Der Zauberer vom Wildschweinberg - Angela Brauer - E-Book

Der Zauberer vom Wildschweinberg E-Book

Angela Brauer

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Beschreibung

Eines Tages findet Ella zwischen den Ästen im Kirschbaum ihrer Tante den goldenen Zeiger einer Uhr. Sie weiß sofort: Das ist kein gewöhnlicher Uhrzeiger! Vom Uhrmacher in der Stadt erfährt Ella dann auch die unglaubliche Geschichte vom verschwundenen Uhrmachermeister Jakob Glockenschlag und dem Zauberer vom Wildschweinberg. Ella lässt diese Geschichte keine Ruhe mehr, denn der goldene Zeiger trägt die Initialen JG! Zusammen mit ihrer Freundin Susanne fährt sie in die Berge, wo nicht nur Meister Glockenschlag einst zu Hause war, sondern auch der Zauberer. Denn eins ist klar: Es hat ihn wirklich gegeben! Vor vielen Jahren hat er die Uhr geraubt, und seitdem ist sie verschwunden. Mit dem goldenen Zeiger im Gepäck beginnt für Ella und Susanne auf der Suche nach der Uhr ein aufregendes Abenteuer.

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Seitenzahl: 109

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Für Peter

Inhalt

Ein seltsamer Fund

Eine unvollendete Geschichte

Hinauf in die Berge

Marias Geschichte

Ein neuer Plan

Der Zauberberg

Seltsame Leute

Benjamin

Träume haben manchmal Krallen

Eine merkwürdige Nachricht

Tief unten im Fels

Zu guter Letzt

Ein seltsamer Fund

Vor zwei Jahren, es war die Zeit der reifen Kirschen, begann für Ella, die eigentlich Ellen heißt, im Garten ihrer Tante ein besonderes Abenteuer. Genauer gesagt, sie machte einen Fund. Da wusste sie natürlich noch nicht, dass er sie noch lange beschäftigen würde, denn er war unscheinbar wie ein Samenkorn, aus dem sich erst durch mühevolle Pflege etwas entwickeln kann. Und doch fing alles damit an, dass Ella auf einen Kirschbaum kletterte.

Das Haus ihrer Tante befindet sich am Stadtrand von Grünfeldingen. Es hat einen weitläufigen Garten, in dem mehrere alte Kirschbäume stehen. Jeden Sommer locken die Kirschen die Stare herbei. In ganzen Schwärmen fallen sie ein und machen sich über die reifen Früchte her. Den Kampf gegen die ungebetenen Gäste hat man hier schon lange aufgegeben, und niemand unternimmt noch etwas, um sie zu vertreiben.

Wie ein Star fällt auch Ella von Zeit zu Zeit in das Haus mit den Kirschbäumen ein. Nur dass sie kein unerwünschter Gast ist, im Gegenteil! Ihre Mutter ist Schauspielerin und manchmal für einige Wochen oder gar Monate zu Dreharbeiten unterwegs. Dann zieht Ella zu Tante Luise und Onkel Franz. Sie sind sehr nett, sodass der häufige Umzug für Ella auch in Ordnung ist. Und jedes Mal hat sie eine Menge Bücher im Gepäck, denn Lesen ist ihre große Leidenschaft. Im Schatten der großen Kirschbäume ist sie dann völlig ungestört und kann selbst an heißen Tagen im Gras liegen und in ihre Bücherwelt eintauchen. Onkel und Tante haben sich schnell daran gewöhnt, dass sie stundenlang mit der Nase über irgendeinem Buch hängt.

Der Ort Grünfeldingen, wo sie während dieser Zeit auch die Schule besucht, gefällt Ella sehr. Sie findet ihn viel gemütlicher als die große Stadt, in der sie mit ihrer Mutter wohnt. Er liegt in der Nähe eines Gebirges an einem Fluss und hat einen schönen Marktplatz. Außerdem gibt es einen Park mit einem richtigen Schloss darin. Einige Häuser haben einen Namen. Solche wie Haus Sonnenblume und Villa Regenbogen oder Frühlingserwachen und Waldesrauschen findet Ella sehr schick, aber Villa Katzendreck, Zur Folterkammer, Wilder Trompeter oder Hutzelhütte und Am Klapperstein gefallen ihr noch besser. Sie kann sich gut vorstellen, dass hinter all diesen Namen spannende Geschichten stecken. Das Haus von Tante Luise und Onkel Franz hat auch einen Namen: Es heißt Starenlust.

Vor zwei Jahren also, wieder war Kirschenzeit, saß Ella unter einem der alten Bäume, in denen schon seit Stunden die Stare lärmten. Den ganzen Nachmittag über war sie in ihre Lektüre versunken und hatte nicht bemerkt, wie die Schatten langsam länger wurden. Ein leichter Wind war aufgekommen, und als Ella dann doch einmal aufschaute, sah sie, wie die Sonne geheimnisvolles Licht in die Baumkronen zauberte. Wie dunkle Wege liefen die Äste in das wogende Blättermeer hinein und verloren sich dort in der Tiefe des Grüns. Da bekam sie große Lust, hinaufzuklettern und in diese magische Welt vorzudringen. Und bald saß sie hoch oben auf einem Ast, ließ sich vom Wind schaukeln und sah den Garten und die Stadt aus einer neuen Perspektive. Sie fühlte sich leicht und beschwingt wie ein Vogel. Die Stare beäugten sie argwöhnisch, als auch sie sich die reifen Kirschen schmecken ließ. Ella schnippte die Kerne nach ihnen und lachte, als sie schimpfend davonflogen.

Von nun an kletterte sie öfter hinauf, auch als es schon längst keine Kirschen mehr gab.

Eines Abends bemerkte Ella plötzlich ein merkwürdiges Glänzen und Blinken zwischen den Blättern. Neugierig rutschte sie hinüber, doch da war es schon wieder verschwunden. Ein paar Tage später sah sie es erneut. Diesmal ließ sie es nicht mehr aus den Augen und näherte sich vorsichtig. Bald erkannte sie einen länglichen, blitzenden Gegenstand, der sich im Gewirr der Zweige verfangen hatte. ›Einer der schwarz gefiederten Diebe wird ihn gestohlen und hier oben versteckt haben‹, dachte Ella und zog das kleine Metallstück aus den Zweigen hervor. Es war der Zeiger einer Uhr.

Sie war enttäuscht. Ein Zeiger, das war nun wahrlich keine Sensation. Doch dann spürte sie das warme Gold in ihrer Hand und sah genauer hin. Es war ein sehr schöner Zeiger mit einer langen, geschwungenen Spitze, sodass er wie ein Pfeil aussah. In den Schaft war eine winzige Glocke eingraviert, und auf der Rückseite erkannte Ella zwei Gleichungen: 1+1=1 und 2-1=0. Sollte das ein Irrtum sein oder steckte eine andere Wahrheit dahinter?

Am Abend zeigte sie den Fund ihrer Tante Luise.

»Geh doch morgen einfach mal beim alten Uhrmacher vorbei«, sagte die Tante, »er wohnt am Ende der Straße und weiß sehr viel über Uhren.« Sie befestigte den Zeiger an einem goldenen Kettchen und hängte es Ella um den Hals. »So kannst du ihn nicht verlieren«, lachte sie.

Ella freute sich. Später, in ihrem Zimmer, legte sie den neuen Schmuck auf das Fensterbrett.

In der Nacht hatte sie einen merkwürdigen Traum: Der Mond schien durch das Fenster, und Ella hörte ein seltsam sirrendes und schleifendes Geräusch. Auch bemerkte sie, dass sich auf dem Fußboden etwas bewegte. Es war der Zeiger, der im fahlen Mondlicht wie ein fremdartiges schillerndes Insekt aussah und das Kettchen wie einen Schwanz hinter sich herzog, während er aufgeregt an der Wand hin und her rutschte. ›Wahrscheinlich sucht er eine Gelegenheit, aus dem Zimmer zu entwischen‹, dachte Ella und wunderte sich, weil der Zeiger nicht den direkten Weg zum offenen Fenster nahm. Da richtete er sich plötzlich auf und schoss zum Schlüsselloch hinauf. Er zwängte sich hinein, aber sein langer Kettenschwanz verhedderte sich an der Türklinke. Schnell rüttelte er sich wieder heraus und flog, weil er nun gefesselt an der Klinke hing, wie verrückt um sie herum. Doch das wurde ihm erst recht zum Verhängnis, denn die Kette verwickelte sich ganz und gar. Wieder und wieder änderte der Zeiger die Richtung und schwirrte schließlich wie ein Propeller um die Klinke herum.

Ein lautes Poltern ließ Ella aus dem Schlaf auffahren. Draußen im Garten tobte der Sturm. Sie hörte sein Rauschen in den Kronen der Kirschbäume, hörte, wie es anschwoll und wieder verging, um schleunigst und mit gleicher Wildheit zurückzukehren. Dann surrte das Windspiel im Blumenbeet, und im Gartenhaus klingelte und schepperte es, als trieben Kobolde ihren Schabernack darin. Alles im Garten schien in heller Aufregung zu sein.

Schnell knipste Ella das Licht an. Der Zeiger lag auf dem Fensterbrett, so wie sie ihn am Abend hingelegt hatte. Aber da war es schon wieder, dieses leise, schleifende Geräusch. Schnell fand sie heraus, dass auch jetzt der Wind die Ursache dafür war. Er spielte mit dem Kettchen, und jedes Mal, wenn er durch das geöffnete Fenster fuhr, sirrte es auf dem Holz der Fensterbank hin und her. »Warte, heute Nacht wirst du mich nicht mehr stören!«, murmelte Ella. Sie stand auf und schloss das Fenster. Gähnend angelte sie vom Bücherregal eine kleine Holzschachtel herunter. Es war ihre Schatzkiste, in der sie manches Erinnerungsstück aufbewahrte. Doch jetzt leerte sie die Schachtel achtlos aus, legte den Zeiger samt Kettchen hinein und klappte den Deckel wieder zu. Rasch löschte sie das Licht und kroch in ihr warmes Bett zurück.

»Traumhokuspokus!«, knurrte sie.

Und doch, der Gedanke, dieser Zeiger könnte etwas Besonderes sein und nicht zu irgendeiner gewöhnlichen Uhr gehören, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Eine unvollendete Geschichte

Gleich am Morgen lief Ella zum Haus des Uhrmachers und klopfte an die Tür. »Was treibt dich denn so früh zu mir?«, fragte der Mann und ließ sie herein.

»Ich habe etwas gefunden, das ich Ihnen gern zeigen wollte.« Aufgeregt öffnete Ella das Holzkästchen.

Der Uhrmacher warf einen kurzen Blick hinein.

»Was soll damit sein?«

Ella erzählte von den Kirschbäumen und den Staren im Garten und zeigte ihm die eingravierten Zeichen auf dem Schaft des Zeigers. Ungeduldig wartete sie auf eine Antwort, doch der Mann brummte nur: »Lass es hier, ich werde darüber nachdenken.«

In der Schule saß Ella wie auf glühenden Kohlen. Kaum war der Unterricht zu Ende, rannte sie erneut zur Werkstatt. Der Meister saß schon am Fenster und winkte sie zu sich herein. Vor ihm auf dem Arbeitstisch lag der Zeiger.

»Ich habe tatsächlich etwas Interessantes gefunden. Schau genau hin!«, sagte er und spannte den Zeiger zwischen Daumen und Mittelfinger. Er hielt ihn in die Sonne und bewegte ihn langsam hin und her.

»Was soll da sein?«, fragte Ella enttäuscht.

Der Uhrmacher wiederholte den Vorgang, diesmal noch etwas langsamer. »Schau genauer hin!«

Ella starrte angestrengt auf den Zeiger. Und plötzlich, in einem bestimmten Blickwinkel, wurden auf dem Schaft unter der kleinen Glocke zwei ineinander verschlungene Buchstaben sichtbar: JG.

»Was bedeutet das?«, fragte Ella.

»Es ist eine Geheimsignatur«, sagte der Uhrmacher. »Derjenige, der diese Uhr gebaut hat, wollte seine Arbeit damit schützen.«

»Und wer hat sie gebaut?«

Der Uhrmacher schmunzelte, als er den Eifer in Ellas Augen sah.

»Ich habe eine Vermutung«, sagte er, »doch dazu müsste ich dir eine Geschichte erzählen. Willst du sie hören?«

Natürlich wollte Ella, und der Uhrmacher begann:

Hoch oben in den Bergen, nicht weit vom sagenumwobenen Wildschweingebirge entfernt, wohnte in einem der kleinen Bergdörfer ein junger Uhrmacher. Er war außergewöhnlich fleißig und talentiert und hatte trotz seiner Jugend schon einige bemerkenswerte Uhren gebaut. Richtige Kunstwerke waren darunter! Kein Wunder, dass sich das in der Umgebung schnell herumsprach. Bald kamen von überall die Menschen herbei, um die schönen Uhren zu sehen und natürlich auch zu kaufen. Eine davon bestaunten sie jedoch immer wieder, und nicht selten versuchte jemand, den Uhrmacher mit einem guten Angebot zum Verkauf zu bewegen. Er aber lehnte jedes Mal lachend ab: »Nein, nein, das geht wirklich nicht! Mein eigenes Herz schlägt darin!«

Denn diese Uhr war sein Meisterstück, und er liebte sie sehr. Dabei hob sie sich weder durch ihre Größe noch durch sonst eine sichtbare Eigenschaft von den anderen Uhren ab, doch für ihn war sie die schönste und eleganteste. Die goldenen Zeichen des Zahlenkreises zierten ein schneeweißes Zifferblatt. Auch die Zeiger waren aus purem Gold und glichen den Spitzen scharf geschliffener Pfeile. Hinter den glockenförmigen Gewichten, welche an zierlichen Ketten hingen, schwang das Pendel im gleichmäßigen Takt hin und her. Sein leises »Tack … tack« ließ manchen Besucher tatsächlich glauben, den Schlag eines Herzens zu hören. Und wenn die Uhr zu den halben und ganzen Stunden schlug, verzauberte sie alle mit ihrem Klang, denn der Uhrmacher hatte, um die Perfektion des Tons noch zu erhöhen, für das Gehäuse das edle Holz der Bergfichten gewählt. Und so war das unvergleichliche, zu Herzen gehende Schlagwerk das ganz Einmalige dieser Uhr.

Die Bewohner des Bergdorfes waren sehr stolz darauf, einen so tüchtigen Mann in ihrer Mitte zu haben, und wiesen den Leuten gern den Weg zu seiner Werkstatt. Eines Morgens jedoch bemerkten sie, dass der junge Meister nicht mehr da war. Die Tür seines Hauses stand weit offen. Als sie in die Stube traten, sahen sie, dass seine wunderschöne Uhr stehen geblieben war, genau um Mitternacht. Darüber erschraken sie sehr, denn das deuteten sie als ein schlimmes Zeichen.

Sie suchten ihn überall. Einige Männer stiegen sogar bis in die entlegenen Wälder hinauf, aber nirgends fanden sie eine Spur von ihm. Am Ende waren sich alle einig, dass der Uhrmacher einem rätselhaften Verbrechen zum Opfer gefallen war. Traurig verschlossen sie sein Haus. Die Uhr aber nahmen sie mit und stellten sie in ihrem Wirtshaus auf. Und jedes Mal, wenn das schöne Schlagwerk einsetzte, hatten sie das Gefühl, dass ihr junger Meister noch unter ihnen weilte.

Das kleine Wirtshaus befand sich etwas abseits am Fuß einer mächtigen Felswand. Vom Dorf aus nahm man es nicht sofort wahr, weil es im Schatten der dunklen Felsen stand, die an dieser Stelle so hoch und steil in den Himmel stiegen, dass das winzige Haus davor noch kleiner erschien, als es in Wirklichkeit schon war. Auch verbargen mehrere zerzauste Kiefern den größten Teil von ihm. Ein Pfad schlängelte sich durch Gras und Geröll bis an seine Tür. An den Abenden verließen die Dorfleute ihre Häuser und stapften hinüber. Sie hockten gern in der gemütlichen Gaststube beieinander, und oft blieben sie dort bis in die späte Nacht.

Eines Abends jedoch, einige Wochen nach dem Verschwinden des jungen Uhrmachers, war die Stimmung von Anfang an sonderbar gedrückt. Etwas Unheilvolles lag in der Luft. Doch waren es nicht die Wolken, die sich grau und schwer über die Spitzen der Berge schoben, denn Donner und Blitz fürchteten die Dorfbewohner nicht. Nein, ihr Unbehagen entsprang einer dunklen Ahnung, die jeder in seinem Herzen spürte. Und weil niemand eine Erklärung dafür hatte, fühlten sie sich unsicher und wollten nicht darüber reden. Und deshalb blieb es an diesem Abend ungewöhnlich still in der Gaststube.