Das Geheimnis des vernebelten Passes - Nikolaus Warkentin - E-Book

Das Geheimnis des vernebelten Passes E-Book

Nikolaus Warkentin

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Beschreibung

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.

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Seitenzahl: 614

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Nikolaus Warkentin

Das Geheimnis des

vernebelten Passes

Reiseroman

Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Texte: © 2021 Copyright by Nikolaus Warkentin

Umschlag: © 2021 Copyright by Nikolaus Warkentin

Verantwortlich für den Inhalt:Nikolaus Warkentin, Weißdornstr. 3,

53340 Meckenheim, [email protected]

* * *

Der erste Blick auf den Pass bot sich aus dem Fenster eines Kleinbusses, der uns vom Aeroporto do Funchal zu dem in der Wildnis versteckten Berghotel »Encumeada« brachte. Das Bild war beeindruckend. Wie eine weiße von grauen Schatten durchsetzte Haube bedeckte eine aufwallende Wolke den mächtigen Bergkamm in der Mitte der Insel. Immer wenn es ein kalter Windstoß von der Nordseite über die felsigen Bergspitzen auf die Südseite schaffte, bildeten sich neue Schwaden, wirbelten den Hang hinunter und verschwanden wie Gespenster, aufgelöst durch den aufsteigenden warmen Atem der Südküste. Währenddessen erinnerte ich mich an meine ersten Erlebnisse nach der Ankunft auf der Insel.

Der Busfahrer, der uns vom Flughafen abgeholt hatte, war ein schlanker, eher ein etwas zu schlanker Portugiese Anfang dreißig – ein geselliger Typ, der während der Fahrt hin und wieder etwas über seine Heimatinsel erzählte: sehenswerte Orte, spektakuläre Aussichten und Madeirawein, halt über alles, was seiner Meinung nach Touristen interessieren konnte.

»Wollen Sie das Haus von Cristiano Ronaldo besuchen?«, fragte er stolz in einem guten Deutsch, nachdem wir zwei jüngere Urlauberinnen von unserem Flug an ihrem Hotel am Rande von Funchal abgesetzt hatten.

Solche Absichten hatten wir mit Angelina nicht! Ehrlich gesagt war es mir bis zu diesem Augenblick auch nicht bewusst gewesen, dass der Mann von dieser Insel stammte.

Ich antwortete vielleicht eine Sekunde zu schnell: »Nein, eigentlich nicht!« Man konnte es dem Fahrer ansehen, dass er etwas enttäuscht war, und ich fügte gleich versöhnlich hinzu: »Wir interessieren uns nicht für Fußball.«

Das stimmte nicht ganz, auf keinen Fall wollte ich aber die einheimische Bevölkerung mit meiner Meinung zu dem einen oder dem anderen Problem in der Welt schon bei der Ankunft konfrontieren.

»Ja, wir gucken nur ab und zu mal die Weltmeisterschaft, Spiele mit der deutschen Mannschaft«, pflichtete mir meine Frau bei.

Der Fahrer wollte das Thema offensichtlich nicht vertiefen, was ganz in meinem Sinne war, und steuerte seinen Kleinbus friedlich ein Liedchen summend auf die Autobahn zu. Es dauerte nicht viel länger als eine Viertelstunde, bis uns die Schnellstraße nach einer Reihe von Tunnelpassagen in ein malerisches Tal brachte, wo ein größerer Verkehrsknotenpunkt mit seinen Kreuzungen, Unterführungen und Viadukten das schöne Bild etwas weniger schön machte. In Ribeira Brava, wo wir laut Beschilderung angekommen waren, endete die vierspurige Strecke und der Fahrer nahm in der Ausfahrt den Abzweig nach São Vicente, der kurz darauf in die Passstraße von Encumeada mündete. Es war die Zielgerade zu unserer Unterkunft, wenn man es so wollte. Den Straßenabschnitt hatten wir uns schon zu Hause mehrmals in der Streetview angesehen, sodass ich mich einigermaßen orientieren konnte.

Die tiefe Schlucht, die das wilde Flüsschen Ribeira Brava in den Fels gegraben hatte, zog sich vom Encumeadamassiv hoch oben in der Inselmitte bis zum gleichnamigen Ort an der Küste, der schon zu Entdeckerzeiten so manch eine Karavelle erlebt hatte, die ins Ungewisse ablegte. Ribeira Brava teilte sich einige Kilometer aufwärts in viele Wildbäche auf, oder besser gesagt setzte sich aus vielen Flüsschen zusammen, von denen jedes sein eigenes kleines Tal oder eine enge Schlucht im Laufe der Zeit gebildet hatte. Die Straße folgte immer dem Verlauf des weitläufigen, von massiven Felswänden gesäumten Haupttals, bis sie im Túnel da Encumeada verschwand, um nach drei Kilometern wieder auf der Nordseite aufzutauchen. Unser Weg führte aber nicht durch den Tunnel. Nach einiger Zeit verließen wir die viel befahrene Tunnelstraße. An einer Gabelung bog der Fahrer ab auf die alte Passstraße, die noch vor fünfzehn Jahren die einzige Verbindung zwischen den Küsten gewesen war. Eine erlebnisreiche Fahrt zum Pass auf einer Bergstraße, die sich schlangenartig um die Schluchten und Felsvorsprünge nach oben wand, nahm ihren Anfang!

»Ihr Hotel ist dort!«, rief der Busfahrer fröhlich, als ich mit dem Einordnen meiner jüngsten Erinnerungen fertig war, und zeigte mit der Hand nach vorne, auf die Wolke über dem Berg, die ich bereits mit Interesse beobachtet hatte.

Ich machte Angelina aufmerksam auf die überwältigende Erscheinung. Sie sah sich das Naturschauspiel fasziniert an, sagte aber nichts, während der junge Mann immer weiter redete.

»Es ist ein sehr schönes…« Er musste seinen Satz unterbrechen, um in einer der engen Kurven einem Kipplaster auszuweichen, und setzte ihn fort, nachdem die Gefahr vorüber gewesen war und er seine Hand wieder vom Lenkrad genommen hatte, um den Zeigefinger zur besseren Verbildlichung zu benutzen. »… sehr schönes Hotel. Modern. Viele Bergwanderer!«

Fast den gleichen Wortlaut hatte ich schon in zahlreichen Rezensionen zu dieser Unterkunft in den vergangenen Monaten gelesen, die Madeirareise war nicht wie sonst vier Wochen vor Abflug geplant worden. Bereits vor fünf Monaten, Ende Februar, hatte Geli beim Durchstöbern der Angebote dieses Hotel am Pass Encumeada entdeckt und wir beide hatten gleich wie aus einem Munde gerufen: »Das ist es!«

Sie wollte unbedingt einen Wanderurlaub machen. Ich wusste nicht, woher sie ihre Wanderlust hatte, denn bis jetzt hatten sich unsere Erkundungstouren am Urlaubsort in der Regel auf das normale Ausflugsprogramm der örtlichen Anbieter beschränkt – in einem bequemen Reisebus und mit einem Reiseleiter, der die wechselnden Bilder hinter dem Fenster ausführlich kommentierte und auch sonst viel Interessantes über Land und Leute wusste. Diesmal sollte es ein Urlaub mit Wanderungen auf eigene Faust werden. Ich hatte zugestimmt, denn die Beschreibungen und die Ansichten im Reiseangebot hatten bei mir den Eindruck eines einsamen Bergsteigerhotels am Pass entstehen lassen, das verloren zwischen gewaltigen Bergen abseits der Zivilisation lag, den Eindruck eines guten Ausgangspunktes für Wanderungen und Ausflüge in die Natur unter strahlend blauem Himmel!

»Hoffentlich liegt das Hotel nicht in diesen Wolken, oder?«, erkundigte ich mich beim Fahrer.

»Não, não, não!«, widersprach er schnell. »Es liegt tiefer und etwas weiter links!« Dabei nahm er wieder seine Hand zu Hilfe, um die genauere Position des Hotels auf dem Hang anzudeuten.

Diese Nummer mit dem Zeigefinger machte mich mittlerweile etwas nervös, vor allem bei Gegenverkehr, der gelegentlich in einer Kurve um die nächste Felswand auftauchte und für hektische Lenk- und Abbremsaktionen sorgte. Die Straße war zwar gut geteert, aber etwas eng geraten, sodass es zwischen zwei Autos kaum noch den nötigen Abstand gab, um im Notfall weg vom Straßenrand steuern zu können. Es gab kaum Leitplanken und etwa einen Meter rechts von der Straße ging es dreihundert Meter steil nach unten. Es gab nichts, was ein Auto beim Absturz hätte aufhalten können! Das ungute Gefühl irgendwo tief im Bauch verging auch dann nicht, als der Fahrer plötzlich auf die Bremse trat und das Fahrzeug zum Stillstand brachte. Ich sah vor dem Bus keine Straße mehr! Auf unserer Seite fehlten ungefähr sieben Meter Fahrbahn und man konnte durch die Windschutzscheibe ungehindert fünfhundert Meter nach unten blicken und den schnellen Verkehr auf der Zufahrt zum Passtunnel bewundern! Vermutlich war der Hang einfach abgerutscht und hatte die halbe Straße in den Abgrund mitgerissen. Wie lange dieses Stück Straße schon fehlte, konnte ich nicht sagen, aber bis jetzt hatten die Insulaner keine Maßnahmen ergriffen, um den Schaden zu beheben. Andere Länder hatten andere Sitten: Der Portugiese ließ sich durch den Vorfall nicht aus der Ruhe bringen und umfuhr nach kurzem Zögern das liebevoll mit Verkehrshütchen gekennzeichnete Loch über die linke Spur!

Madeirenser sahen die ganze Sache mit den Bergen und den Straßen nicht so eng. Man kennzeichnete die gefährliche Stelle und hoffte darauf, dass keiner die Warnung missachtete. Und wenn jemand nicht aufpasste, wo er hintrat, dann war derjenige selber schuld! Es war die gängige Praxis in den Teilen der Welt, wo die Menschen ein innigeres Verhältnis mit der Natur hatten als ihre hochzivilisierten Zeitgenossen. Je einfacher die Leute ihr Leben gestalteten, desto mehr vertrauten sie dem gesunden Verstand und setzten ihn auch bei anderen voraus. Was war falsch an der Annahme, dass kein mehr oder weniger klar denkender Mensch auf die Idee kommen konnte, in einem seismisch aktiven Krater mit siedend heißem Wasser ein Bad zu nehmen? Nichts. Genau das dachten sich vermutlich auch die Isländer, wenn sie den Gefahrenbereich rund um die Dampf und Wasser speienden Geysire nur mit einer dünnen Schnur auf Kniehöhe markierten. Denn vor fünfzehn Jahren hatte ich dort keine nennenswerten Hindernisse gesehen, die die zahlreichen Besucher aus aller Herren Ländern davon hätten abhalten können, ihren Finger in einen Tümpel mit schwefelsäurehaltiger Brühe zu stecken. Warum sollte denn etwas daran verkehrt sein, wenn die Madeirenser die Ansicht vertraten, dass ein Autofahrer die Augen offen halten sollte, um eben nicht in ein Loch hineinzufahren? Dachte man darüber intensiver nach, stellte man mit Erstaunen fest, dass einem ziemlich schnell die Argumente ausgingen, wenn man versuchte, seine ablehnende Haltung zu dieser Vorgehensweise zu begründen, und man sah sich auf der Stelle mit einer Reihe anderer Fragen konfrontiert.

Verloren die Menschen in der zivilisierten Welt nicht zu viel von ihrer Eigenschaft, selbständig zu denken und eigenverantwortlich zu handeln? Warum erwarteten sie, dass jemand für sie Absperrungen baute und Verkehrshütchen aufstellte? Warum verzichteten sie vielerorts freiwillig auf einen bedeutenden Teil Ihrer angeborenen Freiheit der eigenen Entscheidung zugunsten vermeintlicher Sicherheit? Etwa um sich nach einiger Zeit in einer Welt wiederzufinden, wo man die Absperrungen schon ohne ihre Zustimmung errichtete? Es gab mehr Fragen als Antworten.

Unterdessen erreichten wir – dank der kunstvollen Ausweichmanöver unseres Steuermanns weitgehend unbeschadet – ein Bergdorf, das direkt an der Passstraße lag. Es war nicht viel los im Ort. Die Straßen waren fast menschenleer. Hier und da sah man ein Souvenirlädchen, das noch geschlossen war. Ins Auge fiel eine Reihe von sichtlich schon länger nicht mehr bewohnten Häusern mit verstaubten Fensterscheiben und Schildern »Para venda« – zu verkaufen – neben dem Eingang, sehr viele Kaufwillige gab es offenbar nicht. Wir hatten ungefähr zehn Uhr am Vormittag, aber die Dorfwirtschaft an der Hauptstraße war geöffnet. Zwei, drei Leute saßen draußen mit halbvollen Gläschen und unterhielten sich. Für ein Schnäpschen war es noch etwas zu früh, überlegte ich, während unser Fahrer wieder Kommunikationsbedarf verspürte.

»Wenn Sie Madeirawein kaufen oder mitnehmen wollen, bekommen Sie in diesem Dorf den besten! Die Leute hier haben einen sehr guten Wein.«

Natürlich, fiel es mir plötzlich ein! Es war kein Schnaps, sondern Madeirawein! Genauso wie bei den Mallorquinern ein Likörchen auch am Vormittag niemals fehlen durfte, gehörte auch hier der Madeirawein, egal wie spät es am Tage war, zu dieser Insel und zu diesen Leuten.

»Trinken Sie gerne Madeira?«, wollte der Busfahrer wissen.

Was sollte ich ihm antworten? Angelina hatte so etwas hin und wieder schon mal für irgendwelche Gerichte verwendet. Ich hatte auch mal ein paar Tropfen probiert. Es waren aber immer ganz kleine Fläschchen gewesen, nicht zum Trinken.

Meine Frau sprang zu meiner Erleichterung in das Gespräch ein und erläuterte dem Portugiesen den aktuellen Sachstand: »Nein, wir nehmen ihn nur zum Kochen. Es gibt keine große Auswahl und er ist auch sehr teuer!« Sie musste es wissen, als Angestellte im Supermarkt war sie mit der Materie vertraut!

»Was kostet Madeirawein in Deutschland?«, fragte der Fahrer.

»Der Wein bei uns im Geschäft ist über sieben Euro. Es gibt aber auch welchen für zehn, habe ich gesehen!«, fuhr meine Frau mit dem Bericht über die Lage auf dem deutschen Weinmarkt fort.

Während sich die beiden über Trinkgewohnheiten von Deutschen und Portugiesen unterhielten, schaute ich aus dem Busfenster auf vorbeiziehende Häuschen und wenige Menschen auf der Hauptstraße, die ihre morgendlichen Erledigungen machten, und dachte immer noch an die Wirtschaft, die wir gerade hinter uns gelassen hatten – an die Männer auf der Terrasse, die an ihren Gläschen genüsslich nippten, an den urigen portugiesischen Wirt, der im Türrahmen seines Lokals stand und das allgemeine Geschehen im Dorf beobachtete, an die Leute, die vorbeigingen und die Kneipengesellschaft grüßten oder manchmal auch stehen blieben, um mit den Gästen den letzten Dorfklatsch zu besprechen. Es waren alles einfache Menschen vom Land, besser gesagt vom Berg, die hier ihr einfaches Leben führten und die Zeit nicht mit der Uhr maßen. In meinem Kopf war nunmehr ein Bild von einem Madeirenser entstanden: Ein älterer stämmiger Mann im offenen karierten Hemd unter einem Sakko, das seine besten Zeiten schon vor etwa zehn Jahren erlebt hatte. Seinen Kopf schmückte eine flache Schirmmütze, die bei jedem Wetter getragen wurde. Auch zu einer Madeirenserin hatte ich bereits typische Merkmale entdeckt: Eine nicht mehr sehr junge Frau, meist in einer fröhlich gemusterten seidenen Bluse, einem knielangen Rock und einem Kopftuch.

Die Passstraße führte uns immer weiter nach oben und wurde zunehmend steil. Die Vegetation veränderte sich zusehends und wurde umso dürrer, je näher wir unserem Ziel kamen. Während wir noch vor einer halben Stunde unten in Ribeira Brava subtropische Bananenstauden und Dattelpalmen bewundert hatten, bestand die Umgebung hier oben zumeist aus Fels und Stein. Nur ab und zu kreuzten unseren Weg kleine Wildbäche, die entlang der zugewachsenen Bergfalten durch das Lorbeergestrüpp beinahe senkrecht nach unten schossen. Gelegentlich waren die Hänge mit Sträuchern bedeckt, die sagenhaft schöne Blüten trugen und Herz und Auge erfreuten.

»Hinter diesem Berg können Sie schon das Hotel sehen«, machte der Fahrer eine vielversprechende Ansage. »Es ist nicht mehr so weit!«

Nachdem der Portugiese eine der unzähligen Kurven gekonnt gemeistert hatte, öffnete sich unseren Blicken ein prächtiges Panorama! Die Schlucht verwandelte sich auf einmal in einen riesigen Talkessel, umgeben von gewaltigen Felsformationen, die einst aus dem Ozean gehoben worden waren. Weit, weit unten sah man die Schnellstraße. Die klitzekleinen Autos stauten sich vor der Einfahrt in den Tunnel wie Ameisen auf ihrer Wanderung vor einem plötzlich aufgetauchten Hindernis. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tals zu unserer Rechten beherrschte der Pico Grande mit seinen von Wind und Wetter abgeschliffenen Kanten das Bild. Den Straßenverlauf konnte man jetzt kilometerweit erkennen. Die Passstraße führte immer geradeaus, als ob sie keine Lust mehr dazu hatte, sich durch Serpentinen und scharfe Kurven aufhalten zu lassen. Der Bus kletterte immer höher und höher am steilen Hang auf der linken Seite des Kessels, geradewegs auf sein Ziel zu: Das rotgeziegelte Spitzdach mitten in einer von Grau und Grün angestrichenen Landschaft, meilenweit sichtbar aus jeder Ecke des Tals! Und die sich gespenstisch wälzende Wolke über dem Bergrücken der Insel war auch noch da, nun aber zum Anfassen nahe und nicht mehr so groß wie zuvor! Die subtropische Sonne, die derweil ziemlich hoch am azurblauen Himmel stand, machte ihre Arbeit gut.

»Wir sind da!«, rief der Fahrer, zufrieden mit sich selbst und der erledigten Aufgabe, bevor er von der Hauptstraße auf den großen Parkplatz vor dem Hotel einbog.

Er hielt nicht weit vom Eingang und half beim Abladen der Koffer. Dann verabschiedete er sich in großer Eile mit »Adeus, umas boas férias!«, sprang wieder in seinen Bus und gab Gas, während ich noch in meinen Taschen herumkramte, um ihm etwas Trinkgeld für die aufregende und informative Fahrt zu geben. Man sah den Bus schon nach einigen Augenblicken die Hauptstraße hinunterrasen und hinter einem Felsen verschwinden, nachdem die Bremsleuchten noch ein paarmal in der Kurve hellrot aufgeflackert waren, als hätte er noch mal »Tschüss« sagen wollen.

* * *

Der Parkplatz vor dem Hotel war menschenleer, im vorderen Bereich rund um den Eingang waren aber zehn bis fünfzehn Autos geparkt. Es mussten wohl die Mietwagen von den Gästen sein, dachte ich. Erstaunlicherweise hatte der Parkplatz, wenn überhaupt, kaum Gefälle, im Gegensatz zu allem, was uns umgab. Die Straße führte in einem atemberaubenden Winkel zum Pass weiter oben. Begab man sich auf die Fahrbahn, entstand gleich ein leichtes Schwindelgefühl, wenn man zurück zum Parkplatz blickte, der seinerseits plötzlich in eine schiefe Lage zu geraten schien. Der menschliche Gleichgewichtssinn musste sich noch an diese schrägen Zustände etwas gewöhnen.

»Komm, rauchen wir noch eine«, schlug ich vor und klickte mit dem Feuerzeug. »In das Zimmer können wir eher nicht vor zwölf Uhr, denke ich!«

Angelina zündete sich auch eine Zigarette an und machte ein paar kräftige Züge. Es war die zweite Zigarette, seitdem wir unsere letzte vor sechs Stunden im Raucherkämmerlein im Frankfurter Flughafen geraucht hatten. Die Zigarette nach der Landung in Funchal hätte man gleich wieder vergessen können, sie war zwischen Kofferschleppen und Transferbussuchen auf dem Parkplatz verglimmt. Das Nikotin zeigte seine Wirkung und munterte uns nach der schlaflosen Nacht etwas auf. Wir waren nun seit gut zwölf Stunden unterwegs und konnten endlich erleichtert über den Stress und die Strapazen der Reise lachen!

»Ihre Gitarre, Ihre Gitarre!«, äffte meine Frau eine Mitarbeiterin des Flughafens nach, die uns am Check-In-Schalter und beim Boarding zielstrebig durch alle Wunder ihres Regelwerks geführt hatte.

»Und was hast du jetzt davon, dass ich die Gitarre mitgenommen habe?«, fragte ich Geli und erinnerte mich an unser Flughafenabenteuer.

Vermutlich war das übermäßig geschminkte schlanke Fräulein noch am Anfang ihrer Ausbildung, denn alles, was sie machte, ging mit beneidenswerter Kontinuität daneben. Der Höhepunkt der Tragikomödie bestand darin, dass die arme Frau offensichtlich felsenfest davon überzeugt war, alles richtig zu machen. Sie kam sich dabei äußerst wichtig vor, schließlich musste sie eine wichtige Aufgabe nach einer Vorschrift erledigen, die sie gut gelernt hatte. Nur die Fluggäste nervten sie bei der Ausübung des Amtes mit ihrer Uneinsichtigkeit für die anscheinend ganz einfachen Regeln. Was diese Regeln für den Fall vorsahen, wenn sie ein Flugzeug mit dem Zielflughafen Funchal mit Passagieren nach Palma de Mallorca besetzte, war ein Betriebsgeheimnis geblieben. Es musste aber etwas dringestanden haben, denn ich sah später durch das Fenster, wie das Mädchen aufgescheucht hin und her auf dem Rollfeld lief und die Fluggäste im Shuttlebus fachgerecht nach Zielflughafen sortierte. Ich hatte eine leise Vermutung, dass der Grund für ihre Verwirrung auch möglicherweise meine Gitarre sein konnte!

Das Drama hatte seinen Lauf bereits beim Einchecken am Tresen der Gepäckaufgabe genommen. Als wir nach einer anstrengenden Fahrt in einem Bahnwagen, wo die Fahrgäste dicht gedrängt wie Sardinen in der Büchse beieinandergestanden hatten, endlich das Terminal des Flughafens erreichten, war das Einchecken für unseren Flug schon in vollem Gange. Wir reihten uns brav in die Schlange vor dem Schalter ein, während das fleißige Lehrmädchen ihre Amtshandlungen vollführte. Hinter einem Bildschirm saß vorsichtshalber noch eine reguläre Mitarbeiterin und gab ihr halblaut irgendwelche Anweisungen. Das Thema der heutigen Unterweisung lautete offenbar Einchecken und Boarding. Der versteinerte und hochoffizielle Gesichtsausdruck der jungen Frau ließ keine Widerreden zu, wenn es darum ging, die Gäste daran zu hindern, einen Koffer mit Übergewicht an Bord zu schmuggeln. Sie übte sich gerade geschäftig im Anbringen von Papierschlaufen an die Gepäckstücke, ihren Adleraugen entging aber nicht der vorschriftswidrige Umstand, dass unsere Koffer ein Kilogramm und fünfhundert Gramm zu viel auf die Waage brachten. Angelina musste ja aber auch so eine Angewohnheit haben, die Koffer bis zum Rand vollzumachen, – ungeachtet der Tatsache, dass wir schon mehrmals all unsere Kleider, Pullover und Socken im Flughafen auf dem Boden hatten ausbreiten und umpacken müssen. Es war schon immer so gewesen und hätte sich voraussichtlich auch nicht in der Zukunft geändert, bis dass der Tod uns schied.

»Sie müssen etwas herausnehmen oder eine Gebühr für das Übergewicht bezahlen. So kann ich ihre Koffer nicht durchlassen!«, sagte die junge Dame mit großer Entschlossenheit. »Die Kasse ist dort!«, fügte sie kurz hinzu, zeigte die Richtung und starrte uns auffordernd mit ihren ausdrucksvollen braunen Augen an.

Sie war richtig in Fahrt gekommen! Jetzt hatte sie jemanden, dem sie ihre Wichtigkeit zeigen konnte. Da Einwände oder Aufrufe zum gesunden Menschenverstand aus Erfahrung sinnlos waren, räumten wir die überschüssigen Kilos in unser Handgepäck um, ohne große Proteste, denn ich hatte noch meinen wichtigsten Trumpf in der Hand und ahnte schon, dass er gleich zur Hauptattraktion werden sollte.

»Entschuldigung«, meinte ich und holte meinen Gitarrenkoffer hinter dem Tresen heraus, damit die verantwortungsbewusste Auszubildende ihn in voller Größe ihrem prüfenden Blick unterwerfen konnte. »Könnte ich das hier mit in die Kabine nehmen? Bitte.«

Ihr Kinn schnellte nach unten und der Mund öffnete sich vor Staunen, ihr Gesicht erstarrte zu einer Maske der Ratlosigkeit. »Na, was sagst du jetzt?«, dachte ich im Stillen mit einem Hauch von Schadenfreude und empfand im selben Augenblick eine tiefe Scham für meine Herzlosigkeit. Es war nur ein Mädchen in der Ausbildung. Sie versuchte nur so gut es ging, das zu tun, was ihr aufgetragen worden war. Welche Verantwortung konnte sie letztendlich dafür tragen, dass die Fluggesellschaften eine Serviceleistung nach der anderen um die Wette strichen, damit sie mit ihren Niedrigpreisen so tief gehen konnten, dass die Passagiere bald schon Geld dafür bekamen, wenn sie einen Flug buchten? Keine. Ebenso wenig konnte sie etwas dafür, dass auch angesehene Fluganbieter, das Personal anwiesen, von den Passagieren die genauste Einhaltung ihrer Bedingungen zu verlangen.

Paradoxerweise fanden sich immer noch mehr als genug Liebhaber der Billigflüge, obwohl mittlerweile wahrscheinlich fast jeder die Erfahrung gemacht haben durfte, dass die Low-Coster-Preise gar nicht so low waren, wenn man am Ende alles zusammenaddierte. Sie nannten es Geschäftsmodell, ich nannte es Bauernfängerei! Oder wie sollte man den Schwindel sonst nennen, wenn Passagiere mit Flugtickets angelockt wurden, die fast umsonst waren, und der eigentliche Flugpreis erst im Nachhinein, wenn es nach der Buchung kein Zurück mehr gab, durch Gepäck, Sonderleistungen und »zusätzlichen Service« zustande kam? Wer schon mal Strafgebühren für den Flughafen-Check-In oder ein Kilo Übergewicht bezahlen musste, war über die »Niedrigpreise« bestens informiert. Wo lag eigentlich die Grenze, an der die Leute gesagt hätten: »Sie können den Flug auch umsonst anbieten, ich fliege aber nicht mit.« Mit der Einführung der ersten gebührenpflichtigen Bordtoilette? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Solch tiefgreifende Überlegungen beschäftigten das Fräulein aktuell sicherlich weniger, ihre volle Aufmerksamkeit galt eher der Frage, wie sie in dieser Situation reagieren sollte. Doch eine Ahnung davon, wie man dieses kleine lokale Problem löste, hatte sie auch nicht, denn sie stammelte nur eine Ansammlung von wenig zusammenhängenden Wörtern in unsere Richtung.

»… Ihre Gitarre … Handgepäck … Maße … verstauen …«, sagte sie und suchte mit einem verzweifelten Blick nach Hilfe bei ihrer Kollegin.

»Schauen Sie …«, fuhr ich fort. »Ich würde jetzt ungern das Instrument als Gepäck aufgeben. Es kann leicht von den schweren Koffern eingedrückt werden. Dafür bedeutet mir die Gitarre aber zu viel. Sie wiegt vielleicht nur zwei Kilo und passt wunderbar in das Ablagefach über dem Sitz. Das hat schon immer funktioniert und es gab noch nie Probleme!«

Die Kollegin sah hinter ihrem Monitor heraus und schaute sich den Gitarrenkoffer auch an. Sie bat mich, ihn auf die Waage zu legen, sah auf die Anzeige und erklärte der Auszubildenden etwas, was ich nicht hören konnte. Was auch immer es gewesen war, es hatte Wunder gewirkt: Die junge Dame war wie ausgewechselt. Sie erlaubte uns großzügig, die Gitarre mit an Bord zu nehmen, und lächelte sogar dabei! Etwas chaotisch und sehr zögerlich drückte sie uns die Bordkarten mit den aufgeklebten Abschnitten für das abgefertigte Gepäck in die Hand und wünschte uns einen guten Flug! Ihre Vorgesetzte war gerade abgelenkt, sie sprach mit jemandem am Telefon, und bekam nichts von den letzten Aktivitäten der Auszubildenden mit.

Eine halbe Stunde später begaben wir uns zu den Flugsteigen, nachdem wir erfolgreich und ohne besondere Vorkommnisse die Sicherheitskontrolle passiert hatten. Auf dem Notebook waren keine Sprengstoffspuren entdeckt worden und das öffentliche Herunterlassen der Hose war mir auch erspart geblieben! Ich war ganz gut gelaunt, zuvor hatte ich mit dem Laptop das Klickgeschehen auf meiner Webseite gecheckt, das Geschäft lief blendend, sodass ich mich bis zur Ankunft auf Madeira entspannen konnte. Außerdem war meine Gitarre bei mir und nicht im Bauch des Flugzeugs.

In der großen Wartehalle hatte sich vor einem Flugsteig bereits eine Schlange gebildet und wir gingen ein Stückchen nach vorn zum Tresen, vorbei an Urlaubern, die alle ausnahmslos Wanderschuhe anhatten, um nachzusehen, ob an der Infotafel unsere Flugnummer stand. Ja, wir waren hier richtig, stellte ich fest, als ich über dem Schalter den Zielflughafen Funchal eingeblendet sah! Eine zusätzliche Bestätigung bekam ich, nachdem ich mir die Frau am Schalter genauer angesehen hatte. Natürlich, es war unsere alte Bekannte, die jetzt hier ihren Dienst nach Vorschrift verrichtete! Wir drehten uns um und wollten gerade zurück zum Ende der Schlange gehen, als ein schriller hysterischer Schrei im hohen Frequenzbereich die Wartehalle erfüllte.

»Ihre Gitarre! Sie müssen … Bitte kommen Sie hierher mit Ihrer Gitarre!«, kreischte das Lehrmädchen uns hinterher.

Es wurde ohrenbetäubend still. Wie auf ein Kommando hin drehten sich alle Köpfe in unsere Richtung, da ich weit und breit der einzige Mann mit einem Gitarrenkoffer war. Um uns herum bildete sich ein menschenleerer Raum und alle starrten uns an! Gesenkten Hauptes und den fragenden Blicken ausweichend, ob wir wohl Terroristen gewesen wären, bewegten wir uns möglichst unauffällig entlang der Schlange unserem Schicksal entgegen! Auf dem Tresen lag die weiße Gepäckschlaufe, die für den Gitarrenkoffer bestimmt war.

»Das müssen Sie unbedingt auf Ihre Gitarre anbringen. Es ist ein Gepäckstück, das die zulässigen Abmessung für das Handgepäck übersteigt!«, schoss das Mädchen wie aus einem Maschinengewehr mit Vorschriften um sich. »Geben Sie mir Ihre Gitarre, ich werde es richtig anbringen.«

Ich war mit allem einverstanden und wollte nur, dass es bald aufhörte und ich die Frau nie wiedersah.

»Geben Sie Ihre Bordkarten!«, ließ sie nicht locker und wollte anschließend noch die Ausweise sehen.

Endlich piepste der Scanner bestätigend beim Lesen der Bordkarten und wir waren durch!

»Phuuu…«, konnte ich letzten Endes erleichtert aufatmen.

Eigentlich hätten wir uns bei der guten Frau noch bedanken sollen, dass sie uns die Wartezeit in der Schlange erspart hatte. Ich fragte mich: Hatte sie nun tatsächlich die ganze Zeit an nichts anderes gedacht als an die Papierschlaufe für den Gitarrenkoffer, die sie beim Einchecken vergessen hatte? Ob die Aktion mit meiner Gitarre die heranwachsende Fachfrau so verwirrt hatte, dass sie danach nicht mehr imstande war, zwischen Funchal und Palma de Mallorca zu unterscheiden, konnte nicht mehr geklärt werden. Es war vorbei und es war auch gut so!

Ich hatte mich längst beruhigt und beobachtete schon eine ganze Weile aus dem Fenster des Flugzeugs, wie das Lehrmädchen in hochhackigen Schuhen den verlorenen Mallorcaurlaubern hinterherjagte, die auf dem Rollfeld umherwandelten, als plötzlich eine Flugbegleiterin mit suchendem Blick auf uns zukam.

Sie fragte mich freundlich: »Ist es Ihr Gepäckabschnitt?«

Ich sah mir den Aufkleber an. Es stand mein Name darauf. Auf der Bordkarte waren aber schon zwei Aufkleber vorhanden, die zu unseren Koffern gehörten! Ich ahnte schon, was es war. Natürlich. Was denn sonst? Es war der Abschnitt vom Gitarrenkoffer. Warum der Koffer noch einen Abschnitt haben musste, wo er sich doch oben im Ablagefach befand, und wo die Flugbegleiterin ihn plötzlich herhatte, wollte ich nicht mehr wissen.

»Boarding completed«, informierte eine Stimme aus den krächzenden Lautsprechern des Bordfunks die Anwesenden über den aktuellen Stand der Dinge, nachdem die verantwortliche Stewardess die Außentür verriegelt hatte. Es war eine Durchsage für das Flugpersonal und den Piloten, die nur eins bedeutete: Wir konnten starten.

»Wenn du deine Gitarre bei dir hast, bist du weniger unzufrieden, wenn dir im Urlaub irgendwas nicht gefällt.« Angelina unterbrach meinen Gedankenlauf und ich fand mich auf dem Hotelparkplatz wieder, hoch oben in der Berglandschaft Madeiras. »Früher hast du aber immer die Gitarre mitgehabt und keiner hat sich aufgeregt!«

»Ja, früher … Früher bekam man während des Fluges auch dreimal Getränke angeboten: Kaffee, Tee, Wasser! Gehörte zum Standardservice. Heute halten sie schon wegen Leitungswasser direkt die Hand auf …! Meine Gitarre …? Meine Gitarre habe ich diesmal zum letzten Mal in den Urlaub mitgenommen. Du hast mich überredet! Ich wollte sie auch gar nicht mitnehmen, so was habe ich schon vermutet.«

»Ooooh!«, gab meine Frau spöttisch einen lang gezogenen fallenden Ton von sich. »… Ihre Gitarre! … Ihre Gitarre!«

Wir hatten zu Ende geraucht und machten unsere Stummel aus. Es wurde Zeit, das Hotel von innen zu besichtigen und die portugiesisch-madeirensische Gastfreundschaft kennenzulernen. Wir brachten unser Gepäck in den Vorraum hinter der Eingangstür und fanden uns vor einer zweiläufigen Treppe wieder. Mein Optimismus ging beim Anblick der Stufen leicht zur Neige.

»Das fehlte noch! Ich gehe dann mit einem schweren Koffer schon mal nach oben zur Rezeption und du kannst vielleicht die leichteren Sachen nach und nach die Treppe hochtragen. Dann komme ich zurück und nehme noch den zweiten großen. Okay?«

Wir setzten uns in Bewegung, einer mit einem großen Koffer, der wirklich verdammt schwer war, und die andere mit ein paar Stofftaschen, die seit unserer Umpackaktion im Flughafen zu unserem Reisegepäck gehörten.

Das Foyer war sehr geräumig. Rechts befand sich in einiger Entfernung die Empfangstheke und links ging es zum Aufenthaltsbereich, der mit mehreren Sitzgruppen ausgestattet war. Die größeren hatten zwei Dreisitzsofas, zwei Sessel und einen Couchtisch in der Mitte, die kleineren nur vier Sessel und einen kleinen Tisch. Außer dem Rezeptionisten war kein Mensch in der Empfangshalle, nur irgendwo in der hinteren Ecke huschte eine Putzfrau mit ihrem Wagen vorbei und verschwand in einem seitlichen Gang. Ich rollte meinen Koffer, der auf dem hellbraun gefliesten Boden einen furchtbaren Lärm verursachte, auf die Rezeption zu.

»Hallo, sprechen Sie Deutsch?«, begrüßte ich den Madeirenser hinter der Theke, einen stämmigen, untersetzten Mann in den Vierzigern, der mit seinen Papieren beschäftigt war und etwas mürrisch dreinblickte. Er sah mich fragend an und gab mir zu verstehen, dass er kein Wort verstanden hatte.

»Hi! Do you speak English?« Ich wechselte zu Englisch und fragte ihn, ob er dieser Sprache mächtig war. Das hätte jeder Angestellte in einem international agierenden Hotel sprechen müssen.

»Good morning, Sir. What can I do for you?«, fragte er in seinem »Portugenglisch«, was ich denn wünschte.

»We would like to check in now please«, verriet ich ihm meine Absicht einzuchecken.

Er schaute mich mit einer leichten Note der Verwunderung an, als ob es ihm zuvor noch nie untergekommen war, dass Gäste an seiner Rezeption eincheckten.

Nach kurzer Überlegung meinte er: »You can check in after two o'clock!« Er zeigte respektvoll auf eine verschlossene Tür, die mit einem Schildchen »Manager« versehen war.

Ich versuchte die Information zu verarbeiten: Ab zwei Uhr im Büro des Managers.

»You can leave your baggage here and wait«, machte er ein großzügiges Angebot, das Gepäck an der Rezeption abstellen zu dürfen, nachdem er gesehen hatte, wie Geli sich mit Taschen und Koffern auf der Treppe abmühte.

Ich hatte den Eindruck, hier lief etwas falsch. Es war keine Seltenheit, dass man erst ab zwei Uhr ein Zimmer beziehen durfte. Aber warum um Gottes willen mussten wir zum Einchecken in das Büro des Hoteldirektors? Um Missverständnissen vorzubeugen, kramte ich aus der Koffertasche unsere Reiseunterlagen heraus, die in einer Klarsichtfolie im wilden Durcheinander lagen. Zwischen all den Zug-zum-Flug-Tickets und Reisebestätigungen musste irgendwo auch ein Blatt mit der Überschrift »Hotel Voucher« sein, daran konnte ich mich noch genau erinnern.

»We booked our room five months ago, Sir. Can you check our booking please!«, bekräftigte ich unsere Absichten, indem ich auf unsere frühzeitige Buchung vor fünf Monaten verwies, und reichte ihm den Gutschein, den ich glücklicherweise gefunden hatte.

Leicht überrascht hob der Mann am Empfang wieder den Blick von seinen Papieren und nahm die bedruckte Seite misstrauisch in Augenschein.

»What's this?«, fragte er, was es denn war, und versuchte den Inhalt zu entziffern, der teilweise in Deutsch verfasst war. »Voucher …«, las er das ihm bekannte Wort vor. »Okay, I will check it!«, erklärte er sich freundlicherweise bereit, die Buchung zu checken.

Er begab sich zum Computer und fing damit an, irgendwelche Zeichen über die Tastatur einzugeben, während ich zur Treppe zurückkehrte, um meiner Frau mit dem restlichen Gepäck zu helfen. Ich stellte fest, dass sie schon ganz fleißig gewesen war und sogar den schweren großen Koffer bis zur Mitte der Treppe nach oben gezogen hatte. Ich übernahm und ließ mir nicht die Gelegenheit entgehen, schwere Kritik an dem Konzept der Kofferbefüllung von meiner Frau zu üben.

»Mensch, was hast du da überhaupt reingelegt?«, äußerte ich meinen Unmut, nachdem ich die ersten zwei Stufen mit dem Koffer in der Hand erklommen hatte. »Liegen da Steine drin?«

Die Retourkutsche ließ nicht lange auf sich warten: »Was, was, was …! Was denn sonst? Dein Kaffee, Zucker, Milch, Wasserkocher! Das wolltest du doch alles haben oder nicht?«

Das stimmte und ich beschloss, es dabei zu belassen, obwohl mich immer noch ein stiller Verdacht wurmte, dass noch etwas außer den erwähnten Gegenständen schwer ins Gewicht fiel.

Der Mann hinter der Theke strahlte vor Freude, nachdem wir mit dem großen Rest des Gepäcks die Rezeption erreicht hatten. Zweifellos war der Buchungscheck erfolgreich verlaufen und wir durften nun seine madeirensische Gastfreundlichkeit in vollen Zügen genießen! Meinem Blick entging nicht, dass auf dem Tresen auch ein Zimmerschlüssel bereitlag, den der aufmerksame Rezeptionist für uns aus dem Schlüsselschrank hinter ihm schon herausgeholt hatte. Es schien alles in bester Ordnung zu sein, ich hörte auf, mir darüber Sorgen zu machen, ob wir heute Nacht ein Dach über dem Kopf bekamen, und der Portugiese nahm uns gleich die letzten Zweifel.

»I am sorry. You don't need to wait. Your room is ready. You can occupy it right now!« Nunmehr durften wir das Zimmer unverzüglich beziehen.

»We could wait till two o'clock, no problem …«, meinte ich unvorsichtig, dass wir auch bis zwei Uhr hätten warten können, und brach dann mitten im Satz ab, nachdem ich mich an ein gutes Sprichwort erinnert hatte, dass man schlafende Hunde nie wecken sollte!

»No, no! No, no! You can get your room now. Can you give me your passports?«, bat uns der Rezeptionist, ihm unsere Pässe zu geben, um Kopien davon zu machen.

Ich hielt dem Mann unsere Ausweise über die Theke zum Kopieren hin, damit er seiner Meldepflicht an die örtlichen Behörden nachkommen konnte, und wir tuckerten bald darauf mit den Koffern über die Fliesenfugen, den Zimmerschlüssel in der Hand, unserem neuen Domizil entgegen. Vorbei an einer wandgroßen Glasvitrine neben einem offenen Kamin, gefüllt mit verschiedensten Flaschen, die alle die Aufschrift »Madeira« trugen. Es waren offensichtlich keine Ausstellungsstücke, denn neben den Weinflaschen fand man auch Preisschilder, wo zumeist zweistellige Zahlen standen. Es konnte ja lustig werden, dachte ich, während wir an einer Wendeltreppe weitergingen, die zu den Zimmern im Obergeschoss führte, und sah schräg gegenüber einen ganzen Berg von Koffern und Reisetaschen, die in einer Ecke neben einem Diensteingang verstaut waren. Ob das die Sachen von Leuten waren, die auf ihren Transferbus zum Flughafen warteten? Es sah nicht danach aus, denn das Hotel schien ziemlich leer zu sein und diese Koffer mussten mindestens zwanzig Gästen gehören. Ich wollte mir nicht den Kopf darüber zerbrechen. Des Rätsels Lösung hätte sich schon von alleine gefunden, beschloss ich. Wir waren hundemüde. Glücklicherweise befand sich unser Doppelzimmer auf derselben Ebene mit der Rezeption, sodass wir uns nicht mehr im Gewichtheben üben mussten. In einem langen, halbdunklen Gang sahen wir sofort das Zimmer mit der Nummer eins. Unser Schlüsselanhänger hatte die Nummer acht – also irgendwo an Ende des Flurs. Letzte Anstrengung, letzter Meter, letzte Tür. Wir waren da!

* * *

Ich wachte in aller Früh auf. Meine Armbanduhr zeigte vier Uhr dreißig an, was sich mit meinen Gewohnheiten als Frühaufsteher absolut deckte, wenn man den Zeitunterschied bedachte. Auch zu Hause fing der Tag für mich zwischen fünf und sechs Uhr morgens an. Es war noch stockdunkel im Zimmer, aber hinter den zugezogenen Gardinen konnte man schon vage Zeichen der einsetzenden Dämmerung erkennen. Was die ruhige Lage des Hotels anging, hatte der Reiseveranstalter nicht zu viel versprochen. Zur Stunde herrschte absolute Ruhe, nur meine Frau schnarchte irgendwo rechts von mir leise und friedlich vor sich hin. Es machte keinen Sinn, noch einmal mit dem Schlafen zu versuchen. Zum einen hätte es nicht funktioniert und zum anderen musste ich noch ganz viel Arbeit vor dem Frühstück erledigen, weil danach eine Levadawanderung in der näheren Umgebung auf dem Programm stand.

Ich richtete mich auf, schlüpfte in meine Hausschuhe, um den Waschraum aufzusuchen, und musste feststellen, dass es doch ziemlich frisch war. Der Wärmestrahler, den wir gestern im Zimmer vorgefunden und in einer Ecke abgestellt hatten, war nicht nur für die Wintermonate gedacht, denn ich musste mir auch im Juli trotz Schlafanzug noch schnell einen Wollumhang von meiner Frau überziehen, der mir schon seit vielen Jahren als Ersatz für einen Morgenmantel im Urlaub diente. Das Licht im Schlafbereich blieb aus, um Angelina nicht zu stören, nur im Bad hatte ich es weiterbrennen lassen, damit ich im halbdunklen Zimmer überhaupt etwas sehen und finden konnte – unter anderem das ganze Zubehör für mein Kaffeeritual. So weit ich zurückdenken konnte, waren löslicher Kaffee, Zucker und Kaffeesahne immer ein Bestandteil unseres Urlaubsequipments gewesen, denn frühe Stund' hatte nicht nur Gold im Mund. Sie war vielleicht hervorragend dafür geeignet, ungestört irgendwelche Pläne für den Tag zu schmieden, schwierige Gitarrenpassagen zu üben oder für sich allein über Gott und die Welt nachzudenken, aber bestimmt nicht dafür, einen heißen Kaffee um halb fünf in der Früh an einem fremden Ort zu besorgen. So war mein kleiner Reisewasserkocher von unschätzbarem Wert und das Kaffeepulver konnte man nur mit Gold aufwiegen. Das Wasser für den ersten Kaffee des Tages hatte ich aufgesetzt, noch bevor ich den Vorhang am Fenster beiseiteschob und die Balkontür öffnete, um meine Aufwachzigarette auf dem Balkon zu rauchen. Nun blies ich den warmen Rauch in den kühlen Morgen und hörte, wie hinter mir das Rauschen des Wasserkochers im Waschraum immer vernehmlicher wurde.

Es war ein Morgen der Dichter und Denker. Es herrschte Windstille. Ein schmaler lichter Streifen über den Gipfeln ließ am Himmel die Stelle erkennen, wo die lächelnde Sonne bald ihren wärmenden Blick auf den Encumeadapass richtete. Die Bergspitzen erschienen vor diesem Hintergrund noch majestätischer, als sie ohnehin schon waren. Die Farbpalette am Himmel reichte von etwas gelb untermalten hellen Blautönen im Osten über Tiefseeblau, wenn man direkt nach oben sah, bis Pechschwarz im Westen, wo noch die letzten Sterne funkelten. An den Hängen des Massivs waren noch keine Einzelheiten sichtbar, nur die Silhouetten der Gipfel ragten empor – vor allem der Felsen in Form eines gewaltigen Turms, den wir schon gestern bewundert hatten, drängte sich in den Vordergrund. Es war eine seltsame Formation: Eine flache kreisförmige Felsplattform, in deren Mitte ein turmartiger Felsen thronte, der an eine mittelalterliche Burgruine erinnerte. Der Sockel mitsamt dem Turm waren wahrscheinlich die Überreste der Spitze eines stolzen Berges, nachdem Wind, Wasser und Sonne ihre Arbeit geleistet hatten. Pico Topeiro, das war der Name, den ich gestern herausgefunden hatte! Es war das Bild, das sich aus dem Fenster unseres Zimmers bot: der Turmberg und links davon, zwei hundert Meter tiefer, der Durchbruch in der Felswand auf die Nordseite der Insel. Der Pass von Encumeada.

Mein Wasser für den Kaffee war fertig, ich brachte die ganze Kaffeeküche nach draußen und stellte alles auf dem kleinen Balkontisch ab. Zwei Schluck des Zaubertranks aus dem in der frischen Morgenluft dampfenden Kaffeebecher hatten gereicht, um die letzten Spuren der Schläfrigkeit verschwinden zu lassen. Den Rest konnte man genüsslich schlürfen, zurückgelehnt im Gartenstuhl und den Blick auf die sich ausbreitende Morgenröte am Firmament gerichtet. Das Leben erwachte. Einzelne Vogelpiepse im Gebüsch kündigten die anstehende Frühvorstellung des feierlichen Oratoriums der gefiederten Tenöre an. Rätselhafte Geräusche im Unterholz ließen vermuten, dass auch größere Tiere bereits unterwegs waren. Die ersten Details an den Flanken des Turmbergs wurden erkennbar und der weiß angestrichene Berghof am Pass ließ sich als verschwommener Fleck im Morgengrauen ausmachen. Den Hof hatten wir schon gestern bei einem spontan beschlossenen Aufstieg entdeckt, nachdem die Koffer ausgepackt worden waren und wir uns etwas von der Reise erholt hatten. Ein unerwartetes »Kikerikiiii!« erklang aus seiner Richtung und wurde als Echo von allen Seiten des Tals zurückgeworfen. Es bestand kein Zweifel, der Tag brach an. Ich blieb noch eine Weile nachdenklich sitzen mit meinem Kaffeebecher in der Hand, den Zauber der Verwandlung der Welt wollte ich nicht verpassen, außerdem bot sich gerade eine perfekte Gelegenheit, die Ereignisse des gestrigen Tages noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

Während wir am späten Nachmittag eine Erkundungstour durch das Hotel machten, führte uns eine Tür im Aufenthaltsbereich auf eine Terrasse, die über eine kleine Treppe eine direkte Verbindung mit der Passstraße hatte. Wir blieben dort für eine Weile stehen und meine Frau verfolgte mit neidischen Blicken einige Autos, die nach oben zum Pass fuhren. Noch bevor ich aus meinem Mittagschlaf erwacht war, hatte Angelina schon eine halbe Stunde verzweifelt nach dem Anfang irgendeines Wanderweges rund um das Hotel gesucht und wirkte etwas enttäuscht.

»Hier gibt es aber nichts. Sie müssen doch hier irgendwo sein. Auf den Karten kann man doch viele Wanderrouten sehen!«

»Was für welche Karten?«, wollte ich wissen. »Die auf dem Zimmer? Die kannst du vergessen!«

Das, was sie als Karten bezeichnet hatte, war ein Haufen kostenloser Werbeprospekte von der Rezeption, den ich zuvor auf dem Tisch im Zimmer gesehen hatte. Jedes Restaurant auf der Insel druckte in seinem Flyer eine vage Abbildung der Gegend ab und zeichnete da den ungefähren Verlauf der beliebtesten Routen ein. Karten! Wo sie aber recht gehabt hatte, war die Tatsache, dass auch auf diesem »kartografischen Material« die meisten Wanderwege irgendwas mit dem Encumeadapass zu tun hatten. Entweder führten sie über den Pass, oder sie nahmen dort ihren Anfang.

»Es hängt auch eine große an der Rezeption! Hast du gesehen?«, entgegnete meine Frau etwas gekränkt durch meine Bewertung ihrer Fähigkeiten, gute Karten von schlechten unterscheiden zu können.

»Nein, habe ich nicht. Ist aber egal! Die Routen fangen doch nicht hier am Hotel an! Lass uns doch ein Stückchen nach oben gehen, dann können wir ja sehen, ob da was ist.«

Geli war sofort einverstanden und fragte direkt, ob es sich lohnte, die Fotokamera mitzunehmen, und ob sie ihre neuen Wanderschuhe einweihen sollte!

»Ach, nee! Komm. Das ist ja eine feste Straße, da brauchst du keine Wanderschuhe. Und heute ist der erste Tag, du hast noch sechzehn Tage, um Fotos zu schießen! Wir hätten jetzt auch nicht die Zeit für eine große Tour!«

Die Sonne stand noch hoch über den Bergen, die Luft war kristallklar, der Himmel wolkenlos – sogar die Wolke über dem Pass war weg. Wir betraten die Passstraße und gingen los. Bis zum Pass musste man über einen Kilometer wandern und ungefähr zweihundert Höhenmeter überwinden.

»Lass uns langsamer gehen. Du läufst zu schnell!«, beschwerte ich mich über das von Geli gewählte Tempo, nachdem ich sie nach zweihundert Metern in der ersten Straßenkehre eingeholt hatte.

Ein großer Freund von Spaziergängen bergauf war ich noch nie gewesen, wenn es sich aber nicht vermeiden ließ, teilte ich meine Kräfte nach Möglichkeit so ein, dass sie bei einem bestimmten Tempo bis zum höchsten Punkt reichten.

»Tut mir leid, aber ich kann nicht langsamer gehen. Dann komme ich außer Atem. Ich bleib dann lieber ab und zu stehen und warte auf dich. Okay?«

»Okay. Es ist wahnsinnig steil! Guck mal, wenn ich auf der Straße stehe, muss ich mich nach vorne beugen, um das Gleichgewicht zu halten!«, rechtfertigte ich mich für mein langsames Vorankommen und demonstrierte die außergewöhnliche Körperhaltung auf der Fahrbahn.

»Ja, ich wusste es, du willst nicht in den Bergen wandern!«, bemerkte meine Frau vorwurfsvoll.

»Wieso das? Jetzt fängst du schon wieder damit an!«

»Du willst ja heute schon nicht und morgen sagst du: ›Ich bleibe im Hotel.‹ Dann sollen wir ein Auto mieten, sonst hocken wir alle zwei Wochen auf dem Zimmer.«

»Und wer hat dir gesagt, dass ich nicht wandern werde? Ich bin einfach außer Übung! Es ist schwer. Ich sitze schon jahrelang am Schreibtisch und du willst, dass ich schon am ersten Tag wie ein Steinbock auf dem Berg herumspringe! Mietwagen! Wer nimmt schon einen Mietwagen für einen Wanderurlaub? Mietwagen ist Scheiße!«, scherzte ich zum Schluss mit Anspielung auf einen bekannten Spielfilm und lächelte versöhnlich. »Lass uns weitergehen.«

»Ja, das sagst du nur so«, erwiderte sie launisch und wir setzten unseren Aufstieg fort.

Mit beneidenswerter Leichtigkeit hatte Angelina mich wieder hinter sich gelassen und baute ihren Vorsprung immer weiter aus. Sie wechselte dabei noch laufend die Straßenseite, um hinter den Leitplanken die wunderbaren blauweißen Blumen näher zu untersuchen. Ich hatte eindeutig nicht die nötige Kondition, zumindest noch nicht. Es fiel mir schon schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzten, geschweige denn, die Schönheiten der Natur wahrzunehmen. Nur während der Verschnaufpausen klärte sich mein Blick und das Gehirn wurde für die Bilder der Umgebung empfänglich.

»Sieh mal, was für eine herrliche Aussicht!«, sagte ich begeistert und zeigte nach unten, wo durch das Grün der Bäume das rote Ziegeldach unseres Hotels schimmerte. »Man kann sogar unseren Balkon sehen! Siehst du? Da, wo du die Badetücher zum Trocknen aufgehängt hast.«

»Welchen meinst du? Da hängen überall Badetücher!«

»Den zweiten von rechts im Erdgeschoss. Das muss unser Balkon sein. Das letzte Fenster ist die Besenkammer neben unserem Zimmer, hinter der letzten Tür auf dem Flur! … aber stimmt, es sind jetzt viele Zimmer belegt. Wo kommen sie alle jetzt plötzlich her? Am Vormittag war es ja leer im ganzen Hotel. Kein Mensch war zu sehen. Haben sie alle geschlafen?«

»Nee, eine Wandergruppe ist angekommen, während du geschlafen hast. Hast du gesehen? Die Koffer an der Rezeption sind ja weg!«

»Stimmt!«

»Ich habe mit einem Holländer gesprochen, wie sie hergekommen sind und was sie vorhaben.«

»Und?«

»So wie ich es verstanden habe, ist es irgendein Reisebüro, das einen kompletten Wanderurlaub anbietet. ›Organisatie‹, wie er sagte«, versuchte sich meine Frau im niederländischen Akzent. »Man bucht den Urlaub und wandert zehn Tage in einer Gruppe mit Wanderführer. Und die ›Organisatie‹ bringt das Gepäck von Hotel zu Hotel. So was würde ich auch gerne machen!«

Jetzt wurde mir einiges klar: das leere Hotel am Vormittag, der Kofferberg am Diensteingang, der merkwürdige Empfang an der Rezeption – man hatte heute Morgen nicht unbedingt mit zwei Individualtouristen gerechnet, die sich so weit nach oben verirrt hatten!

An der Stelle, wo die Passstraße knapp unterhalb unseres Ziels ihren vorletzten Knick machte, bemerkte ich schon aus einiger Entfernung vermutlich das, wonach wir Ausschau hielten. Meine Vermutung bestätigte sich, nachdem wir die Kehre erreicht hatten. Rechts ging von der Hauptstraße ein breiter Schotterweg ab, der sich nach ein paar hundert Metern im Gebüsch verlor. Viel wichtiger war aber das, was an dieser Kreuzung stand, nämlich Verkehrsschilder mit abgebildeten Wanderern, Entfernungsangaben und Wanderzielen, deren Namen mir unbekannt waren, – alles deutete darauf hin, dass wir hier richtig waren.

»Wenn das keine Wanderroute ist …! Guck, da steht sogar die Nummer der Tour drauf«, sagte ich und deutete mit dem Kopf auf den gelben Schriftzug »PR 12« im roten Rechteck. »Dreizehn Kilometer durch die Berge ist natürlich eine ganze Menge! Aber bitte! Da sind deine Wanderwege!«

»Da müssen wir unbedingt langgehen!«, meinte Angelina mit vollem Ernst und machte schon die ersten Schritte, um von der Straße abzubiegen.

»Willst du mich ärgern?«, fragte ich etwas genervt, da mir die zwanghafte Wanderlust meiner Frau ein bisschen auf den Geist ging. »Wir können jetzt nicht einfach nach … keine Ahnung, wohin gehen! Wir wissen nicht einmal, wohin der Weg führt. Es ist schon fünf Uhr, in ein paar Stunden geht die Sonne unter.«

Nach der letzten Kehre wurde die Straße flacher. Wir näherten uns dem Bergscheitel. Schon von Weitem sah man auf der rechten Seite der Straße ein weißangestrichenes Haus stehen, einen Berghof, der zur Fahrbahn hin eine Snackbar für Durchreisende hatte. Davor befand sich ein Parkplatz mit fünf, sechs eingezeichneten Stellplätzen, die zurzeit aber ungenutzt blieben. Wir stellten uns ans Geländer und schauten in die Schlucht. Was für eine Aussicht! Man stand am Rand eines riesigen Talkessels und blickte nach unten in die schwindelerregende Tiefe, sodass es einem den Atem raubte. Man glaubte, man hätte fliegen können, wenn nur die Füße irgendwie vom Boden zu bekommen gewesen wären. Ich stellte mich in einem Wunderland vor, wo alles plötzlich auf die Größe einer Schachtel Streichhölzer geschrumpft gewesen war. Es bot sich eine tiefe Einsicht in die Schlucht am anderen Ende des Kessels, die nach Ribeira Brava unten an der Küste führte, und hinter den Bergen sah man den endlosen Atlantik, der am Horizont mit dem Himmel verschmolz.

Ich war wieder fit und munter! Angelina war es sowieso. Der Aufstieg hatte meinen Erkundungsgeist geweckt, wir gingen durch die Bresche in der Felswand, ein Nadelöhr, das den Süden und den Norden der Insel verband und einst von Menschenhand durchbrochen worden war. Auf der Nordseite entdeckten wir gleich zwei Hinweisschilder, die jeweils den Anfang einer Wanderroute markierten. Meine Frau strahlte vor Glück.

»Ja! Ja! Ja! Du musst mir aber versprechen, dass wir jede Tour hier machen.«

»Klar, sicher!«, meinte ich. »Was glaubst du denn, warum ich mit dir auf diese Insel gekommen bin? Aber nicht heute, bestimmt nicht heute!«

Ich sah mich um.

»Lass uns mal zu der Bude rübergehen!«, schlug ich vor, nachdem ich in einiger Entfernung entweder einen Souvenirshop, ein Imbisslokal oder beides unter einem Dach bemerkt hatte.

Es war nicht allzu weit bis zum Laden, wir gingen hin, zumal das Ziel unseres Ausfluges genau das beinhaltete, die Umgebung zu erkunden.

»Alles ist geschlossen«, äußerte Angelina ihr Bedauern, nachdem sie sich vor dem improvisierten Einkaufszentrum auf dem Berg umgesehen hatte. »Warum?«

Sie war etwas enttäuscht, da sie einen Shop entdeckt hatte, wo hinter der verschlossenen Tür einige Strickjacken aus grober, dicker portugiesischer Wolle zu sehen waren, die sie schon seit unserer Portugalreise haben wollte.

»Nicht am Montag, bestimmt nicht am Montag!«, schätzte ich unsere Aussichten auf Erfolg ein.

Heute war hier voraussichtlich nichts mehr zu erwarten: Es sah nicht danach aus, dass der Laden nur vorübergehend geschlossen war. Gut verriegelte Türen und fehlende Lebenszeichen hinter den Schaufenstern ließen eher vermuten, dass sich hier vor morgen Früh nicht das Geringste gerührt hätte. Ob es am heutigen Wochentag oder an der späten Stunde lag, darauf hatte ich keine Antwort. Es gab aber auch sonst kaum Verkehr. Den Parkplatz auf der anderen Straßenseite beanspruchte nur ein einziges Auto für sich allein. Es war abgeschlossen. Wo die Ausflügler ihre Zeit verbrachten, war ungewiss.

Der Shop gehörte zu einer kleinen Rastanlage am Pass. Etwas abseits fand man einige fest installierte Tische mit Bänken zum Sitzen. Hinter dem Häuschen ließ sich eine kleine Anhöhe erkennen. Der längliche Hügel zog sich vom Felsdurchbruch bis hierhin und flachte im weiteren Verlauf ab, um am Anfang des Anstiegs zu der Hochebene Paul da Serra ganz zu verschwinden. Es war die Grenze zwischen Nord und Süd, es war der Mittelgrat der Insel. Ging man auf den Rücken des Hügels, konnte man auf der Südseite den Berghof sehen. Ein Trampelpfad, bedeckt mit einer dicken Schicht rötlichen Staubs, führte auf der anderen Seite des Hügels nach unten. Wir nahmen diese Abkürzung, um nicht zurück zum Durchbruch laufen zu müssen, und wurden dafür belohnt.

»Guck mal«, rief Angelina voller Begeisterung, »das ist doch eine Levada!«

Es war ohne Zweifel eine Levada, zumindest sah eine Levada in meiner Vorstellung so aus. Schon vor Jahren hatte mir ein Bekannter mit höchstem Lob etwas über Levadawanderungen auf Madeira erzählt. Er hatte die künstlichen Wasserläufe genau so beschrieben wie das, was wir vor uns hatten. Die betonierte Rinne war an dieser Stelle gut zwei Meter breit, ans Überspringen war kaum zu denken.

»Der Pfad ist auf der anderen Seite. Komm, gehen wir zu der Brücke da«, schlug ich vor und deutete auf einen Steg, der über den Wasserkanal führte.

»Ja, machen wir eine Levadawanderung!«, freute sich meine Frau auf die bevorstehende Entdeckungstour.

»Nein, wir gehen jetzt mal ein Stück an der Levada spazieren. Für Wanderungen haben wir heute keine Zeit«, unterbrach ich sie, um ihre Erwartungen etwas zu dämmen.

»Gut. Aber morgen! Morgen machen wir eine Levadawanderung. Ja?«, fragte sie weinerlich und küsste mich auf die Wange.

»Von mir aus«, erwiderte ich und legte meinen Arm um sie.

Wir wanderten eine Weile einen breiten Pfad entlang, mitten in der üppigen Vegetation, zwischen seltsamen Pflanzen und exotischen Baumarten, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen hatte. Der Pfad neben der Levada wurde allmählich immer schmaler. Letztendlich war er fast schon ganz verschwunden, als die Betonschulter der Rinne seine Aufgaben übernahm und zu einem Gehweg wurde, wo zwei Wanderer nicht mehr aneinander vorbeigehen konnten. Nach fünfzehn Minuten erreichten wir einen Tunneleingang, an dem sich zwei Wasserläufe zu einem vereinten: Der eine kam aus dem Tunnel von der Nordseite und der andere hatte seinen Ursprung irgendwo am steilen Hang über unserem Hotel.

»Oh, ja! Ein Tunnel!«, freute sich Geli schon auf die morgige Wanderung und machte einige Schritte in den Tunnel hinein.

Aus der Öffnung im Fels wehte ein recht kühler Luftstrom und im Inneren war es schon nach einigen Metern absolut dunkel, nur ein heller Punkt von der Größe eines Stecknadelkopfs markierte den Ausgang am anderen Ende des unterirdischen Ganges.

»Für einen Tunnelspaziergang sind wir aber falsch ausgestattet«, meinte ich.

»Nein, das machen wir morgen. Ich habe auch eine Taschenlampe auf dem Zimmer!«, bemerkte sie stolz. »Ich habe mich gut vorbereitet!«

Wir nahmen den überirdischen Abzweig und wanderten noch etwas weiter, bis wir an einer breiteren Stelle einen Tisch mit zwei Bänken entdeckten – einen guten Platz für Levadawanderer, um eine Rast einzulegen. Ein zutrauliches Vögelchen kam von seinem Baum herunter, nachdem wir Platz genommen hatten, um sich mit seiner Flugakrobatik noch etwas Futter für den Abendschmaus zu verdienen. Geli pflückte ein paar Beeren von einem Strauch neben der Wasserrinne und streckte ihre offene Hand aus. Der Vogel bediente sich gerne, ohne jede Spur von Scheu. Er unterhielt uns mit seinen Zirkuseinlagen, als ich merkte, dass die Sonne sich für heute schon verabschiedet hatte und bis Morgen hinter dem Berg verschwunden war. Es war Zeit für den Rückweg.

»Wir sollten jetzt so langsam zurückgehen, um noch vor dem Abendessen im Hotel zu sein«, verkündete ich meine aktuellen Absichten.

»Okay. Morgen gehen wir aber durch den Tunnel!« Angelina ließ keine Zweifel an ihrem Vorhaben aufkommen.

»Jaja … Wir müssen aber ziemlich früh los. Wer weiß, wie weit und wie lange die Wanderung geht. Ich muss heute noch eine aussagefähige Karte finden. Verstehst du? Ich wandere gerne mit Karte.«

Wir machten uns auf den Rückweg, nachdem wir die bereits vertraute Marschformation auf der Levadaschulter gebildet hatten: Ich vorne, Angelina hinter mir. Da wir recht zügig zurück zum Pass gewandert waren, legten wir noch einen Stopp am Berghof ein und standen eine Weile vor dem Abgrund am Geländer des Parkplatzes. Die letzten Sonnenstrahlen vergoldeten die Spitze des Pico Grande, der über dem Tal ruhte. Sie weckten die Hoffnung auf gutes und sonniges Wetter für die bevorstehende Levadawanderung. Ein Hahn auf dem Hof krähte laut und deutlich den Zapfenstreich für seinen Hühnerhaufen und verstummte bis zum Morgengrauen. Wir machten uns auf den Weg nach unten.

Inzwischen war es heller geworden. Ich konnte hier nicht ewig auf dem Balkon herumsitzen und musste endlich aufstehen. Die Arbeit konnte nicht mehr warten und bis zum Sonnenaufgang hätte es bestimmt noch eine ganze Weile gedauert. Der Aufstieg zum Pass gestern Nachmittag saß mir immer noch in den Knochen. Leichter Muskelkater in den Beinen machte sich bemerkbar, als ich mich mit meinen Laptop unter dem Arm zur Rezeption begab. Bis zur Stunde hatte ich immer noch keine Internetverbindung auf meinem Mobiltelefon, die ich mit meinem Notebook hätte nutzen können, um meine laufenden Arbeiten auf der Webseite zu erledigen. Ein Social Network im Internet zu betreiben, brachte es mit sich, dass man auch im Urlaub mindestens zweimal am Tag die wichtigsten Aufgaben erledigen musste, um den Geschäftsertrag zu sichern. Mein Mobilfunkanbieter übte sich immer noch im Zusenden von SMS-Nachrichten mit der frohen Botschaft, dass man auch für Madeira ein supergünstiges Auslandspaket mit Internet buchen konnte. Zwei Buchungen, die ich daraufhin gemacht hatte, waren allerdings spurlos in den Weiten des Telekommunikationsnetzes verschwunden. In meinem Telefon regte sich nichts. Zum Glück hatte mich der Hotelmitarbeiter am Empfang gestern Abend freundlicherweise über das kostenlose WLAN informiert, das den Gästen im Rezeptionsbereich zur Verfügung stand. Er hatte meine Probleme mit dem Telefon bemerkt und zeigte auf einen handgeschriebenen Zettel neben der Rezeption.

»You connect your phone with this access point! No password! It's available nearby the reception«, erklärte er mir die Vorgehensweise und den Umgang mit den Zugangsdaten.

»Das ist doch schon mal was!«, hatte ich mir gedacht und richtete die Verbindung gleich nach dem Abendessen ein. Die Verbindung war stabil und annehmbar schnell.

Meine Schritte hallten in den leeren Gängen, während ich mich zum Empfangsbereich bewegte. Alles schlief noch nichts ahnend von der zauberhaften Morgenröte, die sich draußen am Himmel breitmachte. Auch die Rezeption war nicht besetzt. Der WiFi-Hotspot im Aufenthaltsbereich war verfügbar, entgegen meinen Befürchtungen, der »böse« Manager hätte den Router für die Nacht ausschalten lassen. Ich wollte den ersten Sonnenaufgang auf der Insel nicht verpassen und hoffte nur, dass ich meine Sachen rasch erledigen konnte. Das übliche Minimum meiner Arbeit während des Urlaubs beschränkte sich darauf, neu erstellte Profile zuzulassen sowie Fotos und individuelle Texte für die Allgemeinheit freizugeben. Das war unumgänglich, denn es fanden sich leider immer wieder Benutzer, die ernsthaft annahmen, dass Social Media nur zum Verbreiten ihres eigenen Blödsinns existierten. Und noch eine Kleinigkeit, weswegen der ganze Aufwand überhaupt betrieben wurde, musste permanent im Blickfeld bleiben: Die Einnahmen aus Werbung und kostenpflichtigen Diensten. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sich einiges angesammelt und ich machte mich an die Arbeit. Während ich einen Punkt meiner imaginären Aufgabenliste nach dem anderen abhakte, spielte ich mit den Gedanken: Es wäre doch traumhaft gewesen, mal für längere Zeit auf Reisen zu gehen, fremde Länder und Orte zu besuchen, eine Weltumrundung zu machen, denn alles, was ich zum Geldverdienen brauchte, war ein Computer und ein Internetanschluss. Das hätte sich doch fast an jedem Ort der Erde einrichten lassen! Oder einfach für ein Jahr auf eine Ferieninsel zu ziehen! Warum sollte man nicht dort leben, wo andere Urlaub machten? Der allgemeine Trend der letzten Jahre hatte dazu geführt, dass immer mehr Menschen ihre Geschäfte auf elektronischem Wege erledigten und nicht zwingend einen räumlich fixierten Arbeitsplatz brauchten. Sollte ich mich diesen digitalen Nomaden anschließen? Es klang verlockend! Aber des einen Freud' war des anderen Leid … Es hätte nicht funktionieren können. Geli war fest an ihren Arbeitsplatz gebunden und er war alles andere als digital anzusehen. Ohne meine Frau wäre so ein Nomadenleben undenkbar gewesen und mein digitales Business warf leider nicht genug ab, um zwei Leute auf Reisen durchzubringen.

Ich kam gut mit meiner Arbeit voran. Hinter der Glastür zur Terrasse hinter meinem Rücken war es schon ganz hell geworden. Geräusche an der Eingangstür unten auf der Treppe ließen mich aufhorchen, das Rauschen eines Walkie-Talkie wurde hörbar und jemand unterhielt sich auf Portugiesisch – vermutlich zwei Securitymänner, die ihre Nachtschicht hinter sich hatten. Ich war fertig, stand auf und begab mich zu unserem Zimmer, als es auch in dem Raum hinter der Rezeptionstheke laut polterte, ohne Zweifel der Nachtportier, der dort sein Nickerchen gemacht hatte und von der aufgehenden Sonne geweckt worden war. Auf dem Flur konnte man hinter den Zimmertüren ebenfalls bald das Wasser einer Dusche plätschern hören, bald die Fetzen einer Unterhaltung. Auf Französisch, glaubte ich, denn außer den holländischen Organisation-Reisenden hatte gestern auch eine große Gruppe französischer Wanderfreunde ihre Zimmer im Hotel bezogen. Sie hatten beim Abendessen etwas abseits an einem großen Tisch gesessen, ganz viele Weine durchprobiert und sich laut unterhalten. Ab und zu hatte auch ein lautes Gelächter aus ihrer Richtung das Restaurant erfüllt, immer wenn ein jüngerer Franzose – allem Anschein nach der Wanderleiter – die Gesellschaft unterhalten und seine Witze gerissen hatte.

Vermutlich stand die Sonne bereits über dem Ozean, aber vom Balkon des Hotels am Hang des tiefen Tals war noch nichts davon zu sehen. Nur ein heller gelber Halbkreis am Himmel über dem Pico Topeiro verriet, dass Helios mit seinem Wagen direkt hinter dem Berg stand und seine vier Pferde noch die allerletzte Anstrengung machen mussten, um das Hindernis zu überwinden.

Ich weckte meine Frau, sie war Langschläferin und brauchte vor dem Frühstück noch eine Weile, um zu sich zu kommen und ansprechbar zu sein. Jetzt war der Zeitpunkt genau richtig, bis zum Frühstück war noch eine Stunde Zeit und wir mussten pünktlich sein, denn wir hatten noch etwas vor! Solange sich Angelina im Waschraum mit sich selbst beschäftigte und Helios noch eine Weile brauchte, nahm ich mir die vorhandenen Wanderkarten vor. Die meisten waren einfach unbrauchbar, aber eine weckte meine Aufmerksamkeit, weil darauf sogar die Levada eingezeichnet war, die wir gestern erforscht hatten. Das war nicht einmal auf der großen Übersichtskarte aus dem mitgebrachten Reiseführer der Fall!

»Hier!«, brüstete ich mich mit meiner Entdeckung vor meiner Frau, als sie aus dem Waschraum zurückkehrte. »Diese ist noch halbwegs vernünftig. Die nehmen wir mit, für den Notfall. Siehst du, man kann sogar den Tunnel erkennen, den wir gestern gesehen haben – die Unterbrechung hier. Und auf der anderen Seite geht es weiter!« Ich fuhr auf der ausgebreiteten Karte mit dem Finger entlang der blauen Linie, die den Wasserkanal von gestern darstellte.