Die Jungfrau von Orleans - Jørn Precht - E-Book

Die Jungfrau von Orleans E-Book

Jørn Precht

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Beschreibung

Eine außergewöhnliche junge Frau. Eine göttliche Berufung. Ein starker Wille. | Die Geschichte der Jeanne d'Arc 1429: Seit fast hundert Jahren ist Frankreich im Krieg mit den englischen Besatzern, als das Bauernmädchen Jeanne d'Arc beginnt, geheimnisvolle Stimmen zu hören. Sie tragen ihr auf, ihre Heimat zu befreien. Mit gerade einmal siebzehn Jahren bricht Jeanne auf, um dem Thronfolger ihre göttliche Mission zu offenbaren. Trotz aller Widerstände erkämpft sie sich mit ihrem Mut und ihrem unerschütterlichen Glauben das Vertrauen, das sie benötigt, um an der Spitze einer Armee aus hartgesottenen Kriegern zu stehen. An ihrer Seite ist stets der junge Reitlehrer Alain, der insgeheim in sie verliebt ist. Doch Jeannes Feinde lauern im Verborgenen und setzen alles daran, sie zu Fall zu bringen. Vom Bauernmädchen zum Sprachrohr Gottes und zur Heldin einer Nation: Jeanne d'Arc änderte das Schicksal ihres Landes und ist heute jedem Kind bekannt. Jørn Precht bietet in seiner Romanbiografie einenergreifenden Einblick in eine Zeit, die von Zukunftsängsten, Glauben und Krieg zerrissen war und in die prägenden Jahre dieser Lichtgestalt der französischen Geschichte. Bedeutende Frauen, die die Welt verändern Mit den historischen Romanen unserer Reihe »Bedeutende Frauen, die die Welt verändern« entführen wir Sie in das Leben inspirierender und außergewöhnlicher Persönlichkeiten! Auf wahren Begebenheiten beruhend erschaffen unsere Autor:innen ein fulminantes Panormana aufregender Zeiten und erzählen von den großen Momenten und den kleinen Zufällen, von den schönsten Begegnungen und den tragischen Augenblicken, von den Träumen und der Liebe dieser starken Frauen. Weitere Bände der Reihe:  - Laura Baldini, Lehrerin einer neuen Zeit (Maria Montessori) - Romy Seidel, Die Tochter meines Vaters (Anna Freud) - Petra Hucke, Die Architektin von New York (Emily Warren Roebling) - Laura Baldini, Ein Traum von Schönheit (Estée Lauder) - Lea Kampe, Der Engel von Warschau (Irena Sendler) - Eva-Maria Bast, Die aufgehende Sonne von Paris (Mata Hari) - Eva-Maria Bast, Die vergessene Prinzessin (Alice von Battenberg) - Yvonne Winkler, Ärztin einer neuen Ära (Hermine Heusler-Edenhuizen) - Agnes Imhof, Die geniale Rebellin (Ada Lovelace) - Lea Kampe, Die Löwin von Kenia (Karen Blixen) - Eva Grübl, Botschafterin des Friedens (Bertha von Suttner) - Laura Baldini, Der strahlendste Stern von Hollywood (Katharine Hepburn) - Eva-Maria Bast, Die Queen (Queen Elizabeth II.) - Agnes Imhof, Die Pionierin im ewigen Eis (Josephine Peary) - Ulrike Fuchs, Reporterin für eine bessere Welt (Nellie Bly) - Anna-Luise Melle, Die Meisterin der Wachsfiguren (Marie Tussaud) - Jørn Precht, Die Heilerin vom Rhein (Hildegard von Bingen) - Eva-Maria Bast, Sisis Schwester (Sophie Charlotte in Bayern) - Elisa Jakob, Die Mutter der Berggorillas (Dian Fossey) - Petra Hucke, Die Entdeckerin des Lebens (Rosalind Franklin) - Eva-Maria Bast, Queen Mum (Elizabeth Bowes-Lyon, Königin Mutter) - Lena Dietrich, Die Malerin der Frauen (Artemisia Gentileschi) - Yvonne Winkler, Kämpferin gegen den Krebs (Mildred Scheel) - Laura Baldini, Die Pädagogin der glücklichen Kinder (Emmi Pikler)

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Redaktion: Kerstin von Dobschütz

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Covergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign unter Verwendung von Motiven von stock.adobe und Albina Khusainova/arcangel.com

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Teil 1

Juni 1428

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Teil 2

Dezember 1428 bis Juni 1429

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Teil 3

Dezember 1430 bis Mai 1436

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Fünf Jahre später

Epilog

1455/1456

Figurenübersicht

In Domrémy

Familie d’Arc (auch Darc, Arco, Dart, Dars, Dar, nach der Adelung Zusatz du Lys)

Weitere Dorfbewohner

Anderenorts

Vor und in Vaucouleurs

In Chinon

Vor und in Orléans

In Rouen

Mönche

Richter und Beisitzer

Engländer und deren Verbündete

Nachwort und Danksagung

Quellen und Literaturempfehlungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Teil 1

Juni 1428

Kapitel 1

Aus dem Eichenwald trat eine junge Frau. Sie war schwarzhaarig, schlank und nicht sonderlich groß, wirkte jedoch keineswegs zerbrechlich. Nein, es schien sich um ein Mädchen zu handeln, das anpacken konnte – die sonnengebräunte Fremde trug über ihrem schlichten dunkelroten Rock sogar Pfeil und Bogen. Auch ihr Blick in Richtung des neunzehnjährigen Reiters mit dem nackenlangen blonden Haar war frei von Angst, vielmehr lächelte sie ihm offen, ja fast herausfordernd zu. War es nicht gefährlich für sie, sich hier draußen in der sengenden Mittagshitze aufzuhalten, ohne schützende Begleitung? Dass sie als Mädchen mit dem Bogengeschoss treffsicher genug war, um sich damit notfalls zu wehren, war wohl eher zu bezweifeln.

Alain wollte mit ihr ins Gespräch kommen, daher hielt er sein Pferd an. »Gott zum Gruße, werte Jungfer«, rief er und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Dieser Juni Anno Domini 1428 lastete ungewohnt drückend über dem Land. »Wisst Ihr einen See in der Nähe, wo man sich erfrischen kann?«

»Gleich drüben beim Feen-Baum gibt es eine Quelle. Ich kann Euch hinführen, wenn Ihr mögt«, bot sie an. Ihre Stimme war erstaunlich fest, doch auf Alain wirkte sie gleichzeitig süß und anziehend.

Er stieg von seinem braunen Hengst und führte ihn auf die Frau zu.

»Du bist ja ein ganz Schöner«, sagte sie und meinte leider das Tier. Sie streichelte Alains Pferd auf eine Weise, die zeigte, dass sie sich mit Reittieren auskannte: Sie glitt mit der ganzen Handfläche über das Fell, nicht nur mit den Fingerkuppen. Am oberen Hals, gleich neben den Augen, setzte sie an und strich dann in langen, sanften Bewegungen zur Schulter. Die Ohren des Hengstes zeigten aufrecht in ihre Richtung, ein gutes Zeichen. Wären sie flach angelegt gewesen, hätte Alain der Jungfer geraten, sich zurückzuhalten. Wie sein Herr war der Hengst bei Menschen nämlich eher wählerisch und vorsichtig.

»Hat er einen Namen?«, erkundigte sich die Einheimische.

»Merlin.«

»Ah, nach dem Zauberer von König Artus. Und wie lautet Euer werter Name?«

»Jacques Alain Le Royer, meines Zeichens Pferdehändler aus Vaucouleurs. Meine Freunde nennen mich Alain.«

»Ich bin Jeanne Darc, aber alle sagen Jeannette. Kommt, folgt mir«, wies sie ihn an und führte dann Ross und Reiter in den Wald.

Dort bildeten die alten Eichen ein dichtes Blätterdach, dessen Lücken am Boden für ein sanftes Muster aus Licht und Schatten sorgten – und zumindest für ein klein wenig Abkühlung. Die Vögel zwitscherten eher verhalten, es schien, als habe die frühe Sommerhitze die Welt eingeschläfert.

»Was treibt Euch allein hinaus in den Wald?«, erkundigte sich Alain.

»Ein Lamm. Ich hüte heute die Schafe meines Vaters, eines ist mir davongelaufen, bisher habe ich es nicht wiedergefunden«, erklärte Jeannette.

»Und Euer Herr Papa hat gar nichts dagegen, dass Ihr ganz allein hier draußen herumlauft?«

Jeannette lächelte freudlos. »Nein, der hat sich noch nie Sorgen um mich gemacht. Selbst als ich ein Kind war, nicht.«

»Darf ich fragen, wie alt Ihr seid?«

»Es könnte sein, dass ich nächstes Jahr am 6. Januar siebzehn werde.«

Er sah sie verwundert an. »Es könnte sein?«

»So genau weiß ich es nicht, aber meine Mutter Isabelle sagt immer, dass am Dreikönigstag 1412 wundersame Dinge geschehen sind in unserem Städtchen Domrémy. Angeblich haben die Hähne in jener Nacht ganz seltsame Schreie von sich gegeben – und bis zu meiner Geburt zwei Stunden lang mit den Flügeln geschlagen. Maman meint, dass ich deshalb selbst ein Wunder bin. Na ja, so etwas denken wohl alle Mütter über ihre Kinder.« Für einen Augenblick wirkte Jeannette sehr ernst und blickte mit ihren geheimnisvollen dunklen Augen nachdenklich ins Leere.

Alain bemerkte ein rotes Muttermal hinter ihrem linken Ohr.

Schließlich musterte sie ihn ihrerseits neugierig. »Und was sucht Ihr hier in der Gegend?«

»Ich habe zwei Pferde nach Neufchâteau zu einem Käufer gebracht, jetzt bin ich auf dem Heimweg nach Vaucouleurs.« Er lächelte über ein rotbraunes Eichhörnchen, das sich an einem Baum am Rande des Waldwegs festkrallte und ihn aus schwarzen Augen ansah. Dann deutete er auf Jeannettes Pfeil und Bogen. »Geht Ihr damit auf die Jagd?«

Sie schüttelte den Kopf. »Beim Nachbarn hat ein Wolf zwei Ziegen gerissen. Unsere Schafe sollen vor dem Räuber sicher sein.«

»Und vor Männern habt Ihr keine Angst? Zum Beispiel vor mir?«, hakte er nach.

Sie schmunzelte. »Nein, Ihr seid kein böser Bube.«

»Woher wollt Ihr das wissen?«

»Ich weiß es, weil Ihr weder Engländer noch Burgunder seid.«

Er lachte auf. »Nein, das gewiss nicht.« Im Gegenteil, fügte Alain im Geiste hinzu, die Männer von der Insel, die schon seit fast hundert Jahren Frankreich zu erobern suchten, hatten den Menschen hier im Herzogtum Bar in letzter Zeit größtes Leid zugefügt. Im Mai 1420 war in der Kathedrale von Troyes ein Vertrag geschlossen worden, der die Thronfolge nach dem Tod von Karl VI., genannt »der Wahnsinnige«, regeln sollte. Laut dieser Vereinbarung hätte Heinrich V. von England die französische Krone erben und beide Königreiche vereinen sollen. Karls Sohn, der gleichnamige eigentliche Thronfolger, war von seiner Mutter Isabeau von seinem Erbrecht auf den Königstitel ausgeschlossen worden, was zu erneuten blutigen Auseinandersetzungen geführt hatte. Das Herzogtum Burgund, das über große Teile Nordfrankreichs herrschte, hatte diese Regelung unterstützt, wodurch der Streit um die französische Krone noch weiter verschärft worden war. Alain war damals zwölf Jahre alt gewesen und hatte seither viel Blutvergießen erleben müssen. Vor zwei Jahren war ihr Pferdehof von englischen Söldnern gebrandschatzt worden und der Vater in dem Feuer umgekommen. Seither lebten Alain, sein jüngerer Bruder Gilbert und ihre Schwester Claudine im Haus ihres Onkels Henri, dem Wagenmacher von Vaucouleurs, einer befestigten Stadt an den Ufern des Flusses Maas. Inmitten des burgundischen Gebiets standen die Bewohner fest zum französischen König. Alains Heimatregion war zu einer Arena verkommen, in der all die verfeindeten Parteien aufeinanderstießen. Durch deren Anspruch auf den doppelten Thron waren immer mehr Engländer in diese Gegend geströmt, vor allem Hauptmänner mit ihren Soldaten. Die benachbarte Champagne war bereits komplett von den englischen Truppen und Verwaltern besetzt – genau wie der Bezirk Chaumont. Raub und Schutzgelderpressung gehörten für die Grenzbevölkerung zum Alltag.

Schließlich traten Alain und Jeannette Darc aus dem Wald hinaus, und der Ortsrand von Domrémy war zu sehen. Der junge Pferdehändler dachte bei sich, dass der friedliche Eindruck, den das Dorf erweckte, gewiss täuschte. Schon der Nachbarort Maxey war dem französischen König nicht mehr gänzlich treu gewogen.

Alain hörte ein Blöken. Auf einer Weide graste ein Dutzend Schafe. »Die gehören Eurer Familie?«

Jeannette nickte und zeigte auf eine mächtige Buche. »Das ist der Feen-Baum.«

Alain fragte sich, wie alt er wohl sein mochte, und sah dann wieder zu der Schafhirtin. »Gibt es hier denn Feen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Einige behaupten es. Ich selbst habe aber noch keine gesehen. An dem Baum verabreden sich eher die jungen Leute aus dem Dorf, sie singen, tanzen und flechten Kränze aus den Zweigen – zu Ehren der seligen Maria.«

»Tut Ihr das auch?«

Jeannette nickte. »Wenn mir die Arbeit auf unserem Hof und die Kirchenbesuche genug Zeit lassen.« Dann wies sie auf den versprochenen Teich, dessen Wasser glasklar war. »Die Quelle wird Euch gewiss gut erfrischen. Angeblich hat sie sogar Heilkräfte. An bestimmten Feiertagen trinken deshalb Alte und Kranke von ihrem Wasser. Unserem Priester Hochwürden Minet passen solche Bräuche überhaupt nicht.«

»Wieso das?«, fragte Alain, während er seinen Merlin an der Feen-Buche festmachte.

»Er hat wohl Angst, dass Dämonen hinter den Kräften dieses Orts stecken. Er war schon mit dem geweihten Prozessionskreuz hier, um sie zu vertreiben.«

»Dann hoffe ich, Hochwürden war erfolgreich. Nicht, dass ich noch gebissen werde, wenn ich im Wasser bin«, scherzte Alain. Er sorgte sich nicht wirklich, Dämonen hatte er bisher nur in Menschengestalt kennengelernt.

»Ich suche weiter nach meinem Lamm«, schlug Jeannette vor. »Dann könnt Ihr Euch in Ruhe erfrischen.«

»Vielen Dank, liebes Hirtenmädchen. Ich hoffe, Ihr findet Euer Schaf.«

»Ich bin kein Hirtenmädchen«, betonte Jeannette schmunzelnd. »Die Schnucken hüte ich nur, weil unser Schäferjunge schon seit einer Woche erkältet ist – und das bei der Hitze. Für gewöhnlich kümmere ich mich eher um den Haushalt, spinne und nähe. Also, wenn ich schon ein Mädchen sein muss, dann eher ein Spinnermädchen.«

Erneut musste Alain auflachen.

Mit einem Winken ging das »Spinnermädchen« davon, und er verspürte Bedauern darüber, nicht noch länger mit ihr gesprochen zu haben. Er zog seine Kleidung aus, hängte sie über einen Ast und begab sich in das angenehm kühlende Nass. Darin lehnte er sich zurück und sah hinauf in die Blätter. Dieser magisch wirkende Ort sorgte erstaunlich schnell für Entspannung nach dem Ritt von Neufchâteau.

Der junge Pferdezüchter tummelte sich bereits eine Weile in dem angeblich magischen Wasser, als er ein klagendes »Mäh« vernahm. Er sah zum Ufer der Quelle. Dort stand ein Lämmchen und starrte ihn mit großen Augen an. Alain lächelte. »Na, du Ausreißer! Dann wollen wir mal deine Herrin Jeannette suchen und dich zurückgeben. Die wird erleichtert sein.«

Er stieg aus dem Teich und nahm das Schäfchen auf den Arm, um es ebenfalls am Feen-Baum anzuleinen und sich dann wieder anzuziehen. Da vernahm er im raschelnden Gebüsch hinter sich ein dumpfes Knurren, das ihn erschrocken herumfahren ließ. Aus dem Unterholz trat ein großer, zottiger Wolf – Alain sog vor Schreck scharf die Luft ein. Die Augen des Tiers mit dem grau-braunen Fell funkelten hungrig, und es bleckte seine messerscharf aussehenden Zähne. Da er keine Kleidung trug, würde Alain bei dessen Angriff noch verletzlicher sein, dachte er in Todesangst. Auch sein an die Buche gebundenes Pferd wieherte unruhig und versuchte, sich loszureißen. Er ließ das Lamm fallen und machte einen vorsichtigen Schritt in Richtung seines Schwerts, da sprang der Wolf ihn auch schon an. Das Raubtier biss Alain in den Arm, Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper – er stieß einen Schrei aus.

Plötzlich ging alles ganz schnell. Er hörte ein zischendes Geräusch, der Wolf jaulte auf, ließ von ihm ab – und da sah Alain, dass ein Pfeil aus dem Leib des zusammenbrechenden Raubtiers ragte.

Einen Wimpernschlag später bemerkte er Jeanne Darc. Sie stand zwei Pferdelängen entfernt und ließ ihren Bogen sinken. Dann starrte Alain wieder auf das winselnde Tier zu seinen Füßen, das sich im Todeskampf wand – Jeannette hatte es auf Anhieb mitten ins Herz getroffen!

»Danke«, keuchte er. »Das wäre böse ausgegangen.«

»Zum Glück hab ich das Kleine blöken gehört.« Sie kam heran, nahm ihr Lämmchen auf den Arm und sah dann ihrerseits beklommen auf den sich mittlerweile nicht mehr regenden Wolf, dessen Blut den Waldboden tränkte.

»Ich glaube, sein Kampf ist zu Ende«, murmelte Alain bedrückt. Bei aller Erleichterung, dass sein eigenes Leben gerettet war, spürte er dennoch ein vages Bedauern über den Tod dieses zuvor so mächtigen Geschöpfs. Jetzt glaubte man beinahe, einen friedlich schlafenden, wenn auch sehr großen Hund im Laub liegen zu sehen. Alain musste an Amiable zurückdenken, den Wachhund auf dem Pferdehof seines Vaters. Wie sehr hatte er um seinen treuen Gefährten aus Kindertagen getrauert, als dieser irgendwann an Altersschwäche gestorben war.

Jeannette schien Alains Gedanken erraten zu haben, denn sie verkündete: »Ich werde ihn später anständig begraben, aber jetzt sollten wir uns erst mal hierum kümmern.« Sie zeigte auf die Bisswunde an Alains Unterarm. »Meine Mutter kann das mit Heilkräutern verbinden. Am besten, Ihr begleitet mich.«

Alain brannte der blutende Unterarm derart höllisch, dass er sogleich zustimmte.

Jeannette schmunzelte. »Vielleicht solltet Ihr Euch vorher besser wieder anziehen.«

Erst jetzt fiel ihm beschämt wieder ein, dass er noch immer nackt war.

Das Haus der Familie Darc befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur Pfarrkirche der kleinen Gemeinde Domrémy. Alain wusste, dass die Durchgangsstraße einst von den Römern gebaut worden war und von Langres nach Verdun führte. Über sie lief auch der Handel zwischen Burgund und den neu erworbenen oder angeheirateten Besitzungen von Flandern und dem Artois. Alain und sein Pferd Merlin schritten mit Jeannette und deren kleiner Schafherde auf das zweistöckige Steingebäude mit dem schrägen Dach zu.

In diesem Augenblick kam ein kräftiger Landmann Anfang dreißig um die Ecke, der grinsend den Hut vor Jeannette zog, woraufhin sie sich mit schalkhaftem Funkeln in den Augen erkundigte: »Na, Gérardin, hat dich altes Burgunderchen noch immer niemand enthauptet?«

Alain erschrak ein wenig über diese freche Äußerung, doch das Lächeln des Mannes verschwand nicht, sondern wurde noch breiter. »Gott zum Gruße, ungezogene Jeannette, zum Glück ist der Kopf noch dran.«

»Na ja, zum Essen und Trinken brauchst du ihn ja auch noch«, gestand sie ihm zu.

Er hob mit gespielter Strenge den Zeigefinger. »Ich werde deinem Vater sagen, er soll dir dringend mal wieder den Hintern versohlen. Wünsche dir noch einen vorzüglichen Tag.«

»Dasselbe für dich«, sagte Jeannette, und er ging weiter seines Wegs.

»Was war das denn für ein Geplänkel?«, wunderte sich Alain.

Jeannette machte eine abwinkende Handbewegung. »Ach, das war nur Gérardin von Épinal, der einzige Burgunder, der sich bei uns im Dorf niedergelassen hat. Ich erinnere ihn gern daran, dass seine Landsleute unsere Todfeinde sind und er deshalb geköpft gehört – sobald es Gott gefällt. Wir verstehen uns blendend.«

Da sprang plötzlich ein etwa siebenjähriger Junge von einer Mauer und fuchtelte mit einem Holzschwert vor ihnen herum. »Wohin des Wegs, Fremde? Seid Ihr mit den teuflischen Engländern im Bunde?«, rief der Knabe. »Oder den verräterischen Burgundern?«

Jeannette verwuschelte ihm die schulterlangen schwarzen Haare. »Spiel dich nicht so auf, du Dreikäsehoch, bring lieber die Schafe in den Stall!« Dann wandte sie sich an ihren verletzten Begleiter. »Das ist mein Neffe Pierret, der Sohn meines ältesten Bruders Jacquemin.«

»Ich bin Alain …«, setzte er an zu sagen, doch der Junge war bereits losgerannt, um die kleine Herde in den Stall zu treiben. Die Haustür wurde aufgerissen, und eine schlanke Frau mit dunklen Augen und schwarz-grauen Haaren trat heraus. »Was war denn das für ein Geschrei, Jeannette?«

»Pierret hat unseren Gast auf etwas merkwürdige Weise begrüßt. Maman, das ist der Pferdehändler Alain Le Royer. Der Wolf hat ihn am Arm verletzt. Ich dachte, du kannst dir die Wunde einmal anschauen«, erklärte Jeannette.

»Oh, mein armer Herr. Ich helfe gern, wenn ich kann«, sagte die Mutter mitleidsvoll und kam heran, um Alain die Hand zu schütteln. »Isabelle Romée mein Name.«

»Romée? Heißt das, Ihr seid einst nach Rom gepilgert?«, mutmaßte Alain. Für gewöhnlich deutete dieser Beiname auf eine Glaubensreise in die Ewige Stadt hin. Jeder sollte sie einmal im Leben gemacht haben, hatte der Pfarrer von Vaucouleurs einst betont.

Jeannettes Mutter schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, nein, die Herkunft meines Familiennamens ist weit weniger aufregend. Wir sind wohl nach einem Teich in der Gegend von Toul benannt. Kommt doch herein!«

»Ich stelle indes Euren Merlin unter und gebe ihm ein wenig Hafer zu futtern«, schlug Jeannette vor.

Kurz darauf hatte Isabelle die Bisswunde des Gasts mit einem Kamillensud ausgewaschen und mit sauberem Leinen verbunden. Das Haus der Darcs war karg eingerichtet, aber angenehm kühl.

»Ihr habt doch gewiss Hunger«, mutmaßte die Gutsherrin. »Ich habe Bohnensuppe und Käsebrote vorbereitet. Darf ich Euch etwas davon anbieten?«

Eigentlich wollte Alain nicht gierig erscheinen, aber den verlockenden Geruch der auf der Feuerstelle köchelnden Suppe hatte er schon beim Betreten des Hauses wahrgenommen.

»Also ja«, schloss Isabelle aus seinem Zögern. Sie ging zu einem Regal, um eine Holzschüssel und einen Löffel für den Gast zu holen.

In diesem Augenblick betrat ein Mann mit grauem Haar und kantigem Gesicht die Küche. Sein breiter Körper wirkte auf Alain wie einer jener großen runden Steine, die Soldaten einen Hang herunterrollen ließen, um nahende Feinde zu zerschmettern.

Mit argwöhnischem Blick sah der Hausherr zuerst den Gast und dann die Frau an der Feuerstelle an.

»Liebster, das ist der Pferdehändler Alain Le Royer. Unsere Jeannette hat ihn vor einem Wolf gerettet und zum Verbinden hergebracht«, erzählte Isabelle hastig, die sich ein wenig vor ihrem Gatten zu fürchten schien. »Herr Le Royer, das ist mein Gatte Jacques Darc.«

»Jeannette und ein Mann?«, fragte der Gutsherr ungläubig. Dann grinste er, drückte dem jungen Gast etwas zu fest die Hand und setzte sich zu ihm an den Tisch.

»Pferdehändler also?«, hakte er nach.

Alain wunderte sich, dass Jacques gar keine Einzelheiten über die Begegnung seiner Tochter mit einem Wolf wissen wollte.

»Ja, mein Bruder Gilbert und ich führen unseren Hof in Vaucouleurs seit zwei Jahren allein, damals ist mein Vater bei einem Brand gestorben«, antwortete Alain, der soeben von der Bohnensuppe gekostet hatte und begeistert darüber war, wie gut sie schmeckte. »Wir leben bei meinem Onkel Henri im Haus, dem Stellmacher von Vaucouleurs. Seither kann man bei unserer Familie Pferde und Wagen beziehen.«

»Vaucouleurs, ah, sehr gut. Eine der wenigen Städte nördlich der Loire, die weiterhin zu Frankreich halten«, lobte Jeannettes Vater, während ihnen seine Frau Brot hinstellte. »Ich bin dort öfter bei Bezirkshauptmann Baudricourt – als Vertreter von Domrémy in Verwaltungsangelegenheiten. Man vertraut mir hier in der Gemeinde. Dreihundert Menschen immerhin.«

»Robert de Baudricourt kenne ich auch gut, er hat meiner Familie geholfen, als unser Hof niedergebrannt ist«, berichtete Alain, doch Jacques Darc schien davon nichts wissen zu wollen, er fuhr lieber mit seinem Eigenlob fort: »Als Wachtmeister bin ich hier im Ort die rechte Hand des Probstes. Ich nenne zehn Hektar gutes Land mein Eigen. Wer auch immer unsere Jeanne zur Frau nimmt, er kommt in eine wohlhabende und angesehene Familie. Ihre ältere Schwester Catherine hat den Sohn des Bürgermeisters von Greux geheiratet.«

Allmählich konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Jacques seine jüngere Tochter mit dem Gast verkuppeln wollte.

In diesem Augenblick betrat Jeannette den Raum.

»Draußen zieht gerade alles zu«, berichtete sie. »Wir bekommen gewiss das ersehnte Gewitter – und endlich etwas Abkühlung.«

Alain blickte aus dem Fenster, um die bedrohlich dunkle Wolkenwand zu betrachten. »Oje, dann breche ich wohl besser auf.«

»Übernachtet doch hier, im Gesindehaus bei den Ställen ist eine Kammer frei«, bot Jacques Darc an. »Das Gewitter wird bestimmt sehr heftig, und vor Einbruch der Nacht schafft Ihr es ohnehin nicht bis Vaucouleurs.«

»Das ist wirklich sehr gastfreundlich von Euch, vielen Dank«, entgegnete Alain und probierte von dem am Feuer gerösteten Brot mit Schafskäse, das ebenfalls köstlich schmeckte.

»Weib, hol Wein für unseren Gast!«, schnauzte Jacques zu seiner Frau hinüber. »Aber den guten!« Dann wandte er sich grinsend an Alain. »Hab das edle Tröpfchen in Neufchâteau gekauft, ist zwar von den Burgundern, schmeckt aber trotzdem sehr gut. Und den Händler habe ich über den Tisch gezogen, glaubt mir.«

»Danke, dass ich ihn kosten darf«, gab Alain knapp zurück. Die anbiedernde Angeberei des Gutsherrn fand er ein wenig abstoßend. Von seinem eigenen Vater hatte Alain gelernt, Menschen einzuordnen, um schwarze Schafe unter den Käufern beim Pferdehandel rechtzeitig auszumachen. Die Darcs hielt er nach dieser ersten Begegnung für redliche Bauern mit gutem Ruf. Sie lebten anscheinend in gesicherten Umständen, reich waren sie der Einrichtung ihres Hauses nach zu urteilen aber eher nicht.

Er wandte sich an Jeannette, die statt der Bohnensuppe nur ein wenig Brot und verdünnten Wein zu sich nahm. »Seid ihr mit Merlin zurechtgekommen?«

»Ja, er hat artig gehorcht und sich im Verschlag gleich über den Hafer hergemacht«, antwortete sie mit einem Lächeln.

»Euer Pferd heißt Merlin? Wie der Kerl mit den Prophezeiungen?«, stieß ihr Vater hervor.

Alain fragte sich, weshalb Jacques Darc das Wort so abfällig betonte und dabei in Jeannettes Richtung sah.

Diese sprang wütend von ihrem Stuhl auf und ging aus dem Raum, ihre Mutter und den Gast beklommen zurücklassend.

»Dieses Kind wird noch mein Ende sein«, knurrte Jacques verstimmt, und Alain fragte sich, was er damit meinte.

Das Unwetter hatte, wie von Jacques Darc befürchtet, stark gewütet. Zunächst war es draußen immer dunkler geworden, dann war auf gleißende Blitze grollender und krachender Donner gefolgt. Und schließlich hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet: Sintflutartig war der rauschende Regen herabgestürzt und hatte im Nu Wiesen in Sümpfe und die Straßen von Domrémy in Bäche verwandelt. Doch das Gewitter war rasch weitergezogen, bei Nachtanbruch war der Spuk vorüber und der Himmel über Domrémy wieder wolkenlos. Nur die Pfützen am Boden, der süße Duft der Sommerluft nach dem Regen und die angenehme Abkühlung zeugten noch von dem Wolkenbruch.

Alain fand in seinem Zimmer im Gesindehaus bei den Stallungen der Darcs dennoch keinen Schlaf. Er musste ständig an den Streit denken, der zwischen Jeannette und ihrem Vater zu schwelen schien. Worum es dabei wohl gehen mochte? Wieso war dem Patriarchen derart daran gelegen, seine Tochter zu verheiraten, dass er sie sogar mit einem Mann verkuppeln wollte, den die Familie gerade erst kennengelernt hatte?

Obschon sie ihm das Leben gerettet hatte, konnte sich Alain nicht vorstellen, ein Mädchen wie Jeannette zu heiraten, dafür war sie in seinen Augen etwas zu jungenhaft. Andererseits schätzte er sie für ihr keckes Wesen und hatte sich in ihrer Gegenwart gleich sehr wohlgefühlt. Das lag bestimmt auch daran, dass sie ihn ein wenig an seine zwei Jahre jüngere Schwester Claudine erinnerte. Auch sie übernahm trotz ihres jungen Alters gern das Kommando in Haus und Stallungen.

Schließlich bekam Alain Durst und ging hinüber zu dem Tisch, auf dem ein Krug mit verdünntem Wein stand. Als sein Blick durch das Fenster auf das Haupthaus fiel, sah er dort eine Gestalt herauseilen. Er erkannte, dass es sich um Jeannette handelte – sie bewegte sich in Richtung Ortsausgang. Warum begab sie sich in der Dunkelheit der Nacht in derartige Gefahr? Er beschloss, ihr zu folgen.

Kapitel 2

Alain hatte sich rasch angezogen, sein Schwert gegriffen und eilte nun hinter Jeannette her durch die mondlose Sommernacht. Er war schnell genug, sie in der Ferne wieder zu entdecken. Sie ging auf den Feen-Baum zu, an dem bereits jemand mit einer Fackel wartete. Als er heranschlich, wurde Alain klar, dass nicht eine weiß gewandete Fee mit blondem Haar das Licht bei sich trug, sondern ein untersetzter Mann mit schwarzem Schnurrbart in seinem Alter, der ganz und gar dunkel gekleidet war. Etwa ein heimlicher Geliebter? Offenbar war er hier, um Jeannette beim Beerdigen des Wolfs zu helfen, denn er trug eine Schaufel bei sich.

»Die Grube ist schon fertig«, kündigte er mit einem Grinsen an, während er sich eine dunkle Locke aus dem Gesicht strich. »Hast mich mal wieder den Löwenanteil der Arbeit erledigen lassen. Zum Glück ist der Boden endlich aufgeweicht.«

»Als ob du jemals den Löwenanteil irgendeiner Arbeit gemacht hättest«, entgegnete Jeannette spöttisch. »Komm, lass uns ihn beerdigen und nach Hause gehen. Wenn uns Vater doch noch erwischt, gibt es Ärger.«

»Darf ich helfen?«, fragte Alain, der sich nicht länger verstecken wollte.

Der erschrockene Dunkelgelockte versuchte mit einer fahrigen Bewegung, die Schaufel drohend vor sich zu halten, stellte sich dabei jedoch so tollpatschig an, dass sie zu Boden fiel.

»Lass ihn in Ruhe, Pierre, das ist doch der Gast, von dem ich dir erzählt habe«, klärte ihn Jeannette auf. »Herr Le Royer, dies ist der jüngste meiner drei Brüder.«

Der lachte erleichtert. »Ach, der Pferdehändler aus Vaucouleurs.« Er streckte seine verschmutzten Hände vor. »Besser, wir verzichten aufs Schütteln. Pierre Darc mein Name. Als ich heute nach Hause kam, habt Ihr wohl schon geschlafen.«

»Freut mich«, sagte Alain.

»Und was sucht Ihr nachts hier draußen?«, fragte ihn Jeannette.

»Ehrlich gesagt bin ich Euch gefolgt. Ich sah Euch vom Fenster aus und habe mir Sorgen gemacht.«

»Das war nicht nötig«, meinte Pierre. »Wenn ich in der Nähe bin, ist die kleine Jeannette vollkommen sicher. Habe auch schon den Großteil der Drecksarbeit erledigt.«

»Ich kann nichts dafür, meine Mutter ist erst so spät zu Bett gegangen«, verteidigte sich Jeannette. »Die Eltern hätten es mir nie erlaubt, nachts herauszugehen, um einen Wolf zu beerdigen.«

»Ich helfe Euch«, bot Alain an.

Gemeinsam schafften sie den Kadaver, den Pierre bereits in einen alten Sack gewickelt hatte, in das ausgehobene Erdloch. Jeannettes Bruder war gerade fertig damit, es wieder zuzuschaufeln, da erblickte Alain im Dunklen des Waldes einen schwankenden Lichterschein. Er wies die Geschwister mit einer Handbewegung und einem Zischen an, ruhig zu sein. Dann deutete er in die Richtung der anderen Fackel. »Da ist noch jemand um die Zeit unterwegs«, flüsterte er.

Pierre steckte rasch seine Fackel ins Erdreich, um sie zu löschen. »Führt sicher nichts Gutes im Schilde. Vielleicht ein Späher von den Engländern, den Burgundern oder ähnlichem Diebsgesindel.«

»Schaut, das Licht bewegt sich wieder in Richtung Straße«, machte Jeannette die beiden jungen Männer aufmerksam.

»Wahrscheinlich bloß jemand, der sein Geschäft verrichtet hat«, mutmaßte Pierre. »Lasst uns trotzdem zurück ins Dorf, wer weiß, was für Raubtiere hier sonst noch unterwegs sind.«

»Wir sind nicht ganz wehrlos. Diesmal habe ich zum Glück mein Schwert am Körper und bin nicht nackt«, scherzte Alain.

»Ihr wart nackt, als Euch der Wolf angegriffen hat?« Pierre sah mit gespielter Empörung zu seiner Schwester. »Den Teil hast du mir verschwiegen, Jeannette.«

»Ich habe erzählt, dass er im Feen-Teich gebadet hat. Das wird er kaum bekleidet getan haben, oder?«, versetzte sie bärbeißig. »Mit drei Brüdern weiß ich, wie ein nackter Junge aussieht. Und ich hätte ihn schlecht aus Scham über seinen Anblick zerfleischen lassen können!«

»Schon gut. Ich will ja bloß nicht, dass es wieder einen Prozess gibt«, winkte Pierre ab, und Alain fragte sich, was er damit meinte.

»Wie gehen denn die Geschäfte als Pferdehändler?«, fragte ihn Jeannettes Bruder, als sie auf dem Rückweg zum Haus der Darcs waren.

»Man muss geschickt verhandeln können«, erläuterte Alain. »Die Leute haben nicht viel Geld. Und wenn sie darauf bestehen, ein bestimmtes Tier geliefert zu bekommen, läuft man Gefahr, unterwegs überfallen zu werden. Meinem Bruder haben sie im März einen wertvollen Schimmel abgeknöpft.«

»Die Zeiten sind unsicher, ja, es ist wahrhaft eine Schande«, fluchte Pierre. »Vor drei Jahren hat Graf Robert von Saarbrücken Schutzgeld von uns erpresst. Im selben Jahr wurde dann unser Vieh gestohlen – von einem Räuberhauptmann namens Henri d’Orly.«

»In dem Fall bekamen wir es allerdings zurück«, erzählte Jeannette. »Unser Dorf gehört der Familie von Bourlemont, die wird durch Madame von Joinville vertreten. Als wir ihr von dem Diebstahl erzählt haben, hat sie einen Verwandten von ihr um Hilfe gebeten, den Grafen von Vaudémont.«

Alain wusste, dass jener Adelige einer der mächtigsten Herren Lothringens war.

»Vaudémonts Männer haben das Vieh ohne große Schwierigkeiten zurückerobert«, setzte Pierre den Bericht seiner Schwester fort. »Als Orly ihnen dann wutentbrannt nachgeritten ist, konnten sie ihn zurückschlagen und die Herde sicher nach Domrémy treiben. Die Freude bei uns im Dorf war natürlich groß.«

»Aber im April darauf sind dann die englischen und burgundischen Truppen in unser Fürstentum eingedrungen, es hat ein Vermögen an Rittern und Söldnern gekostet, die wieder loszuwerden«, sagte Jeannette und fügte im Brustton der Überzeugung hinzu: »Frieden und Ruhe werden erst möglich, wenn die Engländer aus Frankreich vertrieben sind!«

Inzwischen waren sie beim Haus der Darcs angekommen. Alain überlegte nachzufragen, auf welchen »Prozess« Pierre vorhin angespielt hatte, beließ es dann jedoch dabei, die Gutenachtwünsche der Geschwister zu erwidern. Jeannette sah so müde aus, und sie schien ja nicht gern über diese Angelegenheit zu sprechen.

Am nächsten Morgen erwachte Alain durch Stimmengewirr unter seinem Fenster. Er sah hinaus und erblickte Jacques Darc mit seinem Sohn Pierre und einem dürren, hochgewachsenen Mittzwanziger, dessen Haar kurz geschoren war.

»Wenn das wirklich passieren würde, was ich von meiner Tochter geträumt habe, würde ich wollen, dass Ihr sie ertränkt«, sagte der Patriarch eben zum Entsetzen des Lauschers. »Und wenn Ihr es nicht tätet, würde ich es selbst übernehmen!«

Am Abend zuvor hatte Jacques Darc Alain ja erzählt, dass es eine zweite Tochter namens Catherine gab, die mit dem Bürgermeistersohn des Nachbarorts verehelicht war. Alain war sich jedoch sicher, dass die Drohung, sie unter Umständen zu ertränken, der armen Jeannette galt. Hatte es etwas mit dem von Pierre erwähnten Prozess zu tun? Er beschloss, aufzustehen und vor seiner Abreise herauszufinden, was es damit auf sich hatte.

Da er im Haus niemanden vorfand, sah er zunächst nach seinem Pferd. Merlin begrüßte ihn wiehernd. Alain öffnete den Verschlag und begann im Garten ein paar Reitübungen mit dem Hengst. Er ließ ihn rückwärts schreiten, dann seitlich, schließlich bewegte er ihn in einer Pirouette um die eigene Achse.

»Wunderbar!«, hörte er die hingerissene Jeannette ausrufen.

Alain drehte sich zur Seite und sah sie Beifall klatschen.

Er verneigte sich ein wenig und erwiderte ihr strahlendes Lächeln. Wie konnte ihr eigener Vater auch nur darüber nachdenken, diesem Mädchen etwas anzutun?

»Könnt Ihr mir beibringen, so zu reiten?«, bat sie ihn zu seinem Erstaunen.

»Ich befürchte, so lange werde ich nicht mehr bei Euch sein«, entgegnete er bedauernd, während er vom Pferd stieg.

Gerade kam ihr Bruder Pierre mit dem zweiten jungen Mann zu ihnen, da erklangen die Glocken der Kirche nebenan. Unvermittelt fiel Jeannette auf die Knie, sprach ein kurzes stilles Gebet und rannte dann in Richtung des Gotteshauses, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.

»Guten Morgen, Herr Le Royer, ich hoffe, Ihr habt gut geschlafen«, grüßte ihn Pierre. »Darf ich Euch den mittleren von uns drei Brüdern vorstellen? Das ist Jehan Darc.«

Der etwa vierundzwanzigjährige Schlaks drückte Alains Hand.

»Wohin wollte Jeannette denn so eilig?«, wandte sich Alain verwundert an Pierre.

Er sah kurz Hilfe suchend in Jehans Richtung, der mit den Schultern zuckte, und sagte dann zögerlich: »Seit Jeanne … seit sie dreizehn ist, hat sie sich verändert. Fast übertrieben fromm ist sie auf einmal geworden. Sobald sie es läuten hört, fällt sie auf die Knie, und dann rennt sie zur Kirche, um die Messe zu hören.«

»Sie empfängt die heilige Kommunion, wann immer es möglich ist. Ihre Altersgenossen lachen sie schon aus deswegen. Ihre besten Freundinnen Hauviette und Mengette aus dem Dorf waren ganz ratlos – plötzlich wollte Jeanne von den Spielen der Jugend nichts mehr wissen«, fügte Jehan hinzu. »Zum Glück hungert sie nicht auch noch. Sie hält zwar pflichtbewusst die kirchlichen Fastenzeiten ein, aber sie übt keine Selbstkasteiung.«

»Und warum ist sie so anders geworden?«, hakte Alain nach.

Pierre sah sich zögerlich um, schließlich sagte er mit gesenkter Stimme: »Sie behauptet, sie habe Stimmen gehört. Von Gott, oder genauer gesagt von seinen Heiligen.«

Das verblüffte Alain. Jeannette wirkte eher bodenständig als auf irgendeine Weise entrückt. »Wo ist das denn passiert, vorm Altar?«

»Nein, hier bei uns im Garten, um die Mittagszeit, im Sommer«, widersprach Pierre. »Aber die Stimmen kamen aus Richtung der Kirche. Anfangs hatte sie angeblich ganz schön Angst deswegen.«

»Was haben sie gesagt?«

Pierre zögerte erneut, bevor er weitersprach. »Zuerst haben sie ihr wohl nur geraten, ein gutes Mädchen zu sein und oft zur Kirche zu gehen.«

Alain hörte aus dem Satz heraus, dass es dabei nicht geblieben war. »Aber dann?«

Jeannettes jüngster Bruder atmete tief durch. »Irgendwann sagten ihr die Stimmen, sie solle zum französischen Thronfolger gehen und für ihn mit einer Armee unser Land von den Engländern befreien.«

Alain starrte ihn fassungslos an.

»So hat unser Vater auch reagiert, als er von ihren Plänen erfahren hat«, sagte Pierre mit freudlosem Lächeln. »Er hatte sogar einmal einen Albtraum davon, dass Jeanne bald tatsächlich mit Soldaten von hier wegziehen wird. Das macht ihm sehr zu schaffen. Schließlich geht für gewöhnlich nur eine Sorte von Frauen einem Heer nach.«

Alain verstand, worauf der Darc-Sohn anspielte. Es waren Huren, die den Soldaten auf ihren Feldzügen folgten. Dass seine Tochter einem Heer vorausreiten könnte, war etwas, das Jacques Darc gewiss nie in den Sinn gekommen wäre. Und es war ja auch vollkommen unwahrscheinlich.

»Jeannette glaubt aber nicht wirklich an diesen Gottesauftrag?«, vergewisserte sich Alain.

»O doch, sie hat in dieser Sache sogar schon erste Schritte unternommen. Letzten Monat war Durand Laxart zu Besuch, der Mann unserer Cousine Jeanne de Vauseul. Sie hat ihn überredet, sie mit zu sich zu nehmen und nach Vaucouleurs zu bringen; er wohnt in Burey-le-Petit, einem Dorf in der Nähe von dort. Unseren Eltern gegenüber hat sie behauptet, sie wolle unserer schwangeren Cousine helfen. In Wirklichkeit hatte sie sich in den Kopf gesetzt, dass Durand ihr zu einem Treffen mit dem Statthalter von Vaucouleurs verhilft.«

»Mit Baudricourt?«, wiederholte Alain verblüfft. Der Kommandant seiner Heimatstadt hatte schon mehrere Pferde und Wagen bei den Le Royers bezogen – er kannte ihn als tatsachenorientierten Spötter. »Was wollte Jeannette denn von ihm?«

»Sie hat ihn gebeten, dass er ihr ein Vorsprechen beim Thronfolger in Chinon ermöglicht. Damit sie dem ihren Plan mitteilen kann, die Engländer zu vertreiben«, berichtete Pierre. »Nach elf Tagen Wartezeit hat Baudricourt Laxart und Jeannette am Himmelfahrtstag dann tatsächlich empfangen.«

»Und was antwortete er auf ihre Bitte?«

»Er hat sie weggeschickt und unserem Verwandten geraten, man möge ihr doch zu Hause ein paar kräftige Ohrfeigen verpassen.«

Die Enthüllungen musste Alain erst einmal verarbeiten. Nie hätte er damit gerechnet, dass dieses bodenständige und aufgeweckte Landmädchen den rechtmäßigen König überreden wollte, ihr ein Heer zu übergeben – aufgrund von Visionen! Er beschloss, verspätet den Gottesdienst aufzusuchen und nach dessen Ende mit Jeannette zu sprechen. Immerhin hatte sie ihm das Leben gerettet, da war er es ihr schuldig zu verhindern, dass sie sich um Kopf und Kragen redete.

Nach der Predigt und dem Verschwinden der übrigen Gemeindemitglieder stand Jeannette noch bei einer Frauenstatue und blickte so durchdringend in deren Gesicht, als erwarte sie, von ihr angesprochen zu werden.

Alain trat an sie heran und fragte vorsichtig: »Ist das die Jungfrau Maria?«

Jeanne schüttelte den Kopf. »Nein, die heilige Margarete.«

»Ah, die geweihte Jungfrau aus dem dritten Jahrhundert«, erinnerte er sich an eine Erzählung seiner frommen Schwester Claudine. »Sie hat doch Widerstand gegen die Verfolgung der Christen geleistet.«

Jeannette nickte anerkennend. »Richtig. Wie schön, dass Ihr sie auch kennt. Unser Pfarrer hat erzählt, dass sie die Tochter eines heidnischen Priesters in Antiochia gewesen sein soll. Die christliche Amme erzog sie zu deren Glauben. Als ihr Vater das rausbekam, hat er Margarete verstoßen und sie beim Stadtpräfekten angeschwärzt. Sie hat in Männerkleidern und rund geschnittenem Haar das Haus ihres Ehemanns verlassen und für die Christen gekämpft.«

Alain schloss aus Jeannettes glänzenden Augen, dass sie sich auf gefährliche Weise in diese Märtyrerin hineinversetzte. »Ja, und am Ende ist sie enthauptet worden«, erinnerte er sie. Er wollte gerade weitere Warnungen aussprechen, da erklangen von draußen aufgeregte Schreie.

»Die Burgunder kommen!«, brüllte eine Stimme. »Wir müssen fliehen!«, eine andere.

Jeannette und Alain sahen sich kurz an, dann stürzten sie in stummem Einverständnis gleichermaßen aufgebracht aus der Kirche. Draußen schien das gesamte Dorf auf den Beinen zu sein.

»Onkel Durand«, rief Jeannette einem etwa vierzigjährigen Mann zu, der auf einem schweißbedeckten Pferd saß. Es musste sich um den Mann ihrer Cousine aus dem Nachbarort von Vaucouleurs handeln. Seine braunen Locken hingen ihm in sein besorgtes Gesicht.

»Jeannette!«, keuchte er außer Atem, als er vom Pferd sprang. »Ihr müsst fliehen! Burgundische Anführer sind auf dem Vormarsch, angeblich, um Vaucouleurs zu belagern. Robert von Baudricourt bereitet sich auf die Verteidigung vor, aber er kann das offene Land nicht schützen.«

»Sollen wir das Pack nicht wieder mit Geld abspeisen?«, fragte Jacques Darc. »So wie vor zwei Jahren die Raubritter?«

»Die haben damals in Gondrecourt gelagert und uns und den Bewohnern von Greux drüben mit Besetzung gedroht«, raunte Pierre Darc Alain zu. »Bei denen hat die Bestechung durch Abgaben funktioniert, sie haben unsere beiden Dörfer dann verschont.«

»Ein solches Vorgehen wird bei den Burgundern nichts helfen«, meinte Durand, »da sind einige richtige Feuerteufel dabei, zwei Höfe hab ich unterwegs schon brennen sehen.«

Pierre nickte. »Wir sollten auf ihn hören, Vater. Wir haben uns doch schon mal einen Notfallplan für einen drohenden Überfall ausgedacht.«

»Also gut«, gab Jacques Darc nach. Er rief laut: »Wir schaffen unsere Kühe, Ziegen, Schafe und die Gäule nach Neufchâteau, Leute. Die Mauern dort werden die Burgunderschweine abhalten. Wir kehren zurück, wenn die Truppen verdrängt sind.«

Die Bewohner von Domrémy schienen Jeannettes Vater zu vertrauen, es gab ausschließlich Zustimmung für seinen Vorschlag. Auch Alain fand die Idee gut. Die einen halben Tagesritt südlich gelegene, ummauerte Stadt gehörte dem Herzog von Lothringen. Dieser war zwar mit den Engländern verbündet, mochte insgeheim jedoch auch Franzosen, die zum Dauphin hielten. Deshalb konnte Alain in jener Stadt ungestört mit seinen Pferden und den Fuhrwerken seines Onkels Henri handeln. Die Männer von Neufchâteau würden den Flüchtlingen aus Domrémy also wahrscheinlich helfen. Sie waren ja keine Feinde.

»Wir sollten uns beeilen«, riet Jeannettes Bruder Jehan. »Die burgundischen Truppen sind schnell.«

»Ich helfe euch gern beim Packen und Beladen«, bot Alain an. »Nach Vaucouleurs zurück kann ich ja gerade sowieso nicht. Ich kenne den Statthalter von Neufchâteau, er hat schon Pferde von meinem Vater bezogen. Ich werde nachher vorausreiten und Euch ankündigen.«

Jeannette lächelte trotz ihrer merklichen Angst und flüsterte ihm zu: »Danke, Alain. Ihr seid ein guter Mann.«

Kapitel 3

Sonnenlicht und der Schatten der dahinziehenden Schönwetterwölkchen wechselten einander an diesem warmen Junisonntag ab, während Mélisande Auclair am Ufer der Maas die Wäsche wusch. Im Gasthaus ihrer Tante fielen stets Berge von schmutzigen Leinen an; sie zu reinigen war eine elende Plackerei. Die Sechzehnjährige musste sie oft stundenlang auf Steinen oder mit einem Stück Holz schlagen, um die Tücher wieder sauber zu bekommen. Nicht immer erlaubte ihre Tante Marie die Verwendung von Seife, meist musste es eine Lauge aus Holzasche tun, von der bekam Mélisande allerdings oft einen Ausschlag an den Händen. Überhaupt war die Arbeit im Wirtshaus hier in Neufchâteau hart – Kochen, Putzen und der Ausschank, bei dem sie häufig von angetrunkenen Gästen belästigt wurde. Aber immerhin litt sie nicht mehr unter dem Hunger, der sie früher oft gequält hatte. Sie war ihrer Tante dankbar für die Anstellung. Marie La Rousse hatte die Nichte vor einem Jahr aufgenommen, nachdem Mélisandes Mutter Christine Auclair zur Trauerfeier ihres Schwiegervaters nach Auxerre gereist und dort von Räubern entführt worden war. Seither war sie spurlos verschwunden. Das Mädchen betete jeden Abend, dass ihre Maman überlebt hatte, es ihr gut ging – und bald ein Wiedersehen möglich sein würde. Oft wurde sie jedoch von Albträumen geplagt, in denen dies nicht der Fall war. Warum nur hatte der Tod des Großvaters ihre Mutter zwingen müssen, sich außerhalb der sicheren Mauern der Stadt zu begeben, über der die fast vierhundert Jahre alte Burg wachte?

In diesem Augenblick sah sie einen Reiter mit großer Geschwindigkeit auf das Gasthaus ihrer Tante zugaloppieren. Als er vor ihr das Pferd zum Stehen brachte, stellte sie fest, dass es sich um einen stattlich gebauten, jungen Mann mit schulterlangem blondem Haar und hübschem Gesicht handelte.

»Guten Tag, werte Jungfer«, grüßte er lächelnd, »Jacques Alain Le Royer mein Name. Ist Madame La Rousse zu sprechen?«

Wie aufs Stichwort trat in diesem Augenblick ihre Tante aus dem Gasthaus, eine untersetzte Frau mit wilden roten Locken. Die Haarfarbe passte zu ihrem Nachnamen, der »die Rothaarige« oder auch »Fuchsige« bedeutete. »Guten Tag. Ihr seid doch der Pferdehändler, nicht wahr?«, erkannte sie den Reiter. »Und Ihr trinkt gern Apfelmost und Honigwein.«

»Euer Gedächtnis ist erstaunlich«, befand Le Royer. »Ich habe das letzte Mal ja vor über einem Jahr bei Euch übernachtet.«

»Was kann ich denn heute für Euch tun?«, fragte die Gastwirtin lächelnd.

»Das Dorf Domrémy ist in Gefahr«, verkündete er. »Die burgundischen Söldner sind auf Raubzug. Deshalb möchten gut zweihundert Seelen hier vorübergehend Unterschlupf in Eurer schönen Stadt suchen, bis die Kerle weitergezogen sind. Mit dem Statthalter habe ich schon gesprochen, er ist einverstanden. Einige Leute werden in den beiden Kirchen hier untergebracht.«

»Bei mir ist nur ein Zimmer belegt. Von einem Stammgast, einem Troubadour, der sich hier zur Ruhe gesetzt hat«, berichtete Marie La Rousse. »Aber alle anderen sind frei. Werdet Ihr selbst denn auch bei uns bleiben?«

»Ja, im Augenblick ist es wenig ratsam, nach Vaucouleurs heimzukehren. Den Gerüchten über die bevorstehende Belagerung sollte man wohl besser Glauben schenken.«

»Dann bekommt Ihr die Kammer neben dem Sänger. Folgt mir, Euer Ross könnt Ihr im Stall unterstellen«, bot Marie La Rousse an. »Danach zeige ich Euch das Zimmer. Mélisande, bereite die anderen Kammern vor, wenn du mit der Wäsche fertig bist.«

 

Die Nichte beeilte sich mit dem Reinigen der Leinen, da sie die Ankunft der Flüchtlinge aus Domrémy nicht verpassen wollte. Gegen Abend traf dann tatsächlich der Tross mit Pferdewagen, Ochsenkarren, Ziegen- und Schafherden sowie Kühen ein. Vielen der Frauen, Männer und Kinder stand die Angst ins Gesicht geschrieben. Die hier in Neufchâteau stationierten Söldner des Herzogs erwiesen sich jedoch als zuvorkommend. Der schöne Pferdehändler Jacques Alain Le Royer begann zu helfen, die Verteilung aller Unterkünfte zu organisieren. Dabei unterstützte ihn ein kräftiger Mann, den Mélisande bereits kannte. Er kaufte und verkaufte mit seinen drei Söhnen öfter Bauernerzeugnisse oder Vieh hier auf dem Markt und hieß Jacques Darc. Mélisande mochte ihn nicht sonderlich, er war ihr immer recht herrisch und geldgierig vorgekommen. Neben zwei seiner Söhne war mit ihm ein Mädchen eingetroffen, kaum älter als Mélisande selbst, dessen geheimnisvolle dunkle Augen sich aufmerksam umsahen. Auch sie half den Menschen, die sie »Jeannette« nannten, deren jeweilige Unterkunft zu finden. Dabei war sie leise, freundlich und schenkte ihnen bisweilen ein ermutigendes Lächeln. Sie beteiligte sich fleißig daran, die Bündel mit den wenigen geretteten Habseligkeiten der Familien Domrémys in die zugewiesenen Kammern des Wirtshauses zu tragen. Als sie damit fertig waren, gab sie Mélisande die Hand. »Vielen Dank für Eure große Hilfe.«

Die Magd war völlig verblüfft, noch nie hatte ihr jemand für ihre Arbeit gedankt.

»Ich bin Jeannette, und du?«

»Mélisande. Bist du eine der Töchter von Jacques Darc?«

»Ja, du kennst unsere Familie?«

»Dein Vater hat öfter im Schankraum von Euch gesprochen, wenn er hier zurzeit des großen Marktes bei meiner Tante eingekehrt ist.«

Mélisande verschwieg dabei, dass Darc seine ältere Tochter Catherine für deren Schönheit und ihren noblen Bräutigam gelobt hatte, ihm zu Jeannette jedoch nichts Gutes eingefallen war. »Ich verfluche den Tag, an dem das Balg geboren wurde.«

Jeannette schien es jedoch zu ahnen. »Na, wenn er von mir erzählt hat, dann sicher nichts Gutes. Könntest du mir einen kleinen Schlafplatz in euren Stallungen zeigen? Mein Vater möchte keine Kammer für mich zahlen.«

Mélisande wurde von Zorn auf Jacques Darc erfasst. Wie konnte er nur so ungerecht sein? »Wenn du möchtest, darfst du gern mit in meiner Kammer übernachten. Ich habe genug Platz.«

»Störe ich dich denn nicht?«, fragte Jeannette unsicher nach. »Wir müssen ja vielleicht länger hierbleiben.«

»Du bist mir herzlich willkommen – wenn dir mein Gemach gefällt. Soll ich es dir zeigen?«

Die Darc-Tochter nickte strahlend.

Während die beiden jungen Frauen auf das Haus zugingen, lächelten ihnen die dankbaren Geflohenen zu oder nickten anerkennend. Nur ein Mann um die zwanzig sah Jeannette grimmig, ja fast hasserfüllt an. Der weizenblonde, drahtige Kerl war Mélisande auch deswegen aufgefallen, weil er als Einziger der Gäste aus Domrémy bewaffnet war; er trug Pfeil und Bogen mit sich.

Kurz darauf betraten sie ihre Kammer unter dem Dach des Wirtshauses. Die Herbergsmagd sah das Erstaunen in Jeannette Darcs Blick: Das Zimmer war geräumig, die Wände waren mit grobem Lehm verputzt, jemand hatte Blumenranken darauf gemalt. Die Decke war mit bunten Tüchern und einem gestickten Überwurf geschmückt, den ein reisender Ritter im Gasthaus zurückgelassen hatte. Auf dem Nachttischchen prangte ein abgenutzter Kerzenständer. Ein niedriges Bett aus geflochtenem Stroh stand in der Ecke. Darüber hing ein Spiegel, dessen Silberrahmen von einem Ohrring geziert wurde, den jemand verloren und nie abgeholt hatte. Neben der Lagerstatt befand sich ein kleines Harfeninstrument – ein Geschenk von ihrem Stammgast, dem zur Ruhe gesetzten Troubadour Guilhem Bernard. Er hatte Mélisande am Fluss beim Singen ertappt und war wider Erwarten ganz begeistert davon gewesen.

»Wie schön du es hier hast!«, staunte Jeannette und sah zu den Holzbalken hinauf, an denen getrocknete Blumensträuße hingen. »Und wie wunderbar es duftet. Ist das Lavendel?«

Mélisande nickte. »Die meisten Gegenstände hier haben Besucher vergessen. Meine Mutter hat immer gesagt, man muss es sich ein bisschen gemütlich machen.«

»Hat? Dann lebt sie nicht mehr?«

»Ich hoffe schon. Vor einem Jahr ist ihr Schwiegervater Guillaume Auclair gestorben, und meine Großmutter stand allein mit dem Weingut in Auxerre da. Deshalb hat sich meine Mutter mit einem befreundeten Weinhändler auf die gefährliche, fünftägige Reise begeben, um das Grab zu besuchen und ihrer Schwiegermutter zu helfen. Ich kam so lange hier bei meiner Tante Marie unter.« Ihre Stimme stockte. »Maman wurde dann kurz nach ihrer Ankunft in Auxerre von einer burgundischen Räuberbande entführt. Seither ist sie spurlos verschwunden, und ich bin hiergeblieben.«

»Gib die Hoffnung nicht auf!«, sagte Jeannette mitleidsvoll und streichelte ihr tröstend die Hände. »Wenn es der Herr will, kommt deine Maman noch frei.«

 

Es war bereits sieben Tage her, dass der Großteil der Menschen von Domrémy in Neufchâteau Zuflucht gesucht hatte. Auch Alain war dortgeblieben, um auf die Nachricht zu warten, dass seine Heimatstadt Vaucouleurs nicht länger belagert wurde. Als er am Montagmorgen bei den Stallungen des Wirtshauses wie gewohnt ein paar Kunststückchen mit Merlin vollführte, schaute ihm Jeannette erneut beeindruckt zu. Bei ihr war ihre neue Freundin Mélisande, die Nichte der Wirtin. Die Darc-Tochter mochte die junge Dienstmagd so sehr, dass sie ihr täglich beim Putzen half. Die beiden tuschelten gern miteinander und kicherten bisweilen wie im Chor. Nur beim abendlichen Bedienen in der Schenke wollte die Freundin keine Hilfe von Jeannette. »Die betrunkenen Männer sind oft sehr aufdringlich«, hatte Alain sie gestern sagen gehört. »Damit muss man umzugehen wissen.«

Er selbst konnte mit Mélisande nicht viel anfangen. Wann immer er in der vergangenen Woche versucht hatte, die zierliche Blonde in ein Gespräch zu verwickeln, war sie stets errötet, hatte nur leise geantwortet oder bereits die Flucht ergriffen, wenn sie ihn nur von Weitem gesehen hatte. Sie schien wirklich äußerst schüchtern zu sein – ganz anders als Jeannette, die ihm gegenüber mit jedem Tag frecher wurde.

»Guten Morgen, Alain, wann bringt Ihr mir endlich bei, so zu reiten?«, rief sie ihm denn auch jetzt mit frechem Grinsen zu.

Er hatte Lust, ihre Courage herauszufordern, und schlug vor: »Wie wäre es denn mit jetzt gleich? Allerdings solltet Ihr dafür wohl besser Beinlinge und Kittel tragen.«

Zu seinem Erstaunen entgegnete Mélisande daraufhin mit fester, lauter Stimme: »Daran soll es nicht scheitern. Ich bewahre jede Menge Kleidung auf, die unsere Gäste vergessen haben, da ist auch einiges fürs Reiten dabei. Einiges davon wird Jeannette bestimmt passen.«

»Dann holt doch etwas Passendes«, sagte Alain, und das blonde Schankmädchen rannte in Richtung Herberge. Dort saßen schon eine Weile zwei junge Frauen auf einer Mauer, naschten Erdbeeren und beobachteten sie. Er hatte mitbekommen, dass sie Hauviette und Mengette hießen und Freundinnen von Jeannette aus Domrémy waren.

»Es ist wichtig, dass der Übungsplan sich nach den Bedürfnissen der Pferde richtet«, belehrte er dann Jeannette. »Eine ruhige und sichere Umgebung hilft dem Tier, neue Lektionen besser zu lernen.«

Schließlich kam Mélisande, ein Knäuel von mehreren Kleidungsstücken im Arm, zurück aus der Herberge. Sie stolperte über einen Stein, und die Gewänder fielen zu Boden.

Alain eilte dem Schankmädchen zu Hilfe, doch Hauviette war bereits von der Mauer gesprungen, um sie beim Aufheben der Reitkleidung zu unterstützen. »Es ist schön, dass Jeannette neue Freunde gefunden hat«, hörte er, wie die Nachbarin aus Domrémy zu Mélisande sprach. »Seit sie plötzlich so fromm geworden ist und dauernd zum Beten und Beichten will, konnten Mengette und ich ihr nicht mehr so nah kommen wie früher. Ihre Geheimnisse haben sie immer mehr von uns getrennt.«

Als Alain bei ihnen ankam, schloss er aus der plötzlichen Aufgeregtheit der beiden Mädchen aus Domrémy, dass sie seinetwegen ihre Erdbeeren in Sichtweite gegessen hatten.

»Guten Morgen, die Damen«, sagte er etwas verlegen und nahm Mélisande die Hälfte der Kittel, Wamse und Beinlinge ab.

Jeannette gegenüber hielt er Wort. Er brachte ihr bei, wie man seitlich und rückwärts ritt, sogar die Pirouette versuchte sie. Mélisande applaudierte ihrer Freundin begeistert.

»Ihr lernt sehr schnell«, sagte Alain anerkennend. Er war überzeugt, dass Jeannette schon zuvor eine sehr gute Reiterin gewesen sein musste, sonst wären ihr diese schwierigen Übungen nie und nimmer gelungen. Da bemerkte er, dass ihnen aus einem der Fenster des Gasthauses ein weizenblonder Mann in seinem Alter zuschaute. Sein Gesicht war rot vor Zorn. Er hieß Othon Lavigne und war in Domrémy ein Nachbar der Darcs. Das wusste Alain von Pierre, den er nach dem Namen gefragt hatte, nachdem ihm im Lauf der vergangenen Woche mehrmals aufgefallen war, dass der junge Lavigne Jeannette feindselige Blicke zugeworfen hatte. Als Alain sich jedoch bei ihrem Bruder nach einem möglichen Grund dafür erkundigt hatte, war dieser ihm die Antwort schuldig geblieben: »Da fragt Ihr sie am besten selbst.«

Das hatte Alain bisher nicht gewagt. Da dieser Othon jedoch schon wieder so bösartig herstarrte, beschloss er, bei ihr wegen des offensichtlichen Grolls auf sie nachzuhaken. Er machte sich ein wenig Sorgen, schließlich lief der merkwürdige Kerl ständig mit Pfeil und Bogen herum. Doch zunächst würden sie den Reitunterricht fortsetzen. Alain musste zugeben, dass ihm dieser auch selbst großen Spaß machte, da Jeannette so schnell begriff.

 

Am dreizehnten Abend ihres Aufenthalts in Neufchâteau lag Jacques Darc mit Schnupfen und Husten auf seiner Lagerstatt. Deshalb trauten sich Jeannettes Brüder Pierre und Jehan, sie ausnahmsweise mit in die Gaststube zu nehmen, in der sie mit ihrem Reitlehrer Alain verabredet waren. Dieser freute sich sehr über die Anwesenheit seiner Schülerin.

»Heute habe ich eine Glückssträhne«, meinte Pierre bestens gelaunt, während er mit glänzenden Augen die Münzen zählte, die er eben bei einem Würfelspiel mit anderen Flüchtlingen gewonnen hatte.

Alain bemerkte, wie Jeannette mit strengem Gesichtsausdruck auf das Geld starrte.

»Jetzt schau mich nicht so vorwurfsvoll an, du machst mich ganz unruhig!«, fuhr ihr Bruder sie gereizt an. Dann wandte er sich an Alain, der gerade dankbar Mélisande zulächelte, nachdem diese ihm Honigwein eingeschenkt hatte. »Mein Schwesterchen hasst es, wenn ich diesem Glücksspiel fröne.«

»Weil es mich an die römischen Soldaten erinnert. Die haben erst unseren Herrn Jesus gekreuzigt und dann um sein Gewand gewürfelt«, erläuterte Jeannette verstimmt.

Da Alain verhindern wollte, dass der Streit der Darcs ausartete, lenkte er sie mit einer Frage ab: »Habt Ihr denn etwas von Euren anderen Geschwistern gehört?«

»Nein, aber ich denke, es geht beiden gut«, gab sich Pierre zuversichtlich. »Unser Ältester, Jacquemin, ist ja an dem Sonntagmorgen unserer Flucht mit seiner Frau und den beiden Kindern zur Großmutter nach Toul gereist, dort dürften sie sicher sein.«

»Und für unsere Schwester Catherine im Bürgermeisterhaus von Greux gilt gewiss dasselbe«, ergänzte Jehan, sich den Bierschaum vom Mund wischend.

»Wieso habt Ihr den Mann Eurer Cousine eigentlich Onkel genannt?«, wandte sich Alain an Jeannette.

»Er ist ja über zwanzig Jahre älter als ich und war immer eine Respektsperson für mich. Als Kind habe ich auch nicht ganz verstanden, wie genau wir verwandt sind, deshalb war er eben der Einfachheit halber Onkel Durand für mich.«

In diesem Augenblick betrat ein halbes Dutzend französische Soldaten die Schenke. Die Männer schrien lautstark nach Wein und Bier; die arme Mélisande wirkte angesichts der ungewohnt vielen Gäste bald völlig überfordert. Sie kam mit den Bestellungen kaum hinterher, es dauerte den Männern zu lang, bis die gefüllten Gläser und Teller vor ihnen standen. Sie wurde beschimpft. Jeannette sprang beherzt auf, um ihrer Freundin beizustehen. Mit erstaunlichem Geschick balancierte sie nach kürzester Zeit mehrere Krüge auf einem Tablett und verteilte diese an die lauten Gäste. Alain wurde Zeuge, wie einer der Soldaten sie ansprach: »Dich habe ich hier ja noch nie gesehen. Du machst den Eindruck, als könntest du einen richtigen Kerl gebrauchen.« Er griff nach ihrem Arm und zog sie zu sich heran und auf seinen Schoß. Jeannette versuchte sich zu befreien, aber der Mann lachte nur spöttisch. »Einen schönen Vorderbau hast du.« Bevor er ihren Busen anfassen konnte, war Alain bei ihm und hielt seinen Arm fest. »Lasst sofort die Jungfer Darc los! Sie ist ein anständiges, frommes Mädchen.«

Der hochgewachsene Soldat erhob sich, ohne jedoch Jeannettes Arm aus seinem eisernen Griff zu lassen. »Und was geschieht, wenn ich darauf keine Lust habe?«

Ehe Alain antworten konnte, stieß Jeannette dem Soldaten ihr Knie so kräftig zwischen die Beine, dass er sie stöhnend aus seinem Griff entließ und in sich zusammensackte.

In diesem Augenblick tauchte die Wirtin La Rousse neben ihr auf, begleitet von ihrem Koch und Wächter, einem riesenhaften Muskelberg. »Benehmt Euch und macht Eurem Regiment keine Schande!«, riet sie dem sich vor Schmerzen krümmenden Söldner. »Sonst setzt Euch Ours persönlich vor die Tür, und Euer Kommandant wird benachrichtigt.«

Alain wandte sich fürsorglich an Jeannette. »Wollt Ihr Euch das hier wirklich weiter antun?«

»Natürlich will sie das«, rief plötzlich eine Männerstimme hinter ihnen. Sie fuhren herum – und erkannten Othon Lavigne. »Hier kann sie ja eine Menge Geld verdienen – auf die verschiedensten Weisen. Dafür gibt die sich doch jedem Dahergelaufenen hin.«

Jetzt hatte Alain Mühe, seinen Zorn zu unterdrücken. »Wag es nicht, so über Jeanne Darc zu sprechen! Sie ist eine ehrenhafte Frau!«

Othon lachte spöttisch und voller Hass auf. »Ehrenhaft? Hat sie dir etwa versprochen, dir für den Reitunterricht die Ehe zu gewähren – oder Hurendienste?« Jeannette traten ob dieser beleidigenden und demütigenden Worte Tränen in die Augen, Alain stieß den Pöbler zu Boden. Der Raum war erfüllt von aufgebrachten Stimmen und wütenden Blicken, der alte Troubadour Guilhem Bernard hatte sein Lied unterbrochen. Im Nu war eine Prügelei zwischen Othon und Jeannettes Brüdern im Gange, La Rousse schrie nach ihrem Koch, der bereits wieder in die Küche zurückgekehrt war.