch Auguste wütend geworden. »Sei doch nicht so scheinheilig! Du hast so eine doch auch schon aus der Nähe gesehen.«

Karl hatte damals nicht verstanden, was Auguste genau meinte, aber offenbar hatte sie bei ihrem Gatten ins Schwarze getroffen. Deter hatte kurz geschwiegen und daraufhin etwas ruhiger geschlossen: »Die Walz ist nicht mehr zu retten. Die ist verrückt und wird bald sterben.«

Karl erinnerte sich noch heute, wie ihm diese Aussagen jegliche Hoffnung geraubt hatten. Und Herr Deter hatte leider recht behalten. Doch die medizinische Hilfe, die seine Mutter nicht bekommen hatte – Karl selbst würde sie nun vielleicht bald anderen zuteilwerden lassen. Krankenpfleger! Endlich bemerkte er, wie hungrig er war. Und, während in der Wohnstube Herr Deter weiterhin auf seiner Oboe das Abendlied spielte, machte Karl Walz sich über das von Auguste zubereitete Essen her, das wie immer das beste der Welt war.

*

Karl machte es sich zur Gewohnheit, jeden Morgen vor Dr. Laquer in der Praxis einzutreffen. Eine Woche nach seinem Arbeitsbeginn bei dem Arzt, es war ein besonders frostiger Novembermorgen, war Dr. Laquer selbst jedoch ungewöhnlich früh anwesend, in seinem Büro brannte bereits Licht.

»Guten Morgen, Walz, Sie sind ja mal wieder früh dran«, stellte der Kinderpsychiater fest, als Karl ins Büro kam, um seinen Arbeitgeber zu begrüßen. »Dann können Sie mir gleich einen Gefallen tun. Bei einem der Schulkinder, die ich untersucht habe, ist eine Paralyse zu befürchten.«

Das Wort weckte düstere Erinnerungen in Karl. »Progressive Paralyse«, auch »Hirnerweichung«, »Hirnsyphilis« oder »Neurolues« genannt – das hatte man seinerzeit bei seiner Mutter diagnostiziert. Er musste auch an Wilhelmine »Mina« Gehweiler denken. Wie es ihr wohl mit ihrem Mann ergehen mochte? Würde sie mit ansehen müssen, wie seine Persönlichkeit immer mehr verschwand? Würde er bald Wahnideen haben, nicht mehr richtig laufen können? All diese Folgen der Neurolues hatte er bei seiner leiblichen Mutter beobachtet. Nun war also eventuell ein Kind betroffen. »Wie kann ich in der Sache helfen?«

Dr. Laquer holte eine Akte aus seinem Tisch. »Bitte bringen Sie dies in die Irrenanstalt im Grüneburgpark.«

Karl erschauderte bei der Erinnerung an jenen Ort. »Sie meinen … den Affenstein?«

»So heißt sie im Volksmund, stimmt«, sagte der schmunzelnde Dr. Laquer, während er Karl die Akte überreichte. »Die korrekte Bezeichnung ist jedoch ›Städtische Anstalt für Irre und Epileptische‹.«

»Die Leute sind so grausam – die Patienten als Affen zu bezeichnen«, sagte Karl bitter. Zu gut erinnerte er sich an den Spott der Menschen, als seine Mutter seinerzeit an Paralyse gelitten hatte. Einzig ihre Nachmieterin Auguste Deter hatte damals zu ihnen gehalten. Für den Pöbel waren offenbar alle Patienten der Städtischen Irrenanstalt im Grüneburgpark »Affen«.

Doch Laquer klärte Karl nun schmunzelnd über die wahre Herkunft des Spitznamens auf: »Nein, nein, der Hügel hieß schon vorher Affenstein – weil es dort einst irgendwo einen Ave-Maria-Stein gab. Jedenfalls arbeitet da der einzige Kollege, der Paralyse auch schon bei Kindern behandelt hat«, erläuterte Laquer, »Doktor Alois Alzheimer.«