Der Brockenwicht - Nikolaus Warkentin - E-Book

Der Brockenwicht E-Book

Nikolaus Warkentin

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Beschreibung

Die Welt des Guten und die Welt des Bösen. Wo liegt die Grenze, die dazwischen verläuft? Gibt es sie überhaupt oder ist es ein und dieselbe Welt, zwei Wirklichkeiten, die miteinander zu einer verschmolzen sind, wo sich die Realitäten überlagern und wie unsichtbare Zahnräder ineinandergreifen? Oder gibt es ein mysteriöses Portal, durch das man aus einer Welt in die andere gelangen kann? Wenn es wahr ist, so muss es irgendwo auf dem Blocksberg im Harzgebirge liegen, denn mindestens einmal im Jahr öffnet sich das geheimnisvolle Tor in die Unterwelt und der Fürst der Finsternis übernimmt die Macht auf dem sagenumwobenen Brocken. Ein Mann durchlebt während seiner Wanderung auf dem Heinrich-Heine-Weg im Harz die Walpurgisnacht aus Goethes "Faust" auf seine eigene Art. Ein seltsamer Kobold, ein durch seine Vorstellungskraft entstandenes Fabelwesen, begleitet ihn als treuer Beschützer auf seinem beschwerlichen Weg. Der Wanderer begegnet Leuten, die er nur flüchtig kannte oder schon seit Jahrzehnten nicht mehr sah. Sie scheinen aber alle nicht mehr von dieser Welt zu sein und sind aus irgendeinem Grund alle wieder da, um an der teuflischen Aufführung teilzunehmen. Er trifft auf bizarre Wesen, die nur der Hölle entsprungen sein können. Hexen kreisen in Scharen über seinem Kopf und schließlich bringt ihn der Höllenfürst dazu, einen Pakt mit ihm zu schließen, der noch ein langes Nachspiel haben wird, in das einige Unbeteiligte wie in einen Strudel des Verderbens mit hineingezogen werden. Es scheint zuweilen alles Fantasie zu sein, aber wer weiß: Vielleicht ist auch etwas Wahres dran?

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Seitenzahl: 459

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Vorwort

Schon seit meiner Jugend hatte ich den sehnlichsten Wunsch, auf den Spuren von Heinrich Heine im Harz zu wandern. Nachdem ich mich mit zwanzig mit den bezaubernden Zeilen seiner »Harzreise« vertraut gemacht hatte, ließ mich der Gedanke nicht mehr los, dass es irgendwann möglich werden musste. Es sollten aber noch vierzig Jahre ins Land gehen, bevor ich am frühen Morgen des fünften Juli im Jahre zweitausendeinundzwanzig den Heinrich-Heine-Wanderweg in Ilsenburg mit meiner Frau betrat, in der Hoffnung, Antworten auf einige Fragen zu finden. Doch viel, viel mehr, als nur meine Eindrücke im Notizblock festzuhalten, passiert während dieser Wanderung. Unverhofft sehe ich mich mit geheimnisvollen, dunklen Kräften konfrontiert, denen ich keineswegs gewachsen bin. Seltsame Dinge geschehen, die einen um den Verstand bringen können. Ob das alles real sei, wird sich vermutlich manch einer fragen, nachdem er die letzten Zeilen meiner Geschichte gelesen hat. Nun, ist denn »real« nicht etwas, was sich jeder in seinem Kopf selbst erschafft und als Wirklichkeit bezeichnet? Ich habe jemanden getroffen in der seltsamen Welt des Blocksbergs, meinen unnachahmlichen Brockenwicht, der mich vor den finsteren Mächten beschützt und bewahrt. Das ist für mich Realität. Egal, ob es nun jemand glaubt oder nicht …

Nikolaus Warkentin, am 06.07.2022

Texte: © 2022 Copyright by Nikolaus Warkentin

Umschlag: © 2022 Copyright by Nikolaus Warkentin

Verantwortlich für den Inhalt:Nikolaus Warkentin, Weißdornstr. 3,

D-53340 Meckenheim, [email protected]

Nikolaus Warkentin

Der Brockenwicht

Harzgeschichte

Sie haben mich gefunden. So viel steht fest. Dass es früher oder später passiert, war mir durchaus bewusst, doch diese teuflische Gefolgschaft hat dafür weniger als eine Woche gebraucht, damit habe ich nicht gerechnet. Ja, eine knappe Woche ist inzwischen vergangen, seitdem wir mit Angelina fluchtartig unsere Ferienwohnung verlassen hatten, die uns während unserer Harzreise zehn Tage lang ein Dach über dem Kopf bot. Indessen schien mir, dass ich unsere Spuren sehr geschickt verwischt hatte. Nicht im Entferntesten, wie es sich nun herausstellt.

Ein fürchterliches Gewitter half uns, die schwarze Limousine mit getönten Scheiben abzuschütteln, die uns auf der Autobahn verfolgte und zuvor schon seit Tagen vor unserem Haus auf der Straße gestanden hatte – wir wurden beobachtet. Wie durch ein Wunder zog sich der Himmel innerhalb von Minuten mit pechschwarzen Schwaden zu, als wir uns der Anschlussstelle Göttingen näherten, zahlreiche Blitze erhellten die bedrohliche Kulisse und es fing an, sintflutartig zu regnen. So einen heftigen Wolkenbruch habe ich nur selten erlebt, wenn überhaupt. Hinter der Windschutzscheibe sah man nur eine undurchdringliche Wasserwand, der Verkehrsfluss kam zum Erliegen. Die roten Schlussleuchten des Vordermanns waren schon nach einigen Sekunden verschwunden und ich tastete mich eher vor, als dass ich fuhr, jeden Augenblick darauf gefasst, dass mir gleich das Heck eines Autos aus der grauen Regenwand vor uns entgegenfliegt. Es war eine Gelegenheit, dem schwarzen Wagen zu entkommen, dessen Scheinwerfer ich im Rückspiegel als verschwommene Lichtflecke sah. Ich wechselte auf die Überholspur und gab richtig Gas! Wie mit verbundenen Augen fuhr ich, was das Zeug hielt, und bald lösten sich die Lichter hinter uns in den niederprasselnden Fluten auf. Trotzdem rasten wir mit gleicher Geschwindigkeit weiter, um sicher zu sein, dass uns keiner mehr verfolgt, bis wir bei Kassel in Richtung Dortmund abgebogen waren und alsdann der Regen von jetzt auf gleich aufhörte. Die Fahrbahn hinter uns war frei.

Kurzum, ich werde erpresst, nicht mehr und nicht weniger als von finsteren Mächten, und verfolgt von dunklen Gestalten, die die Einlösung eines äußerst dummen Versprechens meinerseits erzwingen wollen. Und alles hatte seinen Anfang im Harz, an den Hängen des geheimnisvollen Brockens. Ich könnte es demjenigen nicht übelnehmen, der behauptet, übernatürliche Erscheinungen seien Einbildung und Aberglaube – er weiß es nicht besser. Mehr noch, ich bin bis vor Kurzem auch der Meinung gewesen, dass paranormale Aktivitäten ein Produkt der blühenden Fantasie von Verschwörungstheoretikern und Spinnern aus dem Internet sind, bis ich unverhofft zu anderen Erkenntnissen gelangt bin. Sie sind nicht so erfreulich, wie es einem auf den ersten Blick vorkommen mag.

Es ist kein besonders guter Morgen. Angelina hat Frühschicht und ist schon vor einer Stunde aus dem Haus gegangen. Ich sitze bedrückt am Küchentisch, sehe zum Fenster hinaus und trinke in Gedanken vertieft meinen Kaffee, in meinem Kopf brodelt es, ich suche verzweifelt nach einer Lösung für das Problem, aber ich finde keine. Es gibt gleich drei üble Nachrichten. Nein, sogar vier. Schon vorgestern hat der Wetterdienst vor immensen Wassermengen gewarnt, die über weiten Teilen des Landes herabregnen sollten. Gestern hat es geregnet, und zwar in Strömen, den ganzen Tag lang ohne nennenswerte Unterbrechungen, während die Wiese hinter unserem Haus mit jeder Stunde immer mehr einem See glich. Doch es ist nichts im Vergleich zu den Folgen der verheerenden Flutkatastrophe, die sich vielerorts ereignet hat. Es hagelte Horrormeldungen von allen Seiten, als ich heute in der Früh den Computer hochgefahren hatte: Die Altstadt von Meckenheim steht unter Wasser, das Ahrtal existiert nicht mehr, verstörende Bilder von weit entfernten Orten, wo kein Stein auf dem anderen liegen geblieben ist, machen die Runde.

Sie kreisen mich ein! Es war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schnellte. Ich erinnere mich noch an all die Wetterphänomene vor einer Woche im Harzgebirge, die alle, wie es scheint, etwas mit den dämonischen Gesellen zu tun haben, die mich bis heute verfolgen. Dafür spricht die Tatsache, dass ich in der Nacht wieder die Stimme des Wichts aus der Küche hörte. Wie schon während der Brockenwanderung hat er mich mit seinem leisen krächzenden Lachen vor dem nahenden Unheil gewarnt. Der Wicht ist eine kleine drollige Holzfigur, ein Souvenir aus dem Harz. Er sitzt auf dem Küchenradio und sieht mich an mit seinen schwarzen Knopfaugen. Er schweigt und gibt kein Lebenszeichen von sich, aber ich weiß, dass er auch anders sein kann.

Die Schlagzeile, die zwischen den Schreckensmeldungen über Dörfer, die durch die Flutwelle dem Erdboden gleichgemacht wurden, beinahe untergegangen war, fiel mir dennoch sofort ins Auge: »Drei Schüler nach Brockenwanderung vermisst.« Ich überlege schon seit zwei Stunden, ob es die drei Jungen sind, die ich an der Roten Brücke als äußerst ungewöhnliche Erscheinungen zu Gesicht bekommen habe, und kann es immer noch nicht glauben! Aber es passt alles: Es passt der Ort, es passt die Zeit und es passen die Umstände. »Verdammt!«, fluche ich schließlich lautstark und schiele auf den Wicht, ob er mir irgendwelche Ratschläge geben könnte. Er schweigt, er ist nur eine Puppe.

Dominik hat gestern in der Nacht etwas geschrieben, leider nichts Erfreuliches, um nicht zu sagen etwas in höchstem Maße Bestürzendes. Leonie ist wie ausgewechselt, seitdem die beiden aus dem Harzurlaub zurückgekehrt sind, schreibt er. Sie verschwindet jede Nacht heimlich aus der Wohnung und kommt erst gegen Morgen zurück, ihr Nachthemd ist verschmutzt und ihre bloßen Füße tragen blutige Spuren, als wäre sie über einen Haufen Glassplitter gelaufen. Und sie redet merkwürdige Dinge über schwarze Magie, Hexerei und ihre höhere Bestimmung. »Verflixt!«, entreißt sich meinen Lippen ein weiterer Fluch. »Diese Esmeralda! Dieses verdammte Miststück von Hexenweib! Sie hat das Mädchen umgepolt.« Es habe alles genau die Wendung genommen, vor der ich ihn telefonisch gewarnt habe, beschreibt Dominik die aktuelle Lage. Aber er habe noch nie eine Frau namens Esmeralda gesehen, die ihnen in den Zug gefolgt sein soll, sie habe sich auch noch nie sonst wie bemerkbar gemacht, und daher könne er nichts verstehen und wolle einen Rat von mir hören.

Dafür hat sich Esmeralda aber bei mir gemeldet, wie versprochen. In der Nacht kam eine Nachricht von ihr: »Lieber Klaus! Der Hohepriester der Finsternis hat verfügt, unsere gemeinsame Sache anzugehen. Du musst als Erstes die Software auf deinem Webspace installieren, die eine Videoverbindung mit meinem Computer herstellt. Danach müssen wir noch alle Funktionen testen, bevor wir starten können. Die Installationsdatei ist umfangreich und eignet sich nicht als Anhang zu meiner Nachricht, den Stick mit dem Programm wird dir heute im Laufe des Tages Ranulf übergeben, er ist unterwegs. Melde dich unverzüglich nach der Installation, wir müssen noch die Einzelheiten besprechen. Die Zeit drängt, Seine Hoheit gibt uns nur zwei Tage für die Vorbereitungen. Deine Esmeralda.«

Meine Esmeralda! Nicht dass ich wüsste! Sie bekommt innerhalb von zwei Tagen die wundervollste »Bestätigung« der Installation von allen, die ich je geschrieben habe, darauf kann sie sich verlassen! Viel komplizierter ist die Geschichte mit diesem Knochenbrecher von Blocksberg. Ich habe gedacht, dass ich ihn ein für alle Mal im Regen bei Göttingen losgeworden bin, doch habe ich mich geirrt, er ist wieder da. Ich beobachte schon die ganze Zeit aus dem Fenster, wann die bekannten Umrisse der verhassten Gestalt im langen Regenmantel auf dem durchweichten Rasen vor dem Balkon auftauchen. Ich kann ihn nicht mehr sehen! Nicht mal denken kann ich an den erbärmlichen Schuft, ohne dass ich einen Wutanfall bekomme. Den Mann würde ich lieber in Stücke reißen, als noch irgendeinen Stick aus seiner Hand nehmen! Man könnte ihn natürlich auch die Treppe hinunterbefördern, wenn er heute klingelt. Ich denke schon, dass ich als Sieger aus der Sache hervorgehen könnte, wenn ich mich mit ihm körperlich auseinandersetze. Sehr viel wird es aber vermutlich nicht helfen. »Seine Hoheit« hat eine ganze Staffel von solchen Schlägern. Sie kommen garantiert schon am nächsten Morgen und bis dahin … Keine Ahnung, was bis dahin.

Ehrlich gestanden weiß ich gar nicht, was ich jetzt tun soll. Die Polizei informieren? Sie wird mir die Geschichte vermutlich nicht glauben und außerdem halte ich es für völlig ausgeschlossen, dass die Ordnungshüter mir bei dem Problem in irgendeiner Weise behilflich sein könnten, denn Folgendes geschah.

Die Luft war feucht und die Fahrbahn war stellenweise noch nass, aber es war warm, als wir mit Angelina morgens um Viertel nach sieben auf dem Parkplatz im Ilsetal ankamen. So hieß die Straße in Ilsenburg, an deren Ende der Heinrich-Heine-Weg begann. Die aufsteigende Sonne, die sich irgendwo hinter dem Berg versteckte, rötete die Reste der Regenwolken von gestern, die langsam über unseren Köpfen hinwegzogen und ihre flüssige Fracht fortbrachten. Dazwischen hatten sich schon große Lücken gebildet, durch die uns der strahlend blaue Himmel anlächelte. Es herrschte Windstille und der Sommertag versprach gut zu werden.

Wir waren die Einzigen, die zu dieser frühen Stunde auf der riesigen Parkfläche das Auto abstellen wollten, welche eigens für anreisende Wanderer angelegt war. Auch die Straße war wie leergefegt: Kein Auto fuhr vorbei und kein Frauchen ging mit ihrem Hündchen spazieren. Ringsum übten die Vögel ihre Tonleitern in den Kronen der Bäume, auf denen noch große Wassertropfen perlten, die bei jedem unvorsichtigen Flügelschlag der trillernden Solisten die Blätter hinunterkullerten und auf den gepflasterten Bürgersteig klatschten, während wir noch eine Weile vor der geöffneten Heckklappe standen und unsere Ausrüstung für die Brockenwanderung aus dem Kofferraum herausholten. Vor fünf Tagen hatte ich von Geli zwei nigelnagelneue Wanderstöcke zum Geburtstag bekommen und sie mussten nunmehr eine weitere Bewährungsprobe bestehen.

Diesmal war es kein bedeutungsloser Ausflug in die Berge, um sich ein bisschen die Beine im Wald zu vertreten, diesmal stand etwas richtig Schwieriges auf dem Programm – den Blocksberg aus eigener Kraft zu besteigen, war nicht jedermanns Sache. Auf den trügerischen Schein, dass der Berg eher einem großen Hügel glich, waren schon seit jeher hunderte von Leuten hereingefallen und jeder Einzelne von ihnen hatte das wahre Naturell des geheimnisvollen Brockens schmerzhaft am eigenen Leibe erfahren müssen.

Wenngleich Wanderstöcke bei einem Aufstieg auf eintausendeinhundertvierzig Meter Höhe für große Abhilfe sorgten, kam man ohne Proviant nicht weit. Er gehörte neben den Wasserflaschen ebenfalls in unsere Rucksäcke, darauf achtete ich penibel seit unserem unvergesslichen Aufstieg zum Pico Grande auf Madeira, der aufgrund von mangelnden Wasser- und Essensvorräten auf halbem Wege kläglich gescheitert war. Außerdem waren Regenjacken alles andere als überflüssig in diesem regnerischen Sommer. Noch sah es nicht danach aus, aber etwas sagte mir, dass es nicht die ganze Zeit trocken bleiben würde – die gleiche Meinung vertrat auch die Wettervorhersage in meinem Smartphone. Alles in allem war es nicht viel, nur das Allernötigste, auf das man aus Erfahrung nicht mehr verzichten konnte, aber unsere kleinen Ausflugsrucksäcke waren voll bis zum Rand, sogar die große Fotokamera, die hochauflösende Bilder machte, war zu Hause geblieben. Es war besser so, denn bei steilen Anstiegen, freute sich einer, wenn man ein Kilo weniger Gewicht auf dem Rücken hatte.

Die Heckklappe fiel ins Schloss mit einem klackenden Geräusch, das in der Morgenstille noch weit zu hören war, und wir marschierten los, nachdem ich zum letzten Mal meinen Blick auf das Parkticket hinter der Windschutzscheibe geworfen hatte, ob damit alles stimmte. Ich hatte zuvor eine Tageskarte am Parkscheinautomaten am anderen Ende des Parkplatzes gezogen, denn die Antwort auf die Frage, wann wir zum Auto zurückkommen würden, lag oben auf dem Berg gut unter irgendeinem Stein versteckt. Hier abgeschleppt zu werden oder eine saftige Strafgebühr zu bezahlen, hätte noch gefehlt. Es schien aber alles mit dem Parkschein zu stimmen: Die Parkzeit endete um achtzehn Uhr, sie hätte reichen müssen, danach war das Parken ohnehin gebührenfrei.

»Ob wir dich noch je wiedersehen, Karl?«, wandte sich meine Frau mit einer Frage an unseren kleinen schwarzen Opel, der verwaist auf dem leeren Parkplatz stand.

Ich hielt ebenfalls an und drehte mich um. »Wir sind in zehn Stunden zurück! Du musst Geduld haben«, ermunterte ich ihn und registrierte im gleichen Augenblick, was es für ein Schwachsinn war, mit einem Auto Gespräche zu führen, – zum Glück hatte uns keiner dabei beobachtet.

»Dauert es wirklich so lange?«, fragte Geli nun mich, nachdem der Parkplatz hinter einer Biegung verschwunden war.

»Ich bin mir sicher, nicht weniger! Wenn schon im Wanderführer sieben Stunden angegeben sind, werden es wahrscheinlich noch mehr als zehn.«

»Ja.« Sie nickte zustimmend. »Diesmal stimmt im Wanderführer das Meiste nicht!«

»Da sagst du aber was!«, pflichtete ich ihr bei. »Hier zum Beispiel: Wir müssen bis zu diesem Waldhotel noch gut einen Kilometer laufen. Die Adresse ist auch als Ziel fürs Navi angegeben. Was nützt mir die Adresse, wenn man sie nicht mit dem Auto erreichen kann? Die Straße ist für den allgemeinen Verkehr gesperrt, sie ist nur für Gäste. Der Parkplatz, wo das Auto steht, ist aber mit keinem Wort erwähnt. Seltsam. Gut, dass wir gestern hier waren und uns das Ganze angesehen haben! Ich glaube, ich werde keine Wanderführer mehr von diesem Herrn kaufen.«

»Der Wanderführer von Madeira war besser!«, lobte Geli den Verfasser der Texte der Beschreibungen von Wanderwegen auf der Atlantikinsel. »Ich muss zu Hause nachsehen, wer es war, und nur Wanderführer von ihm kaufen. In Goslar war ja das Gleiche. Weißt du noch, wie lange wir nach dem Parkplatz suchten, bis ich eine Lücke in der Hecke entdeckt habe?«

»Ja«, gab ich zur Antwort. »Egal, es ist jetzt vorbei! Genieße lieber die Wanderung. Wir gehen gerade in das Ilsetal rein, glaube ich.«

Obwohl das Waldhotel am Ilsestein noch nicht in Sicht war, hatten die Berge zu beiden Seiten der mit kleinen Steinen gepflasterten Straße erheblich an Höhe gewonnen und liefen weit vorne spitz aufeinander zu, so viel konnte man erkennen zwischen den Bäumen von tiefem, kräftigem Grün, die den Weg säumten und inzwischen groß und mächtig geworden waren. Die sagenumwobene Ilse rauschte fröhlich über die Kiesel in einiger Entfernung zu unserer Linken entlang der Felswand. Man konnte sie nicht sehen, die eine oder andere Ferienanlage verdeckte die Sicht, aber sie gluckerte immer vernehmlicher, während wir uns dem Eingang in das Tal näherten. An einer Stelle, der Prinzess-Ilse-Quelle, querte die Straße den wilden Wasserlauf und endlich bekamen wir die Prinzessin Ilse zu Gesicht. Sie sprang von Stein zu Stein und trug eilig ihr schäumendes bräunliches Wasser gen Norden, um es nach ein paar dutzend Kilometern der Oker zu übergeben und auf eine weite Reise zu schicken, über die Aller und die Weser, die es schließlich behutsam zur Nordsee brachte. Und wenn man genau hinhörte, vernahm man hinter den Geräuschen des plätschernden Wildwassers den leisen gemächlichen Atem der Meeresbrandung, man musste nur fest daran glauben!

Die Baumkronen schlossen sich zu einem dichten Dach über unseren Köpfen, nachdem wir das Waldhotel passiert und über eine Brücke die Grenze des Vogelschutzgebiets Hochharz erreicht hatten, die an dieser Stelle allem Anschein nach mit der Grenze des Nationalparks Harz übereinstimmte. Eine große Tafel mit dieser Überschrift informierte uns über die Vogelarten der Gegend und die Aufenthaltsregeln in diesem Vogelreservat. Was mich aber viel fröhlicher stimmte, als mir die Piktogramme der verbotenen Tätigkeiten mit einem dicken roten Kreuz anzusehen, war der Anblick von vielen Wegweisern am Rande der Schotterstraße, die in die dunkle Tiefe des Ilsetals führte. Unter anderem auch ein Pfeil mit der Aufschrift »Heinrich-Heine-Weg«. Und erstaunlicherweise war darauf auch ein Routensymbol wie im Wanderführer zu sehen. Wenn das kein gutes Zeichen war?

»Das ist der Ilsestein«, glänzte ich vor Geli mit meinen Kenntnissen aus dem Wanderführer, während wir die Schotterstraße entlangwanderten. »Und gleich müsste auch der Zanthierplatz kommen.«

Ich hatte meine Bedenken, dass Angelina auch nur die leiseste Ahnung davon hatte, was der Ilsestein war, oder eine Vorstellung davon, wie weit wir auf der roten Linie, die auf der Wanderkarte den Heinepfad markierte, vorangeschritten waren. Ich zeigte ihr die rötliche Granitwand links, die oben durch das dichte Laub der riesigen Buchen am anderen Ufer der Ilse schimmerte.

»Auf diesen Felsen ist Harry Heine hinaufgeklettert und beinahe abgestürzt. Wenn nicht das Kreuz auf der Spitze gewesen wäre, an dem er sich festgeklammert hatte, hätten wir Die Harzreise nie lesen können.«

Geli nickte beeindruckt und sah zum Kreuz hinauf. »Es ist aber hoch! Gehen wir nicht nach oben?«

»Ich glaube nicht. Vielleicht auf dem Rückweg. Sonst verlieren wir gleich am Anfang so viel Kraft, dass wir nachher nicht mehr den Brocken bezwingen können.«

»Mhm«, gab sie zurück und wir setzten unsere Wanderung auf der breiten Forststraße fort, die augenblicklich wenig an einen Wanderpfad erinnerte, aber wenn man den Wegweisern Beachtung schenkte, war es der richtige Weg, zumal ich vorn in einiger Entfernung einen weiteren Wegweiser bemerkte. Dem Heinrich-Heine-Weg war ein ganz großer Richtungspfeil zugedacht, stellte ich fest, als wir die Stelle erreichten. Er zeigte in beide Richtungen, was nur bedeuten konnte, dass wir uns mitten auf der Route befanden. Gemeint war allerdings nicht die Schotterstraße, auf der wir uns bewegten, sondern ein Pfad, der sie hier querte. Der Wegweiser stand schräg zum Forstweg und parallel zu dem Wanderpfad, der von einer Brücke unter dem Ilsestein kam und zu einer Lichtung auf der anderen Straßenseite führte – das musste der Zanthierplatz sein. Was sollte es denn wieder? Offenbar waren wir bis jetzt nicht den Heinrich-Heine-Weg gewandert, den Anfang des Weges hatten wir verpasst, so sah es aus. Es waren wieder die Ungereimtheiten in der Beschreibung im Wanderführer. Sicherheitshalber ging ich zur Brücke, um mich von der Richtigkeit meiner Annahme zu überzeugen. Es gab keinen Zweifel, der Pfad verlief am gegenüberliegenden Ufer der Ilse. Wo fing er denn an? Das war aber auch ein Ding mit diesem Wanderführer!

»Ab jetzt werden wir uns wohl kaum verlaufen«, sagte ich erfüllt von Hoffnung, als wir wieder neben dem Pfosten mit dem Wegweiser standen. »Wenn die Schilder überall so groß und eindeutig sind …«

»… er ist aus Holz!«, unterbrach meine Frau mich mit ruhiger Stimme.

»Was ist aus Holz?«, fragte ich irritiert.

»Der Wegweiser ist aus Holz, es ist kein Verkehrsschild«, konkretisierte sie ihre Beobachtung.

»Ja, von mir aus, wenn die Holzpfeile überall so groß und gut sichtbar sind, werden wir es bestimmt zum Brocken und zurück noch bei Tageslicht schaffen! Und du musst nicht wieder auf dem Berg weinen!«

Sie sah mich vorwurfsvoll an. »Ich habe nicht geweint! Das hast du dir alles ausgedacht und eingebildet.«

»Moment mal, als wir auf …«, fing ich an, meine Sicht der Dinge darzulegen, als Geli mich erneut unterbrach.

»Guck mal! Wer ist denn das? Ach, wie süß … Wer hat dich hier hingesetzt?«

»Wer? Was? …«, fragte ich ahnungslos und folgte ihrem Blick.

Oben auf dem Pfosten, an dem der Wegweiser angebracht war, saß eine kleine drollige Bastelfigur und sah uns mit ihren lustigen, schwarzen Knopfaugen an. Es war eine Art Heinzelmännchen, bei dem der Torso aus einem großen Fichtenzapfen bestand, der in ein mit viel Mühe und Geduld aus kleinen Stofffetzen genähtes Jäckchen gekleidet war. Als Kopf diente eine Walnuss, die kunstvoll mit Farben bemalt war, um dem Gesicht des niedlichen Kobolds einen halb lieben, halb grimmigen Ausdruck zu verleihen. Das Haupt schmückte ein spitzer Hut, der ebenfalls aus einem dünnen länglichen Zapfen gearbeitet war, bei dem man die Schuppen am dicken Ende so geöffnet hatte, dass sie eine Hutkrempe bildeten. Unter dem Hut guckten Moosfetzen heraus, die das Haar des Waldwesens darstellten. Die Gliedmaßen ersetzten passend abgebrochene krumme Zweige, die zwischen den Zapfenschuppen befestigt waren. Der Wicht saß unbekümmert auf der oberen Schnittkante des Holzpfostens und ließ seine Füße baumeln, zumindest kam es einem so vor.

»Ja …« Ich überlegte kurz. »Was denn wohl? Es ist wieder irgendeine Hexengeschichte, die uns die Mitglieder des örtlichen Vereins der Naturfreunde erzählen wollen. Sie haben bestimmt vor Kurzem eine Vereinsbastelstunde gehabt. Vielleicht sitzt hier auf jedem Pfosten ein Troll. Das Publikum muss ja unterhalten werden, sonst kommt bald keiner. Im Ilsestein soll hier eine Fee leben, schon Heine hatte sie besungen, die Prinzessin Ilse, und das wird wohl einer ihrer treuen Diener sein! Alles Blödsinn und Aberglaube! Die Figürchen werden hier überall als Souvenirs verkauft, das hast du ja gestern in der Stadt gesehen. Hexen, Elfen, Feen, Zwerge … keine Ahnung!«

»Aber dieser ist besonders schön, so einen will ich auch haben«, entgegnete Geli.

»Bist du verrückt?«, wehrte ich mich gegen den Vorschlag, den sie schon auf der Zunge liegen hatte. »Ich klettere jetzt nicht auf den Pfosten … Komm, gehen wir jetzt! Der Weg ist lang. Wir sind erst am Ilsestein.«

Zu meiner Verwunderung folgte Angelina meiner Aufforderung ohne große Widerreden und setzte sich als Erste in Bewegung zu der nicht weit entfernten Lichtung, auf der eine Schutzhütte stand. Ich rückte den Rucksack auf meinem Rücken zurecht und folgte meiner Frau.

»Hihihi«, vernahm ich plötzlich ein leises krächzendes Lachen, das ein wenig boshaft klang und nicht aus Gelis Richtung kam.

Ich hielt wieder an und sah mich um. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen. Woher kam denn das Lachen, fragte ich mich, während mein Blick aus der einen in die andere Richtung wanderte und zum Schluss auf dem Pfosten mit dem Wegweiser stehen blieb. Etwas hatte sich geändert. Der Pfosten stand noch immer aufrecht, der Wegweiser war noch dran und oben saß noch das Zapfenmännlein, aber etwas war anders: Soweit ich es erkennen konnte, hatte der Wicht sein Gesicht in unsere Richtung umgedreht und sah uns nach, obwohl sein Blick zuvor auf die Straße vor dem Pfosten gerichtet war. Wie konnte es sein? Aus der Entfernung waren keine Details an der Figur deutlich zu erkennen und ich dachte als Erstes an eine optische Täuschung, die mich hinters Licht geführt hatte. Und das Lachen? Hatte ich es wirklich gehört? Ich ordnete es zunächst in den Bereich der ungeklärten Fälle ein, um mir während der Wanderung nicht den Kopf darüber zu zerbrechen.

Ich hatte bis zum heutigen Tag keine Ahnung gehabt, welche Heldentaten ein gewisser Herr Zanthier in seinem Leben vollbracht hatte, dass nach ihm die Lichtung im Wald benannt worden war, auf die wir nach kurzer Zeit hinausliefen. Ich hatte nicht einmal gewusst, dass es einen solchen Menschen gegeben hatte, und es hätte sich vermutlich auch nichts daran geändert, wenn nicht eine hölzerne Tafel am Eingang und ein Gedenkstein unter der alten Eiche, wo auch ein Picknicktisch genug Platz fand, meine Wissenslücke geschlossen hätten. Hans Dietrich von Zanthier war Oberforst- und Jägermeister aus Ilsenburg, der dort seinerzeit eine »Forstliche Lehranstalt« gegründet hatte, bevor er siebzehnhundertachtundsiebzig das Zeitliche segnete. Zugegeben, der Gedenkstein hatte etwas von einem Grabstein an sich, vielleicht lagen ja auch noch tatsächlich die Gebeine des Herrn von Zanthier unter der Eiche, ich wusste es nicht. Außer dem Tisch und dem Stein gab es noch eine Schutzhütte, die etwas abseits stand, mit einem spitzen Dach, das aus ungehobelten, sich überlappenden Brettern bestand und bis zum Boden reichte. Im Inneren der türenlosen Hütte, bei der einfach die Frontwand fehlte, sah man an den Seiten zwei breite Bänke, die eher an Pritschen erinnerten und vermutlich auch als solche gedacht waren, denn darauf schliefen in aller Ruhe zwei Unbekannte eingewickelt in ihre Schlafsäcke! Das war eine Überraschung, damit hatte ich nicht gerechnet, hier vor den Toren der Stadt Ilsenburg zwei erschöpfte Wanderer in einer Schutzhütte vorzufinden, die gestern bei Nacht und Nebel aus den Bergen gekommen waren und keine Kraft mehr gehabt hatten, bis zu ihrem Auto in der Stadt zu gehen. Andererseits war ich vielleicht zu romantisch gestimmt und alles hatte eine viel einfachere Erklärung, zum Beispiel die, dass zwei Obdachlose vom städtischen Bahnhof verjagt worden waren und hier Schutz vor der Kälte der Nacht gefunden hatten. Ja, warum nicht? Die Hütte war nicht allzu weit von der Stadt entfernt und so gut wie ohne Höhenunterschied zu erreichen. Ich wollte es nicht herausfinden und wir ließen die Leute ihre süßen Träume in Morpheus' Armen weiterträumen.

Bis hierhin waren wir tatsächlich über einen Weg gewandert, der in keiner Weise vermuten ließ, dass wir heute noch mehr als achthundert Höhenmeter zu bewältigen hatten. Erst nachdem wir den Zanthierplatz hinter uns gelassen hatten, spürte ich mit meinen Beinen, dass ab jetzt der Weg langsam ein Gefälle bekam. Man konnte den sanften Anstieg kaum mit den Augen wahrnehmen, aber die Beine logen nie und außerdem verwandelte sich die Ilse nach und nach in einen reißenden Strom, der bergab zwischen den großen Granitblöcken in seinem Flussbett schoss und zischend in alle Seiten spritzte, wenn sich dem Wasser ein Stein in den Weg legte. Die Ilse war so laut geworden, dass ich Geli kaum verstehen konnte, wenn sie zu mir etwas aus fünf Metern Entfernung sagte. Die Sonne kam aus dem Schatten des Ilsesteins heraus, berührte den Wald und tauchte alles in ihr zauberhaftes gelbes Licht, die goldenen Reflexionen tanzten wie Irrlichter auf den dicken Baumstämmen entlang des Wasserlaufs. Das Tagesgestirn kitzelte mit seinen warmen Strahlen unsere Gesichter und ließ die letzten Tropfen von den Blättern der Buchen verdunsten. Der Wald hatte sich gelichtet, doch die ersten Tannen mischten sich schon unter die mächtigen Laubbäume und kündigten den baldigen Vegetationswechsel an.

Wir schritten eines breiten, bequemen Trampelweges, der dem wilden Bach folgte. Die Schotterstraße war am Zanthierplatz nach links ausgewichen und hatte sich erst einmal aus unserem Sichtfeld verloren. Wir waren nach wie vor absolut allein auf dem Pfad und hatten bis jetzt keinen einzigen Menschen getroffen, die in der Schutzhütte schlafenden Kollegen nicht mitgerechnet. Das fand ich gut, man konnte sich auf das Wandern konzentrieren, ohne permanent jemandem auf dem Pfad auszuweichen oder einen konditionsstarken Wanderer überholen zu lassen, einen Rhythmus entwickeln, um das Tempo zu halten, – schließlich mussten wir heute noch viele Kilometer zurücklegen und wir waren noch nicht annähernd in den Höhenlagen. Wanderroutine kehrte ein, wir bildeten eine Kolonne, die bald von mir, bald von Geli angeführt wurde. Nur selten hielten wir an, wenn wir auf dem Weg etwas wirklich Außergewöhnliches sahen, und sprachen kaum miteinander, sodass ich genug Zeit hatte, um über Gott und die Welt zu sinnieren, aber mitunter auch ein paar Überlegungen über weniger philosophische, dennoch nicht weniger wichtige, obgleich auch sehr irdische Dinge anzustellen.

»Hier bist du also entlanggegangen, Harry?«, sprach ich in meinen Gedanken zu Heine, der gerade neben mir als unsichtbare Erscheinung schritt. »Kannst du mich überhaupt hören?«

Er schwieg und sah sich mit unverkennbarer Begeisterung das »muntere Mädchen« Ilse an, das »lachend und blühend den Berg hinablief«. Ich seufzte und setzte meinen Gedankengang fort: »Du musst ja damals noch Harry geheißen haben, nicht wahr? Ich werde dich so anreden. Einverstanden? Und wir werden auch per Du sein, wenn es dir genehm ist. Finde ich angebracht, denn du bist ja auf deiner Harzreise gerade mal siebenundzwanzig und ich … ich bin vor ein paar Tagen neunundfünfzig geworden. Merkst du den Unterschied? Dennoch sind wir beide heute hier, mit ein und demselben Ziel, dem Blocksberg, und du redest mich bitte ebenfalls mit Du an, wenn du überhaupt noch redest. Du bist ja gerade so schweigsam! Also wie war es denn nochmal mit deinem Vornamen, warum hast du ihn überhaupt … Ach so, Entschuldigung … Du weißt ja noch gar nicht, dass du in einem Jahr ganz anders heißen wirst. Heinrich … Harry würde mir besser gefallen! Und vor allem, wieso eigentlich das Ganze: die lutherische Taufe, die Vornamensänderung? … vermeintliche Vorteile für die berufliche Laufbahn? Das hast du dir davon versprochen? Verstehe! Und? Hat es etwas geholfen? Bist du danach nie wieder als Jude verschrien worden? … verstehe! … aber das wirst du erst alles erfahren, schon sehr bald. Ja, Harry, so ist das Leben. Es war zu deiner Zeit so und bis heute hat sich nicht wesentlich viel verändert. Was muss man denn nicht alles über sich ergehen lassen, wenn man von Idioten umgeben ist, die ohne Zweifel den größten Teil der Menschheit ausmachen, und sein Leben lang als Geisel der Umstände gefangen gehalten wird und sich an die von denselben gehirnlosen Dummköpfen – du weißt schon, Philister aus Göttingen – aufgestellten gesellschaftlichen Normen und Regeln zu halten gezwungen ist? Widerlich! Man verliert seinen Vornamen, man begeht einen Verrat an seinen Werten und man versteckt die Gefühle tief in seinem Inneren, nur um den Anforderungen des Pöbels gerecht zu werden und irgendwie über die Runden zu kommen. Aber heute … heute willst du ›auf die Berge steigen‹ und ›lachend auf sie niederschauen‹! Das habe ich nun auch vor! Zugegeben, schon etwas spät in meinem Leben. Dennoch: Lieber spät als nie.«

Angelina blieb auf einmal an einer Biegung der Ilse auf dem Pfad stehen. Es sei eine gute Stelle, um ein paar schöne Bilder zu machen, teilte sie mir ihre Absichten mit, als ich sie eingeholt hatte. In der Tat, ich sah es auch so. Man stand auf dem Weg, aber es kam einem vor, dass der Strom direkt auf einen zufloss und man gleich nasse Füße bekommen würde. Der Fluss brachte sein Wasser ruhig und gemächlich bis zum Ilseknick, ehe sich zwischen den felsigen Ufern eine Stromschnelle bildete, die es wild verwirbelte und mit viel Getöse gegen große scharfkantige Steine schleuderte, sodass die braunen Schaumkronen auf der Oberfläche noch lange flussabwärts trieben. Man verstand sein eigenes Wort nicht mehr.

»Mach mal ein Foto von mir!«, rief ich meiner Frau laut zu, die gerade ihre Bilderserie mit den aufgewühlten Fluten beendet hatte, und positionierte mich vor einem Bächlein, das an dieser Stelle den steilen Hang zu unserer Rechten munter zwischen den üppig grünen Adlerfarnen herunterplätscherte, um sich mit der Ilse zu vereinen.

Sie machte das Bild. »Und jetzt du von mir«, sagte sie und gab mir ihr Telefon.

»Ich kann es auch mit meinem machen!«, bemerkte ich verwundert.

»Nein, du sollst es mit meinem machen!«, beharrte Geli hartnäckig. »Ich will es an jemanden senden. Und außerdem kann ich das Bild bei mir löschen, wenn es schlecht wird. Du weigerst dich ja, die Fotos von mir zu löschen, wo ich wie 'ne alte Hex' aussehe. So nennst du mich doch, wenn du mich heimlich fotografierst!«

»Nee, nee! Die alten Hexen, die bleiben alle da, wo sie sind! Okay, gib her!«

Ich nahm das Telefon und knipste ein Foto, wo Angelina mit einem breiten Lächeln im Gesicht vor dem Hintergrund der schäumenden Kaskaden stand und sich mit den Händen auf einen Wanderstock abstützte. Ob ich dabei irgendwas falsch gemacht oder ihre Kamera im Smartphone irgendwelche seltsamen Einstellungen hatte, vermochte ich nicht zu sagen, aber auf dem Foto hatte sie mit ihrer Schlaghose, dicken Wanderschuhen, Rucksack und Wanderstock etwas von einem Waldzwerg, zumal der Kopf etwas überdimensional geraten war und die Beine entsprechend zu kurz. Die moderne Fototechnik war manchmal ein Buch mit sieben Siegeln.

»Du siehst aus wie der Wicht auf dem Pfosten!«, scherzte ich.

»Zeig.« Geli nahm das Telefon an sich, sah auf das Bild und lachte von ganzem Herzen, laut und ansteckend.

»So, hier ist noch eine Hexe, und zwar eine mit geöffnetem Mund«, sagte ich, als ihr Lachanfall vorbei war, und zeigte das Bild, das ich mit meinem Telefon gemacht hatte.

»Du sollst es auf der Stelle löschen!«

»Nö, im Leben nicht«, entgegnete ich gelassen. »Ich behalte es lieber. Wir sollten jetzt aber weitergehen, es ist schon nach neun Uhr. Komm, meine alte Hex', gehen wir ein bisschen!«

Angelina ging los, während ich noch die Schlaufe des Wanderstocks um das Handgelenk wickelte. Sie hatte schon zehn Meter Vorsprung, als ich unerwartet etwas hörte, was nicht zu dieser Umgebung passte.

»Hihihi …«

Ich hatte es eindeutig gehört. Trotz des Wassers der Ilse, das gegen die Steine donnerte. Es konnte mich keiner mehr vom Gegenteil überzeugen. Es war wieder das halb gutmütige, halb böse kichernde Lachen, das ich schon vorhin gehört hatte. Ich suchte mit meinem Blick den Hang bis nach oben ab, von wo es gekommen war. Keiner war da. Der ungeklärte Fall entwickelte sich langsam zu einem Problem, hatte ich das Gefühl. Begegnungen der dritten Art wollte ich auf meiner Harzreise keine haben. Davon hatte ich schon beim letzten Wanderurlaub genug gehabt. Warum musste ich denn immer in Gegenden reisen, wo etwas Mysteriöses geschah? Ich konnte diese Frage nicht beantworten und etwas anderes, als meiner Frau auf dem Pfad zu folgen, blieb mir im Moment nicht übrig.

Die Ilse machte an dieser Stelle einen Bogen um eine Anhöhe, doch der Trampelpfad, dessen Gefälle kräftig zugenommen hatte, führte unbeirrbar geradeaus über den felsigen Untergrund des lichtdurchfluteten Waldes. Sie war aber nie wirklich weit weg, ihr fröhliches Rauschen klang ununterbrochen durch den sonnigen, von Vogelgesängen erfüllten Hain und begleitete uns auf dem Weg nach oben. Der Pfad war noch feucht und stellenweise matschig. Obwohl das Wasser des gestrigen Regens schon längst abgeflossen war, erinnerten die Spuren der strömenden Fluten auf dem Weg an das heftige Gewitter, das am späten Nachmittag einen Dauerregen mit sich gebracht hatte, der bis in die Nacht nicht hatte aufhören wollen. Ich hatte sogar schon gewisse Zweifel bekommen, dass der geplante Brockenaufstieg stattfinden würde. Doch heute erfreute der wolkenlose, tiefblaue Himmel wie auf Bestellung das Auge und die strahlende Sonne leuchtete die tiefsten und dunkelsten Ecken des zauberhaften Ilsetals aus. Es war in diesem Sommer eher die Ausnahme. Seit einer Woche, die wir schon im Harz verbracht hatten, fing es jeden Tag gegen Abend an zu regnen und hörte erst am nächsten Vormittag auf. Wenn wir nach unseren Tagesausflügen am späten Nachmittag unsere Unterkunft betraten, trübten schon die ersten Regentropfen die Fensterscheiben unserer Ferienwohnung im Dachgeschoss. Es war wirklich ein regnerisches Jahr. Nichtsdestotrotz hatten wir äußerst produktiv die regenfreien Zeitfenster genutzt, um unser Wanderprogramm zu absolvieren. Alle Ziele, die wir bis dahin ins Auge gefasst hatten, waren erreicht, obwohl auch mit manch einer Unterbrechung an Tagen, an denen es durchgehend geregnet hatte. Mir gefiel es sogar viel mehr, den Harz feucht und grün zu erleben, als staubtrockene Pfade mitten in der ausgedörrten Vegetation zu bewandern, wie es vermutlich in den letzten drei Jahren der Dürre der Fall gewesen wäre.

Heine gesellte sich wieder zu mir. Er hatte seinen Harz auch mit dichten grünen Wäldern und saftigen Wiesen erlebt. »Stimmt doch, Harry?«, suchte ich bei ihm nach einer Bestätigung und erinnerte mich daran, dass unser Gespräch nur in eine Richtung funktionierte. »Macht nichts. Du hast ja schon alles in der Harzreise gesagt«, fügte ich versöhnlich hinzu. »Übrigens, mein gnädiger Freund, ich habe deine Harzreise vor dem Urlaub noch einmal durchgelesen. Stell dir mal vor, während wir mit dir so durch die Gegend marschieren, kommt es mir vor, als würde ich jede einzelne verborgene Ecke wiedererkennen, die du so meisterhaft in deinen Reisebildern beschrieben hast. ›Die Sonne ging auf. Die Nebel flohen wie Gespenster beim dritten Hahnenschrei‹ – das ist doch eine ganz banale Geschichte zu Beginn deines Aufstieges zum Brocken. Aber warum ist sie mir schon beim ersten Lesen ans Herz gewachsen? Kannst du mir das erklären, Harry? … nicht? Okay. Weißt du … es mutet mich zwar ein bisschen seltsam an, aber ich war neulich beim Lesen überzeugt, dass ich bei meinem Aufstieg genau das Gleiche erleben werde … Es ist jetzt natürlich etwas anders gekommen, aber das Wetter kann man nicht bestellen! Tut mir leid … und außerdem sind wir noch nicht auf dem Brocken. Vielleicht wird ja noch alles so passieren? Was glaubst du, wie lange ich schon deine Harzreise kenne? Du wirst es nie erraten, versuch's mal! Nein, es sind weit mehr als zehn Jahre, falls du an so was denkst. … zwanzig? … dreißig? Und wer bietet mehr? … nee, mein Lieber, schon seit meinem Studium vor vierzig Jahren weiß ich deine träumerischen Naturbeschreibungen zu schätzen. Und nicht zuletzt deine ironisch-sarkastischen Bemerkungen in Bezug auf deine Mitmenschen, die zum größten Teil alle Kinder ihrer Zeit waren und unglaublich viel Blödsinn in ihren Köpfen trugen, was den Sinn einer Gesellschaftsordnung angeht und den Platz und die Rolle eines Jeden in ihr. Sie waren richtig gut! Die könnte man heutzutage auch noch verwenden – ob du es glaubst oder nicht! Ja, nachdem ich deine Harzreise damals gelesen hatte, stellte ich fest, dass sich seit deiner Zeit nicht das Geringste geändert hatte. Ringsum sah ich Menschen, die alle Eigenschaften der politkorrekten Spießer besaßen, welche du so unvergesslich liebevoll als Lumpenpack bezeichnet hast. Sie folgten zu meiner Zeit konsequent der Linie der kommunistischen Partei, so wie sie zu deiner Zeit jubelnd das Publikationsverbot deiner eigenen Schriften durch die Bundesversammlung begrüßt hatten. Man konnte kaum jemanden dazu bewegen, den Verstand einzuschalten, um Veränderungen herbeizuführen. Veränderungen erscheinen dem Lumpenpack als äußerst gefährlich – nein, nein, bloß nicht. Ich fragte mich schon oft: Warum kann man so einem autoritären Despoten nicht einfach angewidert ins Gesicht spucken? Tun es mehrere zugleich, besteht eine reale Chance auf Veränderungen – auf Freiheit! Die Antwort, die ich gefunden habe, ist: Der Pöbel beschützt den Tyrannen mit seiner stillschweigenden passiven Gefolgschaft, die keine Veränderungen vorsieht. Man wird zu einem Andersdenkenden, einem Fremden, wenn man das allein durchzieht. Das Andersdenken ist bei diesen Umständen lebensgefährlich und man lässt es schließlich sein. Ist es so ein in den Menschen von Geburt an eingebauter Selbsterhaltungsmechanismus, der einen vor schlimmen Erfahrungen bewahrt? Jetzt mal ehrlich, Harry, ich bewundere Menschen wie dich, die in sich die Kraft finden, gegen die Strömung zu schwimmen und die Saat der Vernunft in den Köpfen der Zeitgenossen zu streuen – auf die Gefahr hin, bei ihnen als verrückt zu gelten und von der Obrigkeit schikaniert zu werden. Das alles habe ich seinerzeit zu meinem Bedauern nicht gemacht, dafür habe ich aber den freiheitlichen Geist der Harzreise in mich aufgesogen wie ein trockener Schwamm das Wasser und habe ihn in mir durch die Jahre getragen bis zum heutigen Tag. Ich frage mich noch heute, wie konnte die kommunistische Zensur es übersehen, dass deine Werke, die ich mir kurz nach dem Kennenlernen der Harzreise in fünf Bänden besorgte, alle Zutaten für die tödliche Mixtur enthielten, die zum Ende der verhassten Diktatur führte. Glück für mich, nicht wahr! … nebenbei erwähnt, dein Kumpel Marx war durch seine Schriften an der Errichtung der despotischen kommunistischen Tyrannei maßgeblich beteiligt. … wirklich. Glaubst du mir nicht? … ach so, du kennst ihn noch gar nicht. Gut. Aber falls du mich jetzt hörst, tu mir bitte einen Gefallen: Wenn du ihn kennenlernst, sag ihm um Himmels willen Bescheid, er soll seine Theorie nicht unter den Vertretern des Viehstandes verbreiten, wie du ihn nennst! Und noch was: Schon zu der Zeit, war es mein sehnlichster Wunsch, auf deine Spuren im Harz zu gehen, aber jenseits des Eisernen Vorhangs schien der Blocksberg so unerreichbar weit, dass ich nicht in meinen wildesten Träumen daran zu denken wagte. Aber auch nach dem Mauerfall sollte es aus irgendeinem unerklärlichen Grund noch dreißig Jahre dauern, bis es so weit war. Oder sollte man vielleicht besser sagen, bis ich so weit war? Reif für etwas, von dem ich im Moment noch nicht die leiseste Ahnung habe.«

Heine war während meiner Selbstoffenbarung stumm wie ein Fisch geblieben und hatte keine Notiz von mir genommen. Ich hatte den Eindruck, dass das Bild, das sich seinem Blick bot, ganz anders war als das, was ich mit meinen Augen sah. Er war einfach in seiner Zeit und ich in meiner, und dazwischen lagen zweihundert Jahre. Nur dass ich ihn sehen konnte. Er war eine Vision, ein Produkt meiner Fantasie und konnte mit mir gar nicht reden. Obwohl … Man hätte sich auch einen sprechenden Heine ausdenken können! Wieso war es mir denn nicht schon früher eingefallen? Nun hatte ich einen stummen Heine, der mit seinem altmodischen Wanderranzen neben mir auf dem Heinrich-Heine-Weg lief. Er sah sich alles sehr aufmerksam an, lächelte ab und zu geheimnisvoll und bewegte dabei seine Lippen, als wenn er etwas leise vor sich hin sprach, was er unbedingt zuerst hören musste, um ein Urteil bilden zu können, ob es wohl klang und das Herz berührte. Ich vermutete, dass er gerade seine Eindrücke von diesem Tal in eine dichterische Form brachte und sich selbst die entstandenen Verse vortrug. Vielleicht diese:

Ich bin die Prinzessin Ilse,

Und wohne im Ilsenstein;

Komm mit nach meinem Schlosse,

Wir wollen selig sein.

Waren es tatsächlich die ersten Versuche, seine Fassung der alten Sage von Herzog Heinrich und der Prinzessin Ilse aus dem Felsenreich zusammenzureimen? Ich konnte nicht von den Lippen lesen und sollte es nie erfahren, wie er die unbeschreibliche »Fröhlichkeit, Naivität und Anmut« der kleinen Ilse zum Ausdruck bringen wollte.

Wir liefen noch ein Stückchen nebeneinanderher, ehe Heine nach links abbog und zwischen den Bäumen verschwand. Ich wunderte mich ein wenig, wo er denn eigentlich durch den Wald hinwollte, als es mir wieder einfiel, dass er immer noch in seiner eigenen Zeit war. Es hatten früher vermutlich Wege existiert, die es heute nicht mehr gab, aber Harry konnte nur sie sehen und auch nur ihnen folgen.

Der für uns mit Angelina sichtbare Pfad führte zu einer Lichtung, die schon von Weitem etwas seltsam anmutete. Es wurde gespenstisch still, als wir uns den merkwürdigen Bauten auf dem geräumigen Platz näherten, sogar die Ilse senkte respektvoll ihren Geräuschpegel und die Vögel gaben keinen Laut von sich. Zu dem Ort fiel mir nur eine einzige Bezeichnung ein und es war nicht »Garten Eden«.

»Hexenstadt!«, sagte ich scherzhaft.

Wahrlich, das Ganze sah aus wie eine Stadt in Miniatur. Über die gesamte Fläche der Lichtung waren Türmchen, Pyramidchen, Häuschen und andere Bauten verstreut, deren Bestimmung sich mir nicht erschließen wollte. Sie bestanden alle aus aufeinandergetürmten Steinen verschiedenster Größe und reichten mir höchstens bis zu Gürtellinie. Es erinnerte sehr an Bilder einer antiken halbzerstörten Tempelanlage irgendwo im Dickicht des Urwaldes in Südostasien, die man aus der Vogelperspektive betrachtete. Ich fand es ziemlich aufregend, so eine Märchenstadt im Wald zu finden, und rätselte über ihre Entstehungsgeschichte, während meine Frau die Steinsiedlung in ihrem Smartphone in Form von Lichtbildern dokumentierte.

»Wer zum Teufel …«, sprach ich mehr zu mir selbst als zu ihr, »Wer zum Teufel hat hier so etwas errichtet?«

»Wanderer«, mutmaßte Geli.

»Das glaube ich kaum!«, widersprach ich ihr. »Es dauert Tage, bis du die Steine so passend aufeinandergeschichtet hast, dass sie nicht auseinanderfallen.«

»Das stimmt nicht. Steintürmchen habe ich schon am Strand im Urlaub gebaut. Es geht schnell!«

»Von wegen schnell! Alle zehn Minuten lagen deine Steine wieder alle im Sand, ich weiß es noch, auf Teneriffa hast du dich zuletzt künstlerisch betätigt. Und es war nur eine kleine Pyramide! Guck dir das hier an, es sind ja richtige Kunstwerke! Es ist ja fast schon ein regelrechtes Mauerwerk.«

Ich hockte mich vor einem der Türme, um meiner Frau mit dem Finger die Merkmale eines perfekten Mauerwerks zu verdeutlichen, musste aber sofort wieder erschrocken aufspringen. Kaum hatte ich mit meiner Hand die Steine berührt, hörte ich in der eingekehrten Stille ein verärgertes, zischendes Flüstern, das wie ein leises Fauchen eines in die Enge getriebenen Tieres wirkte und mich offenbar davon abhalten sollte. Es klang auf jeden Fall ziemlich bedrohlich wie das Warnrasseln einer Klapperschlange. Nein, Angelina war es nicht, es kam unter dem Turm.

»Hast du das gehört?«, erkundigte ich mich bei ihr, nachdem sich die erste Schockwelle gelegt hatte.

»Was?«, erwiderte sie ahnungslos mit einer Gegenfrage.

Es machte also keinen Sinn, noch etwas weiter zu erklären und Mutmaßungen zur Herkunft des Geräuschs anzustellen. Sie hatte nichts gehört und nichts gesehen. Mir wurde plötzlich unheimlich zumute. Das Gefühl verstärkte sich noch, als ich bemerkte, dass neben jedem Türmchen und an jeder Pyramide ein Erdloch existierte, das in irgendeinen unterirdischen Bau führte, denn aus ihnen kam dieses unzufriedene leise Murmeln, Zischen und Fauchen, welches ich nun aus allen Richtungen vernahm. Neben einigen Löchern lagen Nussschalen und angeknabberte Eicheln, als ob ein Eichhörnchen sie bei seiner Mahlzeit vom Baum hatte fallen lassen, und mitunter auch Holzspäne, als hätte sich einer kürzlich mit dem Hobel betätigt. Doch es gab über der Steinstadt keine Bäume und diejenigen, die die Nüsse geknackt hatten, mussten sich noch in den Löchern befinden. Was waren das für Tierchen? Marder? Ratten? Aber sie bauten keine Türme aus Steinen. Es musste jemand anders sein. Auf einmal nahm ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr: Ein braungrauer Schatten, kaum größer als eine Ratte, huschte von einem Turm zum anderen. Ich sah genauer hin, aber im selben Augenblick verschwand er in einem der Löcher und, o Schreck, ich hörte wieder dieses leise bedrohliche »Zisch …sch …sch«. Ich sah mich um und stellte zu meinem Entsetzen fest, dass nunmehr überall auf der Lichtung diese Schattenwesen hin und her zwischen den Pyramiden liefen, ich sie aber nicht mit meinen Augen fixieren konnte. Sie verschwanden, sobald ich versuchte, meinen Blick auf sie zu richten.

Ich bekam mit einem Mal einen unüberwindbaren Wunsch, die Flucht zu ergreifen! Schnell steckte ich mein Telefon in die Hosentasche und ging los. Es interessierte mich aktuell auch nicht im Geringsten, was meine Frau bezüglich des schnellen Aufbruchs dachte.

»Komm, wir müssen weiter!«, sagte ich ihr schon in der Bewegung über die Schulter und sah zu, dass ich möglichst zügig von diesem Ort wegkam.

»Zisch …sch …sch«, jubelten die grauen Schattenwesen von allen Seiten! Sie lachten und freuten sich, dass ich unverrichteter Dinge davonzog und sie nicht mehr stören konnte. Ich sah mich kein einziges Mal um, bis der Pfad einen Knick gemacht hatte und die geheimnisvolle Stadt hinter der Biegung verschwunden war.

Ich musste Angelina gar nicht fragen, ob sie irgendwas von den kleinen … wer auch immer sie waren, mitbekommen hatte. Natürlich nicht. Sie war für solche Erscheinungen nicht sonderlich empfänglich. Irgendwie war ich immer derjenige, der Fabelwesen und sonstige Geschöpfe der Fantasie anzog wie das Licht einen Nachtfalter und jemand, den unerklärliche Phänomene auf Schritt und Tritt verfolgten. Ich versuchte, mich nach der aufregenden Stadtbesichtigung zu beruhigen und meine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Wo war eigentlich Heine? Er wäre in diesem Augenblick genau der Richtige gewesen, der für Ablenkung hätte sorgen können. Von ihm fehlte jede Spur. Er war mein Hirngespinst, hatte sich aber gleichwohl selbständig gemacht und geisterte irgendwo in der Gegend umher. Meine Gedanken drehten sich nach wie vor um die Türmchen, die Pyramiden und die lachenden Kobolde in den Erdlöchern. Ich konnte nicht mehr leugnen, dass hier irgendwas war, was mich um den Verstand bringen konnte, ohne jeden Zweifel.

Der Pfad drehte abermals nach rechts und wurde zusehends enger. Große Steine lagen im Weg und mächtige Wurzeln, die gut fünf Zentimeter aus dem Boden ragten, querten den Waldweg und machten das rhythmische Vorankommen beinahe unmöglich. Das Rauschen des Wassers war schon vor einigen Minuten lauter geworden und als Folge wunderte ich mich nicht, dass wir bald zu einem Wasserlauf hinauskamen, es konnte aber mitnichten die Ilse sein. Das Flüsschen führte deutlich weniger Wasser, das mir auch etwas heller erschien als die torfhaltigen Fluten, die die schöne Prinzessin talwärts trug.

»Tiefenbach!«, verkündete ich laut den Namen des Rinnsals, nachdem wir angehalten und ich einen Blick auf die Wanderkarte geworfen hatte.

Geli nahm die Information nickend zur Kenntnis und sah sich um. Obwohl ich den Eindruck hatte, dass es ihr eher absolut einerlei war, wie der Name des Bachs lautete, prägte sie sich die Umgebung auf ihre Art ein. Die räumliche Wahrnehmung ihrer eigenen Position und die Bezeichnung der geographischen Realien waren für sie grundsätzlich unwichtig wie für die Mehrheit der Frauen. Ich hatte in meinem Leben kaum eine weibliche Person kennengelernt, die sich mit Himmelsrichtungen auskannte. Ihnen fehlte der Sinn dafür entweder gänzlich oder er war sehr schwach ausgeprägt. Den meisten Frauen fiel auch das Rückwärtseinparken mit dem Auto ziemlich schwer, was meines Erachtens eng miteinander verbunden war. Das alles störte sie aber keineswegs dabei, sich die Einzelheiten entlang des Weges so gut zu merken, dass sie sich auch ohne Himmelsrichtungen bestens zurechtfanden. Was meine Frau gerade machte, war dieses Einprägen der Gegend in ihrem Kopf, dachte ich zumindest. Es war schon mehrmals vorgekommen, dass sie sich viel besser an Details von Dingen erinnern konnte, die wir irgendwo auf unseren Reisen gesehen hatten. Ich musste mir zuerst Fotos ansehen, um etwas wieder ins Gedächtnis zu rufen, sie wusste aber alles sofort, ohne lange darüber nachzudenken. Da ergänzten wir uns gegenseitig und ich ließ sie einfach zufrieden – es hätte sich später als Vorteil erweisen können.

Angehalten hatte ich eigentlich nur, um eine Bestätigung zu bekommen, dass wir noch auf dem richtigen Kurs lagen. Es war keine überflüssige Vorsichtsmaßnahme, wie es mir schien, denn vorhin hatte ich zwischen den Wurzeln verdächtig aussehende Erdlöcher registriert, die mich in keiner Weise begeisterten, – das höhnische »Hihihi« wollte ich auf keinen Fall hören. Außerdem bestand die Gefahr, dass uns die schattenhaften Waldschrate auf einen falschen Weg leiten wollten, um uns in einen finsteren Wald zu locken und … Ich war mir noch nicht sicher, wie genau die Wichte es mit uns anstellen würden, aber wenn sie schon Siedlungen aus Steinen bauen konnten, wäre ein falscher Wegweiser auf dem Pfad ein Leichtes für sie gewesen. Wer konnte es wissen, was sie vorhatten? Ich hatte da gewisse Bedenken bekommen, als wir auf einen unbekannten Wasserlauf gestoßen waren und der Wald wieder die Baumkronen über unseren Köpfen geschlossen hatte. Doch es schien noch alles korrekt zu sein mit unserer Wanderrichtung. Ich hatte es bei der Routenplanung übersehen, dass der Pfad an dieser Stelle, wo der Bach in die Ilse mündete, noch ein Stück geradeaus entlang des Tiefenbachs weiterführte, während die Ilse einen Neunzig-Grad-Knick nach links in Richtung der Ilsefälle machte. Im Wanderführer war dieser Umstand nicht erwähnt. Wir konnten ruhig weitergehen auf dem engen Wurzelpfad, er würde uns bald zu den Ilsefällen bringen – das war eindeutig der Heinrich-Heine-Weg zum Brocken. Ich packte die Karte weg und holte das Smartphone aus der Tasche. Der sichtbare Abschnitt des Weges wies nur eine sanfte Steigung auf, so beschloss ich, mal die Wunder der modernen Technik auszuprobieren. Ein kleines Video über unsere Heinrich-Heine-Wanderung konnte nicht schaden!

Der felsige Weg schlängelte sich durch das Brombeerdickicht am Ufer des Rinnsals und folgte jeder Biegung des Tiefenbachs. Angelina musste ununterbrochen aufpassen, dass sie nicht über Wurzeln und große, scharfkantige Granitblöcke stolperte und den Matsch zwischen den Steinen mit der Nase pflügte. Sie lief vor mir, sprang von einer trockenen Stelle auf dem Pfad zur anderen und ich filmte sie von hinten, wobei ich die Kamera auch regelmäßig bald zur einen, bald zur anderen Seite schwenkte, um die Bilder der wilden Natur festzuhalten. Abgelenkt durch meine Dreharbeiten trat ich oft mit voller Wucht in eine der schlammigen Mulden, sodass meine Schuhe alles Wissenswerte über die Bodenbeschaffenheit sämtlicher Abschnitte des Wasserlaufs in vollem Umfang verinnerlichen konnten.

»So, den Teil mit dir in der Hauptrolle haben wir jetzt im Kasten!«, sagte ich stolz auf meine Künste als Kameramann, nachdem ich den Knopf »Aufnahmestopp« auf dem Bildschirm elegant mit dem Finger betätigt hatte. »Jetzt folgt die Episode der wilden Verfolgungsjagd mit meinem Einsatz!« Ich reichte Geli mein Telefon.

»Ich mache es lieber mit meinem«, protestierte sie.

»Blödsinn. Mach es mit meinem, damit beide Videos das gleiche Format haben. Meine Kamera funktioniert genau wie deine!«

Widerwillig nahm Angelina mein Smartphone. Damit es ihr nicht zufällig wie ein Stück Seife aus der Hand glitschte und in den Bach plumpste, fügte ich hinzu: »Pass auf, du kannst es unten so mit der Hand umschlingen, es ist sicherer als mit zwei Fingern. Es hat keine Hülle wie deins.« Ich zeigte ihr, wie ich es gemeint hatte.

»Nein, es ist sehr unbequem! Ich mache es so wie immer.«

»Ach, mach doch, was du willst!«, sagte ich etwas verärgert über die Unbelehrbarkeit meiner Frau.

»Das mach ich sowieso! Nur das, was ich will!«

»Jaja, ich weiß«, gab ich kleinlaut zur Antwort. »Können wir jetzt endlich …?

Ich schlüpfte in meine Rolle des Verfolgten und lief im Zickzack auf dem Wanderpfad. Mal beschleunigte ich und klapperte dabei laut mit dem Wanderstock auf dem felsigen Untergrund, mal drosselte ich das Tempo, um die Schuhe nicht noch dreckiger zu machen, als sie ohnehin schon waren. Zuweilen tat ich so, als würde ich mich nach einem Ausweg aus dieser Falle umsehen und suchte mit meinem Blick die Hänge nach einer Fluchtmöglichkeit ab, in der Hoffnung, dass meine Frau mit der Kamera meinem Blick folgte und etwas von der Umgebung mit auf das Video kam. Nach einigen Minuten geriet ich außer Atem, drehte mich um und gab Angelina ein Zeichen – Schnitt.

Während ich mich verschnaufte, merkte ich, dass meine Frau wohl ein kleines Problem hatte. Sie stand ratlos da, sah auf den Bildschirm des Gerätes und wusste offensichtlich nicht, was genau sie machen sollte, um die Aufnahme zu stoppen.

»Du musst jetzt in den ›Oh-Eff-Eff‹-Modus gehen«, machte ich mich über sie lustig.

»Hier gibt es aber kein ›Oh-Eff-Eff‹!«, entgegnete sie gereizt. »Veräppeln kann ich mich selbst.«

Es war eine ganz alte Geschichte, über die wir uns mit den Kindern noch bis heute jedes Mal köstlich amüsierten, wenn sie zufällig aus irgendeinem Anlass aus den Tiefen der Erinnerungen an die Oberfläche kam. Geli ärgerte sich immer und spielte die Beleidigte, wenn wir sie neckten und Witze über den bisher unbekannten Betriebsmodus machten, gab aber bald ihre Verteidigung auf und lachte mit, was das Ganze noch aufregender machte.