Des Teufels Steg - Nikolaus Warkentin - E-Book

Des Teufels Steg E-Book

Nikolaus Warkentin

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Beschreibung

Der Roman nimmt uns mit auf eine Reise in das Jahr 1994 und der Autor lässt die Romanfiguren einige markante Episoden seiner eigenen Biographie durchleben, auf der Suche nach teils verborgenen, teils offensichtlichen Hinweisen aus der Zeit auf spätere gesellschaftliche Rechtsverschiebung, nach Anzeichen der kommenden rechtspopulistischen Seuche, die sich schon damals klar und deutlich erkennen ließen. Wolfgang Breitscheid, ein Handelsreisender in Sachen Wein aus Hannover, findet sich plötzlich in der Zeit des Spätmittelalters wieder, während er eine ungeplante Verkaufsreise in das Harzvorland nach Sachsen-Anhalt unternimmt, um neue Absatzgebiete für seinen Auftraggeber in den neuen Bundesländern zu erschließen. Er kann unverhofft aus einer Zeit in die andere wechseln, und die unsichtbare Pforte, die man dabei passieren muss, liegt auf der Teufelsbrücke in dem sagenumwobenen Bodetal. Sein neuer Bekannter, ein Schriftsteller namens Richard Knöpfle, besitzt diese Fähigkeit nicht, aber während er nach dem unerwartet verschwundenen Weinvertreter sucht, stößt er auf eine Zusammenkunft von Rechtsradikalen aus Jena, die im Harz ein Hexenfeuerfest feiern. Und es ist kein Spaß mit dem Scheiterhaufen, stellt Richard fest, denn in den alkoholbenebelten Hirnen der arischen Vereinigung reift die Idee, unliebsame Ausländerinnen einzuäschern. Während sich Richard mit der arischen Vereinigung auseinandersetzt, macht Wolfgang Bekanntschaft mit der Heiligen Inquisition. Schließlich treffen sich die Welten, zusammengeführt von mysteriösen Kräften, die seit jeher im Harz wirken, zu der entscheidenden Schlacht von Gut & Böse in der Nähe des berühmten Hexentanzplatzes auf dem Berg über der Stadt Thale. Das Edle gewinnt vorerst, aber das Übel ist nicht endgültig geschlagen und verkriecht sich nur vorübergehend in Ritzen und Spalten menschlicher Natur, um dort im Verborgenen Wunden zu lecken und auf seine Stunde zu warten.

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Seitenzahl: 1017

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Inhalt

Vorwort

1. Kapitel: Gestrichener Urlaub

2. Kapitel: Nächtliche Patrouille

3. Kapitel: Geheimnisvolle Omen

4. Kapitel: Kreativreisender Legendensammler

5. Kapitel: Im eingestürzten Bergwerksstollen

6. Kapitel: Katerstimmung am Montagmorgen

7. Kapitel: Unheimliche Camper im Wald

8. Kapitel: Welt jenseits der Pforte

9. Kapitel: Flucht ins Reich der Wilden Männer

10. Kapitel: Richards neue Liebe

11. Kapitel: Peinliche Befragung

12. Kapitel: Schuss auf der Waldlichtung

13. Kapitel: Rund um den Hexentanzplatz

14. Kapitel: Letzte Vorbereitungen

15. Kapitel: Der schicksalhafte Tag

16. Kapitel: Was nachher geschah

Text: © 2024 Copyright by Nikolaus Warkentin

Umschlag: © 2024 Copyright by Nikolaus Warkentin

Verantwortlich für den Inhalt:Nikolaus Warkentin, Weißdornstr. 3,

D-53340 Meckenheim, [email protected]

Nikolaus Warkentin

Des Teufels Steg

Wenn sich die Pforte schließt

Roman

Harzgeschichte

Vorwort

Seien wir doch einmal ehrlich, nehmen all unseren Mut zusammen und geben es endlich offen zu, dass die aktuelle Rechtsverschiebung der gesellschaftlichen Gesinnung schon vor dreißig Jahren ihren Anfang hatte. Sie kam nicht urplötzlich und sämtliche Anzeichen der kommenden rechtspopulistischen Seuche und Symptome der schwer heilbaren Krankheit des Größenwahns und eigener Überlegenheit sich bereits damals klar und deutlich erkennen ließen, aber niemand sie wahrnehmen oder wahrhaben wollte. Man hätte eigentlich nur die Rosabrille der allgemeinen Begeisterung über die globale Wende absetzen müssen, um die braunen Farbtöne zu bemerken, die durch das Rot der eingerollten Fahnen der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa schimmerten. Doch man zog es leichtsinnigerweise vor, die Gläser anzubehalten und darauf zu vertrauen, dass sich der noch leicht nationalistische Dunst aus den Köpfen der Menschen schon irgendwie von alleine verflüchtigt, sobald sie endlich in den Genuss der Vorteile von Demokratie und Freiheit kommen. Dies ist nicht eingetreten. Stattdessen haben es die mit neuem nationalen Bewusstsein ausgestatteten »Patrioten« geschafft, die Bollwerke der Volksherrschaft und Rechtsstaatlichkeit des Abendlandes in ihren Grundfesten zu erschüttern. Weltweit, wohlgemerkt. Und nun zieht schon wieder der pöbelnde Mob entlang der Straßenzüge mit Fackeln in der Hand und fremdenfeindlichen Parolen auf den Lippen, erfüllt von Ideen des nationalen Stolzes, schon wieder schreit »das Volk« wie von Sinnen nach einer »eisernen Hand«, die ihm endlich wieder das zurückgibt, was ihm angeblich genommen wurde und was es sehnlichst vermisst, – zweifelhafte Sicherheit und vermeintlichen Wohlstand. Und neuerdings versammeln sich auch die Strippenzieher der politisch gelenkten Marionetten heimlich im Untergrund und beraten miteinander unverfroren ihre ziemlich weitreichenden Pläne der Remigration, bei der alles, was nicht nordisch aussieht oder sich nicht deutsch anhört, des Landes verwiesen werden soll. Welche Beweise die unbescholtenen Bürger noch brauchen, um die wahren Absichten der Bewusstseinsmanipulanten zu erkennen und ihre Stimme nicht der braunen Pest zu geben, die sich kokett mit Blau schmückt, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben. Genauso wie auch die Gründe dafür, was das werte Publikum dermaßen an den Verschwörungstheorien des Fortbestehens des Deutschen Reiches fasziniert, dass auch ein erst kürzlich aufgedeckter Staatsstreich, ein bis ins Detail ausgearbeiteter rechter Regierungsumsturz, die Mehrheit allem Anschein nach kaltlässt. Ob es Indifferenz, Ignoranz oder gar eine latente Bewunderung ist, steht wohl in den Sternen.

Das vorliegende Werk nimmt uns mit auf eine Reise in das Jahr 1994 und der Autor lässt die Romanfiguren einige markante Episoden seiner eigenen Biographie durchleben, auf der Suche nach teils verborgenen, teils offensichtlichen Hinweisen aus der Zeit, in der alles begann. Zugestanden, alles fängt viel, viel früher an. Und mit »früher« ist nicht etwa der Zeitraum von knapp hundert Jahren gemeint, der einem bei dem Vergleich der Zustände als Erstes in den Sinn kommt. Dieses Früher liegt Jahrhunderte zurück. In dem »dunklen Zeitalter« der europäischen Geschichte, dem Mittelalter, in dem sich einer der Protagonisten des Romans, Wolfgang Breitscheid, ein Handelsreisender in Sachen Wein aus Hannover, plötzlich wiederfindet, während er eine ungeplante Verkaufsreise in das Harzvorland nach Sachsen-Anhalt unternimmt, um neue Absatzgebiete für seinen Auftraggeber in den neuen Bundesländern zu erschließen. Es stellt sich heraus, dass er eine Gabe hat, aus einer Zeit in die andere wechseln zu können, und das Tor, die unsichtbare Pforte sozusagen, die man dabei passieren muss, liegt auf der Teufelsbrücke in dem sagenumwobenen Bodetal. Sein neuer Bekannter, ein kreativreisender Schriftsteller namens Richard Knöpfle, der in dem geheimnisvollen Gebirge örtliche Mythen und Sagen sammelt, um sie in eine literarisch verwertbare Form zu bringen, besitzt diese Fähigkeit hingegen nicht, aber während er nach dem unerwartet verschwundenen Weinvertreter sucht, stößt der Märchenautor im Wald auf eine Zusammenkunft von rechtsradikalen Skinheads aus Jena, die im Harz ein feuchtfröhliches Hexenfeuerfest veranstalten. Und es ist wohl kein Spaß mit dem Scheiterhaufen, stellt Richard schon sehr bald fest, denn allem Anschein nach reift in den alkoholbenebelten Hirnen der arischen Vereinigung die »glorreiche« Idee, statt Strohpuppen ein paar unliebsame Ausländer einzuäschern. Von weit hergeholt? Keineswegs, wenn man sich die jüngste Geschichte der Bundesrepublik anschaut.

Auch in der Welt jenseits der Zeitpforte sieht es nicht viel anders aus. Dort jagt die Heilige Inquisition Hexen und Ketzer, mit anderen Worten diejenigen, die nicht in ihr Weltbild passen, die anders handeln und anders denken, die abweichende Vorstellungen davon haben, was die graue Menschenmasse, indoktriniert durch religiöse Lehren der Fügsamkeit, für gut befindet. Das erlebt nun hautnah der von unverhofften Sprüngen durch die Epochen gebeutelte Weinhändler aus Hannover und lernt während seiner abenteuerlichen Zeitreise drei Frauen kennen, die sich mit Leib und Seele der Kräuterkunst verschrieben haben und ungeachtet der Gefahren vermeintliche Zaubertränke, in Wirklichkeit aber heilende Mixturen, zubereiten. Vor allem die jüngste der zu einer Familie gehörenden Frauen, die drei aufeinanderfolgenden Generationen angehören, hat es dem »Wilden Wolfgang«, wie Cecilia ihn nennt, angetan. Er verliebt sich in sie und versucht, den Kräuterpflückerinnen bei der Flucht vor dem Untersuchungsrichter der heiligen katholischen Kirche zu helfen.

Unterdessen bleibt auch der Legendensammler aus Süddeutschland nicht untätig. Er ist bemüht, das Böse diesseits der Zeitschranke zu bekämpfen. Schließlich treffen sich die Welten, zusammengeführt von mysteriösen Kräften, die seit jeher im Harz wirken, zu der entscheidenden Schlacht des Guten gegen das Böse in der Nähe des berühmten Hexentanzplatzes auf dem Berg über der Stadt Thale. Das Edle gewinnt vorerst, aber das Üble ist nicht endgültig geschlagen und verkriecht sich nur in Ritzen und Spalten menschlicher Natur, um dort im Verborgenen die Wunden zu lecken und auf seine Stunde zu warten.

Nach der »Moral aus der Geschicht’« muss man am Ende nicht lange suchen: Das Hässliche erwacht unweigerlich und zeigt seine scheußliche Fratze, wenn man es lässt. Und es ist wohl ein gewaltiger Irrtum, wenn sich jemand darauf verlässt, dass die Menschheit nicht zum wiederholten Male ein und denselben Fehler begeht, denn »die wichtigste Lehre aus der menschlichen Geschichte ist die, dass die Menschen keine Lehren aus der Geschichte ziehen«. Tun wir doch etwas gegen die tempora obscūrōs, die uns möglicherweise in Kürze bevorstehen. Und zuweilen reicht dafür schon ein lautes und deutliches Nein.

Nikolaus Warkentin, am 14. März 2024

1. Kapitel

Gestrichener Urlaub

Wolfgang Breitscheid konnte es nicht ausstehen, wenn seine Pläne unerwartet durch fremde Entscheidungen zerstört wurden, auf die er selbst wenig oder gar keinen Einfluss ausüben konnte und die er im Großen und Ganzen einfach so hinnehmen musste, ohne eine wirksame Möglichkeit zu haben, in irgendeiner Weise dagegen vorzugehen. Er ärgerte sich schwarz.

»Aber das war doch so nicht …«, wollte er sich gerade vorsichtig gegen den unverschämten Versuch eines Angriffs auf seine Urlaubspläne zur Wehr setzen, als ihn der Chef unterbrach.

»Herr Breitscheid, wollten Sie nicht endlich mal richtig Umsatz machen?«, fragte er in einem Ton, der nichts Gutes verhieß. Vielmehr ließ die Frage Wolfgang erahnen, dass er noch den letzten Umsatz verlieren würde, wenn er die Dienstreise ablehnte, zu der ihn dieser Stachowski drängte.

Ja, natürlich wollte Wolfgang mal richtig Umsatz machen! Das wollte er hier in diesem Weinvertrieb schon seit drei Jahren, aber derselbe Stachowski, Leiter des Verkaufsbüros Hannover, hielt ihn schon die ganze Zeit absichtlich an der kurzen Leine und wies ihm nur tröpfchenweise Kunden zu, die schon seit Jahren nichts mehr kauften und allem Anschein nach auch keine Absichten diesbezüglich hegten. Wie sollte er überhaupt noch bis zur Rente überleben? Das fragte er sich oft, wenn er am Ende des Tages genervt den Hörer aufs Telefon knallte, weil er auch beim letzten Verkaufstelefonat keine müde Mark verdient hatte.

»Wir haben aber die kommende Woche verplant«, versuchte es Wolfgang aufs Neue. »Wir haben vor Monaten eine Unterkunft reserviert und wochenlang geträumt, an die Nordsee zu reisen. Ich habe den Urlaub doch angekündigt.«

»Nun ja, Herr Breitscheid«, erwiderte Stachowski spöttisch, »Sie können es sich ja gerne aussuchen: Entweder eine Woche an der Nordsee abkühlen, es ist ja auch wirklich ein heißer August dieses Jahr, und anschließend mit leeren Händen dastehen, oder in der Woche vernünftiges Geld verdienen, sodass Sie sich im September einen Urlaub auf Mallorca leisten können.«

»Kann es denn nicht ein anderer machen?«, entgegnete ihm Wolfgang und sah verzweifelt in die Runde.

Der Rest der Teilnehmer der Freitagsbesprechung schwieg und mied den Augenkontakt zu Wolfgang. Alex, ein junger gewiefter »Kundenabzocker«, sah untergeben Stachowski an, aber von ihm erwartete Wolfgang ohnehin keine Unterstützung, er las dem Chef jeden Wunsch von den Lippen ab und drehte mit ihm irgendwelche krummen Geschäfte auf Kosten des Weinhauses. Willhelm saß zurückgelehnt auf dem Stuhl und sah zum Fenster hinaus, als hätte ihn die Angelegenheit gar nicht interessiert, – es war auch sonst seine Art, mit Kollegen umzugehen. Er war ein seltener Gast im Büro, denn er kam aus Braunschweig, hatte dort sein angestammtes Verkaufsgebiet und war nur darauf bedacht, dass sich keiner in seine Dinge einmischte, alles andere war ihm gleich. Sodann Michael, der ein echter Kenner von französischen Weinen war. Er sah verlegen unter den Tisch. Und nicht einmal Giovanni, ein Deutschitaliener in zweiter Generation, durch den Wolfgang überhaupt zu diesem Job als Weinvertreter gekommen war und den er für einen Kumpel hielt, ergriff Partei in der Sache. Sein Blick wanderte aus einer Ecke des Büros in die andere.

»Mhm …«, gab Stachowski hämisch von sich. »Sicher, Herr Breitscheid, ich könnte auch jemand anderes fragen. Nur! Dadurch verzögert sich das Ganze und wir müssen die Gebiete in den neuen Bundesländern zügig erschließen. Das heißt, wir fangen damit kommende Woche an. Dafür habe ich zwar Sie vorgesehen, aber wenn Sie nicht wollen und ein anderer ins Gebiet fährt, werden die neu gewonnenen Kunden auch nicht zu Ihrem Stamm gehören. Überlegen Sie es sich sehr gut. … aber was rede ich da, mit Ihnen ist es ohnehin so ein Ding. Ihre Umsatzzahlen sind unter aller Sau und Sie wollen es offensichtlich auch nicht ändern! Die Firma kann sich so was nicht leisten, dass Sie keinen Umsatz machen und nur die Kunden blockieren. Sie müssen mir auf jeden Fall heute noch Ihre Kartei übergeben, wenn Sie am Montag nicht zur Verfügung stehen. Umsatz, Umsatz und noch mal Umsatz – das ist das, was wir hier erreichen wollen! … Willi! Du nimmst dann die Kundenkarten vom Breitscheid an dich. Die Gebiete in Sachsen-Anhalt am Harz, sie grenzen doch an Braunschweig?«

Willhelms Gesicht belebte sich, sobald er etwas vom zusätzlichen Verdienst gehört hatte. »So ist es, Jörg.«

»Gut, dann nimm die Kartei und verkauf mal richtig was die Woche. Sie haben dort schon ein Jahr lang fast nichts gekauft! Da kriegst du bestimmt mindestens zehntausend Mark Umsatz raus!«

Es trat genau das ein, was Wolfgang befürchtet hatte. Diese kleine, »miese Ratte« von Verkaufsleiter, zerging er innerlich in seinem Frust, wollte ihm zu allem Überfluss noch seinen Kundenstamm wegnehmen, der ihn während der letzten drei Jahre zwar nicht sonderlich reich gemacht, dennoch halbwegs für ein Auskommen gesorgt hatte. Was bildete sich dieser »Rotzbengel« überhaupt ein? Solche aufstrebenden jungen Kerle wie Stachowski hatte Wolfgang schon zuhauf erlebt, am Ende waren sie alle sehr, sehr tief gefallen. Er war schon lange Vertreter für Staubsauger gewesen, als der Typ noch die Windeln schmutzig gemacht hatte! Wolfgang wusste genau, worauf es bei dem Geschäft ankam und keiner sollte ihm weismachen, wie man Umsatz generierte, am wenigsten dieser Stachowski, der in seinem ganzen Leben vermutlich noch keine einzige Flasche Wein beim Kunden vor Ort verkauft hatte. Aber er saß am längeren Hebel.

»Wann soll ich denn jetzt überhaupt noch die Termine für die Weinproben machen, wenn es schon am Montag losgeht?«, fragte Wolfgang unzufrieden.

»Es ist schon für alles gesorgt, Herr Breitscheid«, antwortete Stachowski sichtlich zufrieden mit Wolfgangs Einlenken. »Da! Sehen Sie mal!« Er nahm ein bekritzeltes Wochenterminplaner-Formular in die Hand und wedelte damit in der Luft. »Unsere Telefonistinnen waren fleißig.«

Wenngleich es Wolfgang überhaupt nicht passte, erwog er schweren Herzens, der Reise in das Harzvorland von Sachsen-Anhalt, die ihm gerade erpresserisch aufgezwungen wurde, zuzustimmen. Wie konnte er sich dagegen wehren? Gar nicht. Stachowski hatte ihn fest in der Hand. Wolfgang war vor ein paar Monaten vierundfünfzig geworden und sein sehnlichster Wunsch war, sich bei dieser Weinkellerei noch irgendwie sechs Jahre bis zum Rentenalter durchzuschlagen, um dann nie wieder etwas von all den Leuten zu hören, die ihn sein Leben lang benutzt hatten. Diesen Plan hätte er gleich einstampfen können, wäre er jetzt seine Kundenkartei, egal wie kümmerlich sie aussah, losgeworden. Er hätte schon heute seine sieben Sachen packen können und von hier verschwinden. Und dann? Dann war »Sense«, wie Wolfgang es formulierte.

»Na ja«, erwiderte er, »ich weiß, wie diese Termine gelegt werden … Du fährst zwanzig Kilometer von einem Dorf zum anderen und in zwei Stunden wieder zurück zum nächsten Termin. Und nach Feierabend noch fünfzig Kilometer zum Hotel. Da habe ich nur Fahrkosten. Was kann ich denn am Ende noch verdienen?«

Wolfgang war auch ein alter Fuchs und wusste, dass man das Eisen schmieden sollte, solange es heiß war. Er versuchte noch zum Schluss, für sich das Maximum an Vorteilen aus der unerfreulichen Situation herauszuholen. Der unglückliche Weinhändler sah den Verkaufsleiter an in der Erwartung, dass es aus seiner Richtung gleich blitzte und donnerte, und hörte schon beinah die Stimme von Stachowski, die ihm vorwurfsvoll etwas von immensen Kosten, die auf die Firma zukamen, erzählte, von der fehlenden Leistungsbereitschaft der Vertreter und davon, dass Wolfgang schon dafür dankbar hätte sein sollen, dass das Weinhaus für ihn die Termine auf eigene Kosten hatte vereinbaren lassen. Aber zu seiner großen Verwunderung war das Gegenteil der Fall: Das Gesicht von Stachowski erhellte sich und bekam einen gutmütigen Ausdruck.

»Ja, wir müssen damit leben, Herr Breitscheid«, verkündete er mit belehrender Stimme. »Die Frauen machen doch die Termine nicht entlang einer festgelegten Route, sondern abhängig davon, wann die Kunden können und wollen! Dafür, Herr Breitscheid … dafür kommt die Firma Ihnen entgegen und beteiligt sich an den Fahrkosten! Sie müssen aber ein Fahrtenbuch führen und nachher bei mir einreichen. Ist das nicht toll?«

Toll war es allemal. Wolfgang konnte sich kaum daran erinnern, dass ihm jemals zuvor Fahrkosten erstattet worden waren. Das hatte es noch nie gegeben. Er war immer auf eigene Kosten durch die Gegend gereist, wenn er Weinproben bei den Kunden veranstalten sollte. Es war zwar nicht oft gewesen, denn den meisten Umsatz machte er am Telefon, aber trotzdem. Und vielleicht schnitten ja seine Telefonverkäufe so schlecht ab, weil er die meisten Kunden noch nie persönlich getroffen hatte, fragte er sich plötzlich und bejahte seine spontane Mutmaßung. Gewiss, um am Telefon etwas verkaufen zu können, brauchten die Kunden auch einen persönlichen Bezug zum Verkäufer. Auch eine andere Frage beschäftigte ihn: Warum ausgerechnet jetzt? Warum war Stachowski auf einmal so großzügig geworden? Giovanni beschwerte sich zwar dauernd, dass »Chefchen« wieder mal die eine oder andere Position in seiner Fahrkostenabrechnung gestrichen hatte, also bekam er auch einiges erstattet, aber Giovanni war schon viele Jahre dabei und gehörte in gewissem Maße zum näheren Kreis. Hieß es nun, dass der Chef auch Wolfgang etwas höher einstufen wollte? Möglicherweise. Das wollte er noch herausfinden.

»Das finde ich sehr gut!«, stimmte Wolfgang dem Büroleiter zu.

»Nicht wahr?«, erwiderte Stachowski. »Das kann ich mir denken. Sehen Sie, wie das Weinhaus um Sie besorgt ist, und Sie stellen sich quer! Man sollte es zu schätzen wissen, dass die Firma Ihre Kosten übernimmt, und Umsatz machen wie der Teufel, Herr Breitscheid! Reisen Sie mal am Montag nach … Wo war doch noch der erste Termin?« Er sah flüchtig auf den Terminplan. »… nach Thale und suchen Sie sich ein günstiges Hotel. Ich melde am Montag nach Wiesbaden, dass ein Mitarbeiter vor Ort ist. Vielleicht kriegen wir noch ein paar Termine für Sie zusammen.«

»Gegen Umsatz habe ich nichts. Aber ich sehe ein anderes Problem: Wie soll ich denn das Hotel bezahlen?«

Stachowski sah ihn verwundert an. »Die Unterkunft plus Spesen gehen auf die Firma. Das war schon immer so, Herr Breitscheid. Sie machten ja schon ein paar Weinmessen mit und mussten für die Unterbringung nichts bezahlen. Oder verwechsle ich irgendwas?«

»Das weiß ich. Aber die Erstattung fürs Hotel und meine Spesen bekomme ich erst im September, wenn nicht im Oktober, Herr Stachowski, und das Zimmer mit Verpflegung muss ich ja schon vor Ort bezahlen. Ich hätte dafür kein Geld! Ich hätte sogar ein Problem, überhaupt nach Thale zu kommen. Wegen dem Tanken. Es ist ein weiter Weg.«

»Also, Herr Breitscheid!«, gab Stachowski überheblich von sich. »Wollten Sie nicht am Montag in den Urlaub fahren? Ihre Urlaubskasse muss ja noch voll sein!«

Wolfgang biss knirschend die Zähne zusammen. Er hätte den Wichtigtuer jetzt in Stücke reißen können, wenn er ihn in die Finger bekommen hätte, aber zum Glück saß der »Möchtegernleiter« außer Reichweite am anderen Ende des Tisches und blieb unversehrt, obgleich Wolfgangs Wunsch, aufzustehen und ihm die »Visage zu polieren«, unermesslich groß war und es bedurfte einer großen mentalen Anstrengung, um ihn zu überwinden. Musste es denn sein, überlegte Wolfgang wütend, das Problem vor allen zu thematisieren? Was ging es seine Kollegen an, wie voll oder wie leer seine Urlaubskasse war? Sie mussten es doch nicht unbedingt wissen, dass eigentlich nicht er, sondern seine Lebensgefährtin Martha alle Kosten für den Urlaub übernommen hatte, vielmehr durften sie davon nicht das Geringste erfahren. Für Wolfgang fühlte sich die Wirkung der taktlosen Bemerkung so an wie ein Schlag ins Gesicht. Er ging auf die Äußerung von Stachowski nicht ein, schließlich musste er sich hier vor keinem rechtfertigen, und versuchte, die brodelnde Wut in seinem Inneren so gut es ging zu verbergen.

»Auf jeden Fall«, sagte er nach einer Weile, »bräuchte ich einen Vorschuss.«

Ob Stachowski nun zu der Erkenntnis gekommen war, dass sein Scherz nicht besonders viel von der feinen englischen Art an sich hatte, oder ihn die neugierigen Blicke der restlichen Mitarbeiter, die ein unverkennbares Interesse am Ausgang der Geschichte zeigten, zur Vernunft gebracht hatten und er die Sache in ihrer Gegenwart nicht auf die Spitze treiben wollte, aber nach einer kurzen Überlegung sagte er trocken: »Gut. Kommen Sie vor der Abreise noch kurz ins Büro, ich lege später einen Scheck in Ihr Eingangskörbchen. Hier, nehmen Sie die Termine für die Woche. Wenn noch welche hinzukommen, wird Sie jemand anrufen. Denken Sie daran, uns die Nummer des Hotels zu geben, wo Sie untergekommen sind.«

Er reichte Wolfgang das Formular und damit war für den Chef dieser Punkt auf der Tagesordnung erledigt. Für Wolfgang auch, und zwar alle auf einmal, das ganze Programm. Es war ihm absolut gleichviel, was danach bei der »geselligen Runde« im Besprechungsraum noch zur Sprache kam. Er saß mit abwesendem Blick am Tisch und hörte wie durch den Schleier eines Traums nur die gedämpften Stimmen im Hintergrund. Er dachte nach. Wie konnte er die neue Situation Martha erklären? Wie konnte er ihr begreiflich machen, dass es nicht seine Absicht gewesen war, sie mit dem Urlaub zu hintergehen? Sie packte im Moment vermutlich die Urlaubskoffer, denn morgen am frühen Vormittag wollten sie ins Auto springen und zu den sandigen Stränden von Sankt Peter-Ording aufbrechen. Und nun, stellte er sich das Unvorstellbare vor, würde er nach Hause kommen und ihr allen Ernstes mitteilen: »Du brauchst nicht zu packen, wir fahren nirgendwohin.« Das konnte er ihr nicht antun. Aber wie sollte er es ihr beibringen?

So wie es aussah, führte kein Weg an einer Auseinandersetzung mit Martha vorbei. Und alles würde zu einer Diskussion zum Thema Geld führen, bei diesem Punkt war sich Wolfgang absolut sicher. Er konnte es zwar nachvollziehen, denn schließlich war es nicht gerade wenig, was Martha von ihrem Verkäuferinnengehalt für die Unterkunft bezahlt hatte, aber besonders erbaulich war diese Perspektive nicht. Außerdem würde unumgänglich eine heftige Debatte entflammen, die Wolfgangs »unverantwortliche« Art und Weise, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, zum Thema gehabt hätte. Das kannte er schon alles. Seine erste Ehe war aus demselben Grund in die Brüche gegangen. Und jetzt wieder das Gleiche – die Beziehung war in den letzten paar Monaten ohnehin schon etwas angespannt gewesen. Alles wegen dieser elenden Moneten, alles wegen solcher widerlichen Typen wie Stachowski! Und Giovanni, das war vielleicht auch ein »Kameradenschwein«! Wolfgang ging gedanklich mit seinem Kollegen hart ins Gericht, denn er war überzeugt, dass Stachowski schon vor der Besprechung mit Giovanni und allen anderen ihre mögliche Mitwirkung bei den Weinproben in Sachsen-Anhalt geklärt hatte. Nun war er aber der Dumme, weil alle abgelehnt hatten und Giovanni ihn nicht einmal vorgewarnt hatte. Es waren erst ein paar Jahre seit dem Mauerfall vergangen und er sah es sogar ein, dass auch die Gebiete in den neuen Bundesländern erschlossen werden mussten. Aber warum sollte es auf Kosten seiner Beziehung geschehen?

»Breitscheid!« Giovanni rüttelte familiär an seiner Schulter. »Wach auf. Die Besprechung ist vorbei.«

Wolfgang hatte es gar nicht wahrgenommen, dass alle längst von ihren Plätzen aufgestanden waren und unbeschwert miteinander plaudernd zur Tür hinausgingen. Er würdigte seinen Kollegen eines verachtenden Blickes und ging zu seinem Abteil – so bezeichnete Wolfgang die abgetrennten Bereiche, in denen die Vertreter ihre Arbeitsplätze hatten. Sie zogen sich zu beiden Seiten des engen Ganges in der Mitte des Großraumbüros über seine gesamte Länge und waren an der Kopfseite offen, sodass Wolfgang schon beim ersten Betreten dieser Räumlichkeit eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Eisenbahnwaggon festgestellt hatte. Seitdem nannte er die engen Zellen Abteile. Sie waren wirklich viel zu eng gebaut, die Trennwände hatten höchstens einen Abstand von anderthalb Metern zueinander und die Abteile auf seiner Seite des Büros hatten gar keine Fenster. Zuweilen entstand bei ihm der Eindruck, dass er erstickte in der gestauten, von Zigarettenqualm durchzogenen Luft, während er seine meistens fruchtlosen Verkaufstelefonate führte.

»Was ist los, Junge?«, fragte Giovanni, der Wolfgang zu seinem Schreibtisch gefolgt war. »Denkst du, ich habe irgendwas damit zu tun?«

»Gewusst hast du es aber schon«, antwortete Wolfgang, während er zurückgelehnt im Stuhl saß und die Trennwand zum benachbarten Abteil anstarrte. Im Kalender, der über seinem Tisch an der Wand hing, war die kommende Woche dick mit einem Filzstift durchgestrichen und ein erklärender Hinweis »Urlaub« bestätigte, dass er vorhin keineswegs gelogen hatte, den Urlaub hatte er schon seit Wochen und Monaten geplant.

»Hey, was …?«, versuchte sich Giovanni zu rechtfertigen.

»Weißt du, ich habe jetzt keine Lust«, unterbrach ihn Wolfgang, nahm einen Stift und strich auch das vielversprechende Wort im Kalender durch, damit alles seine Richtigkeit hatte.

»Aber du kannst ja wirklich im September …«, fing Giovanni erneut an, während Wolfgang seine Sachen in den Aktenkoffer packte.

»Ich hab für heute genug. Ich fahr jetzt heim.« Er nahm den Koffer in die Hand, zwängte sich an Giovanni vorbei, der ihm im Wege stand, und ging schweigend zur Ausgangstür, ohne seinen »ehemaligen Kumpel« anzusehen.

Martha war diese Woche für die Frühschicht eingeteilt und kam heute schon um halb drei nachmittags nach Hause. Morgen musste sie nicht mehr zur Arbeit gehen, morgen, am Samstag, fing ihr Urlaub an! Sie hatte noch einen Tag Resturlaub aus dem Vorjahr gehabt und konnte nun auch an dem für Verkäuferinnen stressigsten Tag der Woche freimachen. Sie stellte gleich eine Flasche Weißwein aus Wolfgangs Vorräten in den Kühlschrank, um mit ihm später auf den Urlaub anzustoßen, kräftigere Getränke wären vielleicht nicht ganz angebracht gewesen, denn sie wollten in der Früh mit dem Auto aufbrechen. Ihr Freund musste so gegen fünf Uhr zurück sein und sie beabsichtigte, die Koffer bis dahin gepackt zu haben, damit sie gleich das Auto beladen konnten. Die Frau wollte damit anfangen, sobald sie nach der Arbeit eine Kleinigkeit zu Mittag gegessen hatte.

Es war ihr erster Urlaub mit Wolfgang. Die Supermarktverkäuferin hatte ihn vor drei Jahren durch einen Zufall kennengelernt und bis jetzt war immer irgendwas dazwischengekommen – hauptsächlich lag es an Wolfgangs Arbeit, denn er hatte dauernd irgendwelche Veranstaltungen, die er nicht absagen konnte und die ausgerechnet genau an den Tagen stattfanden, wenn sie ihre arbeitsfreie Zeit hatte. Zum ersten Mal gesehen hatte sie ihn übrigens auch auf so einer Veranstaltung, einer Weinprobe mit »zehn ausgesuchten französischen Weinen« bei ihrer Etagennachbarin Gabi, die mit ihrem Mann und Sohn die Dreizimmerwohnung gegenüber mietete.

Eines Tages, als Martha nach der Spätschicht die Treppe zu ihrer Wohnung hinaufgestiegen war, wartete schon Gabi im Treppenhaus auf sie. Sie stand vor der halb geöffneten Wohnungstür und schaute auf Martha mit ihrem etwas vernebelten Blick die Treppe hinunter.

»Na«, sagte die Nachbarin. Ihre Stimme klang leicht angetrunken. »Fleißig gewesen?«

Martha nickte nur müde zur Antwort.

»Du«, fuhr Gabi fort, »hättste Lust auf ’nen Wein?«

Martha sah sie fragend an. Es war schon mal vorgekommen, besser gesagt, es war ziemlich oft der Fall gewesen, dass die beiden miteinander das eine oder andere Gläschen getrunken hatten, und manchmal vielleicht auch eins zu viel, aber dafür, dass Gabi jetzt, zu dieser späten Stunde damit anfing, konnte sie keine einleuchtende Erklärung finden.

»Hör auf!«, sagte Gabi, als sie merkte, dass Martha nicht sonderlich gut gelaunt war, um ihre Einladung bedingungslos anzunehmen. »Wir haben hier einen französischen Weinvertreter im Haus! Ist ein ganz netter, lustiger Mann. Wir haben schon zehn Weine durchprobiert, gleich kommt die zweite Runde. Es gibt Schnittchen, Käse … und allerhand. Komm. Da brauchst du heute nicht mehr zu kochen.«

»Ich muss überlegen«, sagte Martha ausweichend. »Ich weiß nicht … Ich muss zuerst zu Hause ankommen.« Sie drehte den Schlüssel im Schloss um und öffnete die Tür.

»Gut. Dann klingelst du einfach, wenn du so weit bist«, versuchte Gabi noch zum Schluss, sie umzustimmen, ehe Martha die Tür hinter sich zumachte.

Es dauerte keine Viertelstunde, bis Martha eingesehen hatte, dass die Einladung ihrer Nachbarin eigentlich gar nicht so falsch war, vielmehr gefiel ihr die Idee und die Gelegenheit, sich etwas zerstreuen zu können, mit jeder Minute immer besser. Sie musste abreagieren, die neue Kollegin hatte wieder Stress gemacht und Martha hatte laut und sehr deutlich werden müssen, um dieser »Pissnelke« ihren Platz unter der Sonne zu zeigen. Was die jungen Mädchen bloß für Vorstellungen vom Leben hatten, fragte sie sich immer noch äußerst aufgewühlt. Die Weinprobe hätte in diesem Zustand eine gute Ablenkung werden können. Außerdem hatte Gabi irgendwas von einem netten französischen Verkäufer gesagt, fiel es ihr wieder ein. Das machte sie neugierig.

Der Weinverkäufer entpuppte sich als ein schon etwas in die Jahre gekommener südländischer Typ. Zu solchen Männern fühlte sich Martha hingezogen, schon seit der Zeit, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war. Er war garantiert kein Franzose, denn er sprach mit einem leichten rheinischen Einschlag, wie Martha es heraushören konnte, aber in jedem südeuropäischen Land wäre er glatt als Einheimischer durchgegangen: In Frankreich als Franzose, in Griechenland als Grieche und in der Türkei als Türke. Er war zwar nicht mehr jung und knackig, aber welche Ansprüche durfte sie da überhaupt noch stellen – eine Frau, die zwar noch ziemlich gut in Form war, also alles andere als dumm und hässlich, und noch durchaus imstande, dem einen oder anderen Mann, den Kopf zu verdrehen, wie sie sich selbst einschätzte, dennoch ebenfalls schon ein paar Jährchen über vierzig. Sehr wählerisch wie in ihren wilden Zeiten durfte Martha nicht mehr sein, wenn sie noch einen abkriegen wollte.

Es ging lustig zu während der Weinprobe, die zuweilen schon mehr an ein geselliges Trinkgelage erinnerte. Alle lachten, aßen belegte Baguette-Häppchen und Käsewürfel von den Spießen und spülten sie mit französischem Rotwein hinunter, welchen der Weinvertreter, der sich bei Martha als Wolfgang Breitscheid vorgestellt hatte, fleißig in die Gläser einschenkte – immer nur ein wenig, dafür aber oft und vorzugsweise jedes Mal aus einer anderen Flasche. Er hatte auf dem Esstisch neben sich ein Bestellformular ausgebreitet und notierte darin unaufhörlich die Namen der Weine, deren Geschmacksrichtung die allgemeine Zustimmung der Anwesenden fand.

Bald bekam auch Martha einen leichten Schwips und war kaum zu halten, wenn sie lustige Geschichten aus ihrem Leben und von ihrer Arbeit erzählte sowie mit Gabi über die Bewohner ihres Mehrfamilienhauses lästerte. Ein paarmal traf sich ihr Blick mit dem des Verkäufers und sie glaubte, so was Ähnliches wie einen Hauch der inneren Begierde ihr gegenüber in seinen Augen erkannt zu haben. Sie war sich nicht sicher, vielleicht war es auch Einbildung.

Abschließend wurde über die Liefermengen für die vom Weinhändler notierten Weine verhandelt. Die Bergmanns, Gabi und ihr Mann, bestellten insgesamt vier Kisten verschiedener Weine und der Verkäufer war sichtlich zufrieden mit dem Geschäft. Er holte ein sauberes Bestellformular heraus und wandte sich nunmehr Martha zu, um ihre Bestellung aufzunehmen, als Gabis Mann auf die Uhr sah.

»Oh«, gab er verwundert von sich, »es ist aber ganz schön spät geworden! Dann geh ich schon mal die Zähne putzen, ich muss morgen früh raus.« Er stand auf und ging ins Bad. Gabi fing an, das Geschirr abzuräumen.

Alles deutete auf das Ende der Veranstaltung hin, aber der Vertreter saß immer noch am Tisch und wartete geduldig darauf, dass Martha ihre Bestellung aufgab. Sie hätte in diesem Augenblick aufstehen und weggehen können, aber sie blieb. Dieser Wolfgang tat ihr leid, schließlich hatte er sie alle hier ein paar Stunden unterhalten und musste dafür irgendwie entlohnt werden. Er sollte seine Bestellung bekommen, entschied sie.

»Ich würde gerne auch ein paar Fläschchen bestellen, aber ich will meine Nachbarn nicht stören, es ist wirklich spät geworden. Wir könnten ja kurz zu mir rübergehen.«

Bereitwillig packte Wolfgang seine Sachen zusammen und folgte Martha in ihre Wohnung, wo anschließend in der Küche der zweite Teil der Weinprobe stattfand. Diesmal wurden die Weingläser nicht mehr schlückchenweise wie zuvor gefüllt, sondern fast bis zum Rand. Auch der Weinvertreter probierte nunmehr mit großem Vergnügen die mitgebrachten Getränke mit. Es wurde viel über sehr romantische Dinge gesprochen, unvergessliche Erinnerungen aus der Jugendzeit lösten sich ungezwungen von den Lippen. Immer lauter knisterte es zwischen den beiden und unversehens fanden sich die hoffnungslosen Romantiker wenig später völlig entkleidet in Marthas Bett wieder!

Nun erinnerte sich Martha, während sie die Koffer und Reisetaschen mit Sachen füllte, die sie sich im Schlafzimmer auf dem Bett zurechtgelegt hatte, an den Abend, an dem sie Wolfgang zum erstem Mal getroffen hatte, und fragte sich, ob es richtig gewesen war, mit ihm eine Beziehung einzugehen. Irgendwas störte sie nach drei Jahren an ihrem Lebensgefährten. Nein, sie konnte nicht behaupten, dass er sie schlecht behandelte, eigentlich war Wolfgang ein liebevoller Kerl, der immer versuchte, sie zu umgarnen und zu bezirzen – das gefiel ihr. Das gefiel Martha sogar dermaßen, dass sie ihn vor zwei Jahren bei sich hatte einziehen lassen, hin und wieder wollte sie einen Mann an ihrer Seite haben, zuweilen war ihr einfach danach, dass es im Hause sozusagen nach einem männlichen Wesen roch. Zuvor hatte er in einer Bruchbude gehaust, weil er sich nicht Besseres leisten konnte, aber soviel sie wusste, war er auch dort ständig mit der Miete im Verzug gewesen. Und das war das Problem! Wolfgang beteiligte sich auch bei ihr mit keiner Mark an der Miete. Sie hatten es zwar bei seinem Einzug nicht explizit besprochen, aber für Martha war es eine Selbstverständlichkeit, dass man seinen Teil der Kosten tragen musste, wenn man eine Wohngemeinschaft einging. Wolfgang wurde immer nervös, wenn sie ihn darauf ansprach. Auch bei anderen Anlässen wie Restaurant oder Kino war immer sie diejenige, die das Portemonnaie aus ihrer Handtasche zücken musste, obwohl sie auch nicht allzu oft ausgingen.

Sogar den Urlaub mit ihm hatte sie von ihren Ersparnissen bezahlt, er hatte angeblich kein Geld gehabt. Sie war doch schließlich keine Melkkuh, dachte sie aufgebracht! Sie hatte auch nur ein recht spärliches Gehalt einer Verkäuferin im Supermarkt, von dem sie ihren eigenen Lebensunterhalt gerade mal so bestreiten konnte, und nun sollte sie noch ihren Freund durchbringen? Oft stellte sie sich die Frage: War ihr Wolfgang nicht eine Art Heiratsschwindler, der sie ausnehmen wollte? Doch andererseits ging er doch fleißig arbeiten, und zwar jeden Tag, sodass sie sich kaum noch zu Gesicht bekamen, nur am Wochenende war es noch der Fall. Er musste doch schließlich etwas verdienen! War er so knauserig oder warum hatte er nie Geld? Sie kam immer öfter zu dem Gedanken, dass es vielleicht an der Zeit sei, dieses Liebesverhältnis zu beenden. Ja, warum eigentlich nicht?

Das wäre für Martha nichts Außergewöhnliches gewesen. Mit ausnahmslos allen Männern, mit denen sie je zusammen gewesen war, hatte sie die Beziehung von sich aus beendet. Und es waren viele, wenn sie es sich recht überlegte. Alle drei, vier, manchmal auch fünf Jahre gab es in ihrem Leben einen neuen Liebhaber. Sie trennte sich leicht und bereute es kaum hinterher. Familie und ein Haus voller Kinder, das war nicht ihr Ding. Sie wechselte ihre Partner gerade deshalb, weil die Beziehung langweilig geworden war. Wie langweilig musste erst eine Beziehung nach vielen, vielen Jahren Ehe sein? Das wollte sie nicht herausfinden. Nur ein einziges Mal fehlte nicht mehr viel, dass es fast dazu gekommen war, als sie in einem Türkeiurlaub schwanger wurde. Aber damals war sie noch eine »dumme junge Gans« gewesen, die sich von einem Hotelpagen abfüllen und ins Bettchen bringen ließ, und sich dann später zu Hause wunderte, dass ihre Regel ausblieb! Die Geschichte mit diesem Ahmet vom Hotel hatte noch ein langes Nachspiel gehabt, sie eskalierte sogar so weit, dass er sie mit ihrem Sohn in die Türkei entführen und dort heiraten wollte. Zehn Jahre lang gab ihr Ahmet mit seiner Familie keine Ruhe. Dafür war aber Patrick, den sie nach der flüchtigen Bekanntschaft zur Welt gebracht hatte, ein »prächtiger Bursche« geworden. Er war schon über zwanzig, hatte seine Ausbildung abgeschlossen und lebte mit einem Mädchen Lisa zusammen. Sie besuchten Martha oft und auch Wolfgang war für die beiden kein Fremder mehr. Aber sich für viele Jahre zu binden, ging Martha wider die Natur.

Nichtsdestotrotz, die Jahre gingen ins Land und sie wurde nicht jünger. Hin und wieder plagten auch sie gewisse Bedenken, ob sie so schnell einen Ersatz für Wolfgang finden würde. Sie hatte schon eine Zeit lang als Single gelebt, bevor sie ihn kennengelernt hatte, es war kein gutes Gefühl gewesen. Langsam aber sicher kam Martha zu der Erkenntnis, sie konnte nur von Glück sagen, dass sie ihm damals auf der Weinprobe bei Gabi begegnet war. Und er tat ihr ein bisschen leid. Sie zögerte noch, denn sie konnte ihn jetzt nicht einfach so hinauswerfen. Martha hatte für sich entschieden, dass der bevorstehende Urlaub darüber bestimmen sollte, wie es mit ihnen weitergehen würde.

Es war kurz nach fünf, als Martha die gepackten Koffer im Flur abstellte und sehnsüchtig auf die Eingangstür sah, in der Erwartung, dass sie gleich das Geräusch des Schlüssels im Schloss hören würde. Wolfgang musste jede Minute kommen. Stattdessen ging die Klingel.

»Und?«, plapperte Gabi gleich los, als Martha die Tür aufgemacht hatte. »Haste schon gepackt?«

»Ja«, sagte Martha etwas verwundert über Gabis Besuch. »Komm rein, Wolfgang ist noch nicht da, sonst hätte ich dich gleich wieder nach Hause geschickt, wir müssen noch das Zeug ins Auto kriegen.«

»Verstehe«, antwortete Gabi einsichtig, während sie sich durch das Dickicht aus den an der Tür abgestellten Koffern und Reisetaschen kämpfte. »Oh, es ist aber ganz schön viel!«

»Was denkst du denn? Es ist ’ne ganze Woche und ich muss mich ja jeden Tag in Schale werfen. Bars, Restaurants, Diskotheken. Jeden Tag ein anderes Kleid!

»Da hätte ich auch Lust auf so was«, bemerkte Gabi mit trauriger Stimme. »Aber Peter sagt, dieses Jahr ist kein Urlaub drin.«

Die Bergmanns lebten zwar nicht direkt von der Hand in den Mund, aber auch nicht besonders verschwenderisch. Gabi arbeitete nur halbtags als Bürokraft und Peter als Zustellfahrer bei einem Paketdienst, sodass für Vergnügungen oft keine Mittel übrigblieben, zumal ihr halbwüchsiger Sohn mit jedem Jahr immer höhere Ansprüche stellte.

»Dann klappt es bestimmt im nächsten«, beruhigte sie Martha. »Ich war jetzt auch seit vier Jahren nicht mehr im Urlaub. Bei Wolfgang ging es auch die ganze Zeit nicht, aber Gott sei Dank scheint diesmal alles zu funktionieren.«

»Ja, das habe ich Peter auch so gesagt: Nächstes Jahr auf jeden Fall, er soll mir dann nicht mit irgendwelchen Ausreden kommen. Ich will dann nach Mallorca! Da ist was los, habe ich gehört.«

»Willst du was trinken?«, fragte Martha während sie die Flasche Wein aus dem Kühlschrank herausnahm. Er fühlte sich mittlerweile gut gekühlt an, sodass die Flasche sogar leicht beschlug.

»Klar! Schenk nur ein. Ich habe im Moment auch nichts zu tun. Peter ist noch arbeiten und Joschua ist beim Training.«

Die Frauen plauderten noch eine ganze Weile über unbedeutende Dinge und tranken ihren Wein, ehe Gabi eine Stunde später Anstalten zum Aufbruch machte. Peter musste gleich von der Arbeit zurück sein und sie wollte für ihn noch das Essen warm machen.

Die Uhr ging langsam auf sieben zu und Wolfgang war nach wie vor nicht aufgetaucht. Es war mehr als seltsam. Martha fing an, sich Sorgen zu machen. Sie wählte die Telefonnummer von Wolfgangs Verkaufsbüro. »Hallöchen! Sie sind verbunden mit dem Vertrieb des französischen Weinhauses …«, spielte der Anrufbeantworter das Band mit dem dummen Spruch ab, den sie schon irgendwann zuvor gehört hatte. Sie legte wieder auf. Im Büro war also keiner mehr, dachte sie nach. Was sollte sie von dem Ganzen halten? Wo war Wolfgang abgeblieben? Sie verlor sich in wilden Spekulationen. Martha fragte sich: Vielleicht hatte er eine Panne? Sein alter Fiesta, der stellenweise schon dermaßen durchgerostet war, dass man bald durch die Löcher den Innenraum sehen konnte, flößte ihr keineswegs Vertrauen ein, im Gegenteil: Zuweilen ließ das äußere Erscheinungsbild des Autos befürchten, dass es bei der nächsten Fahrt in seine Einzelteile auseinanderfiel. Aber dann – sie versuchte, ihre These kritisch zu betrachten – hätte er sie schon längst von irgendwo angerufen, vom Büro bis zum Haus musste er schließlich nicht durch irgendeine Wildnis, sondern durch die Stadt fahren. Auf dem Weg gab es genug Telefonzellen.

Es war noch eine weitere Stunde vergangen, in der Martha Mutmaßungen verschiedenster Art anstellte, die ihr allerdings alle schon im nächsten Augenblick vollkommen absurd vorkamen, während sie im Zimmer auf und ab lief und mitunter besorgt zum Fenster hinaussah, ob Wolfgangs Wagen nicht mittlerweile im Hof auf dem Parkplatz stand, als sie plötzlich aus dem Flur ein Kratzen und Schaben vernahm, das von der Wohnungstür zu kommen schien. Es hörte sich so an, als wenn im Treppenhaus ein Hund mit seiner Pfote an der Tür kratzte, um reingelassen zu werden. Irritiert schob sie das Reisegepäck im Flur beiseite, ging dicht an die Tür heran und lauschte angespannt. Sie hatte sich nicht geirrt, stellte sie fest, jemand machte sich an der Tür zu schaffen. Vielleicht war es ja wirklich der Hund aus dem Obergeschoss? Martha entschloss sich, dem rätselhaften Schaben auf den Grund zu gehen. Sie öffnete die Tür und es verschlug ihr die Sprache: Vor ihr stand Wolfgang, sturzbetrunken und mit Spuren einer handgreiflichen Auseinandersetzung im Gesicht.

»Hallo …«, sagte der Weinvertreter mit lallender Stimme.

Die Strahlen der morgendlichen Sonne fielen bereits durch das Fenster ins Schlafzimmer, aber es war ein Umstand, der Wolfgang im Augenblick am wenigsten interessierte. Er lag auf dem Bett, über das noch die Tagesdecke ausgebreitet war, komplett bekleidet, sogar seine Schuhe hatte er noch an. Marthas Betthälfte war unberührt. Sein Schädel brummte gewaltig. Der ekelhafte Geschmack im Mund, der Wolfgang denken ließ, er hätte gestern ein totes Stinktier verschluckt, verursachte ein akutes Übelkeitsgefühl und erweckte in ihm einen unüberwindbaren Wunsch, sich auf der Stelle übergeben zu müssen. Er richtete sich mit Mühe im Bett auf und ließ seinen Kopf willenlos wieder auf das Kissen fallen – ein plötzlicher Schwindelanfall hatte ihn niedergerungen.

Nachdem Wolfgang noch eine halbe Stunde auf dem Bett liegend sein Missbefinden mehr oder weniger erfolgreich zu bändigen versucht hatte, kam er langsam wieder zu sich, aber er hatte kaum noch Erinnerungen an seine gestrigen Eskapaden. Er wusste noch genau, dass er nach dem Gespräch mit Stachowski zu einer Wirtschaft gefahren war, um dort seinen Frust zu ertränken. Er hatte ein Bier nach dem anderen bestellt und zwischendurch noch ein paar Klare getrunken, hatte aber offenbar nach dem fünften aufgehört mitzuzählen, denn an dieser Stelle gab es einen Riss in seiner Erinnerung. Oder er war dazu einfach nicht mehr in der Lage gewesen. Er glaubte, sich noch dunkel daran erinnern zu können, dass er kräftig eins auf die »Fresse« bekommen hatte, weil er an der Theke irgendwelchen Ärger gemacht und andere Gäste belästigt hatte. Ansonsten war sein Kopf absolut leer. Er wusste nicht das Geringste darüber, wie er nach Hause gekommen war und was das Gespräch mit Martha ergeben hatte. Das alles war ihm äußerst peinlich.

Wolfgang setzte sich schwerfällig auf die Bettkante. Merkwürdig, dachte er. Er wunderte sich, aus welchem Grund vor dem Bett seine Sachen auf einem Haufen lagen. Seine Hemden, Hosen, Socken, Unterwäsche, zwei Jacketts, die er abwechselnd für Weinproben anzog, – alles lag in einem wilden Durcheinander auf dem Boden. Es kam ihm etwas seltsam vor.

Noch etwas unsicher und mit dem Gleichgewicht kämpfend begab er sich ins Badezimmer, seine Schritte echoten in der anscheinend menschenleeren Wohnung, wenn die Absätze seiner Schuhe den Laminatboden berührten. Es war still, der Fernseher, der bei Martha sonst immer eingeschaltet war, gab kein Geräusch von sich und das Küchenradio blieb ebenfalls stumm. Zunächst hatte er angenommen, dass Martha auf der Couch schlief, aber als er an der Tür ins Wohnzimmer vorbeiging, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass das Sofa nicht die Spur eines nächtlichen Schlafplatzes aufwies. Wo war sie also?

»Verdammter Mist!« Wolfgang konnte sich kaum zurückhalten, um nicht laut zu fluchen, als er sein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken gesehen hatte. Eine hässliche Platzwunde dekorierte seine Oberlippe, die linke Wange war merklich angeschwollen und leicht bläulich angelaufen. Es musste ja gestern heftig gewesen sein, mutmaßte er. Wolfgang wusch sich die Spuren des vertrockneten Blutes aus dem Gesicht und rasierte sich so gut es ging – die angeschlagene Wange schmerzte bei jeder unvorsichtigen Berührung. Falls Martha doch noch in der Küche saß, wollte er äußerlich nicht noch schlimmer ausschauen, als er ohnehin schon aussah. Er wusste nicht, was er ihr gestern erzählt und wie sie es aufgenommen hatte, ob sie sauer war oder die Hiobsbotschaft vom Urlaub eher gelassen empfangen hatte. Das musste er noch irgendwie unauffällig herausfinden.

Martha war auch nicht in der Küche zu finden. Wolfgang kratzte sich verlegen am Nacken, er konnte sich keinen Reim darauf machen, wo sie hingegangen sein konnte. Soweit er sich entsann, musste sie heute freihaben. Er setzte Kaffee auf, der widerliche Geschmack in seinem Mund musste irgendwie verschwinden, holte sich eine Tasse aus dem Geschirrschrank und stellte sie auf dem Tisch ab. Erst jetzt bemerkte er mit seinem noch etwas getrübten Blick einen Zettel auf dem Küchentisch, auf dem einige Zeilen geschrieben standen. Der Kugelschreiber lag noch auf dem Stück Papier. Es war Marthas Handschrift, die er auf dem Blatt erkannte, die Buchstaben tanzten aus den Reihen, sie musste ziemlich nervös gewesen sein, als sie die Zeilen geschrieben hatte. Er las sie.

Ich habe es versucht, aber es klappt nicht mit uns beiden. Ich bin weg in den Urlaub. Du kannst ja angeblich nicht. Oder willst einfach nicht, nach all dem, was du so besoffen gelabert hast. Ich habe keine Lust mehr. Dass das Geld futsch ist, das ich für dich bezahlt habe, ist natürlich schade. Aber meins will ich nicht auch noch verlieren. Ich erwarte, dass du aus der Wohnung raus bist, wenn ich in einer Woche zurückkomme. Sonst muss ich die Polizei rufen. Deine Sachen liegen neben dem Bett, dein Koffer steht im Flur. Den Schlüssel legst du bitte in den Briefkasten. Leb wohl und auf Nimmerwiedersehen. Martha.

Wolfgang ließ seinen Körper langsam auf den Hocker sacken und saß eine Zeit lang bewegungslos am Küchentisch, während er mit abwesendem Blick den Abschiedsbrief von Martha anstarrte, bevor er überhaupt wieder geistig imstande war, einen Gedanken in seinem Kopf zu formen. Das war also der Grund, warum sie nicht da war. Sie hatte ihn verlassen, beziehungsweise aus der Wohnung hinausgeworfen. Ja, geschah ihm recht – er erinnerte sich an die letzten Monate ihres gemeinsamen Lebens. Er hatte es schon kommen sehen. Dass als Auslöser für die Trennung der von Stachowski gestrichene Urlaub dienen würde, hatte er natürlich nicht ahnen können. Aber was für einen Unterschied machte es schon, welcher Anlass es war? Die Beziehung war zerbrochen. Martha war Geschichte, für immer. In seinem Inneren brodelte die Wut mit neuer Kraft auf und er wurde unerwartet für sich selbst laut: »Dieser verflixte Stachowski … mit seinem beschissenen Weinladen!«

Nachdem Wolfgang sich einigermaßen beruhigt hatte, trank er seinen Kaffee, schwarz und mit viel Zucker. Das heiße, cremige Getränk munterte ihn ein wenig auf, er fühlte sich nicht mehr so hundeelend. Die große Frage, die es zu beantworten gab, klang auf den ersten Blick einfach, geradezu primitiv: Was nun? Gleichwohl geriet der bescheidene Handelsvertreter umso tiefer ins Grübeln, je länger er darüber nachdachte und je inbrünstiger er hoffte, eine simple Antwort auf die denkbar einfache Frage zu finden. Die Natur hatte ihn vielleicht nicht mit dem Gehirn eines großen Denkers ausgestattet, aber er stand an einem wichtigen Scheideweg in seinem nicht mehr allzu jungen Leben, so viel war ihm durchaus bewusst. Davon, wie er sich innerhalb der nächsten Stunden entscheiden würde, hing im Wesentlichen sein weiterer Lebensweg ab. Die Entscheidung war existenziell wichtig. Und sie war weiß Gott nicht einfach.

Wohl oder übel, aber als Erstes musste er den Vorschuss-Scheck im Büro holen, alles andere konnte noch bis später warten. Die Bank hatte heute nur noch bis Mittag auf, er hätte sich langsam auf den Weg machen sollen, um es zu schaffen, sonst hätte er für die Reise in den Harz kein Geld gehabt – es war Wochenende. Nun gab es aber ein Problem: Wie sollte Wolfgang mit seinem ramponierten Gesicht im Büro auftauchen? Dort würde er heute keine Verkäufer antreffen, da war er sich ziemlich sicher, aber Stachowski pflegte samstags, irgendwelche Planungen zu machen, und Alex, der vor ihm auf Schritt und Tritt zu schleimen versuchte und so tat, als ob er sich selbstlos um das Wohl der Firma sorgte, war vermutlich auch dort. Den beiden wollte Wolfgang rein gar nichts erklären müssen. Doch sein Selbsterhaltungssinn sagte ihm, dass er dringend handeln musste, wenn er sein Leben nicht völlig ruinieren wollte. Und er vertraute darauf, was er aus den Tiefen seiner Seele hörte, schon einige Male hatte ihn sein Instinkt vor schlimmen Erfahrungen bewahrt.

Er duschte auf die Schnelle und zog sich frische Sachen an. Auf Marthas Schminktisch fand er eine Tube Abdeckcreme und trug sie auf seine Verletzungen im Gesicht auf, das Ergebnis sah gar nicht so übel aus. Die Tube legte er alsdann in seine Tasche, Martha würde es ihm vergeben, so hoffte er, denn er brauchte die Creme in den kommenden Tagen dringender als sie. Zum Schluss steckte er sich einen Pfefferminzbonbon in den Mund, damit ihm seine Alkoholfahne nicht vorauseilte, und verließ die Wohnung.

Im Hof wartete schon die nächste Überraschung auf den gebeutelten Weinverkäufer. Sein Wagen stand nicht auf dem Parkplatz. Hatte vielleicht Martha irgendwas damit zu tun, fragte er sich und verwarf gleich selbst den plötzlich entstandenen Verdacht: Nein, dermaßen gemein war sie nicht, das konnte er sich kaum vorstellen! Vielmehr vermutete er, dass der Fiesta seit gestern Abend vor der Wirtschaft stand, wo er ihn geparkt hatte, denn nach dem Kneipenbesuch hatte er aus nachvollziehbaren Gründen nirgendwo mehr hingefahren sein können. Er machte sich auf den Weg. Zum Glück war das Etablissement nicht mehr als eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt.

Als Wolfgang abends wieder die Wohnung betrat, hatte er in seinem Kopf so etwas Ähnliches wie einen Plan, zumindest für die kommende Woche. Wie es danach weitergehen sollte, so weit konnte er im Augenblick nicht denken. Er hatte sich überlegt, dass er noch eine Nacht bei Martha in der Wohnung schlafen würde und morgen Früh Richtung Harz aufbrechen. Es war nun doch eine beachtliche Strecke und er war sich nicht sicher, ob sein Auto, wenn man den schrottreifen Ford Fiesta, seinen alten Weggefährten, noch so bezeichnen durfte, so viele Kilometer am Stück fahren konnte. Wolfgang nahm an, dass der Wagen durchaus auf halbem Wege auf einmal streiken konnte, zumal er diesmal eine Menge Gewicht mit an Bord nehmen musste. Die Last hätte dem treuen Helfer das Rückgrat brechen können: Zwei geräumige aluminiumbeschlagene Probenkoffer mit je zehn verschiedenen Weinen, die er sich heute bei Stachowski geholt hatte und die schon im Kofferraum standen, sein großer Reisekoffer, den Martha im Flur abgestellt hatte und den er gleich packen musste, und noch sein ganzer Krimskrams, der überall irgendwo in der Wohnung umherlag und noch gesucht werden musste – im Laufe der Jahre sammelte sich so einiges an, man merkte es im Alltag kaum, aber es konnte viel sein. Er hatte entschieden, dass er diese Verkaufsreise in den Harz noch auf jeden Fall machen würde.

Der Grund war einfach: Er brauchte eine Bleibe! Und er brauchte etwas Geld! Er brauchte beides gleichzeitig. Sonst hätte man die Woche noch hier in der Wohnung verbringen können, solange Martha auf Reisen war, aber er konnte unmöglich den Vorschuss-Scheck einlösen und die Mittel verprassen, ohne Stachowski eine Hotelrechnung aus dem Gebiet zu präsentieren, so verkommen war er noch nicht.

Er zog allen Ernstes in Erwägung, seinen Dienst bei dem Weinhaus nach dieser Harzreise zu quittieren. Es war im Grunde genommen kein Dienstverhältnis, es gab nicht sonderlich viel zu kündigen, er war nur ein armseliger Scheinselbständiger. Er wurde wie ein Angestellter herumkommandiert, musste zu bestimmten Zeiten im Büro sein – es war wünschenswert, wie Stachowski es so schön formulierte – oder wurde »höflich gebeten«, eingehende Anrufe wie eine Sekretärin anzunehmen, bekam aber kein Gehalt dafür. Wie er letztendlich durchkam, interessierte keinen. Es brachte alles nichts ein. Mehr noch, er hatte keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, bereits einige Jahre war er nicht mehr krankenversichert und leistete auch keine Beiträge mehr zur Rentenversicherung. An dieser Stelle setzte er bei dem Thema einen dicken Punkt! Er wusste, wohin ihn diese Gedanken führen würden – in eine Depression. Das wollte er nicht.

Was er sich jedoch auf jeden Fall heute noch überlegen wollte, bevor er mit dem Packen anfing, um morgen so früh wie möglich loszufahren, war ein Brief an Martha. Er wollte ihn unbedingt schreiben und seine Sicht der Dinge darlegen, ihr einfach erklären, dass er nicht die Absicht gehabt hatte, sie mit dem Urlaub hereinzulegen. Sie musste es erfahren, denn gestern hatte sein benebelter Verstand ihn im Stich gelassen, sodass er nicht die richtigen Worte hatte finden können. Immerhin, sie waren drei Jahre zusammen gewesen und Wolfgang fühlte sich im Recht, ihr sein Herz ausschütten zu dürfen.

Er war nicht besonders schriftstellerisch begabt, um nicht zu sagen, er hatte gewisse Schwierigkeiten, einen halbwegs erweiterten Satz zu Papier zu bringen, und holte sich eine Flasche Wein aus der Vorratskammer, um seinen geistigen Fähigkeiten den nötigen Impuls zur Selbstentfaltung zu geben. Darüber hinaus fühlte er sich nach wie vor ein wenig verkatert, sodass ein paar Gläschen ihm die gewünschte Erleichterung bringen würden, hoffte er. Wolfgang setzte sich an den Tisch in der Küche, schenkte sich ein halbes Glas ein und trank es in einem Zug. Danach wartete er eine Zeit lang auf die einsetzende Wirkung des Alkohols, während er tiefsinnig auf das leere Blatt schaute, auf dem er gleich etwas schreiben wollte, und ging zu Werke, als ein mächtiger Geistesblitz ihn inspiriert hatte.

Liebe Martha,

es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen. Wenn du glaubst, ich habe dich absichtlich um dein Geld gebracht, ist es falsch. Es war nie meine Absicht. Es hat sich so ergeben. Entschuldige. Ich habe es dir nie gesagt, aber ich spare für eine OP. Deswegen. Ich verdiene zurzeit auch so nicht viel, muss aber das meiste zurücklegen. Sie haben bei mir vor fünf Jahren einen Tumor im Kopf festgestellt und der muss raus. Eine Krankenversicherung habe ich nicht. Das Ding wächst und es wird ernst, ich bekomme dauernd Schwindelanfälle und Kopfschmerzen. Wenn du denkst, dass ich immer auf deine Kosten leben wollte, ist es auch falsch. Es hat einen Grund. Ich hätte es dir erzählen sollen. Sei mir nicht böse. Ich akzeptiere deine Entscheidung. Ich nehme sie dir nicht übel. Morgen verlasse ich deine Wohnung. Du wirst keine Polizei brauchen. Es war eine schöne Zeit mit dir. Leb wohl.

Dein Wolfgang, 13.08.1994

Er füllte das Glas erneut mit dem vergorenen Rebensaft, als er mit dem Schreiben fertig war, und trank gierig wie nach einem schweren Arbeitseinsatz. Ja, überlegte der frischgebackene Schriftsteller, so konnte man seine Gefühle ausdrücken. Es stimmte so weit alles in seinem Brief, er hatte mit keinem einzigen Wort gelogen.

Je später der Abend wurde, desto weniger Lust zum Kofferpacken hatte Wolfgang, der Alkohol hatte ihn abermals in einen apathischen Zustand versetzt. Er sah ein Stündchen lang fern, während er Kartoffelchips aus der Tüte knabberte, die er noch in der Küche gefunden hatte. Es gab sonst nicht viel Essbares in der Wohnung, schließlich sollte er heute auch gar nicht hier sein, aber er hatte zum ersten Mal seit den Morgenstunden richtig Hunger bekommen, sodass die angebrochene Packung aus dem Küchenregal sehr willkommen war.

Aber alles nützte nichts, er musste seine Sachen packen, morgen in der Früh ging es los. Er ging zu dem Wäscheberg vor dem Bett im Schlafzimmer und schätzte den bevorstehenden Arbeitsaufwand und den erforderlichen Stauraumbedarf. Sein Koffer würde nie und nimmer reichen, um das Ganze unterzubringen, stellte er fest. Er begab sich in die Küche und griff in die Schublade, wo normalerweise eine Rolle Plastikmüllsäcke lag. Sie war nicht da! Entweder war die Rolle zu Ende gegangen, was er sich kaum vorstellen konnte, oder Martha hatte sie kurzerhand mitgenommen. Doch Not machte bekanntlich erfinderisch und so beschloss Wolfgang ein paar saubere Kissenbezüge als Säcke zu benutzen, um sie mit losem Kleinkram zu füllen, der nicht in den Koffer passte. Nein, um Gottes willen, er wollte Martha keine Bettwäsche stehlen, er brauchte sie nur, um die Sachen nach unten zu bringen. Dann hatte er vor, das »Zeug« einfach auf die Sitzbank hinten im Auto auszuschütten und die Bezüge zurückzubringen.

Es war schon fast Mitternacht, als Wolfgang endlich den letzten prallgefüllten Kissenbezug im Flur abstellte. Er war müde und wollte jetzt nur eins – schlafen. Zwischendurch hatte er die ganze Zeit immer ein paar Schluck Wein zu sich genommen, bis die Flasche schließlich leer geworden war. Er war nicht betrunken, aber übermäßiger Alkoholgenuss, zwei Tage in Folge, forderte seinen Tribut. Wolfgang musste wirklich dringend ins Bett, wenn er morgen fit sein wollte. Ohne seine Kleidung abzulegen, schlüpfte er unter die Tagesdecke und schlief auf der Stelle ein, sobald seine Wange das federweiche Kissen berührt hatte.

Ein neuer Tag brach an. Die Sonne kolorierte den Himmel am Horizont in goldfarbene Töne. Über der Stadt herrschte noch Stille, nur das eine oder andere Vögelchen war schon wach geworden und machte die ersten Stimmübungen fröhlich zwitschernd in den Bäumen entlang der Straßen. Wolfgang wurde wach. Doch heute ärgerte er sich nicht über die Vögel, die ihn am Sonntag nicht hatten ausschlafen lassen, es war Absicht gewesen, dass er das Fenster im Schlafzimmer für die Nacht auf Kipp gestellt hatte, er wollte heute mit den Vögeln aufstehen. Heute war der Tag, an dem ein neuer Abschnitt in seinem Leben begann, nicht mehr und nicht weniger. Gleichwohl fühlte sich der Tag in Wolfgangs Wahrnehmung eher gewöhnlich an, als er aufstand und sich in die Küche begab, um den Kaffee aufzusetzen. Man hätte schon alltäglich sagen können, denn als Erstes fiel sein Blick mit Unbehagen auf die Sachen im Flur, die nur darauf warteten, gleich nach unten geschleppt zu werden. Ansonsten ging es ihm gut. Er war frisch und guter Dinge, was seine Zukunft anging, wenigstens im Augenblick.

Wolfgang verlor keine Zeit, denn er wollte heute noch ziemlich weit kommen. Solange der Kaffee durch die Maschine tropfte, trug er schon mal zwei Kissenbezüge mit seinen Sachen nach unten zum Auto. Die Idee, die Sachen einfach auf die hintere Sitzbank zu werfen, fand er nicht mehr so prickelnd, nachdem er die Bezüge geleert hatte, denn schön sah es nicht aus. Aber was sollte es? Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Alsdann kehrte er in die Wohnung zurück und trank einen kräftigen Kaffee. Währenddessen zog Wolfgang eine Zwischenbilanz: Es blieb noch ein kleiner Sack mit Klamotten und sein Koffer. Ach ja, noch seine Jacketts mit den zugehörigen Hosen, die auf die Kleiderbügel gespannt auf Marthas Betthälfte lagen. Er musste aufpassen, sie durften nicht knittrig aussehen, schließlich wollte er noch einen gepflegten Eindruck während der Weinproben machen. Die Anzüge und den Kissenbezug konnte er dann gleich zusammen nach unten bringen und den Koffer zum Schluss, wenn er die Wohnung endgültig verließ. Er machte sich erneut an die Arbeit.

Nach zwanzig Minuten war alles unten, was Wolfgangs Meinung nach mit ins Auto musste. Es fehlte nur er selbst und sein Koffer. Der Weinhändler lief noch zum letzten Mal durch die Wohnung und sah nach, ob er nicht etwas vergessen hatte. Dann machte er das Bett, spülte noch die Gläser und Tassen, die er benutzt hatte, und kontrollierte alle Wasserhähne und Lichtschalter. Es schien alles in bester Ordnung zu sein. Zu guter Letzt ließ er sich am Küchentisch nieder und überflog seinen an Martha gerichteten Brief. Wolfgang Breitscheid kam abermals zum Schluss, dass das Schreiben durchaus gut verfasst war und das zum Ausdruck brachte, was er Martha mitteilen wollte. Nun war er bereit, seinen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Wolfgang nahm seinen Koffer, brachte ihn ins Treppenhaus hinaus und schloss hinter sich die Wohnungstür ab. Dann ging er die Treppe hinunter und blieb im Erdgeschoss vor Marthas Briefkasten stehen. Der Weinvertreter hielt den Schlüssel zwischen seinen Fingern, er zögerte noch einen Moment lang, als ob er noch eine, die allerletzte wichtige Entscheidung zu treffen hatte. Schließlich nickte er ein paarmal mit dem Kopf wie jemand, der innerlich zu einer Einsicht gekommen war, warf den Schlüssel in den Briefkasten und ging mit seinem Reisekoffer in der Hand zur Tür hinaus.

2. Kapitel

Nächtliche Patrouille

Hannes und noch zwei junge Männer aus dem Dorf tasteten sich eher vor, als dass sie sich zügig durch den dichten, düsteren Wald bewegten, und kamen nur langsam voran. Der Trampelpfad zwischen den dicken Buchen war kaum noch zu erkennen. Es dunkelte rasch, nur noch ein schmaler lichter Streifen am Horizont hinter dem Berg erhellte dürftig den Himmel, der Mond war entweder noch nicht aufgegangen, oder er versteckte sich hinter der Wolke, die zum Teil das Himmelsgewölbe bedeckte. Die drei nächtlichen Wanderer hatten keine Laterne bei sich, denn sie waren in geheimer Mission unterwegs und der Schein der Kerze hätte sie verraten.

»Wir hätten früher aufbrechen sollen, Hannes«, sagte Ruprecht. »Dann könnten wir wenigstens was sehen. Wie sollen wir jetzt die Lichtung noch finden?«

»Früher aufbrechen?«, entgegnete Hannes mit einer Gegenfrage und fügte gleich die nächste hinzu: »Damit das ganze Dorf sofort sieht, dass wir losziehen?«

»Daran habe ich nicht gedacht«, rechtfertigte sich Ruprecht. »Aber was, wenn plötzlich der Wilde Mann vor uns steht? Er kommt immer unverhofft aus der Dunkelheit, habe ich gehört.«

»Unfug«, gab Hannes zurück, »es gibt keine Wilden Männer. Vater Nicklas sagt, es ist nicht gut katholisch, wenn man an sie glaubt.«

Jobst schloss sich dem Gespräch an: »Meine Mutter ist aber schon einem begegnet. Das sagt sie und ich glaube meiner lieben Mutter. Ich habe auch Schiss vor den Wilden.«

»Dann sieh zu, dass du deine Bruche nicht vollmachst!« Hannes seufzte enttäuscht.