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Clod ist ein Wabs vom Waldvolk der Wabinger. Sein größter Kummer ist, dass seine Flügel noch nicht abgefallen sind, denn erst wenn er kein geflügelter Wabs mehr ist, darf er zur Schule gehen. Seine Freunde haben ihre Flügel alle schon verloren, nur bei ihm dauert und dauert es. Da trifft Clod eines Tages den Geschichten-Sammler Wonter, der ihm von der verschwundenen Stadt Laetitia erzählt. Auf der prächtigen Stadt liegt ein Bann, und ein alter Zauberspruch besagt, dass nur ein Kind die Stadt befreien kann. Doch zuerst muss ein magischer grüner Stein gefunden werden. Zusammen mit Wonter macht Clod sich auf die Suche nach dem Stein. Doch dann ist Clod plötzlich ganz auf sich allein gestellt. Er erfährt, dass noch jemand an dem grünen Stein interessiert ist – und mit diesem Jemand ist nicht zu spaßen …
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Seitenzahl: 178
Veröffentlichungsjahr: 2013
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Angela Brauer
Books on Demand
Für meine Kinder
Verena, Michael und Sebastian
In Wabingen
Clod
Wonter
Aufbruch
Am Fluss
Zum Gebirge
Hinein und fast wieder zuruck
Bei den Quauken
Auf dem Fluss
Die ganze Wahrheit
Hoch hinauf
Nach Westen
Uber dem See
Dem Morgen entgegen
In einem großen Wald, einem richtigen Märchenwald, wo alles ein bisschen anders abläuft als in einem gewöhnlichen Wald, lebten die Wabinger. Bäume gehörten zu ihrem Leben wie die Sonne an den Himmel. Die Wabinger wohnten in Baumhäusern und sie glaubten fest daran, dass die Eigenschaften der Bäume sich auf ihre Bewohner übertrugen. So war es nie ein Zufall, in welchem Baum ein Wabinger lebte. Die jahrhundertealten, tief verwurzelten Eichen mit ihren ausladenden Ästen boten viel Platz und Schutz, und ihre Bewohner waren tüchtige und furchtlose Leute, die es liebten, wenn der Sturm so richtig brauste und an den Zweigen rüttelte. Wer ein strenges und maßvolles Leben führte, der wohnte im hohen Buchenwald, wo die prächtigen Stämme wie Säulen in schwindelnde Höhen strebten. Mit ihrer silbergrauen Rinde wirkten die Buchen vornehm und festlich. Ihr dichtes Laubwerk formte sich zu einer dunkelgrünen Kuppel und tauchte den Ort in ein geheimnisvolles Licht. Hier gab es viel Stille und fast lautlos schritt man über den dicken Laubteppich, den die Buchen über ihren Wurzeln ausgelegt hatten.
In ihrem freundlichen Grün waren die Linden die Schönheiten des Waldes. Ihre herzförmigen Blätter glänzten hell in der Sonne, und im Herbst vergoldeten sie den Wald. Manchmal trug der Wind einen milden Duft durch den Ort und man konnte Musik und Gesang hören. Da lächelten die Wabinger, denn sie wussten, dass drüben bei den Linden die Blütenernte im Gange war, und sie freuten sich auf den Tee und den Honig, aber vor allem auf einen köstlichen Likör, den die Lindenbewohner nach einem geheimen Rezept herstellten.
Am Rande von Wabingen gab es prächtige Rosskastanien, Baumriesen mit schön gedrehten Stämmen und dichten, runden Kronen. Sie bildeten hier eine breite Allee, welche in sanftem Bogen an einem Wiesental entlang führte. Im Frühling, wenn die Bäume in ihrer Blütenpracht standen, ähnelten sie mit ihren großen, bunten Kerzen prunkvollen Kronleuchtern. Im Sommer blieb es unter den Schattenbäumen stets angenehm kühl. Und im Herbst sprangen die frisch polierten Früchte aus ihren stachligen Hüllen und rollten zwischen das gelbe Laub. Dann war der Winter nicht mehr fern und durch das dünner werdende Laubkleid schimmerte das fein gegliederte Geäst. Wenn endlich eine weiße Schneedecke die Schritte dämpfte und das warme Licht aus den Fenstern der Baumhäuser strahlte, war es hier besonders zauberhaft.
Dass die Wabinger in kunstvollen Baumhäusern wohnten, die sie mit viel Fantasie und großem Geschick errichteten, war gewiss außergewöhnlich. Doch noch außergewöhnlicher waren ihre Kinder. Wenn sie geboren wurden, trugen sie auf ihrem Rücken kleine Flügel mit winzigen Federchen. Ohne Zweifel war das eine sehr übermütige und ziemlich unnötige Laune der Natur, denn die Kinder konnten damit nicht fliegen. Aber für die Wabinger war es in Ordnung. Sie nannten ihre kleinen Kinder »Wabse« und freuten sich an ihnen, wenn sie wie ein Spatzenschwarm lärmend auf den Waldwiesen herumtollten.
Wegen der Flügel musste man sich auch keine Gedanken machen, denn eines Tages fielen sie sowieso ab. So wie allen Kindern, wenn die Zeit dafür reif ist, die Milchzähne ausfallen, so selbstverständlich verlieren die Wabse auch ihre Flügel. Eines Morgens wacht ein Wabs auf und findet sie neben sich im Bett liegen. Die kleinen Wunden schließen sich rasch und lassen auf dem Rücken nur zwei winzige Punkte zurück.
Einmal im Sommer drehte sich in Wabingen alles um ein besonderes Fest: das schönste und wichtigste Fest für alle Wabse, die in diesem Jahr ihre Flügel verloren hatten – das Flügelfest. In den mondlosen Nächten vor dem Fest gingen junge Frauen durch den Ort und nahmen die Flügel, welche die Eltern der Wabse an die Türen gebunden hatten, wieder ab und verschwanden damit in einem dichten Tannenwäldchen. In den folgenden Tagen sah man immer wieder einzelne Federn durch den Wald schweben, und die Wabse, die eigentlich keine mehr waren, schlichen heimlich zu einer Lichtung und versteckten sich hinter den Bäumen. Von dort aus konnten sie die Frauen sehen, die lachend und schwatzend damit beschäftigt waren, die weichen Flügelfedern mit Blumenblüten und Blättern zu kleinen Kränzen zusammenzufügen. Denn es gab in Wabingen einen Brauch, und kein Wabs, der einen solchen Kranz erhalten wollte, kam daran vorbei. Es war der »Auftritt der Wabse«, der Höhepunkt des Flügelfestes.
Wenn sie die hölzerne Bühne betraten, welche auf der Wiese unterhalb der Kastanienallee errichtet worden war, hatten die Wabse aufgeregtes Herzklopfen. Trotzdem waren sie ganz versessen darauf, endlich ihr Können zu zeigen. Nun galt es, die Gunst der Zuschauer zu erringen und zu beweisen, dass sie keine kleinen Wabse mehr waren. Und so schlugen sie sich mutig und verblüfften das Wabinger Publikum mit ihren pfiffigen Ideen. Hell schallten ihre Stimmen über den Festplatz, wenn sie ihre eigens für das Fest erdachten Lieder und Gedichte vortrugen. Sie musizierten und tanzten, zeigten akrobatische Kunststücke oder führten Zaubertricks vor. Wenn zum Schluss der Beifall aufbrauste und die Frauen ihnen den Kranz auf den Kopf drückten, waren sie am Ziel ihrer Wünsche: Von nun an gehörten sie zu den jungen Wabingern. Nachher, wenn das Fest seinen Lauf nahm, stolzierten sie erhobenen Hauptes auf der Festwiese umher und freuten sich über das Lob der Dorfbewohner. Und auch die Eltern waren sichtlich stolz auf ihre Kinder, die nun bald die Schule in der Stadt besuchen würden.
So war das Flügelfest eigentlich auch ein bisschen ein Abschiedsfest – doch darüber wollte an diesem Tag niemand nachdenken. Die Wabinger feierten ausgelassen und fröhlich. Sie hatten rings um die Wiese lange Tische aufgestellt, die mit weißen Tüchern bedeckt waren. Darauf türmten sich nun die herrlichsten Speisen. Überall roch es nach Honig und Kuchen, nach frischem Brot, gerösteten Nüssen und gebratenen Pilzen. Zwischen üppigen Blumensträußen standen zahlreiche Körbe, gefüllt mit den reifen Früchten des Waldes. Aus riesigen Tonkrügen strömte der würzige Duft gekühlter Getränke. Die Männer tranken das kräftige Wabinger Bitterbier, das aus Kastanien gebraut war, während die Frauen den süßen Lindenblütenlikör bevorzugten. Am Abend, wenn der Mond am Himmel stand, wurde getanzt. Übermütig wirbelten die Tanzenden um das Feuer, welches die Mitte der Wiese erhellte, und alle lachten, wenn die Röcke der Frauen in die gefährliche Nähe der Flammen gerieten. Die Musikanten spielten bald schneller und heizten den Tänzern kräftig ein. Das Fest dauerte die ganze Nacht hindurch und niemand dachte ans Aufhören. Nur die kleinen Wabse hatten sich satt und erschöpft unter den Tischen zusammengerollt und schliefen fest.
Manchmal kam es vor, dass ein Wabs etwas länger als die anderen brauchte, bevor ihm die Flügel abfielen. Dann verpasste er das Flügelfest und musste bis zum nächsten Jahr warten. Das war natürlich eine ziemliche Enttäuschung für den Wabs, aber die Dorfbewohner halfen ihm darüber hinweg, indem sie ihm mit kleinen Aufmerksamkeiten das Leben versüßten.
Clod war solch ein Wabs, bei dem es länger dauerte. Er wohnte mit seinen Eltern auf einer großen Rosskastanie, und bekümmert musste er zuschauen, wie seine Freunde auf die Pferdegespanne kletterten, um in die Stadt gebracht zu werden. Das geschah alljährlich im späten Sommer, bevor die Schule begann und die Wabinger auf den Markt fuhren. Sie handelten gern und verkauften ihre Spezialitäten: das Bitterbier, den Honig und den Likör, aber auch Bucheckernöl, Rosskastanienleim, Kräuter, Birkensaft und Hustensaft und verschiedene Teesorten, die sie aus den Blüten, Knospen und Blättern der Bäume hergestellt hatten. Die Leute in der Stadt waren ganz verrückt auf den Tee, denn im Gegensatz zu den Waldleuten hatten sie hunderte kleiner Beschwerden und Leiden. Insgeheim belächelten die Wabinger die Lebensart der Stadtbewohner. Sie waren dünne Leute mit blasser Haut und richtige Stubenhocker, die ihre Häuser nur verließen, wenn es einen guten Grund dafür gab. Sobald der Wind ein bisschen pfiff, zogen sie sich warme Jacken an und verbargen den Kopf unter dicken Wollmützen. Wenn es regnete, trugen sie Stiefel und spannten Schirme auf, um nicht nass zu werden. Das taten sie übrigens auch bei schönem Wetter, um keinen Sonnenstich zu bekommen. Wen sollte es also wundern, dass sie allerlei Krankheiten überstehen mussten. Sie hatten eine Schwäche für schöne Möbel, vor allem für Schränke, die sie mit allen möglichen Dingen vollstopften, auch wenn sie diese zu keiner Zeit wirklich brauchten. Sie fanden auch Gefallen daran, hübsche Vögel in Käfige zu sperren, um damit ihre Fenster zu schmücken. Vor allem aber interessierten sie sich für Uhren. Die sammelten sie mit großer Leidenschaft, und es gab in ihren Häusern kaum eine Stube, in der es nicht tickte und tackte, und zu den halben und vollen Stunden hörte man überall in den Straßen das Rasseln und Klappern, das Läuten und Bimmeln, das Schlagen und Gongen. Die Stadtbewohner galten als wunderliche Käuze, doch in Wirklichkeit waren sie herzensgute Leute. Es erfüllte sie mit Stolz, dass sie eine Schule in ihrer Stadt hatten. Und wenn die Kinder aus der ganzen Umgebung anreisten, um an dieser berühmten Lehranstalt zu lernen, dann nahmen die Stadtleute sie ohne Murren bei sich auf und versorgten sie gut, denn sie wollten ihnen gern für eine Weile die Eltern ersetzen. In der ersten Zeit hielten sie sogar ihre Uhren an, um den Kindern den Schlaf nicht zu rauben und um sie beim Lernen nicht zu stören. Doch nach ein paar Tagen war das nicht mehr nötig, denn die jungen Gäste hatten sich bald daran gewöhnt. Der eigentliche Name der Stadt war Ehrenpreis, aberdie Kinder nannten sie Ticketack, und unter diesem Namen war sie auch überall im Lande bekannt. Jedes Kind betrat die Stadt voller Neugier und froher Erwartung. Auch in Wabingen gab es keinen Wabs, der sich nicht auf das Leben in der Stadt gefreut hätte. Und jedes Jahr, wenn die mit Körben, Fässern und Kisten voll bepackten Wagen dorthin rollten, saßen die zukünftigen Schulkinder stolz zwischen ihren Eltern auf dem Kutschbock und fühlten sich wie Reisende, die ausziehen, die Welt zu erobern.
In jenem Jahr, als Clod zurückbleiben musste, hatte er seinen Eltern zunächst mit traurigen Augen nachgeschaut. Doch dann war er hinaufgeklettert in die luftige Höhe des Kastanienbaumes, wo der Vater ihm eine eigene kleine Baumhütte gebaut hatte. Sie war wie ein Nest im dichten Blättergrün versteckt. Dort saß er und blickte hinunter ins Wiesental. Allmählich entfernte sich der Lärm der Wagenkolonne vom Dorf und er hörte wieder die vertrauten Geräusche des Waldes. Zwischen den gefiederten Blättern schimmerten bereits die stachligen Früchte und er spürte den Sommerwind und das sanfte Wiegen des Astes, auf dem er saß. So flogen die trüben Gedanken schnell davon.
Nach einigen Tagen kehrten die Wagen zurück. Nun waren sie vollgestopft mit vielen nützlichen Dingen, aber auch manch schönes Geschenk für die daheim Gebliebenen war dabei. Clod staunte nicht schlecht, als die Eltern ihm ein kleines Blasrohr überreichten, das sie bei einem Händler auf dem Markt für ihn gekauft hatten. Es steckte in zwei Teilen in einer ledernen Hülle, die seitlich an einem Gürtel befestigt war. Man konnte es durch ein fein geschnittenes Gewinde zusammenschrauben, so kam das Rohr auf eine beachtliche Länge. Andächtig strich Clod über das glänzende Holz. »Probier es aus!«, lachte der Vater, und Clod ließ sich nicht lange bitten und schob einen der bunt gefiederten Pfeile in die Öffnung. Er setzte das Rohr an seine Lippen, holte tief Luft, blies die Backen auf, und nach einem kraftvollen Stoß schoss der Pfeil zwischen den Bäumen hindurch und blieb im Holz eines Wagens stecken. Alle lachten, aber der Vater klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.«
Während sie gemeinsam den Wagen entluden, erzählten die Eltern von dem Händler, der auf dem Markt die Aufmerksamkeit der Leute auf sich gezogen hatte. Sein verwegenes Aussehen ließ vermuten, dass er schon weit in der Welt herumgekommen war, und so drängte sich die Menge dicht um seinen Wagen, um all die seltsamen Dinge betrachten zu können. Gar manchem saß das Geld plötzlich locker in der Tasche beim Anblick der bunten Stoffe und Tücher, der schönen Schmuckstücke und Gürtel aus feinstem Leder. Mit Ehrfurcht bewunderte man geheimnisvolle Figuren und Masken aus schwarzem Holz und die blitzenden Messer mit ihren schön geschnitzten Griffen. Farbenfrohe Bilder zeigten wilde Tiere und fantastische Landschaften. Der Fremde verzauberte die Leute und hatte großen Spaß daran, ihre Kauflust anzustacheln. Den jungen Mädchen zwinkerte er zu und schenkte ihnen farbige Steine, die den Liebeskummer vertreiben könnten, wenn man sie nur lange genug in der Hand behielte. Auch Clods Eltern waren schnell in seinen Bann geraten, und der Händler hatte nicht viele Worte gebraucht, sie zum Kauf zu bewegen. »Hier seht ihr eine wahre Rarität!«, rief er und schwenkte das Blasrohr hoch über ihren Köpfen. »Geheime Kräfte stecken in diesem edlen Holz, das ich von einem fernen Ort mitgebracht habe!« Dann beugte er sich herüber und flüsterte: »Es wird eurem Sohn gefallen. Greift nur schnell zu, bevor ein anderer danach schnappt!«
Der Händler hatte sich nicht geirrt. Das Blasrohr gefiel Clod vom ersten Augenblick an und gespannt lauschte er den Erzählungen der Eltern. Dabei spürte er eine seltsame Sehnsucht, die ihn verwirrte, weil er sie nicht verstand. Die Mutter bemerkte seine Unruhe, nahm ihn in die Arme und sagte: »Genieße es doch einfach, noch ein Weilchen ein Wabs zu sein.« Dagegen war nun wirklich nichts einzuwenden und allzu gern gab Clod sich diesem unbeschwerten Dasein hin.
Am liebsten durchstreifte er den Wald. Er kletterte hinauf in die Wipfel der Bäume oder lag träumend im weichen Moos, und dieses Leben gefiel ihm. Das Blasrohr trug er nun ständig bei sich, und schnell hatte er gelernt, sein Ziel sicher zu treffen. Er traf nun, was er wollte, und die anderen Wabse beneideten ihn darum. Manchmal grübelte er über die geheimen Kräfte nach, von denen der fremde Händler gesprochen hatte, und er betrachtete lange die schöne Gürtelschnalle, in deren Mitte ein von einem Ring eingefasster grüner Stein leuchtete.
Die Wabinger gewöhnten sich bald an Clods neue Leidenschaft. Wenn sie irgendwo im Wald einen Pfeil fanden, sagten sie nur: »Clod war hier« und nahmen das kleine Geschoss mit. Später legten sie es für ihn auf die Treppe des Hauses. Hörten sie ein Geräusch, das dem Zischen eines fliegenden Pfeiles ähnelte, sagten sie, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken: »Hallo, Clod!« Und so kam es vor, dass sie versehentlich auch den Vogel grüßten, der im schnellen Flug vorüberschoss, oder einen Zapfen, der sich von der hohen Tanne löste und mit leisem Ploppen auf dem Boden aufschlug.
Manchmal ging Clod mit einem Buch unter dem Arm zu den Buchen hinauf. Er erklomm eine lange Treppe, die sich um den grauen Stamm nach oben schwang, und klopfte leise an eine Tür. Ein Mann öffnete ihm und Clod schlüpfte in die helle Stube des Hauses. Herr Linus, so hieß der Mann, stellte Tee und Kuchen auf den Tisch, und dann saßen sie auf dem Sofa und Clod deutete in dem Buch auf alle Wörter, die er noch nicht verstanden hatte. Herr Linus war einmal Lehrer gewesen und erklärte alles mit viel Geduld. So kam es, dass Clod schon bald lesen und auch ein bisschen schreiben konnte. Neben einem hohen Fenster mit bunten Glasscheiben stand ein großes Regal an der Wand. Herr Linus besaß eine Menge Bücher. Clod durfte sie herausnehmen und darin lesen. Er war sehr stolz, wenn er eines mit nach Hause nehmen durfte.
Als die Herbststürme das Laub von den Bäumen rissen, musste Clod sein luftiges Quartier aufgeben und wieder hinunter in das Haus der Eltern ziehen. Es war ein schönes Baumhaus, errichtet auf einer hohen Plattform, die den mächtigen Stamm der Kastanie umrundete. Der Bauherr war dem Wuchs des Baumes gefolgt und hatte das Fachwerk so ineinandergefügt, dass die starken Äste ungehindert hindurchwachsen konnten. Auf diese Weise streckte sich der Baum durch jeden Raum, strebte durch die Wände und wuchs durch das mit Holzschindeln bedeckte Dach wieder hinaus, um seine dichte Krone über ihm auszubreiten.
Wenn draußen die Schneestürme fauchten, hockte Clod am liebsten im Fenster und schaute hinunter auf das Treiben in der Kastanienallee. Die Wabinger nutzten die kalte Jahreszeit gern, um sich gegenseitig zu besuchen. Oft kamen Gäste die hölzerne Treppe heraufgestiegen, und wenn Clod hörte, wie sie über die kleine Terrasse polterten und sich den Schnee von den Jacken klopften, sprang er erfreut auf und öffnete ihnen die Tür. Er mochte die langen Abende in den behaglichen Stuben der Baumhäuser, an denen viel gegessen und getrunken und eine Menge erzählt wurde. Zu später Stunde, wenn der Wein die Zungen so richtig gelockert hatte, konnte man die abenteuerlichsten Geschichten hören. Clod sperrte seine Ohren auf, um ja nichts von dem zu verpassen, was die Dorfbewohner da zum Besten gaben. Doch irgendwann wurden die Stimmen leiser. Er schlief ein und nahm die Abenteuer mit in seine Träume.
Mit Sanftmut vertrieb der Frühling den schneereichen Winter, es roch nach Regen und frischem Grün. Im Wiesental blühten die Sumpfdotterblumen und unter den Buchen wogte das Meer der weißen Buschwindrosen. Die Vögel bauten neue Nester, erst morgens hatten sie Liebeslieder gesungen. Die ersten Wabse verloren ihre Flügel und in den Familien sprach man über das bevorstehende Fest. Da wurde Clod unruhig. Seine Flügel saßen ihm immer noch fest auf dem Rücken, und die Vorstellung, es wieder nicht zu schaffen, machte ihm Angst. Er fing an, sich seiner Flügel zu schämen, denn wenn er zwischen den anderen Wabsen stand, ragte er bereits wie ein Turm zwischen ihnen hervor. Am liebsten hätte er die Zeit angehalten, aber der Sommer ließ sich nicht beirren und zog mit all seinem Überfluss, den Düften und Farben ins Land. Bald blühten auf den Terrassen der Baumhäuser die Geranien.
Clods Eltern bemerkten wohl, wie er seine fröhliche Unbefangenheit verlor, wie er schweigsam und am Ende sogar misstrauisch wurde. Rief ihm jetzt einer ein freundliches »Na,Clod!« zu, so verstand er: »Na, Clod, nun wird’s aber wirklich Zeit!« Und er begann, den Leuten aus dem Weg zu gehen.
Außerhalb des Dorfes gab es einen Hang, der zu einem dunklen Waldstück hinaufführte. Der sandige Boden war ganz mit Ginsterbüschen und Heidekraut bewachsen. Hierher flüchtete sich Clod, wenn die Unruhe ihn plagte, und erst spät am Abend kehrte er nach Hause zurück. Einmal, es war längst dunkel geworden und Clod wollte gerade zum Haus hinaufsteigen, sah er seine Eltern auf der Terrasse sitzen. Sie sprachen leise miteinander und der Schein der Laterne fiel auf ihre Gesichter. Als Clod seinen Namen hörte, blieb er überrascht stehen und lauschte zu ihnen hinauf.
»Morgen ist Neumond«, hörte er die Mutter sagen, »und die Frauen wollen die Flügel von den Türen holen.«
»So wird er wohl noch ein weiteres Jahr mit der Schule warten müssen.« Auch die Stimme des Vaters klang enttäuscht
Clod ließ sich auf die Stufen nieder und schlang die Arme um seine zitternden Knie. Es tat ihm weh, dass die Eltern sich Sorgen machten und dass er daran schuld war. Lange blieb er im Schutze der Dunkelheit auf der Treppe hocken. Es war ganz still, nur dann und wann wehte vom Nachbarhaus fröhliches Gelächter herüber. Später hörte Clod, wie der Vater sagte: »Wir müssen es ihm sagen. Ich werde morgen mit ihm reden.«
Da stand Clod leise auf und lief davon.
Von nun an war Clod fast jeden Tag auf dem Hang und mied die Gesellschaft der anderen Kinder. Manchmal nahm der Vater ihn mit in den Wald, um Holz für die Werkstätten auszusuchen, denn in Wabingen lebten die begabtesten Tischler und Zimmerleute der ganzen Umgebung. Sein Vater war einer von ihnen. An solchen Tagen ging es Clod gut, er war stolz und zufrieden. Manchmal nahm die Mutter ihn mit, um Pilze, Beeren und Kräuter zu sammeln. Dann lachten sie den ganzen Tag. Er fand es wunderbar, mit ihr allein zu sein, zumal er wusste, dass sie seinetwegen auf die Ausflüge mit den anderen Frauen verzichtete. Doch an den meisten Tagen verkroch er sich in den Büschen am Hang und haderte mit seinem Schicksal.
Eines Tages bemerkte er, dass jemand vom Wald her mit schnellen Schritten den Pfad herunterkam. Er duckte sich tief ins Gras und hielt den Atem an. Schon war er sicher, der Fremde würde vorübergehen, da verlangsamte er seine Schritte und blieb stehen.
»Sieh da, ein Wabs, der seine Flügel noch hat«, hörte Clod ihn sagen. In Clod flammte Ärger auf, doch seine Scham war größer als sein Zorn. Er sprang auf und wollte an dem Fremden vorbeilaufen, aber der hielt ihn fest und drückte ihn zurück ins Gras.
»Sei nicht gleich beleidigt!«, sagte er und lachte.
Clod fühlte sich überrumpelt und schnaufte empört. Als er den Blick hob, sah er in das Gesicht eines jungen Mannes. Er war verblüfft, als der Fremde ihn fragte: »Wann wird das Fest sein?«
Clod zögerte mit seiner Antwort. »Bald, beim nächsten Vollmond.«
»Beim Vollmond!«, rief der Mann erstaunt, und für einen Moment blitzten seine Augen auf. »Und du glaubst nicht, dass du es noch schaffst?«.
Clod schüttelte den Kopf. Was sollten diese Fragen? Niemand glaubte daran, dass er es noch schaffen könnte.